...wenn sie daran dachte, daß über die Hälfte des Ramazan verstrichen war — der Mond nahm ab — und wie wenig sie erreicht hatte in dieser Zeit. Sollte das schon ein Gewinn sein, den Hunger nicht mehr zu fühlen? Allerdings, wer forderte denn mehr von ihr? Sie selbst hatte sich etwas Entscheidendes erhofft von diesem Monat, hatte sich die Hungerqualen schlimmer vorgestellt und den Lohn größer. Berichte aus irgendwelchen Selbsterfahrungsgruppen und Ashrams hatten diese Erwartungen genährt. Dort taten sich offensichtlich die tollsten Dinge in kürzester Zeit. Dagegen war das islamische Fasten ein langsamer Weg. Und es gab keine Automatik von Leistung und Ergebnis. Ansprüche konnte sie nicht geltend machen, auch wenn sie sich noch so brav gehalten hatte.
Dem Mukabele (Koranlesung) war sie heute ferngeblieben. Den Nachbarinnen genügte die Erklärung, daß es dort so heiß sei, daß ihr schwindlig werde, der Kreislauf streike. Das stimmte zwar, aber der Hauptgrund war doch die Abneigung gegen das So-tun-als-ob. Sie verstand ja nichts von dem, was da rezitiert wurde. Der Versuch, bei dem rasenden Vortrag wenigstens die Silben mitzulesen, endete meistens in einem Hüpfen von einem bekannten Wort zum anderen; manchmal identifizierte sie ein paar Zeichenkombinationen, alles andere ging unter. Ein völliges Rätsel, wie schon kleine Kinder Hafis werden, das heißt, den ganzen Koran auswendig wissen konnten. Das wurde ja auch als ein Wunder angesehen. In der Mukabeleversammlung beim Warten auf die Lesung hatte Zeynep abla mal berzählt, wie das bei ihr gegangen war. Ihr Vater sei Hoca gewesen, die eigentlich treibende Kraft war jedoch die Mutter. Mit vier Jahren hatte das Kind zu lernen begonnen, jedesmal ein bißchen mehr, bis es täglich zwanzig Seiten neuer Text waren. Spielen und sogar schlafen waren beschnitten worden. Das Bett sei so konstruiert gewesen, daß sie sich gar nicht hätte ausstrecken können. Wenn sie erschöpft gewesen sei, hätte die Mutter ihr Traubensirup eingeflößt und zugeflüstert: Noch ein bißchen, meine Süße. Eines Tages hatte die kleine Zeynep das heilige Buch beim Lernen vom Dachgarten in den Hof geworfen vor Wut. Direkt zerplatzt gewesen sei der Buchrücken. Die Mutter hatte ihr einzureden versucht, daß es ihr aus Versehen runtergefallen sei. »Gelt, du warst müde und hast es fallenlassen. Sag, du hast es fallenlassen.« Als kurz hintereinander beide Eltern gestorben seien, hätte sich Zeynep geschworen, nun auf jeden Fall Hafis zu werdenwas ihr mit sieben Jahren auch gelungen sei, »aus Liebe zu Allah«, — so sagt sie noch heute.
In ein kritisches Stadium war auch Helgas Koranlektüre in der Muttersprache zu Hause geraten. So viele Rechtsvorschriften, so viele historische Beispiele, so viele Aufforderungen, dem Einen Gott keine Götzen beizugesellen, so viele Wiederholungen. Das ständige Androhen der Höllenstrafe, ja, sogar das ständig wiederholte Bild vom Paradiesgarten, durch welchen Bäche fließen. War denn das alles von Bedeutung für sie? Warum so wenig eindeutig spirituelle Aussagen? Und dann die Gottesvorstellung. Herr, König, Er! Eine Manifestation des Patriarchats. Auf dem Throne saß Er! Die Gläubigen »dienten« Ihm, Frauen kamen grammatikalisch nicht vor, und wenn es um ihre Rechte ging, waren sie bloß die Hälfte wert. Vielleicht leitete auch die Übersetzung fehl, die anstelle von »Allah« fast immer »Gott« sagte und dadurch an den christlichen Gott (Vater) anknüpfte, obwohl sich der Text ja ausdrücklich dagegen verwehrte: »Er hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt worden.«[7] »Er« war also doch kein »richtiger« Mann. Das Studium des arabischen Orginals konnte diesen Zweifeln wahrscheinlich abhelfen. Goethe hatte den Koran »Buch der Bücher« genannt und noch durch eine entstellende Übersetzung hindurch seine Kraft gespürt. Mit welchen Augen hatte er ihn wohl gelesen? Der inspirierte Text verbarg sich sichtlich für den, der sich an den planen Wortsinn hielt. Die Teile erschienen manchmal zusammenhanglos, manchmal ohne tieferen Gehalt. Scheich Nureddin hatte den Koran mit dem Universum verglichen.
»The Quran is like the Universe with many planes of existence and levels of meaning.« [8]
So stand es im Notizheft. Und dann der entscheidende Satz:
»We cannot reach the inner meaning of the Quran until we ourselves have penetrated into the deeper dimensions of our being.«[9]
Koranerkenntnis hing also ab von der Selbsterkenntnis. Dann war vielleicht doch nicht alles umsonst gewesen, was sie bisher erlitten hatte auf dem Gang in die Tiefe des eigenen Inneren, wo das Widerwärtige, das Ekelhafte lagerten. Heute früh schon wieder eine Leiche im Traum. Das waren so ihre Erleuchtungen. Als es an der Tür klingelte, hatte sie geöffnet, da war ihr die tote Schwester entgegengefallen, zusammengeschrumpft auf Kindergröße. Schweißgebadet war sie aufgewacht. Wahrscheinlich mußte es erst noch weiter abwärts gehen durch den Schutt und das Geröll hindurch, ehe an Aufstieg zu denken war. Und wieso denn überhaupt die Bevorzugung des Bildes vom Aufstieg? In der Kathedrale von Chartres lag der Wasserspiegel des unterirdischen Brunnens genauso tief unter dem Chorfußboden, wie das Gewölbe darüber hoch war, nämlich je 37 Meter. Welche Dimensionen, — aber in beiden Richtungen. Sie fühlte sich schrecklich allein in ihrer TrockenheitVerschlossenheit und Ferne. Eine Schallplatte, ein bißchen Musik könnte sie sich gönnen zur Entspannung. Nur fiel Helga unversehens mit der Sinfonie »Mathis der Maler« von Hindemith ein zu ihrer Situation »schrecklich gut« passender Kommentar in die Hand. Da war nichts, das aufmunterte, streichelte, beruhigte — der Trost des Geistes war streng. Gleich zu Anfang mußte sie weinen. Der »süße Gesang« der Engel, eine Qual für den Gequälten. Wie Ömer einmal während dieses Konzerts nach Hause gekommen war und verlangt hatte, daß sie die »furchtbare Platte« abstellte. Vielleicht war das gar nicht Banausentum gewesen, wie sie damals gemeint hatte, sondern die Überempfindlichkeit dessen, der den ganzen Tag mit Leid und Tod umgegangen war.
Sich Gäste einzuladen, die Mahmuts und wen dazu? Helga bereute es schon fast. Hadiye hanim und Gül gingen abends nicht aus dem Haus ohne die Ehemänner, und diese wiederum hätten es für unanständig gehalten, bei einer alleinstehenden Frau zu Besuch zu sein. Die beiden Großmütter waren beim besten Willen nicht zu bewegen. (Wir sind Witwen und seit Jahrzehnten nicht mehr in Gesellschaft gewesen. Außerdem können wir uns nicht revanchieren.) Schließlich sagten Tante Zehra und Onkel Salih zu. Helga hatte gestern schon eingekauft, heute war bloß das Menü zu kochen: eine Linsensuppe, Izmirköfte, Käsenudeln, zum Nachtisch deutscher Wackelpudding mit Vanillesoße. Wassermelone, Süßigkeiten und Kaffee brauchte sie nicht vorzubereiten. Während die Linsensuppe auf dem Feuer steht — natürlich nicht aus dem Päckchen, sondern liebevoll zugesetzt mit roten Linsen in angerösteten Zwiebeln — erscheint Nebiye. Sie will einen Rat, an welche Behörden in Deutschland sie sich wenden soll, um ihren Mann aufzuspüren. Im Grunde läuft es darauf hinaus, daß Helga einen Brief an Polizei oder Botschaft schreiben muß; sie macht sich ein paar Notizen: Name, Anschrift, Datum der letzten Geldsendung, des letzten Briefes. Die hübsche Frau läßt ihre Verbitterung frei. Da saß der Kerl im goldenen Deutschland, und sie selbst mußte bei den Eltern schmoren, treu warten, für was? Vielleicht laß ich mich scheiden. Dann zieht sie einen Packen Spitze aus der Handtasche, wunderschöne Blattmotive, Röschen, Maulbeeren, lauter feine Häkelarbeit. Die Bettwäsche sah damit sicher kostbar aus. Helga versucht sich die Arbeitszeit, die krummen Rücken und müden Augen vorzustellen. Diese Garnitur im Muschelmuster, wer kann da widerstehen? Ob Nebiye mit der Bezahlung etwas warten könne, es sei im Moment wenig Bargeld im Haus. Himmel, die Linsensuppe! Ein bißchen ist sie schon angebrannt. Eigentlich sind die Linsen weich genug, um sie erst einmal durchzusieben, das Mus kann dann weiterkochen. Nebiye solle entschuldigen, ein andermal wiederkommen. Helgas Fastentag war heute der Vorbereitung eines Festmahls geweiht. Sie fand das nicht grotesk, aß ja auch wieder gerne. Die Pole Fasten und Essen schlössen sich nicht aus. So machte es Spaß, nach langer Zeit wieder einmal ausführlich zu kochen.
