...hat vom Bäcker ein duftendes, warmes Weißbrot geholt und mit seinem Frühstücksgeschrei die Mutter aus dem Traumschlaf gerissen. Helga muß sich an den Tisch setzen, auch wenn sie nichts ißt, bloß das Verlangen herunterschluckt nach weichem Brot und Tee. Schon wieder Hunger trotz der Suhur-Mahlzeit vor der Morgendämmerung; wie soll sie das aushalten bis zum Sonnenuntergang? Seit vier Tagen weiß sie, daß sie es schaffen kann. Auch wenn sich der Magen von Zeit zu Zeit zusammenkrampft, flaumachende Säfte ausschüttet, dem Gehirn den Notstand signalisiert und im Nacken sich Kopfweh anbahnt. Subtile Selbstquälerei aus frommen Gründen.
Im Ramazan mitzufasten in diesem fremden Land, wo alle fasteten, oder doch die meisten, erschien ihr immer noch ein bißchen abenteuerlich. Daß sie zart sei einen labilen Kreislauf habe, war die Ausrede gewesen, die ihr Ömer in all den Jahren angeboten hatte. Nun hinderte sie keine Fürsorglichkeit mehr, die Erfahrung zu machen: achtzehn Stunden nicht essen, nicht trinken nicht rauchen.
Das Kind reißt kleine Stückchen vom Brotlaib ab, dreht sie zwischen den Fingern, entschließt sich gelegentlich, etwas davon in den Mund zu stecken, abwechselnd mit Brocken von weißem Schafskäse, es spielt, trödelt herum, stößt an das Teeglas, so daß eine Lache aufs Wachstuch schwappt. Helga zwingt sich, keine Ungeduld zu äußern, sie schielt nach der Zeitung. Dies wird sofort bemerkt: Du sollst nicht lesen.
Der Tag war noch so lang. Nichts drängte. Aber sie saß nervös neben dem kauenden Kind, wollte anfangen mit den gewohnten Morgentätigkeiten, — damit die Zeit verging, aufräumen, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Wohnzimmer. Das Haus war ihr immer zu klein erschienen zu Ömers Zeiten, nun war es gerade noch zu bewältigen, einmal durchgehen mit Besen und Lappen (der tägliche Kampf gegen die hereinwehende Wüste), dann das bißchen Geschirrspülen und Kochen für zwei Personen, kaum der Rede wert. Und doch war Helga erstaunt, daß sie das alles tun konnte trotz Fasten. Ihre Bewegungen hatten sich von selbst verlangsamt, waren vorsichtig geworden, vermieden alles Plötzliche. Als bräche mit einer raschen Wendung der Hunger wieder aus, dieses ekelhafte Gefühl, an das sie viel öfter denken mußte, als daß es sich wirklich einstellte.
Gegen zwölf, wenn auch sonst üblicherweise die Hausarbeit getan war und sie sich immer ihre Tasse Kaffee neben der Zeitung gegönnt hatte, begann die schlimmste Phase des Tages. Der Magen krampfte, die Lippen waren trocken, ein ganzer Schwall saurer Spucke schoß im Mund zusammen, und ihr wurde heiß. Scheußlich. Zugleich aber auch erhebend, das Fasten richtig zu spüren. Und sie war stolz, daß sie durchhielt, die Halbzeit heute schon geschafft hatte. Bis zum abendlichen Fastenbrechen waren es nurmehr neun Stunden, achteinhalb genau besehen. Helga nimmt sich vor, nicht dauernd zur Uhr zu gucken und sich auf die Überraschung zu freuen, die der Zeiger ihr nach einer Weile bereitet haben würde. Nachdem sie dem Kind ein Brot geschmiert und Pudding hingestellt hat — es soll schön weiterspielen, nach Belieben essen und die Mutter nur ja in Ruhe lassen in den nächsten zwei Stunden —, nimmt sie die Zeitung mit ins Bett. Das Schlafzimmer ist kühl. Sie fröstelt, steht noch einmal auf, um das Heizkissen zu holen und sich auf die Leber zu legen, die jetzt so viel leisten muß. Auch die Füße sind kalt, sie können gut Wollsocken vertragen. Dabei zeigt das Raumthermometer zwanzig Grad, und draußen scheint die orientalische Junisonne. Helga kriecht unter die Decke, hat wenig Lust auf Nachrichten über weltweites Wettrüsten und die Schneckengänge der heimatlichen Politik. Irgendwo fasteten ein paar Optimisten für den Frieden. Seid gegrüßt, Brüder und Schwestern, wer wird euch hören? Sie gähnt, die Zeitung sinkt ihr aufs Gesicht. Das Frösteln läßt nach, und der Körper entkrampft sich, wird schwer.
Wie dieser Körper sich jetzt vordrängte, ein fremdes, bisher verborgenes Leben enthüllte. Unter dem Heizkissen öffnete sich eine Grube, ein rundes Loch zwischen Erdwällen. Da brodelten dunkle, brackige Säfte, Dunst schwebte darüber hin, verdeckte die Sonne. Von allen Seiten floß es herbei. Adern, Bäche, Gerinsel brachten das Blut, beladen mit Abraum, Schlacken, Gift. Das kochte in sich selbst, dickte ein. Noch war der reine Kristallgrund nicht abzusehen. Tief, tief ins Innere der Erde reichten die verdorbenen Lagen, mußten ausgeschwemmt werden, ausgespült von der Angstflut, den bitteren Wogen. — Brentano. Sich selbst endlich wieder fühlen im Exotischen einer Religion. Ob dieser Umweg nötig war? Sie duselte ein. Das Kind hat wohl schon lange gerufen, als Helga aus dem Schacht auftaucht, jedenfalls weint und schimpft es, weil die Mutter nicht kommt, um es vom Klo zu erlösen.