Für die Izmirköfte wurden Lammfrikadellen und grüne Paprikaschoten angebraten. Die gekochten Kartoffeln kamen zerschnippelt in eine ausgebutterte Form, darauf eine selbstgemachte Tomatensoße. Die angebratenen Köfte und Paprika drüber, einige Tomatenscheiben, mehr zur Verzierung. So konnte die Form bis kurz vor Erscheinen der Gäste im Kühlschrank stehenbleiben, dann schob man sie in den Backofen, wo sich alles erwärmte und der Saft von den obenliegenden Köfte pikant auf die Kartoffeln tropfte. Das Gericht war Helgas erprobtes Glanzstück, heute der Hauptgang. Die Käsenudeln gab es nur noch zum Sattessen und damit nicht zu wenig auf dem Tisch stand.
Um drei Uhr nachmittags war bis auf den Wackelpudding und die Vanillesoße alles fertig. Helga hatte langsam und ohne Aufregung gearbeitet, fühlte sich nicht im geringsten erschöpft, auch Osmans Helfenwollen beim Köfteformen hatte sie nicht nervös gemacht. Ein bißchen brauchte sie ihn sogar zum Abschmecken. Soll ich noch Salz drantun? Osman ist Feinschmecker. Als Fastende Essen zubereiten — das kann abends Überraschungen geben. Einmal hat sie schon aus Versehen den Löffel mit der Tomatensoße in den Mund gesteckt, um zu kosten... Schnell wieder ausspucken und den Mund spülen. Sie erneuert den Fastenvorsatz, und nichts ist passiert. Zum Lachen, aber es ging mit einem Löffel rote Soße um Ja oder Nein. Allah war nicht kleinlich — nach Meinung »fortschrittlicher« Theologen war das Kosten der Speisen sogar erlaubt —, aber der Magen fing an zu spinnen, wenn er ein Signal bekam. Plötzlich steht Elmas im Flur, die Haustür ist ja offen. Auf der Schulter der Sack mit den restlichen Plastikschüsseln. Es sei mühsam gewesen in den Dörfern. Die Bäuerinnen weitgehend auf dem Feld, trotz Fasten würde da schwer gearbeitet. Der Schüsselbedarf habe sich nicht als so groß erwiesen wie erhofft. Angeblich hat ein Bürgermeister der Elmas im guten zugeredet, nicht zu hausieren in einer Zeit, wo so viele Leute bei der Feldarbeit seien, sonst würde man ihr eventuelle Diebstähle anlasten. Freilich ein paar Tausender habe sie schon eingenommen, davon würde sie sofort Schulden zahlen. »Und etwas für neue Ware zurücklegen«, wirft Helga ein. Die andere winkt ab. Das ist auf die Dauer nichts - die Kosten für den Bus und die Übernachtung auf dem Dorf fressen einen Teil des Gewinns auf. Auch würde sie krank beim Hausieren. »Glaub mir, ich habe eine Nacht mit entsetzlichem Bauchweh gelegen, sicher vom Schwitzen.« Was die Deutsche sich ausgedacht hat, ihr ideal erschien, nämlich daß die Elmas einen selbständigen Handel würde betreiben können, das ist dieser gar nicht so erstrebenswert. Sie sucht Nestwärme. Laß mich bei dir arbeiten, oder verschaff mir einen Arbeitsplatz in einem Haus. Heute ist tatsächlich etwas zu kehren, zu saugen und zu wischen, es kommen ja Gäste. »Braucht denn der Doktor Mahmut nicht eine Frau für die Wäsche und fürs Putzen? Ich bin sauber und stehle nicht.« Wie sollte sie Elmas empfehlen, die ununterbrochen von ihrem Schicksal erzählte und sich wie eine Klette anhängte? Vielleicht empfände Mahmuts Frau das gar nicht als so unangenehm. Helga würde zumindest einmal fragen. Sie war richtig froh, daß die Cingene ihr half, so war sie doch schon um vier Uhr fertig, als die Mattigkeit einsetzte. Elmas bekam vom fertigen Essen ihren Anteil. Kurz blitzte der Gedanke auf, sie einzuladen für heute abend. Wie Gandhi den unberührbaren Fahrer zum Tee an den Familientisch gebeten hatte. Helga »konnte« das nicht. Wie gut, daß es stichhaltige Gründe gab, es auch wirklich nicht zu müssen: das war ein Mahl zum Fastenbrechen, bei dem die nicht fastende Elmas fehl am Platz war. Und zu Hause würde sie sich mit ihren Kindern viel ungenierter über die Speisen hermachen, ohne Angst vor den Bemerkungen und Blicken der anderen Gäste. Für die wäre es eine Provokation, die der Elmas sicher nicht den erstrebten Arbeitsplatz gebracht hätte. Es war also nur im Interesse dieser Armen, wenn sie jetzt mit ihren Essensnäpfen nach Hause ging.
Ein voller Erfolg ist das Abendessen, wenigstens, was das Menü betrifft. In letzter Minute hat die Linsensuppe mit frischem Zitronensaft noch den richtigen Pfiff gekriegt, die Izmirköfte hat ein guter Geist — Osman — einzigartig abgeschmeckt. An den Nudeln fehlt ein wenig Salz ebenso am Salat; dem ist abzuhelfen. Bloß der Wackelpudding aus Deutschland erweist sich dann doch als zu große Überraschung. Bis auf Helga und Osman lassen ihn alle nach zwei Anstandslöffelchen stehen. Zum Glück gibt es die Möglichkeit, auf Wassermelone und Zuckerzeug auszuweichen, und der Mokka vereint sie dann wieder. Weniger erfolgreich verläuft die Unterhaltung. Da Tante Zehra und Onkel Salih nicht zur Societe gehören, weiß niemand so recht was reden, zumal die beiden Alten mit ihren beliebten Geschichten aus Bulgarien heute sehr zurückhaltend sind. Das Fernsehen hätte sich ja als Rettung angeboten. Da bleibt aber die Gastgeberin stur. Den amerikanischen Krimi will sie ihren Gästen nicht servieren. Wie wärs, nach Landessitte zu singen und zu spielen, Instrumente sind im Haus. Gerade noch rechtzeitig vor dem Ausbruch großer Ziererei und Peinlichkeit entdeckt Mahmuts Frau in einer Ecke den Diaprojektor. O, bitte, bitte, die Bilder aus Deutschland, die wollten wir doch schon so lange sehen. Die hattet ihr uns zu zeigen versprochen im vorigen Jahr, und dann wurde es immer nichts. Na, schön. So würden sie harmlos durch den Abend kommen. Osman im Schwimmbad, Osman im Zoo beim Ziegenfüttern. Ja, München, das Olympiazentrum; mit abgeschnittenen Füßen davor Helga — das Bild hat damals das Kind gemacht, gar nicht schlecht. Viele Bilder vom Häuschen und Garten der Oma. Osman mit Fußball, Osman im neuen, von der Oma gekauften Pullover, Osman auf dem Fahrrad eines Nachbarkindes. Die Betrachter sehen ganz andere Details als das niedliche, damals noch viel rundere Osmangesicht. Wie sauber die Straße ist. Die Mülltonne hat einen Deckel. Siehst du die schöne Dachform bei dem Haus rechts? Den Garten anzulegen muß Unmengen gekostet haben. Woher kriegt man die Blumensamen? Reicht denn das Wasser immer zum Gießen? Dann der Hamburger Hafen, das Schiff, mit dem sie eine Rundfahrt gemacht haben. Osman mit Schiffermütze, mal ist eine zerzauste Helga im Bild, wer hat da wohl auf den Auslöser gedrückt? Lagerhallen. Überseefrachter. Plötzlich Ömer. Helga erschrickt mit einem kleinen Schrei. Diese Bilder hat sie vergessen, nicht vermutet am Ende der Serie. Freilich, er ist damals gekommen, Frau und Kind vom Flughafen abzuholen. Das Wochenende nach der Rückkehr, da hatten sie den Film noch vollgeknipst. Also gut. Sie wollte diese Bilder jetzt zeigen. Ömer mit dem Kind auf dem Arm, Ömer vor der Blauen Moschee, Ömer, wie er dem Sohn das Kreiselspiel beizubringen versucht. Papa/Mama von Osman geknipst, dieses Mal waren die Köpfe über der Stirn abgeschnittenund die Münder standen weit offen vom Lachen, ein Clownsbild. Das letzte. Als das Deckenlicht eingeschaltet wird, zwinkert Mahmut bey und wischt sich die Augenwinkel. »Er war ein richtiger Freund, weißt du«, sagt er zu Helga, als seien sie allein im Zimmer. »Die Patienten fragen noch heute nach ihm.«
Sie hat es ja so gewollt, daß man endlich den Toten nicht totschwieg. Aber als nun auch die Mahmutfrau und deren Mutter den Song vom guten Doktor anstimmen, platzt sie fast aus der Haut. Wie wärs denn, wenn wir jetzt das Fernsehen... Tatsächlich, ein voller Erfolg dieses Abendessen! Ansonsten hätte sie vielleicht doch die Cingene einladen sollen. Schlimmer konnte es sowieso nicht kommen. Alle sind weg und das Kind liegt im Bett; auf eine Zigarette setzt sich die Gastgeberin vors Haus. Leise Stimmen dringen vom Nachbarbalkon links. Zwei rote Pünktchen glühen auf, bewegen sich. Tante Zehra und Onkel Salih rauchen zusammen. Ein altes Ehepaar, vereint in diesem einfachen Tun. Das würde sie nun auch nicht mehr sein können mit Ömer, ein altes Ehepaar.
Nun stiegen die Temperaturen. Dreißig Grad zeigte das Thermometer, noch ehe um zwei Uhr die Mittagssonne darauf schien. Helga spürte den Magen. Wie gut, daß sie fastete. Bei dieser Hitze auch noch essen, müßte mörderisch sein. Ganz langsam ist sie zum Kaufmann an der Ecke gegangen, um Streichhölzer, Seife, eine Flasche Öl zu kaufen. Auf der weißgekalkten Wand des Hauses sitzen Hunderte von Marienkäfern. Osman greift sich einenläßt ihn bis zur Fingerspitze krabbeln und droht ihm mit dem Kindervers, den hier alle kennen, Schläge an für den Fall, daß er nicht fliege, ansonsten sei die Belohnung ein Paar Schuhe. Wie gut, daß der Käfer da keine Rechte geltend macht mit seinen sechs Beinchen. Eine Marienkäferinvasion. Auch am Maulbeerbaum Kolonien und an den Angeln der Gartentür. Nicht zumachen, sonst zerquetschst du ein Dutzend. Was die wohl zu solcher Vermehrung getrieben hat? Die Nachbarinnen sagen, das habe es noch nie gegeben. Vorsichtig setzt Helga ein paar der gepunkteten, karottenfarbenen Blattlausmelker auf ihre Topfpflanzen.
Vorsichtig trägt sie auch die neugeborene Katze, die der Sohn aufgelesen hat, einige Straßen weiter, als sich herausstellt, daß dieses kleine struppige Fellhäufchen mit den verklebten Augen noch viel weniger als die anderen vom Teller zu trinken imstande ist. Den tagelangen Todeskampf wiederum mitzuerleben und sich dabei schuldig zu fühlen, obwohl sie nicht helfen kann — sie will sich das grausige Schauspiel des Verhungerns nicht noch einmal antun. Ein verhungerndes, ein sterbendes Kind würde sie auch dann noch zu retten versuchenwenn es eigentlich aussichtslos wäre. So wie sie dem tuberkulösen Baby Medikamente und Milchpulver besorgt hatte, obwohl da kaum noch eine Vene zu finden gewesen war für das Einstechen der Spritze, und jede Nahrung seit langem erbrochen wurde. Die Hungernden durfte ein Mensch sich nicht aus dem Gesichtsfeld räumen wie eine verendende Katze.
Wo nur die Brille war? Seit gestern abend sucht Helga nach ihrem »Fernrohr«, der Hilfe zum Weitsehen. Beim Vorzeigen der Dias hätte sie das Ding gebraucht, es im Trubel aber wieder vergessen. Heute, im gleißenden Sonnenlicht der Straße fällt der Verlust der zudem getönten Gläser ins Gewicht. Osman, hast du mit meiner Brille gespielt? Ganz gewiß nicht, Mama. Nun kann eine Brille so leicht nicht »weg« sein. Sollte Elmas? Oder auch Nebiye? Helga hat ja in die Küche müssen wegen der angebrannten Linsensuppe. Sie erinnert sich, die Brille hat auf dem Schreibtisch gelegen, während sie die Häkelborden der jungen Frau betrachtete. Ein blöder Verdacht, der nun bohrt und bohrt. Immer verschwanden ja Sachen — Scheren, ein Kopftuch, eine Flasche mit Klebstoff — und fanden sich nach einiger Zeit wieder. Einmal war ein von Helga besonders geliebter schwarzer Angorapullover ein halbes Jahr lang weggeblieben. Sie hatte die Waschfrau, damals war es noch nicht Fatma abla, verdächtigt, dann tauchte der Pullover in der Reisetasche wieder auf. Sie selbst verlegte in der Eile Sachen, und andere wurden beschuldigt. Die Brille. Nebiye hatte davon gesprochen, daß sie sich die Augen beim Handarbeiten schon so verdorben hätte, daß sie unbedingt eine Brille brauchte, aber die Rahmen seien halt unerschwinglich. Wer wäre denn so dumm, nach einer derartigen Bemerkung tatsächlich eine Brille zu klauen? Helga schämt sich, daß sie nun »sicher« ist, niemand als Nebiye kann es gewesen sein. Sie mußte sie zur Rede stellen, sie wenigstens fragen: »Vielleicht hast du neulich >aus Versehen< meine Brille eingesteckt. Mir selbst ist so etwas auch schon passiert. Schaust du noch mal nach in deiner Handtasche?« Widerlich. Osman spielt schon seit Stunden mit seinen Puppen. Einem Teddy, der immer der Vater ist, der dicken Strickpuppe als Mutter und dem Hasen als Kind. Osman allein in seinem Zimmer; draußen ist es seit Mittag so heiß, daß alle Spielkameraden von der Straße verschwunden sind. Die Puppen fahren mit dem Auto, dem Kinderbett ans Meer, springen in die Flut — eine blaue, am Boden ausgebreitete Wolldecke —, cremen sich ein, machen Picknick. Wie mit Ömer im warmen Herbst voriges Jahran einem der seltenen freien Sonntage. Sie hatten einen Platz fernab von allen Leuten gefunden, ein wenig Sandstrand, es ging flach ins Wasser, so daß sie um das Kind keine Sorge haben mußten. Ihr Lager unter einer riesigen Eiche, wie sie hier vereinzelt in den Dünen wuchsen. »Was brauche ich denn einen Mann?« konnte sie lachend und trotzig vor anderen Frauen sagen, — und dann stiegen ihr bei solchen Erinnerungsbildern die Tränen in die Augen. Sie hatte ihn geliebt. Auch da noch. Und trotz allem. Nur um nicht ins Witwenpathos zu versinken, durfte sie doch nicht die goldenen Augenblicke verleugnen, diese Versprechen auf Ewiges. Das meinte sie schon noch unterscheiden zu können von der Versuchung, die Vergangenheit in eine Romanze umzuschreiben, nachdem die Ehejahre ein nahezu ununterbrochener Kleinkrieg gewesen waren. Osman hat den Bärenpapa inzwischen gefesselt und drischt auf ihn ein wie wild. »Du blöder Papa, immer haust du ab.« Das Kind nimmt ein Lineal zu Hilfe, schleudert das Bärenpaket in die Luft. Fußtritte treffen mal den Teddy, mal den Ofen. »Was hat denn der Bär verbrochen?« »Der Scheißkerl kommt nie nach Hause, und die Mama und das Kind läßt er warten.« Osman spielt sein Leid heraus. Dong, dong, puff, immer auf die Nase. Am Ende des Puppenausflugs steht wieder eine Autofahrt, bei der aber der Hasensohn steuert und der noch immer gefesselte Papa auf den Rücksitz geschmissen wird. »Mama, ich will ein Butterbrot.« So taucht einer aus seinem Traum auf, sichtlich erschöpft und hungrig. Helga ist »da«, zeigt es ihm, indem sie Brot abschneidet und schmiert. Das Kind will über das Geschehene nicht noch reden — es ist ja alles klar. »Magst du mit mir Fangdenhut spielen?« Und da sagt sie »Verschlossenheit und Ferne«. Das Wasser rinnt über die Arme, erfrischt das Gesicht kühlt die Füße. Am Abend des heißen Tages zum fünftenmal heute die Gebetswaschung, wer könnte da »trocken« bleiben? Eine Ahnung von Leben beim Rinnen des kühlenden Wassers über verschwitzte Haut. Eine Ahnung beim Betrachten des klaren Sternenhimmels, der in der Zeit des nun abnehmenden Mondes sich jeden Abend deutlicher zeigt. Das Weltall geschaffen aus göttlicher Güte. Helga unter dem kleinen Ausschnitt von Weltall, der gerade über ihrem Garten stand. Großer Wagen, Cassiopeia, Polarstern, kleiner Bär. Tröstliche Bilder, vertraute Bezeichnungen für etwas, über dessen Wirklichkeit sie sich schwer eine Vorstellung machen konnte. Sie hatte gelesen von Katastrophen, dem Implodieren riesiger Sterne zu Schwarzen Löchern, Sichzusammenballen der Materie in eine schreckliche Singularität, aus der nichts mehr nach außen drang. Das Große Erbarmen kannte keine Weichlichkeit, hatte nicht erst bei den Menschen nachgefragt, welchen Begriff sie sich machten von einem »lieben Gott«. Sie aber wollte auswählen, — wie wenn sie es besser wüßte. Als Zeichen das Angenehme, um nicht zu sagen das Idyllische, gelten lassen, kühles Wasser, den leuchtenden Sternenhimmel, dagegen die Hitze des Tages nicht. Wollte danken für ein gesundes Kind, aber für den toten Ehemann nicht. Und dann sich wundern, daß sie so wenig bemerkte von dem, der Seine Zeichen aus allem nahm. Irgend jemand hatte die Brille geklaut. Helga sah schlecht, weil die Augen schlecht waren, aber auf die Brille, besser gesagt auf den Brillenklauer, schob sie die Schuld. Wenn eine im Bett liegt, und es juckt juckt der Po, dann gibt es nur zweierlei: kratzen, bis die Schmerzen größer sind (zu oft erprobt und als Sackgasse befunden), oder: dem Jucken eins draufgeben durch Brennen. Es war achtzigprozentiges Eau de Cologne im Haus, das sich die Leute hier zur Desinfektion auf die kleinen Wunden des Alltags gossen. Helga machte einen Wattebausch feucht, ging in die Hocke und tupfte sich die Furche aus. Das brannte wie das höllische Feuer persönlich. Sie stöhnte und hüpfte im Bad umher, bis das Schlimmste nachließ. Eine angenehme Wärme war zu spüren. Jetzt bloß nicht mehr hinfassen, nicht mal drandenken. Alles würde gut werden. Aus dem Blumenstrauß züngelt eine Kobra empor. Das Kind lacht und fängt an, damit zu spielen. Natürlich wird es gebissen. Helga lastet die Schuld dafür dem Vater an und weiß doch, sie selbst hätte die Kobra längst beseitigen müssen, hat das aber immer wieder »vergessen«.