Konntest du dich nicht einmal wenigstens alleine abwischen? Helga taumelig, übel. Sie legt sich wieder aufs Bett, Augen zu, will aber wach bleiben. Nein, du störst mich nicht, komm her neben mich. Himmel, ist mir schlecht. Hätte vielleicht nicht einschlafen sollen. »Mama, mußt du denn fasten?« Das fragte sie sich selber. Von Müssen war keine Rede. Niemand hatte ihr all die Jahre hindurch zum Vorwurf gemacht, daß sie den Vorschriften der einst in Verliebtheit übernommenen Religion nicht nachgekommen war. Woher jetzt plötzlich ihr Eifer? Vielleicht war dies der Weg aus der schrecklichen Fremdheit. Vielleicht. »Ich will es ausprobieren. Ob es gut ist für mich.« Das Kind schaut zweifelnd. Probieren, fein! Wenn die Mutter kocht, fallen leckere Sachen ab. Wie aber schmeckt Fasten? Es ist gerade drei. Helga steht langsam auf, wäscht sich Gesicht und Hände, Arme und Füße. Das belebt. Kurz danach erscheint eine Nachbarin, um sie abzuholen. Im Ramazan wird in den Moscheen jeden Tag feierlich ein Abschnitt aus dem Koran vorgelesen. In Erinnerung daran, daß der Prophet Muhammed in diesem Monat seine erste Offenbarung erhalten hat. Er hatte sich in die Einsamkeit einer Felsenhöhle zurückgezogen, als der Engel zu ihm kam und ihn anredete: »Im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen aus einem Embryo erschaffen hat! Trag vor! Dein Herr ist der Edelmütigste, Er, der durch das Schreibrohr gelehrt hat, den 10 Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte.«[1] Konnte das Koranlesen in der Kleinen Moschee nicht auch Helga Aufschluß bringen über das, was sie nicht wußte? Dicht gedrängt sitzen die Frauen auf dem Teppichboden der Empore, kaum ist Platz für die Füße. Die meisten folgen dem arabischen Vortrag des Vorlesers in ihren Büchern, indem sie die Zeilen mit den Fingern nachfahren; dafür haben sie zwei Jahre lang den Koranunterricht besucht. Den Sinn der Worte verstehen sie nicht. Helga geht es leider genauso. Ihr Arabisch steckt in den Kinderschuhen, den Koran liest sie deutsch, — ein schwacher Abglanz. Es war ja völlig unmöglich, den heiligen Text wirklich zu übersetzen. So rauschen die Verse an den Ohren vorbei als betäubender Singsang, Einschlafmelodie. Die alten Frauen nicken, die Köpfe im weißen Schleier sinken vornüber. Es ist heiß auf der Empore, stickig, trotz Ventilator. Schweiß läuft in die Bluse, sammelt sich am Rockbund. Die untergeschlagenen Füße schlafen ein. Unten liest laut der Sohn des Hoca, mit Knabenstimme. Manchmal setzt er neu an, wenn er sich vertan hat. Ein kunstloser Vortrag, um Genauigkeit bemüht. Aber sie verstand nichts. Wer würde sie lehren? Den Hoca traute sie sich nicht anzusprechen, und die Frauen wußten nichts. Sie kannten das Brauchtum und die Formeln. Ihre Frömmigkeit bestand hauptsächlich in der Ergebung in alles, was das Leben ihnen abverlangte. Dagegen waren die Forderungen der Religion vergleichsweise geringfügig.
Später Nachmittag, die Zeit schleicht. Alles ist getan was in diesem Zustand getan werden kann. Die Haushalte sind versorgt. Vor einem der weißen Häuser versammeln sich die Nachbarinnen, wollen nicht allein sein mit der langen, unstrukturierten Zeit, rufen auch die Fremde, sich nicht zu verkriechen. Sie kauern auf den Steinen der niedrigen Umfassungsmauer oder auf einem Kissen am Boden, Helga ist die einzige, die sich einen Stuhl mitbringt. Die Häkelarbeit in den Händen ruht zumeist auch die Gespräche stocken. Kopfweh haben fast alle. »Aber das gibt sich nach einigen Tagen, und auch den Hunger spürt man dann nicht mehr.« Wie ist es doch im Ramazan voriges Jahr gewesen und all die Jahre davor? Heißer als heute jedenfalls. Aber die Tage eigentlich nicht so lang. Oder kam es ihnen nur so vor, als ob das Ausgestandene weniger schlimm gewesen wäre?
Die Alten hatten das Fasten schon zu jeder Jahreszeit erlebt, da der Mondmonat Ramazan sich, verglichen mit dem Sonnenjahr, jedesmal um zehn oder elf Tage rückwärts verschob, also durch die Jahreszeiten wanderte. Und so änderte sich auch die Länge der Fastentage entsprechend den Zeiten von Sonnenauf- und Untergang. Im Winter müßte der Ramazan doch leicht sein wegen der kurzen Tage, meint Helga. »Sag das nicht, dann ist es kühl, und man hört nicht auf zu frieren.« Sie versucht einen Scherz: »Gut, daß wir nicht am Nordpol wohnen, wo die Sonne im Sommer überhaupt nicht sinkt.« Die anderen lachen nicht. »Gibt es am Nordpol denn Leute die fasten?« Seufzen und schweigen. Der Mund ist trocken und der Kopf leer. Bloß nicht auf die Uhr schauen, höchstens zum blasser werdenden Himmel. Und an den Schatten der Bäume ermessen, daß langsam der Abend naht, ganz sanft. Einzelne Frauen packen das Häkelzeug weg, strecken die beim Sitzen steifgewordenen Glieder, gehen zögernd in die Häuser, um das Abendbrot vorzubereiten. Helga muß nur noch den Tisch decken und die Speisen anwärmen. Und wieder warten. Auf das Kind, das spielselig und verdreckt angesprungen kommt. Und auf den erlösenden Gebetsruf bei Sonnenuntergang. Nun darf sie wieder essen, trinken. Und doch sind diese Abendmahlzeiten das Schrecklichste. Der Magen wie zugeklebt. Helga kriegt nichts runter, obwohl sie so sehr aufs Essen gewartet hat. Ein paar Löffel Suppe schon reizen zum Brechen. Dabei die Einbildung, sie müßte verhungern, wenn sie nicht wenigstens nachts die Kalorien auffüllte. Das Kind stochert ebenso lustlos in seinen grünen Bohnen, da bleibt viel übrig für die Katzen. Trotz Servietten und Kerzenbeleuchtung wird das kein Fest, es fehlt der Dritte.
Plötzlich hat sie es eilig, das Kind ins Bett zu bringen. Eine Gutenachtgeschichte von Cowboys und Räubern damit du in deinen Roman versinkst und mich freigibst für meinen Roman. Mach die Augen zu, dann siehst du dein weißes Pferd, das ist schon gesattelt und holt dich ab in die Prärie. Hundertmal ähnlich erzählt, die Bestandteile der Geschichte reichen noch in Ömers Zeiten zurück, das Kind setzt sie sich selbst zusammen auf ein Stichwort hin.
Schlaf, schlaf ein. Sie weiß endlich, was sie essen möchte. Hoch auf dem Schrank steht die Pralinenschachtel, mit Vorbedacht außer Reichweite gerückt, aber natürlich erreicht sie sie, wenn sie auf den Stuhl steigt. »Ist kein Zucker im Haus?« Immer war Zucker da. So hatte sie sich schon vor Ömers Tod getröstet, wenn er spät nach Hause kam; seither aber war es wie eine Sucht, den Tränenkloß im Hals mit Pralinen runterzuwürgen. Die Süße machte sie krank, klebrig, durstig, trotzdem fraß sie das Zeug und kriegte einen Bauch davon. Den ganzen Tag fasten und nachts sich von Pralinen nähren, das konnte nicht gesund sein. Jetzt ist die Schachtel sowieso leer. Suchend, witternd, begibt sich Helga in die Küche, das Glas mit der Kirschmarmelade reizt schon weniger. Naja, ein Marmeladenbrot zum Abschluß. Draußen ist es dunkel geworden, die Mondsichel jagt durch die Wolken, und ein Wind läßt die Blätter des Maulbeerbaums rauschen. Einzelne Männer gehen zur Moschee, der alte Nachbar von links nebenan schlurfend und mit viel Räuspern. Aus ihrem Haus ging kein Mann mehr irgendwohin. Sie war allein und frei, brauchte auf niemanden zu warten. Nicht mehr warten wollen, das hatte sie sich oft geschworen, wenn Ömer nicht heimgekommen war zur verabredeten Zeit. Auch an jenem 22. Dezember im letzten Winter war die Wut gewachsen mit jeder Stunde, die von der Nacht verstrich. Nie mehr warten müssen: der Wunsch war ihr erfüllt worden. Bitter war das Alleinsein, und die Freiheit schmeckte nicht wenn man sie so in den Schoß geworfen bekam.
Ich weiß, ich sollte endlich aufhören. Als hättest du mir etwas antun wollen mit deinem Tod. Warum hast du mich verlassen, mich allein gelassen im fremden Land. Überhöhte Geschwindigkeit in der Kurve, ach du Verrückter. Wie die Tränen ihr übers Gesicht fließen im Dunkeln vor dem Haus, das stört niemanden und ruft keine Nachbarinnen herbei. Sie wollte nie wieder so schreien wie vorgestern, als in der kritischen Stunde nach dem Abendbrot der Schrei aus ihr hervorgebrochen war. Das Kind hatte zu schluchzen angefangen, drei Frauen waren herbeigestürzt, Hadiye hanim hatte ihren Kopf und Nacken mit Eau de Cologne eingerieben, daß sie kaum noch Luft bekam. Und die Frauen hatten verstanden, was sie selbst nicht verstand, den Schrei, der nicht aus der Kehle zu kommen schien, sondern aus dem Brustkasten, wie ein schrecklicher Gesang. Eine abfallende Tonkurve, die sich immer wiederholte und schließlich doch abflaute vor lauter Einreiben und Gutzureden und Interpretieren. Wunderbare Nachbarinnen. Sie boten ihr ein Verhaltenskleid an: Witwe, Ömer bey, der gute Mensch, der großzügige, hilfsbereite Doktor, ein schöner Mann. Daß er so jung sterben mußte. Beruhige dich doch, der Schmerz geht vorbei.
Ihr Schweigen zu allen Deutungen, die nichts als Ausreden waren. Sie trauerte ja nicht dem nach, was sie verloren hatte, sondern dem, was nicht gewesen war. Nie zusammen gefastet haben, — aber wie oft in den Sommernächten hier vor dem Haus gesessen, rauchend. Plötzlich ihr Verlangen, sich im Spiegel zu sehen hinter dem Tränenstrom. Im ovalen Handspiegel ein nasses Bild, voll Schönheit, Gelöstheit. Die steile Falte zwischen den Brauen nur noch leicht eingezeichnet. Lächeln mit verweinten Augen und roter Nase. Ömer freizugeben schien jetzt nicht mehr unmögliches war sein Weg gewesen und sein Tod.