Das Wasser im hauseigenen Depot geht zuende. Seit fünf Tagen ist kein Nachschub von der Pumpstation gekommen, und das bei Temperaturen, die den Schweiß sofort nach dem Duschen wieder auf die Haut treiben. Helga hat für den Sohn ein Plastikwännchen in den Garten gestellt, handhoch gefüllt. Da kommt Elmas gerade recht, ein paarmal zur Quelle zu gehen, damit in der Küche das Brauchwasser nicht versiegt. Immer länger dauert es, bis sie jeweils mit den vollen Kanistern zurückkehrt — es ständen an die hundert Frauen wartend an der Wasserstelle. Elmas hat noch nicht gefrühstückt. Sie setzt sich an den Tisch im kühlen Flur, Tee ist keiner mehr da, aber ein Glas Limonade, Käse und Brot. Ja, doch, Helga hat auch ans Fragen gedacht: leider benötigten die Mahmuts keine weitere Hilfe; für Wäsche und Hausputz käme eine Nachbarin. »Es war nicht mein Kismet«, meint die Cingene. Einmal sei sie tatsächlich bei einem Kaufmann fest angestellt gewesen, aber nicht für lange. Erst habe der einen Tageslohn bezahlt, dann aber plötzlich verlangt, sie solle mit einem monatlichen Gehalt zufrieden sein, das etwa ein Drittel weniger betragen habe, als zusammengerechnet die Tagessätze. »Das hat er natürlich extra gemacht. Und mir blieb nichts übrig als zuzustimmen. Ich wollte ja die Stelle nicht verlieren.« Eine feine Wohnung sei da zu putzen gewesen, überall Teppiche auf Marmorfußboden, viele Fenster mit Samtvorhängen. Täglich sei auch Babywäsche angefallen von einem gerade neu geborenen Mädchen. Elmas habe da gerne gearbeitet, und die Frau des Kaufmanns habe sie gelobt als fleißig und sauber. Immer habe sie auch Essensreste bekommen und alte Kleidungsstücke. Bloß mit der Art der Bezahlung habe es nicht geklappt. Sie habe ja gar keine Ersparnisse gehabt, wie hätte sie da einen ganzen Monat auf das erste Gehalt warten können? Nach einer Woche sei sie zu dem Kaufmann ins Geschäft gegangen und habe ihm ganz ruhig ihre Lage geschildert und um einen Vorschuß gebeten. Der habe gesagt, es sei gerade »kein Geld in der Kasse«, und sie solle am nächsten Tag kommen. Also gut. Nach kurzer Zeit sei dieses wenige Geld aber wieder alle gewesen, und sie habe aufs neue bitten müssen. Da sei der Kaufmann wütend geworden und habe sie angeschrien. Und am nächsten Tag habe die Frau sie entlassen. Das sei aber fein verschleiert gewesen. Die habe so getan, als ob sie mit dem Baby zu ihrer Mutter führe und deshalb keine Hilfe mehr brauchte. Tatsächlich habe die Elmas jedoch gesehen, daß die Frau noch da war. »Einen Tageslohn waren die mir noch schuldig, und ich habe mich nicht getraut, den zu verlangen. Die Reichen wissen schon, wie sie ihr Geld zusammenhalten.« So wie der Großbauer, bei dem Elmas im Frühjahr wochenlang mit einer Arbeitskolonne auf den Reisfeldern geschafft hat. Jetzt ist Anfang Juli, aber die Leute werden vertröstet auf die Ernte: vorher sei kein Lohn zu erwarten. Die Frauen haben im Schlamm der Reisfelder gesteckt, im kalten Wasser gestanden, den Wind ausgehalten, sich gebückt und schwere Säcke mit Saatgut getragen. »Weißt du, wie ein Reisfeld angelegt wird? Zuerst gräbt der Pflug die Erde um, dann wird das Feld in Parzellen eingeteilt, die durch niedrige Erdwälle voneinander getrennt sind; auch diese Arbeit tut noch eine Maschine, eine Art Schneeschieber. Danach werden die Parzellen unter Wasser gesetzt. Das Saatgut, ungeschälten Reis, herbeibringen und ausstreuen können nur Menschen, denn eine Maschine würde ja im Matsch steckenbleiben und die Erdwälle kaputtmachen. Zuletzt kommt das Schlimmste, das Einbuddeln des Samens in den Schlamm, das ist eine Cingene-Arbeit. Der Schlamm wird aufgerührt, damit der Reis, der ansonsten in oder auf dem Wasser schwimmen würde, von Erde bedeckt ist.« Nachts schliefe man in Zelten auf der nackten Erde. Die Kinder seien dabei, hülfen auch mit, würden natürlich krank, störten aber vor allem die Mütter und verlangten Brot — von welchen Ersparnissen denn eigentlich? Elmas trägt die Bescheinigung für ihre Arbeitsleistung einen Fetzen Papier, im Innentäschchen ihrer Baumwollhose, zieht ihn hervor für Helga, weiß nicht, wieviel sie dafür zu kriegen hat. Wenig kann es ja nicht sein bei dem Einsatz an Kraft, Geduld und Leiden. »Soll ich heiraten?« Die Elmas schaut kokett, leckt sich die Lippen, wiegt sich vor dem Spiegel. Nein, es ist kein Mann in Sicht, bloß so. Sie würde sich gerne schön eincremen, ob Helga nicht eine Creme habe, damit die Stellen im Gesicht weggingen. Im braunen Cingenegesicht sind tatsächlich einige noch tiefer braune Tupfen und Flecken. Bist doch hübsch, Elmas, wenn du lachst und ich schenke dir diese Creme und ein Paar silberne Ohrringe dazu. Lachen, Umarmen, Bewundern, Kichern. »Wozu denn einen Mann? Der kommt besoffen heim und schlägt die Kinder. Daß ein Fremder meinen Hasan schlägt, ertrage ich nicht.«
Alle Nachbarinnen sind rübergelaufen, ehe die Deutsche endlich kapiert: da ist eine krank, Ay^e, weitläufig verwandt mit den beiden Großmüttern, selber Mutter von drei kleinen Kindern. Als Helga in das Schlafzimmer tritt, sitzen schon acht Frauen um das Bett, auf dem die Kranke wie aufgebahrt liegt. In aller Frühe sei Ayse plötzlich zusammengebrochen, hätte gezittert und keine Luft mehr gekriegt. Ein Arzt sei dagewesen, hätte eine Spritze gegeben und angeblich »Blutarmut« diagnostiziert. Stirn, Hände und Füße der Kranken eiskalt, kalter Schweiß, kein Fieber. Die Augen sind halb geschlossenden Atem preßt sie stoßweise heraus, ab und zu schluckt sie krampfhaft, wobei sie sich mit der Hand an die Kehle fährt. Obwohl es ihr doch sichtlich schlecht geht, liegt sie kerzengerade auf dem Bett, die Hände vor der Brust, den Kopf hoch auf drei Kissen. Ist das wohl auch ihre Schlafhaltung? Oder ob sie sich nicht lieber ins Bett gekuschelt hätte und allein gewesen wäre? Das geht hier nicht, Kranksein hat eine Schauseite, und auch Ayse weiß, was sie den Zuschauerinnen schuldig ist. Den Kopf rollen, stöhnen, und ein Zittern durch alle Glieder. Stirn und Hände werden ihr mit Eau de Cologne abgerieben, jemand zupft die Decke zurecht. Helga macht den Vorschlag, über die trotz der Hitze eiskalten Füße ein Paar Socken zu ziehen. Die Großmutter ist dagegen, weil das beengt. Die Bewegungen der Kranken wurden leise kommentiert, mögliche Krankheiten in Betracht gezogen; daß »Blutarmut« nur eine Ausrede ist, wissen die Frauen natürlich. Ayse hat gefastet, wegen der »Tage« das Fasten für eine Woche unterbrochen, dann gestern wieder angefangen damit. Ob das vielleicht die Ursache ist? Hadiye hanim erinnert sich — und jetzt erinnern sich auch die anderen — an den selben Zustand Ayses vor zwei Jahren. Damals ist keine Fastenzeit gewesen. Einige Vitaminspritzen haben Heilung gebracht. Was auch immer, die Nachbarinnen sind bereit, jede Krankheit anzuerkennen und mitzutragen.