Sie darf nicht zu spät einschlafen, sonst lohnt es sich nicht mehr. Zwischen zwei und drei ging der Trommler durch die Straßen, der Aufwecker aus Zeiten, als es noch keine Uhr unter dem Kopfkissen gab. Helga stellt sich den Trommler, den sie bisher nicht gesehen hat, als einen Derwisch vor, der den Rhythmus, den er trommelt, auch tanzt, hüpft. Drei feste Schläge, und dann einen Wirbel, ein Ballett aus Trippelschritten mit dem Stöckchen auf dem Trommelboden. Erst nach Suhur (Frühstück) und Morgengebet — da ist es vier Uhr und wird langsam hell — kommt ein tiefer entspannter Schlaf, vor dem Aufwachen auch Träume. Ein brennendes Autowrack auf der Straße, es wendet, fährt langsam rückwärts. Sie rennt zu einer Telefonzelle, die Nummer der Feuerwehr hat doch immer auf dem Deckel des Telefonbuchs gestanden, bloß heute nicht. Verzweifelt sucht sie den Buchstaben »F«, das Telefonbuch endet bei »E«. Andere Frauen sind mit in der Kabine. Keine weiß die Nummer auswendig. Sie blättern in Reisejournalen, als wollten sie helfen. Ein Krankenwagen fährt vor, nun fällt ihr die Nummer ein: 115 oder 116. Im Traum noch denkt sie, daß das eigentlich der »Notruf für Drogen- und Suchtgefährdete« sei.
Der Vormittag gehört den Bettlerinnen. Als erste erscheint immer die dicke Großmutter, Segenswünsche aus zahnstummeligem Mund murmelnd, ein Lachen dazwischen, wenn das Kind sie nachäfft. Sie will ihre Gabe verdienen, greift zum Besen und fegt den Hof. »Übermorgen komme ich wieder«, so sichert sie sich ihren Platz und den gleichbleibenden Geldbetrag im Wert von zwei Broten. Manchmal fragt sie auch nach abgelegten Sachen für die Enkel, ist aber nie böse, wenn Helga nein sagt. Ganz im Gegenteil dazu die hagere Alte mit den graugrünen Augen. Sie hakt regelrecht eine Liste ab: Gib mir Fett, Reis, Käse, Seife, eine Männerhose, ein Kopftuch. Und schimpft, wenn sie das Verlangte nicht kriegt. Du hast einen schönen Rock, und ich habe keinen. Sieh doch meine durchgelaufenen Schlappen. Nie ist sie zufrieden und geht erst, wenn Helga die Tür betont zumacht. »Schmeiß die Bettlerinnen raus«, raten die Nachbarinnen, die Helgas Freigebigkeit beobachten. Konnte sie Mütter mit kranken Kindern im Arm rausschmeißen? »Ich bin nicht der Doktor«, versuchte auch sie sich dem andrängenden Elend zu entziehen. Vereiterte Ohren, der Eiter trocknete am Hals und an den nie gekämmten Locken des kleinen Mädchens an. Sie wäre schön gewesen, eine kleine Peri, aber so schmutzig. Geht halt ins Krankenhaus, Leute, die Ambulanz dort behandelt euch kostenlos. Was schleppt ihr mir den Buben, der sich die bloßen Füße an einer Scherbe zerschnitten hat, hierher? Und wie soll ich dem tuberkulösen Baby helfen, das sich kaum rührt in seinen Lumpen, die großen schwarzen Augen glänzend in dem feinen Gesicht. Sein Weinen war ein Winseln, als die Mutter den abgemagerten Körper aufdeckte. Helga sollte mitgehen in die Ambulanz, Hemmungen vor dem Arzt überwinden helfen. Die Leute hofften auch, daß sie die Medikamente bezahlte. Hinter der Krankheit ein ganzes Bündel von Verwirrung und Leid. Väter, die tranken; Männer, die ihre Familie verlassen hatten. Saisonarbeiter, Gelegenheitsarbeiter. Oft reichte es fürs Nötigste nicht. Diese Ärmsten waren sämtlich Cingene, Angehörige einer ethnischen Minderheit, vormals Nomaden, seit einer Generation etwa seßhaft geworden hier am Rande der Kleinstadt, in Hütten ohne Licht, ohne Wasser, ohne Kanalisation. Nachbarn und Verwandte, die sonst zu helfen pflegten, waren selber arm. Eine Randgruppe der Gesellschaft. Die Nation schämte sich ihrer. Die gehören nicht zu uns, das sind keine Muslime. Gegen Vorurteile war schlecht mit der Eintragung ins Melderegister zu argumentieren. Sprache und Religion waren die der Mehrheit der Bevölkerung.
Bettelnde Männer gab es so gut wie nicht, sah man mal von dem Krüppel ab, der am Markteingang mit schnarrender Stimme um Almosen rief. Zu den Wohnungen, wo tagsüber die Hausfrauen alleine waren, hätte sich sowieso kein männlicher Bettler wagen dürfen, das verletzte die Sitte. Aber ein Mann mußte nicht betteln. Auch wenn er keine Arbeit fand, eine Frau oder Kinder, die für ihn an die Türen klopften, konnte sich noch der Ärmste halten.
Helga war heute auch in der Innenstadt gewesen. Zuerst dauernd das Gefühl, gleich umzufallen, aber ganz langsam hatte sie den Weg doch geschafft: zum Zeitungsmann, zum Schlachter, zum Postamt. Viele der Imbißstuben, wo sonst Köfte vom Grill und Döner (der sich drehende Fleischkloß), Hühnersuppe, Reis und Kichererbsen von schweigenden Männern verzehrt werden, haben für den ganzen Monat geschlossen. Auffällig auch, daß viel weniger Autos fahren als sonst. Der Inhaber des Papiergeschäfts, in dem es die Zeitungen gibt, bloß keine deutschen, holt ganz langsam zehn verschiedene Malbücher für Helgas Sohn aus dem Regal und wartet, geduldig, bis das Kind gewählt hat. Helga wundert sich, wie der Mann, der doch auch fastet, das Stehen aushält; ihr selbst ist die Enge des kleinen Ladens sofort unangenehm, sie fühlt eine Schwäche wie zu Beginn der Schwangerschaft. Beim Schlachter kann sie sich hinsetzen wie die anderen Kunden; es dauert ja auch lange genug, bis das Fleisch kunstgerecht zugerichtet ist, die Lammkotelettchen, die Nierchen, die Berge von Hackfleisch — alles wird im Angesicht der Käufer zerschnippelt, ausgebeint, plattgeklopft, durchgedreht. Am wenigsten Aufwand erfordert das halbe Kilo Gulasch, das Helga kauft. Wie das scharfe Messer immer haargenau an den Fingern des jungen Schlachters vorbeischneidet, niemals ins eigene Fleisch. Für die Katze, die um den Hackblock schleicht, fällt eine Portion Haut und Sehnen ab, klatsch. Das Kind zieht zwischendurch die Mutter zu den skalpierten Kalbsköpfen im Schaufenster, sieh nur die heraustretenden Augen. Rein gar nichts half der Ventilator gegen den Gammelgeruch, der schon vom frischen Fleisch ausging, da konnte eine unbesehen zur Vegetarierin werden. »Wie geht es Ihnen?« fragt der junge Schlachter, aber Fragen darf sich eigentlich nur der Chef erlauben, der in der Ecke am Telefon sitzt. »Fasten Sie, Madame?« Offensichtlich hielt sich auch der Schlachter an den Ramazan, denn die obligatorische Zigarette im Mundwinkel fehlte. »Allah möge es annehmen.« Vom Zentrum nach Hause, die unsagbare Trostlosigkeit der holprigen, dreckigen Straße, die stinkenden Abwässer in der Rinne neben der Fahrbahn, die Unmöglichkeit, den aufgewirbelten Staub nicht einzuatmen wenn ein Lastwagen vorbeifährt. Das Kind muß sie rufen, das verzückt bei einem Esel stehengeblieben ist. Aufpassen, daß sie nicht über die Bretter stolpert, die der Schreiner vor seiner Werkstatt ausgelegt hat. Zum Glück ist das Wetter kühl. Sie muß sogar Jacke und Strümpfe anziehen, wenn sie im Garten sitzt — und das im Juni im Orient. »Sei froh, daß es nicht so heiß ist wie im Ramazan voriges Jahr. Uff.« Sie kann nicht vergleichen, damals hat sie den Sommer in Deutschland verbracht. Der Tag dehnt sich. Genug Zeit, im Spiel des Kindes die schöne Frau zu sein, die der Cowboy zum Abschied küßt. Genug Zeit auch, den Maulbeerbaum zu betrachten. Seine reifen Früchte sind dunkelrot, purpurn, fast schwarz. Wie geronnenes Blut, wie schorfige Wundränder. In der Form an Himbeeren erinnernd, doch ohne den Zapfen innen; so ist die Frucht nach dem Abpflücken nicht hohl, sondern sitzt an einem kleinen Stielchen. Morula. Das Maulbeerstadium des Embryo. War der nach den ersten Zellteilungen so wäßrig, glasig, rosa wie die halbreifen Beeren? Vom Wind auf die Straße und auf die Steinplatten vor dem Haus geweht, bleiben sie matschig liegen, heften sich klebrig an die Schuhsohlen. Sie hat sich für den Abend eine Portion vom Zweig gepflückt. Der faden Süße wird sie immer schnell überdrüssig.
Morgen ging die erste Woche zuende. Was hatte Helga bisher gewonnen durch die Anstrengung des Fastens? Keine Erfahrung, außer daß der Tag lang war. Keine Erleuchtung, keine Vision, keine geistige Erhebung. Etwas Derartiges hatte sie offenbar doch erwartet, das merkte sie, als sie enttäuscht Bilanz zog. Allerdings versprach ihr deutsch geschriebenes Büchlein zum Ramazan keinen mystischen Trip. Da war von Gehorsam die Rede gegen das Gebot Allahs, von Wiedergutmachung und vom Kampf gegen die »niederen Begierden«. Der Koranvers »Ihr Gläubigen! Euch ist vorgeschrieben zu fasten, so wie es auch denjenigen, die vor euch lebten, vorgeschrieben worden ist. Vielleicht werdet ihr gottesfürchtig sein«,[2] wurde interpretiert, als wäre Allah ein gestrenger Papa, vor dessen Strafen man Angst haben müßte. Danke. Sowas kannte sie aus dem Konfirmandenunterricht. »Konsumverzicht« klang schon besser und ganz modern. Zielgruppe waren die Satten in Deutschland. Bloß, was sollte das fromme Büchlein ihr sagen? Sie hat sich auf den dunkelroten Teppich mit den stilisierten Blumenfeldern zurückgezogen, in eine Ecke des abgedunkelten Wohnzimmers gehockt, und versucht eine Art Meditation. Wenn das Kind es zuläßt. Atem, Atem, und nichts denken, nur Ya — hu, aus — ein. So bleibt sie nach dem vorgeschriebenen Gebet manchmal sitzen. Aus — ein, Ya — hu, vielleicht zeigt sich da etwas. Oder wenigstens diese tiefe Stille. Ganz selten war sie je so weit gekommen, daß die Gedanken schwiegen und sie sich fühlte wie im Inneren aller Dinge. Umfangen. Der Atem ging heute nicht ruhig. Beim Ausatmen Hungersignale, daran knüpften sich Hungergedanken Pläne für das noch nicht gekochte Abendbrot. Entspannung war nicht zu erzwingen. »Es ist besser für euch, wenn ihr fastet«, sagte der Koran. Na schön. Aber wo war das Gute? Helga erkannte es nicht. Tante Zehra im linken Nachbarhaus, die mit dem Fasten alt geworden war, tat es einfach »Allah zuliebe« fände es unverschämt, weiter nach einem Sinn zu fragen. Helga war so unverschämt. Was hatte »Gott« von ihrem Fasten? Nichts. Sie sollte etwas davon haben. Aber bisher erlebte sie nur Leere und Schwäche: Ohne Essen keine Kraft, nicht mal zu geistigen Dingen. Wieder bleibt ein großer Teil des Abendessens stehen. Helga trägt den Topf mit dem Lammgulasch zu einer kinderreichen Nachbarfamilie. Sie hat ihrerseits von Hadiye einen Pfannkuchen bekommen. Es ist üblich, im Ramazan den Nachbarn vom Essen kosten zu lassen, ja sich sogar gegenseitig zur Abendmahlzeit einzuladen. Sie würde niemand einladen, die junge Witwe war tabu. Ohne Mann keinen Platz in der Gesellschaft. »Warum gehst du nicht in dein Elternhaus zurück?