So als könne sie nicht sprechen vor Schwäche, äußert sich die junge Frau nicht zu den Vermutungen. Vom offenen Fenster weht die Gardine herein, immer wieder kommen auch Fliegen und Wespen mit, die dann vom Bett fortgewedelt werden müssen. Das Eheschlafzimmer: Doppelbett, nur einszwanzig breit, eine einzige Decke für das Ehepaar zusammen. Beinhaltet das nun innige Liebe oder brutalen Kampf jede Nacht? Die schön umhäkelte Bettwäsche. Ein leichter Geruch nach Mottenpulver geht vom Kleiderschrank aus. Der Fußboden kaltes Linoleum, grün. Dagegen rosa die Wände und rosa die Übergardinen mit Rüsche. Einziger Wandschmuck: ein frommer Kalender.
An der Tür zeigt sich ein Kind, will die Mutter sehen, wird aber wieder hinausgeschickt. Die Kranke stöhnt jetzt stärker, fängt an, sich hin- und herzuwerfen, murmelt etwas. Beratung unter den Beisitzenden: Ayses Mann muß geholt werden. Das ist ziemlich schnell geschehen, denn das Cafe, das er betreibt, liegt gleich bei der Moschee.
Der Mann hat sich ein Auto ausgeliehen und beschlossen, seine Frau noch einmal zum Arzt zu fahren. »Steh auf!« Ayse kann sich plötzlich ohne Hilfe erheben, aus dem Schrank ein Kleid hervorsuchen, sich vor dem Spiegel kämmen, allein aufs Klo gehen. Der Mann treibt zur Eile an, jetzt ist seine Frau fertig, bis auf das Kopftuch, das sie einfach nicht findet. »Ist doch egal«, der Mann drückt sie vorwärts. Er hält die Kranke nicht etwa am Arm, sondern gibt ihr ab und zu einen kleinen Stoß in den Rücken, bleibt aber dicht hinter ihr, die Hand schon ausgestreckt, um sie notfalls auffangen zu können. Die drei Kinder, die ins Auto geklettert sind, werden vom Vater wieder rausgeworfen, dafür wird die Großmutter mitgenommen, die jetzt mit dem Kopftuch daherweht. Abfahrt vor versammelter Nachbarschaft. Der Start im zweiten Gang gerät derart rasant, daß es sogar einer Gesunden hätte schlecht werden können. »Der ist ganz schön nervös.« »Die haben doch gestern abend gestritten.« »Arme Ayse.« »Kinder, kommt rein, ich gebe euch was zu essen.« Heute hat Helga richtig reagiert. Als nämlich einmal Gül für einen Tag krank gewesen ist, hatte sie sich hinterher beschwert: »Alle Nachbarinnen haben an meinem Bett gesessen, bloß du nicht!« Ach, diese Krankheiten, die in der mitfühlenden Gemeinschaft besser wurden. Helgas Leiden war anderer Art, es richtete sich an niemanden hier; der einzig mögliche Adressat, Ömer, war ja schon aus dem Spiel, aber der hatte nie richtig mitgespielt, und so mußte sie selber schauen. Die Nachbarinnen wären sicher schockiert gewesen, wenn ihnen die Doktorfrau ihre Krankheit vorgezeigt hätte. Die war unanständig, pervers, »unislamisch«. Dabei wurde der Islam in den Schriften seiner Verteidiger als umfassend gerühmt, als eine Religion, die sich keiner Lebensfrage verschloß. Theoretisch. Gestützt auf diese Theorie hatte Helga vor, so erschreckend und beschämend es auch für sie war, den ganzen Untergrund einzubringen, die Krankheit und das verborgene Unheil, dessen Ausdruck sie war. Wenn schon »Helga, Gott geweiht«, dann mit allem Drum und Dran, mit dem leidenden Leib, der verletzten Phantasie.
Hast du denn gar keinen Hunger, Mama, kann das Kind schon mal sagen, wenn ihm auffällt, daß die Mutter, ohne zu essen, daneben sitzt beim Frühstück oder bei einer der vielen kleinen Mahlzeiten, die es über den Tag verteilt. Nein, Helga hat keinen Hunger, selbst wenn sie ihr Kind essen sieht. Unheimlich wird es nur am Abend, sobald nach dem Ezanruf einmal der Damm gebrochen ist. Das Abendbrot reicht gar nicht mehr, ein Gefühl der Sättigung herbeizuführen, obwohl auf dem Tisch steht, was das Herz begehrt, Suppe, Gemüse, Fleisch, Obst. Wenn das Kind schläft, geht es weiter mit Kirschen, Pudding, einem Glas Milch, Schokolade, Bonbons. Ja, wieder Süßigkeiten, obwohl eine innere Stimme warnte. Was sollte eigentlich Fasten bewirken, wenn die mühsam errungene Feinheit der Sinne abends derart gedankenlos übertönt wurde? Dieses Hineinstopfen von Nahrung ging halb unbewußt vor sich, ohne rechten Genuß. Als müßte sie solange essen, bis eine Markierung erreicht wäre, die anzeigte, daß die »Tonne voll« war. Zu normalen Zeiten war sie viel konzentrierter. Gerade die islamische Form des Fastens, bei der man immer wieder umschalten durfte von Enthaltung auf Schlemmen, war so unasketisch einfach nicht: das rechte Essen sollte — unter anderem — in diesem Zusammenhang gelernt werden. Wie weh das tat spürte Helga am eigenen Leibe. Das Fasten hatte ihr ein Loch in den Bauch gefressen; alle Nahrung der ganzen Welt konnte die Leere nicht füllen. »Du hast mich hungrig gemacht, damit ich weinen muß«, sagte der Mystiker Ibn Arabi. Hunger auf Manna, Himmelsspeise. Schau mal, der Kater verbeißt sich in das weiße Lammfell unter dem Schreibtisch. Ein Loch hat er schon hineingenuckelt, eine feuchte, braune Kuhle. Kein Vertreiben, nicht mal Schläge nützen, er saugt sich immer wieder an derselben Stelle fest. Schnurren und rhythmisches Treten mit den Vorderpfoten zeigen höchstes Behagen an. Dabei sind Krampfhaftes und Lustvolles derart verknüpft, als ginge es auf einen Orgasmus zu. Oder träumt sich das Tier an der Mutterbrust, die es so früh hat entbehren müssen? Für Osman ist ganz klar: »Der Kater meditiert.«
Die Wunden am Po waren seit gestern alle geheilt. Das wollten die Finger nicht glauben, mußten es kontrollieren. Wie zart und trocken die Haut war, zur Mitte hin weicher, bloß der Damm tat empfindlich und war weiterhin unnormal hoch. Noch liebkosten die Fingerkuppen das Geriffel abwärts zur Furche, und die Nerven antworteten in süßem Kitzel. Ein Reiz, eine Herausforderung, mach weiter, stärker. Da hatten sie sich schon verkeilt, und aus dem Spiel war Gebalge geworden, ein Ringen, Kampf. Panzer fuhren auf an den Berghängenzerpflügten das Gelände, und keiner rief »halt«. Vielmehr: wer ließ sich schon halten von den vielstimmig ausgesandten Warngedanken? Ineinander verkrallt waren die Feinde, Nägel und Fleisch, und es mußte mal wieder gehen bis zum blutigen Ende. Die Sieger bekannten ohne Frohlocken: »Wir haben nur unsere Pflicht getan.« So war also der alte Mechanismus noch einmal abgelaufen und waren alle Wunden wieder offen. Als ob nicht zugedeckt und begraben werden durfte, was vorher nicht ans Licht gebracht und wirklich geheilt worden wäre. Heilung war auch Sündenvergebung.
O Arsch voll Blut und Wunden
Terra incognita
Ersatzspielzeug
Kratzhölle
Feuchte Furche
Erloschener Krater
Gegenmund
Glückloser Zweiter, »up ewig« orgasmuslos
Schreckenspforten
Zwangskarussell (wie sie das Kind zum Aufessen zwang: wer Eiweiß sagt, muß auch Eigelb sagen) Verkannter Seismograph, Angstklingel, Angstmelder. Setz dich auf den Hosenboden, hatte es beim Lernen geheißen, und: Kneif die Pobacken zusammen. Der Einlauf vor Osmans Geburt. Die Schwester hatte geboten, »noch ein bißchen anhalten«, obwohl Helga zum Platzen voll war, kackvoll. Über der Kloschüssel noch anhalten, das war schier unmöglich. Die Angst zuckte und riß in den Gedärmen, war ganz körperlich und als der grüne Brei dann endlich kommen durfte, war es der Weltuntergang. Todesangst. Im Sterben hatten die drei jungen Kätzchen den letzten Darminhalt aus sich herausgeschissen, drei gelblichbraune Häufchen, auf dem alten Rock festgeklebt, der ihnen zum Lager in dem Holzverschlag gedient hatte. Aufregung hatte bei Helga schon als Kind auf die Verdauung gewirkt. Wie bei jener verhängnisvollen Geburtstagsfeier, wo sie zu Hause noch auf dem Klo gewesen war, dann aber auf dem Hinweg so dringend mußte, daß ein Kleckschen in die Hose ging. Bei der Freundin zuerst einmal auf die Toilette — alle fanden das komisch — die Hose auswischen mit Papier, und dann einen Nachmittag lang die Angst, man könnte das riechen, oder es käme plötzlich wieder, und sie hätte keine Zeit mehr bis zum Klo. Unter vielen Menschen war es ihr heute noch nicht wohl. Kam sie heim aus fremder Umgebung, dann begann der Po verstärkt zu jucken und forderte Zuwendung und eine extra Kratzpartie. Anal fixiert? Freilich wäre es auch ihr lieber gewesenwenn sich die Sensibilität ein weniger verpöntes Organ ausgesucht hätte. Konnte nicht die Nase jucken? Aber auch damit wurden ja Witze gemacht. Wenn die selfmade-Psychologen erst mal anfingen! Wo war die Beziehung zwischen analer Dressur und Geiz? Offensichtlich übertrieb sie in die andere Richtung, kompensierte ihren eigentlich vorhandenen schrecklichen Geiz durch besondere Freigebigkeit und badete das dann mit Pojucken aus.