« Das wäre es wohl gewesen, was sich gehörte. Sie war so allein. Keiner sorgte für sie, keiner lehrte sie, zu keinem gehörte sie (außer zu ihrem Kind). Dabei wollte sie durch das Fasten auch »dazugehören«. Ihre Trauer, daß Ömer hatte sterben müssen, ehe sie erfahren konnte wer er war. Unbewußt hatte sie darauf gewartet, daß sie Weggefährten wurden, über dieses Mann-Frau-Rollenspiel hinaus. Und jetzt war alles abgebrochen. »Ist der Papa tot?« hatte das Kind heute gefragt. Nachts wacht sie auf, weil der Hintern so juckt. Als sie zu sich kommt, hat sie im Dusselschlaf schon gekratzt und gekratzt, vom Poloch ausgehend in der Furche herum. Es sind brennende kleine Wunden entstanden, und ein Ekzem ist zu spüren am Rand der Schleimhaut. Der ovale Handspiegel soll zeigen, wie das ausschaut. Sie muß sich ziemlich verkrümmen mit dem Spiegel zwischen den Beinen, und die Lampe richten, damit sie überhaupt etwas sieht. In hellem Rosa, fast Weißgrau die Furche gebirgig zerklüftet, nicht zart und glatt wie bei einem Kind. Als dunkelrote Pünktchen heben sich die Kratzwunden ab. Maulbeerfarben. Die Finger sehen differenzierter, spüren Härchen und Pickelchen und die komisch weiche Flaut beim Damm — als sei drunter ein Polster. Seit Jahren schon dieses Jucken, das sie mit diversen Cremes in Schach zu halten versucht. Fast scheint ihr die Cremes machen es auf die Dauer nur schlimmer, obwohl sie kurzfristig helfen, Ömer, der Chirurg, hat sie sowohl zum Hautarzt, als auch zum Gynäkologen geschickt. Der eine wußte außer den Salben keinen Rat, der andere befand sich für unzuständig. Die Vermutung tauchte auf, daß Eßgewohnheiten schuld sein könnten: Zitrone, Pfeffer, Kaffee, Zucker. Eine Diät änderte aber nichts. Oder das gefärbte Klopapier. Jede Berührung mit Papier tat weh, sogar das Waschen mit Wasser nach dem Stuhlgang war eine Qual. Mein armer Arsch, was willst du mir signalisieren? Ihr Kind bohrte sich im Hintern und roch dann interessiert am Finger. »Pfui.« Die Macht der Mütter über das Stinkloch, die verpönte Stelle. Drei winzige Kätzchen hat jemand in den Garten des Doktorhauses ausgesetzt, grauschwarze Tigerchen mit blauen Augen. Helga soll sie wohl retten wie im Vorjahr den schwarzen Kater, der jetzt bei ihnen im Haus lebt. Milch vom Teller zu trinken kapieren die Kleinen einfach nicht. Hätten wir doch die Nuckelfläschchen, in denen mal Liebesperlen waren, nicht verspielt oder weggeworfen. Nun würden die Tiere verhungern im Holzverschlag, es sei denn, die Mutter fände sie noch. Unaufhörlich und durchdringend ihr Geschrei, das sich wie Vogelkreischen anhört. Die drei zitternden Körperchen drängen sich aneinander. Für kurze Phasen schlafen sie erschöpft ein. Es hat geregnet und ist kalt. Helga friert, hat Magenweh und Herzdrücken, der Po ist wund. Dazu das nichtendenwollende Kopfweh, Sie kann sich gar nicht komisch finden. Die Leute sagen, der Trommler sei bloß ein Zigeuner von Derwisch keine Rede.
Eine Stunde am späten Nachmittag meilenweit noch entfernt vom erlösenden Abendruf. Der Haushalt ist gemacht, das Essen gekocht, gebetet hat sie, gestrickt und gelesen bis zum Ekel. Musik hören wäre eine Anstrengung, einer Bergtour vergleichbar. Es bleibt nichts zu tun. Nur abzuwarten. Der Tag ist so lang. Wie ihn füllen, außer mit Leere und wachsender Schwäche im Hirn. Die Schwäche der alten Frauen, die an der Hausmauer sitzen und viele Male »Ya Allah« seufzen. Im Schatten der Hausmauer den Blättern des Maulbeerbaumes zusehen, wie sie sich ganz sanft vor dem blasser werdenden Himmel bewegen. Von weitem das Schreien der Kinder beim Spiel, die sind in ihrer Welt und brauchen keine Mutter. Gut, denn es meldet sich eine Geschichte, die Geschichte der Bettlerin Elmas. Täglich fügt Elmas dem Gewebe aus Phantasie Zwecklügen und bösen Tatsachen ein Stückchen hinzu. Ihre Eltern seien schon lange tot, sagt sie, nichts sei ihr geblieben als Erbe, kein Stückchen Gold. Der Vater sei aber kein Säufer gewesen. Noch als Kind sei sie einem schönen Mann versprochen worden, und der Hasan, der Älteste, sei von ihm. Dieser Hasan ist angeblich zwölf, er sieht allerdings aus wie acht, ein magerer, verkümmerter Achtjähriger mit hellen Augen. Die Elmas behauptet, dreißig Jahre alt zu sein und mit sechzehn habe sie geheiratet, aber einen anderen. Ja ist denn das, rein rechnerisch, möglich? Auf Nachfragen erzählt sie eine neue Version, Zahlen spielen für sie keine Rolle, da bleibt vieles vage, sie stellt sich auf die Zuhörerin ein (wie hättest du sie gerne, meine Geschichte?). Gleichbleibend ist nur die Angabe über die Höhe der Schulden, die ihr Mann ihr hinterließ, als er vor gut einem Jahr nach einer Messerstecherei starb. Der Gegner — ein Verwandter — sitzt zwar im Gefängnis, aber was nützt das der Elmas? Nun hat sie niemanden mehr. Die verheiratete Schwester gilt nicht, die kann ja nicht mal ihr eigenes Kind großziehen. Ein Rätsel, daß die Elmas auch dieses kleine Mädchen noch zu sich genommen hat, wo sie schon für die eigenen betteln geht. Angeblich zum Trost, nachdem ihr das einzige Töchterchen gestorben war. Die Geschichte weiterzuerzählen, als käme Helga nicht darin vor, hieße, ihre Verwicklung, um nicht zu sagen Schuld, zu verschweigen. Das war im vorigen November gewesen, sie erinnert sich noch gut, weil da viele Kinder diese Virusgrippe hatten, auch ihr eigenes Söhnchen. Und sie hatte sich doch tatsächlich eingebildet der Bettlerin, die ihr Leid klagte, damit zu helfen, daß sie erzählte, auch sie hätte die ganze Nacht am Krankenbett kein Auge zugetan. Gegen den Virus war sowieso kein Kraut gewachsener tobte sich halt aus an den Kleinen. Die Doktorfrau solle kommen, sich das Kind ansehen, hatte Elmas eines morgens gebeten, aber da war es schon zu spät gewesen. Mit Meningitis ins Krankenhaus und an den Tropf, half alles nichts mehr, Ömer schenkte für zwei Tage die Nährlösung und dann die Beerdigung, genauer gesagt die Begräbniskosten. Zu mehr war er nicht bereit. Während Elmas so lange von »Kefen« jammerte, bis Helga endlich verstand, daß das Leichenhemd bedeutete, und daß ein nagelneues Bettlaken aus ihrem Wäscheschrank hier nichts nützte. Also kaufte sie Kefen. Ihr Schuldgefühl machte sie erpreßbar. Sie war ja nicht mit zu dem Haus gekommen, sondern Elmas selbst hatte in höchster Verzweiflung das Mädchen in die Ambulanz geschleppt. So konnte die Cingene von Helga fordern: Zucker und Tee und das Duftwasser für die Beerdigungsgäste. Und Helga mußte sich wiederum vor Ömer rechtfertigen, der solche Aufwendungen für einen Blödsinn hielt. »Die Ärmsten, die sowieso nichts zu fressen haben, machen aus der Beerdigung ein Fest, bei dem sich zuletzt alle Männer besaufen.« (Es ist Brauch, daß die Männer aus der Nachbarschaft mit auf den Friedhof gehen, während die Frauen zu Hause bleiben und klagen.) Damals war Elmas schon Witwe. »Ich bin eine Witwe mit vier Kindern«, sagt sie beim Betteln. Wahr ist, drei hat sie geboren, davon ist eins tot. Aber vier Kinder machen sich besser, da die Leute hier von den Geschichten der Bettlerinnen immer schon einen Teil abziehen. Man kennt die Fiktionalität der Bettlergeschichten. Betteln muß ja begründet werden durch ein »Schicksal«. Die Witwe mit den vier Kindern, ein dramatisches Gedicht. Elmas kann dramatisch sein. »Soll ich denn stehlen? Soll ich denn Hure werden?« schreit sie in äußerster Verzweiflung. Wahrscheinlich bringt beides nicht so viel wie das Image der ehrlichen, anständigen Bettlerin. Elmas bedeutet: Edelstein, Diamant, Ömer hatte immer gesagt: »Ich schneide den Leuten den Bauch auf und vernähe ihnen die Wunden, aber mit ihren Geschichten sollen sie mich verschonen, das ist alles Lüge.« Helga ist von der Elmas schon fürchterlich reingelegt worden, gemein. Im Frühjahr war die Frau fast täglich gekommen, sie habe nichts mehr zu essen und zu brennen. Wenn nur etwas Mehl und Öl im Haus wären, dazu ein wenig Holz, dann könne sie Brot backen und Suppe kochen für die Kinder; und sie ließe die Doktorfrau auch in Frieden mit weiteren Forderungen. Statt ihr Geld in die Hand zu drücken, fand es die Wohltäterin damals richtiger, einen großen Sack Mehl und einen Ölkanister einzukaufen, das würde mindestens für ein halbes Jahr reichen. Sie bezahlte die Ware beim Händler und ließ sie dort stehen, um mit Elmas zum Holzlager zu gehen. Dort bestellte sie eine Fuhre Brennholz. Mehlsack und Ölkanister sollten mit auf den Pferdewagen geladen werden. Dann gab sie der Frau noch das Geld für den Kutscher und überließ ihr die Sache. Das glückliche Gefühl einmal wirklich geholfen zu haben. Nach ein paar Tagen wurde Helga beim Einkaufen von dem Händler informiert, daß Elmas damals Mehl und Öl zurückgegeben habe und sich das Geld habe auszahlen lassen. Ja, weshalb denn? Zur Rede gestellt, beteuerte Elmas, der Händler lüge (ein alter gediegener Geschäftsmann!). Inzwischen hat sie sich durch neuerliche Bitten um Öl und Mehl auch verraten — allzu clever ist sie nicht. »Nie wieder, keine kriegt mehr was«, war die erste Reaktion der enttäuschten Geberin. »Warum lügt sie mich an, die ich gut bin zu ihr? Wozu hat sie das Geld gebraucht? Was war ihr nötiger als den Hunger zu stillen, und weshalb hat sie mir das nicht gesagt? Stehen im Hintergrund die alten Schulden? Ein Mann, der sie einfordert?« Der Koran kennt solche Situationen: man solle nicht schwören, den Armen nichts mehr zu geben, sondern vielmehr »verzeihen und Nachsicht üben«. Elmas kann auch einen umwerfenden Takt entwickeln. Als sie einmal nach Seife fragt und Helga ihr das einzige, ihr letztes Stück anbietet, nimmt sie es nicht — sie wolle nicht unverschämt sein. Die ganze Nacht haben die Kätzchen geschrien. Nochmals der Versuch, sie zum Trinken aus dem Teller zu bewegen. Helga befeuchtet den Finger mit Milch und hält ihn an die Schnäuzchen. Sie lecken nicht mal. Die kleinen Körper sind kalt. Krallig die Pfoten, wenn sie sie hochhebt. Mit ruckartigen Bewegungen versucht das eine, aus dem Nest fortzukriechen. Nach etwa zwei Metern fällt es auf die Seite und bleibt liegen. »Warum holt die Mutter sie nicht?« fragt der Sohn immer wieder. Offensichtlich beschäftigt es ihn, wie eine Mutter ihre Kinder derart verlassen kann.