Es reichte. Sie war müde, geradezu erschöpft von zu vielen Gedanken über ein sowieso schon ermüdendes Phänomen. Kind zudecken, Katze rauslassen, die Uhr stellen. Hoffentlich überhörte sie den Trommler, der immer viel zu früh vorbeiging.
Gegen Morgen kommt gnädig Wasser von der Pumpstation, rieselt und blubbert in der Zuleitung, fällt dröhnend in den leeren Tank. Später werden die Geräusche leiser, ein Rinnen und Tropfen, das den ganzen Vormittag anhält. Ende der Trockenzeit, unter der Helga, dank des hauseigenen Vorratsspeichers, nur am gestrigen Tag zu leiden gehabt hat. Und was ist das schon für ein Leiden gewesen? Nicht duschen, keine Klospülung, in der Küche aus dem Eimer schöpfen, die Gebetswaschung aus dem Krug. Andere mußten ihr Leben lang das Wasser von weither schleppen, es sich becherweise zuteilen. Als die Spitzenhäklerin erscheint, wird sie nach der Brille gefragt, von der sie »natürlich keine Ahnung« hat. — »Also, du glaubst doch nicht, ich hätte die Brille genommen? Da sollte Allah mich strafen. Meine Eltern sind in der ganzen Stadt bekannt als ehrliche Leute. Cingene, aber ehrlich.« Helga muß sich schämen, sie hat eine Unschuldige verdächtigt. Wie kann sie das gutmachen? Zudem hat sie weder den Brief an die Behörde geschrieben, noch das Geld für die Häkelborden zur Hand. Fatal, aber die Überweisung der Witwenpension war in diesem Monat unpünktlich. Den kleinen braunen Buben, der mit Nebiye gekommen ist, läßt die Doktorfrau mal eben in die Pralinenschachtel greifen, Nebiye raucht lieber, sie fastet nicht, wie sich jetzt herausstellt. Das Kind matscht mit der Praline herum, holt sie wieder aus dem Mund und betrachtet die ungewohnte Süßigkeit. Speichel und Schokoladensoße tropfen auf den Teppich. Helga hat ein Tuch bereit, nennt alles »gar nicht so schlimm« und bebt doch innerlich. Mußte das nun sein? Wie wurde sie die junge Frau wieder los, die sich anscheinend für einen längeren Besuch so schön angezogen hatte, Flügelkleidchen im Panterfelldruck? Nebiye interessiert sich sehr für Deutschland, will geradezu alles erfahren, verständlich, ihr Mann ist ja dort.
Mehrmals klopfen unterdessen Bettlerinnen an die Tür, bekommen heute kein Geld, aber doch wertvolle Ware: Nudeln, Bohnen, Fett, Tomaten, Reste vom Abendbrot. Die spitznasige Alte meckert, weil sie einfach nicht einsieht, daß Geld auch in diesem Haus knapp werden kann. »Anderen hast du sicher gegeben. Kein Geld, kein Geld, das ist eine Lüge«, murmelt sie. Helga kriegt eine gelinde Wut bei diesen Vorwürfen. Wollte die Alte sie unter Druck setzen, ihr vorschreiben, was zu geben war? Freilich befanden sich noch einige Geldscheine im Portemonnaie, sie hatte ja schließlich einen Eigenbedarf. Nebiye erscheint, von dem Wortwechsel angezogen. »Diese alte Hexe, gewöhne dich bloß nicht daran, hierherzukommen.« — »Nimm dich in acht vor dem jungen Gemüse« kontert die Großmutter. Keine Solidarität unter den Cingene. Helga sagt kein Wort mehr. Die Armen waren ihr plötzlich derart zuwider, daß es sie große Selbstbeherrschung kostete, nicht alle rauszuschmeißen. Ihr stummes Warten, daß die Alte und später auch Nebiye gingen, sprach aber deutlich genug. Armenfürsorge war solange schön, als man aus dem Vollen geben konnte. Schön auch, solange sie der Eitelkeit schmeichelte. Sich als Wohltäterin sehen. Die verdeckte Selbstfürsorge, besonders beim Bemühen um Elinas, die ebenfalls Witwe war. Dabei stand eigentlich nicht die Not der Gebenden zur Debatte! Die Ungeduld der Habenden, sobald es gegen ihre Grenzen ging. Die Grenzen des Besitzes, die Grenzen der Verfügungsgewalt, die Grenzen der Geduld.
Eines stand fest: die Armen durften einen nicht arm machen. Nicht jede war eben eine Mutter Theresa von Kalkutta. Wie man zu dieser alles umfassenden Barmherzigkeit gelangte? JesusFranz von Assisi, Scheich Nureddin — sie erbarmten sich einfach ganz anders, nahmen die Armen wirklich an. Während Helga zwar »viel tat«, aber immer vor einer Schranke stehenblieb, — das fühlte sie, und das warf sie sich vor. Sie hatte die richtige Ethik, unzweifelhaft, bloß war die Realität so fies, so gemein, täglich Prüfungen zu veranstalten, wie weit denn das Gedachte und Gewollte schon in ein Neu-Sein umgesetzt worden war. Welche Erfahrungen die Nachbarinnen mit dem Fasten gemacht hätten, will nun die Deutsche wissen, die ja Anfängerin ist in dieser Kunst. Die Frauen zählen ihr das auf, was in jeder Broschüre über den Ramazan nachzulesen ist: das Fasten sei vom Koran vorgeschrieben und der Wille Allahs. Man lerne Selbstbeherrschung und komme um so eher ins Paradies. Gefragt nach Details, wie sich denn im Laufe der Zeit Frömmigkeit und Selbstbeherrschung entwickelt hätten, finden diese Frauendie auch sonst nicht viel über sich nachdenken, keine Antwort, außer, daß es halt anfangs schwerer falle und mit der Zeit, zur Gewohnheit geworden, beinahe von selbst gehe. Übrigens hat sich die Krankheit der Ayse doch als ernster herausgestellt, als angenommen. Schilddrüsenüberfunktion ist festgestellt und die junge Frau für ein paar Tage ins Krankenhaus eingewiesen worden. Verstört laufen die drei Kinder herum, obwohl, oder vielleicht weil jede zu trösten versucht: »Die Mama kommt morgen wieder.« Die Großmütter wollen kochen und nachts abwechselnd im Haus schlafen, auf diese Weise wenigstens die materielle Betreuung sichern.
Das schöne, heiße Wetter der letzten Tage hat die Maulbeeren fester werden lassen, sie matschen nicht mehr so und sind nun zum größten Teil reif, schwarzrot. Es wird beschlossen, den Baum abzuernten. Da es eine hohe Leiter nicht gibt, klettern ein paar Kinder in die Äste und schütteln. Inzwischen haben die Frauen Planen und Bettlaken ausgebreitet, in denen sie die Früchte auffangen. Jede sammelt sich so viel, wie die Familie heute verzehren kann, Vorratshaltung ist ja nicht möglich. Die zögernde Helga wird gedrängt, ihrerseits eine Schüssel zu holen und ihren Anteil aufzuklauben. Schließlich stehe der Baum vor ihrer Haustür. Gut, sie würde die Beeren essen, wie eine Strafe. Maulbeere zu Maulbeere. Blutgericht. Metastasen, erstarrtes Leben, der Pfropf in der Gebärmutter. Und einen Tee würde sie sich kochen mit den Blättern, das hieße, dem Schrecken entgegengehen und den Prozeß beschleunigen, der ja doch ablaufen mußte. Warten bis zum Abendezan. Grotesk, wie sie Fristen einhielt vor dem unerbittlichen Ende. Die Nachbarinnen sind mit ihren Schüsseln in die Häuser gegangen, Onkel Salih kehrt die herumliegenden Maulbeeren, vermischt mit Hunderten von Marienkäfern, für seine Hühner zusammen. Die Sonne sinkt schon hinter die westlichen Häuserblocks. Helga brüht in der Teekanne vier Blätter auf und läßt den Sud stehen. Giftmischerin. Nicht mal die Seidenraupen mochten das Laub des schwarzen Maulbeerbaums. »Ich grüße dichdu einzige Phiole.«
Das Kind kommt hereingehüpft. »Was gibts zum Abendbrot?« — »Maulbeeren.« »Ich will aber Suppe.« Während Osman sich Brotbröckchen in die Suppe tut und dann mit Genuß löffelt, trinkt die Mutter ihren Tee. Schluckweise. Der Geschmack war nichtssagend, fad, leicht süßlich, pflanzlich. Nach der ersten Tasse fing sie an zu schwitzen, hatte ein Gefühl, als griffe ihr jemand in den Nacken. Trotzdem goß sie sich auch die zweite Tasse ein, ließ das Zeug nicht kalt werden. Es zuckte im Kopf. Leicht schwankte der Stuhl vom Schwindel. Oder bildete sie sich alles nur ein? Hätten zwei Tassen Zuckerwasser auf leeren Magen die gleiche Wirkung gehabt? Nun mußten auch die Früchte noch hinterher, das Schüsselchen voll Ekel. Helga würgte mit stierem Blick eine Maulbeere nach der anderen in sich hinein, wie die Schwangere in dem Trommlerrornan ihre Ölsardinen. Osman wurde aufmerksam. »Willst du heute kein Essen?« Das Kind. Sie würde das Kind zurücklassen. Aber nun hatte sie den Tee schon getrunken, das war nicht ungeschehen zu machen. Diese Übelkeit. Ihr war so schlecht. Sie legte sich hin, stöhnte, mußte den Rock ausziehen, weil der Leib sich blähte. Osman fragte kurz, ob er den Fernsehapparat anschalten dürfe, Helga hatte keine Kraft, das zu verbieten. Sie trieb auf graugrünen Wellen, das Boot schwankte, war dem Meer preisgegeben, eine der haushohen Wogen würde sie verschlingen. Die Ohren sausten, wurden taub. Dann kam der Brechreiz. Vom plötzlichen Aufstehen taumelig, war Helga nicht schnell genug im Klo, so daß sie sich davor auf den Boden und gegen die Wand erbrach. Gleichzeitig spürte sie, wie ein Strahl wasserdünnen Durchfalls nach hinten losging. Noch nie hatte sie sich so hilflos gefühlt; aber Angst hatte sie nicht, war schon jenseits der Angst. Eher komisch, wie das alles von selbst ablief. Sie zog sich die klebrige Hose runter und hockte sich auf die Schüssel. Es schoß noch mehr heraus, wie aus einem Gartenschlauch, stoßweise. Der Brechreiz ebbte ab. Nach einer halben Stunde war alles vorbei. Trotz ihrer völligen Erschöpfung machte Helga sich ans Aufwischen des Erbrochenen auf Fußboden und Wand. Maulbeermatsche. Das Höschen in einen Eimer. Sich selbst noch abwaschen; trotz Seifenbehandlung blieb der Gestank in der Nase.
Osman lümmelt vor dem Kasten, wo eine Sängerin ihre Rundungen schwingt und mit schluchzender Stimme ein bekanntes Volkslied vorträgt. Er ist nicht abgeneigt, ins Bett zu gehen, wenn die Mutter bei ihm sitzenbleibt. Helga legt sich an den Rand des Kinderbetts. Die Übelkeit ist wirklich vorüber. Der Sohn schnüffelt und meint: »Du riechst aber doll nach Parfüm. — Jetzt muß ich dich mal was fragen: Wenn man einem Freund sagt: Bring mich um! und der macht das, kommt er dann ins Gefängnis?« Welche Rechtsprobleme schon ein Kind haben konnte. »War denn ein Anlaß, sich umbringen zu lassen?« »Die Leute sagen, daß man den Allah erst nach dem Tod sieht. Und da habe ich der Öznur ein Messer in die Hand gegeben...« Im Traum erscheint Dorothea, die Ärztin, die Freundin, im weißen Kleid. Wie in Schulmädchenzeiten scherzen und lachen die beiden damals Unzertrennlichen.
Raziye bringt, was sie aus den geschenkten Stoffen genäht hat, ein Röckchen mit einer Rüsche unten dran, eine Pluderhose, ein Nachthemd. Zwei Kinderkleider habe sie schon verkauft. Mit Nähen könne sie bestimmt ihren Lebensunterhalt verdienen, aber eine Maschine müsse her. Unschwer einzusehen, bloß woher soll das Geld kommen? In Deutschland wäre es vielleicht möglich, eine gebrauchte Maschine zu beschaffen, hier trennt sich niemand von dem guten Stück, ehe es nicht ganz kaputt ist. Eine neue kostet zwei durchschnittliche Monatsgehälter und ist aus dem laufenden Etat nicht zu bestreiten. Da bleibt nur der Notgroschen in Devisen von dem Helga den Betrag gerade noch abzwacken kann ohne die Mittel für die Fahrkarte nach Deutschland zu gefährden. Sie selbst ist froh über diesen Einfall und drängt, die Sache sofort zu erledigen.
Gemeinsam gehen sie zuerst in das einzige Nähmaschinengeschäft der Stadt, dann auf die Bank. Es macht Spaß, beim endgültigen Abschluß des Handels zehn Prozent Preisnachlaß zu erzielen. Alles erscheint der Fastenden heute leicht. Sie selbst fühlt sich leicht, hat rettende Ideen, die Menschen sind mit ihr zufrieden, der Weg ist voll Sonne. Beim Suhur-Frühstück hat sie vorsichtshalber nur trockenes Brot und Tee zu sich genommen. Die gestrige Übelkeit ist aber, wie der Durchfall, endgültig vorbei. Osman darf auf dem Pferdefuhrwerk mit aufsitzen, das die Nähmaschine zu Raziyes Hütte bringt. Und von dort begleitet die überglückliche Frau das Kind wieder heim, wohl auch, um der Wohltäterin mit vielen Handküssen und Umarmungen zu danken, was in dem Geschäft so nicht möglich gewesen ist. Zum Einstand werden nun noch einige Garnrollen, Spulen und Nadeln hervorgesucht, es findet sich auch ein geblümter Stoff. Als Raziye um einen kleinen Kelim bittet: »Mein Fußboden ist roher Zement« — bedenkt sich Helga nicht lange. Es ist ja ein Freudentag heute. Bloß mit Osman hat sie nicht gerechnet, der ein lautes Protestgeheul erhebt. »Das ist mein Kelim, den brauche ich zum Picknickmachen. Alles schenkst du den ollen Cingene.« Glücklicherweise tobt er sich auf deutsch aus, so daß Raziye gar nicht mitbekommt, worum es geht und zufrieden abzieht. Es dauert noch eine Weile, das Kind zu beruhigen. Schilderungen von der Notlage der armen Menschen machen keinerlei Eindruck. Eifersucht ist im Spiel, die Mutter gibt von ihrer Liebe zu viel an andere. Eine alte Wolldecke wird nur bedingt als Ersatz akzeptiert. »Die ist nicht schön, der Kelim hatte einen gesticken Rand.«
Nun fingen die Fastenden an vom Ende her zu zählen. In den letzten zehn Tagen des Ramazan zogen sich ganz fromme Muslime zur besseren Konzentration in die Moschee oder zu Hause in eine Art Klausur zurück. Der »I'tikaf« genannte Brauch beruhte auf dem Vorbild des Propheten Muhammed. Diesen sich als weitabgewandten Asketen vorzustellen, war aber nach Scheich Nureddin ganz falsch.
»He represents this aspect of spirituality in which peace comes not in passivity but in true activity.«[10]
Muhammed sei ja nicht nur geistiger Führer gewesen, sondern der Begründer einer neuen sozialen Ordnung, ein Staatsmann. Man müsse im Gegenteil eher aufpassen, daß man nicht die Spiritualität des Propheten übersähe, die eingebunden gewesen sei in seine Pflichten als Oberhaupt einer Gemeinschaft. Oder als Ehemann und Familienvater. Konnte der überhaupt ein »Heiliger« sein? Wie er von seiner ersten Offenbarung zitternd nach Hause gekommen war und ihn seine Frau Hatice nicht für verrückt oder krank erklärt hatte, sondern »glaubte«, — das sprach eigentlich für ihn. (Helga hätte ihrem Ömer keine Offenbarung geglaubt.) Diese erste Frau Hatice ließ sich von dem so viel jüngeren Muhammed — den sie, die Chefin eines Handelsunternehmens geheiratet hatte —sicher nichts »sagen«, er mußte überzeugend sein. Ach, die vielen interessanten Frauen um den Propheten! Sie waren mit aufs Schlachtfeld gekommen und hatten beim Gemeinschaftsgebet vorgebetet. Aischa, die nach seinem Tod als Autorität in Fragen der Lebensführung galt und verantwortlich war für die schriftliche Überlieferung vieler Ahadith (Worte und Taten des Propheten); Esma, mit dem Dolch zur Selbstverteidigung im Gürtel. Heute beteten fromme Frauen bloß noch nach. Muhammeds frauenfreundliche Einstellung hatte die patriarchale Gesellschaftsordnung keineswegs ins Wanken gebracht. Was nützte dann also der Hinweis auf die Praxis der »Urgemeinde«? Helga resignierte, beschränkte sich darauf, dankbar zu genießen, wie er, der das Vorderbein vom Lamm und den Honig gern gemocht hatte. Sie war an diesem Abend ganz vorsichtig mit dem Essen. Langsam nahm sie Suppe, Reis und Tomatensalat zu sich. Und eine einzige Praline zu der kleinen Tasse Mokka. Der Maulbeerblättertee später am Abend hatte nicht die verheerende Wirkung vom Vortag. Sie fragte sich, ob der Aufguß als solcher überhaupt eine Wirkung hatte. Vielleicht reinigte er den Darm, jedenfalls mußte sie bald darauf wiederum aufs Klo, es kam ein kleiner Haufen, aber kein Durchfall. Der Po juckte nicht, die Wunden heilten, das spürte sie auch beim Abwaschen des Afters. O, das Gedächtnis der Fingerkuppen. Die Versuchung war groß, nun wieder alles aufzukratzen, bloß um zu sehen, ob die Heiltendenz anhielt. Ja, sie stellte Versuche mit sich an: Was ist, wenn ich kratze? (Aber das tat sie nicht.) Was ist, wenn ich den Tee wieder trinke? Darmreinigung! Eigentlich hatte sie etwas Heroischeres vorgehabt, nämlich schrittweise dem entgegenzugehen, was sie am meisten fürchtete, Krebs und Tod. Aber ihr Angebot war nicht akzeptiert worden. Bisher nicht. Sie konnte aufatmen. Und sich vielleicht noch ein Pralinchen leisten.
Schon neun Uhr, und das Kind ist noch nicht wach, obwohl die helle Sonne scheint. Helga dehnt sich genüßlich im Bett. Wo bloß die »Regel« blieb? Die vier Wochen seit dem letzten Mal waren überschritten. Nicht gerade, daß sie Sehnsucht gehabt hätte, das Fasten zu unterbrechen, jetzt, da es beinahe geschafft war. Grund zur Beunruhigung bestand ebenfalls nicht; diese Unregelmäßigkeiten waren ihr ja bekannt seit Emanuels Geburt. Bloß war sie in der Zeit des Wartens immer gespannt, kribbelig, leicht zum Weinen geneigt. Außerdem spürte sie, der Unterleib wurde dicker, wie mit dem Blut gefüllt, das nicht abfließen konnte. Verlagerte sich also das Problem vom Po, der sich endlich ausgesponnen hatte, auf die Muschi? Juckten nicht die Schamlippen schon genauso, wie bis dahin der Hintern? Es war nicht dasselbe. Was sie von hinten angefallen hatte, war Vergangenheit gewesen, Zwang, fremde Angst, Fremdbestimmung. Hier vorne, das war sie selbst, das konnte ihr keiner nehmen, da ließ sie sich nicht vertreiben. Sie spürte, wie ihre Scheide feucht wurde, spürte ein Kribbeln an den Innenseiten der Oberschenkel, straffte den Beckenboden wie zur Vergewisserung. Sie war nicht tot! Bloß jetzt durfte sie das schöne Spiel nicht spielen, sie fastete ja, und dazu gehörte auch sexuelle Enthaltsamkeit tagsüber. Gut, daß gerade in dem Moment Osman schlaftrunken ins Zimmer taumelt, sich ins große Bett kuschelt und seinen Traum erzählt von dreißig Jägern, die einen Hirsch gejagt hätten. »Und haben sie ihn denn gefangen?« »Das weiß ich doch nicht, weil ich dann aufgewacht bin.« »Und warum dreißig?« Der kleine Körper drängt sich nahe an den der Mutter, will schmusen. Aber nur kurz. Dann fällt dem Kind ein, es hat sich mit Öznur verabredet, die Brote aus Matsche, die sie gestern abend nicht mehr hatten »backen« können, heute früh in Angriff zu nehmen. »Ich muß raus.«
Die Muslime hatten die Pflicht, noch vor dem Feiertagsgebet am Fest des Fastenbrechens, das auch »Zuckerfest« genannt wurde, den Armen eine Gabe im Gegenwert von mindestens drei Pfund Weizen zu schenken. Diese Sadaka-ul-fitr ist eine Kleinigkeit, die, bis auf die Bettler, jeder zu spenden imstande ist. Ein Sammler mit einer Liste kommt durch die Wohnsiedlung; er macht es den Leuten leicht. Man zeichnet für eine staatliche Wohlfahrtseinrichtung, zum Beispiel ein Kinderheim und braucht sich um die Armen vor der Tür nicht mehr zu bekümmern. Helga ist die einzige, die sich der Liste verschließt. Sie hat ihre Gabe schon der zahnstummeligen Großmutter versprochen. Alle Nachbarn besorgen »Bayramlik«, das heißt, neue Kleidung zum Fest. Geschenke sind zwar nicht üblich aber neu eingekleidet möchten alle sein, die es sich nur irgend leisten können. Osman hat sich einen Schlips in den Kopf gesetzt, weil einer der Spielkameraden so einen hat, beileibe nicht den vorn Vater, sondern einen richtigen kleinen Bubenschlips. Die neue Hose ist bald gekauft — Osman hat nicht eine einzige mehr ohne Herzchen auf den Knien gehabt —, dagegen läßt der Schlips sich nicht auftreiben, weder im Kinderbekleidungsgeschäft, noch im Herrenspezialladen. Gegen elf Uhr vormittags wird es so heiß, das Helga streikt. Bloß noch zur Bank wegen der Pension, da kann sie sich ein bißchen ausruhen. Endlich ist das Geld auf dem Konto eingegangen. Der Kronprinz quengelt und meckert. Ein Paar Schuhe will er gar nicht haben, es macht ihm nichts aus, weiter in seinen abgelatschten Sandalen zu laufen, aber den Schlips! Gut, die geduldige Mutter fragt eben in einem weiteren halben Dutzend Geschäften nach dem Ding, läßt sich belächeln (was für Wünsche die Kinder der Reichen haben!), hält das Umherschleichen in der Hitze nicht mehr aus. Die Marquisen der Läden sind alle herabgelassen, die Verkäufer sitzen im Schatten, Kundschaft gibt es jetzt vor dem Fest schon, man kann nicht einfach Siesta machen. Aber alles läuft in Zeitlupe ab, niemand rennt, niemand schreit wie in normalen Zeiten, die Lautsprechermusik schweigt. Ein Stummfilm.
Die Staubstraße nach Hause. Flirrende Hitze. Der Gestank von Pferdeäpfeln. Das Trottoir wegen der beständigen Niveauunterschiede eine anstrengende Hüpfpartie. »Du kannst einen Schlips von Papa bekommen.« »Will ich aber nicht.« »Frag doch mal den Murat, wo sein Schlips gekauft worden ist.« »Ich glaube, in Deutschland.« »Und das sagst du jetzt?« Als Elmas kommt, hat Helga sich von dem Weg schon wieder erholt, ein bißchen hingelegt, kühl abgewaschen. Aber klar, auch Elmas soll ihr »Bayramlik« haben, soll sich freuen am Fest. Kleidung und Schuhe für die drei Kinder (sag nicht immer vier, mich kannst du nicht anschwindeln). Die Doktorfrau kenne die Preise. Für sich selbst wolle sie gar nichts, höchstens etwas Abgelegtes. Helga zieht einen heidelbeerfarbenen Zweiteiler aus dem Schrank, den sie eigentlich selbst noch mag. Alt und abgetragen ist das nicht, was sie da schenkt. Gut, auch ein Gürtel und ein Unterrock gehören dazu. Mit den Schuhen klappt es dagegen nicht, denn die Cingene hat viel kleinere Füße. Elmas steckt den Geldschein weg, packt die Kleidung zusammen und druckst herum. Alle Leute in ihrer Siedlung ließen sich jetzt elektrisches Licht legen, bloß sie könnte das nicht, müßte weiter im Dunkeln bleiben. Die Summe, die sie da eben bekommen habe fürs Fest, die könnte etwa ein Drittel der Kosten decken. Sie sei nun am Überlegen, ob sie auf die Kinderkleidung verzichten und lieber die Elektrifizierung anzahlen solle. »Das mußt du selber wissen, Elmas« »Und wer wird mir den Rest bezahlen?« »Keine Ahnung. Ich kanns nicht. Was ich dir gegeben habe, ist schon ziemlich viel, und mein nächstes Geld kommt erst in drei Monaten.« Welche Möglichkeiten blieben denn? Wen konnte sie bitten? Oder wo waren unausgeschöpfte Geldquellen? Helga kam die Idee, einiges aus dem Haushalt zu verkaufen. Sie hätte sich leicht getrennt von einem Teppich, einer alten Uhr, einem Elektrogerät, wie zum Beispiel dem zweiten Föhn. Bloß kannte sie auch die Mentalität der Leute hier soweit, daß sie wußte, das würde nicht klappen. Die Reichen kauften keine gebrauchten Sachen, und die Armen wollten diese Dinge geschenkt haben. Ihre wenigen Schmuckstücke dagegen stellte sie nicht zur Disposition, die stammten von Ömer, und selbst für den eigenen Lebensunterhalt hätte sie weder die Ohrringe, noch den Ring oder die Perlenkette hergegeben. Elmas müsse halt überlegen, ob sie das Fest ohne Bayramlik, dafür aber mit Aussicht auf elektrisches Licht verbringen wollte. Die Deutsche würde indessen versuchen, von einem ihr bekannten Kaufmann den Rest des Geldes zu erbetteln. Nun strahlt die Cingene, als ob ihr die neu installierte Glühbirne schon ins Gesicht schiene.