Der Diamantanhänger findet sich nicht wieder. Gestern abend hat das Kind im Einschlafen an Helgas Halskette gespielt, dabei muß sich der Verschluß gelöst haben und der Anhänger runtergefallen sein. Die Kette ist ihr zwischen die Brüste gerutscht, dadurch ist Helga aufmerksam geworden, aber da war der Anhänger schon verschwunden gewesen. Das kleine Ding, ein halbes Karat in einfacher Kronenfassung, kein übermäßiger Wert, aber doch lieb und vertraut im Grübchen unter der Kehle. Alles Bettenaufschütteln, Teppichabrollen nützt nichts. Berge von Spielsachen werden umgerührt, schließlich die Fußbodenritzen abgesucht — der Anhänger bleibt verschwunden. Die Leute hier haben das Sprichwort: Was mit Segen erworben wurde, kommt wieder. Eben. Schließlich hatte Helga das Ding im Trotz gegen Ömer, der ein Geburtstagsgeschenk nicht notwendig fand, gekauft, letztes Jahr in Deutschland. Wollte das Schmuckstück nun deshalb von ihr gehen? Oder: Was sollten ihr Brillanten, wenn andere hungerten? Ihre Gier auf der vorjährigen Reise. Es war ein Sich-Schadloshalten gewesen für die Verzichte in den vorausgegangenen zwei Jahren Orient. Seidenkleid, Schuhe, Schallplatten, eben dieser Brillant — alles war ihr unabdingbar erschienen zum Wohlbefinden. Und dann noch das teure schwarze Leinenjackett. Es sei leicht und angenehm in der größten Hitze, hatte sie sich einreden lassen, gerade recht für südliche Länder. Von dem Preis hätte eine Cingene-Familie einen ganzen Monat gut leben können. Sie hatte das Ding vielleicht dreimal angezogen, weil es so knitterte, vor dem Tragen immer gebügelt werden mußte und Hinsetzen oder Anlehnen sofort mit Gammellook bestrafte. Also bügelt sie nun unter Schweißausbrüchen und Anfällen von Magenweh, denn am Abend ist sie eingeladen zum Fastenbrechen bei Doktor Mahmut, einem guten Freund von Ömer. Mahmuts Frau ist persönlich gekommen, sie einzuladen, Helga solle sich ja nicht genieren, sie seien »modern« denkende Menschen. Bei dem plötzlichen Besuch hatte Helga erst ihr offizielles Gesicht wiederfinden müssen. Das Fasten machte sie wohl leicht »verrückt«, ein Zustand, den sie ganz angemessen fand. Die Leute, die sie da herausholten, störten sie durch ihre bloße Gegenwart. Trotzdem sollte sie mal unter Menschen, konnte nicht immer allein sein, brauchte auch »Freunde«. Das Kind war begeistert. Na, siehst du, es ist schon nett, sich in Gesellschaft an den gedeckten Tisch zu setzen! Außer der Mahmut-Familie sind noch sein Bruder und dessen Frau gekommen und ein weiteres Arztehepaar. Das Menü besteht aus einer Folge von Köstlichkeiten: Kuttelsuppe, Fleischpastetchen, Okraschoten in einer feinen Soße, gefüllten Paprika, Pilav, zum Nachtisch Süßigkeiten, Obst und Mokka. Helga nimmt von allem wenig, aber erstmals in dieser Fastenzeit schmeckt es ihr. »Euren Händen Gesundheit« wünscht sie Mahmuts Frau und deren Mutter, die wohl viele Stunden mit den Vorbereitungen beschäftigt gewesen sind. Die ganze Zeit über läuft der Fernsehapparat, erst Frommes, eine Art Predigt, mit Bildern aus der Natur illustriert. Dann Nachrichten: Krieg im Nachbarland, aber das kennen wir schon und regen uns nicht mehr auf. Dann eine Fortsetzung der amerikanischen Serie, die seit einem halben Jahr jeden Sonntag die Zuschauer vor die Glotze zieht. Die Unterhaltungen werden so geführt, daß man keinesfalls den Fortgang der Handlung verpaßt, dabei aber die Formen der Höflichkeit wahrt. Wie geht es Ihnen, was machen die Kinder, haben Sie Nachrichten von Ihren Verwandten aus Deutschland? Bitte, danke. Ach, essen Sie doch noch von diesem Traubengelee. — Bei Süßigkeiten kann ich nicht widerstehen. Alles ungemein lustig, und doch auch wieder qualvoll unwirklich. Den ganzen Abend kein Wort über Ömer — als hätten ihn nicht alle gekannt. Dafür Bewunderung von Seiten der Frauen für Helgas Fasten. Sie hielten es ja auch (die Männer nur am Wochenende, wegen der verantwortungsvollen Berufsarbeit). Aber Helga, weil Konvertitin und dabei voll praktizierend, sei eine Heilige, käme direkt ins Paradies. Solche Reden kannte sie schon von den Nachbarinnen; sie machten ihr wieder die Fremdheit deutlich, das nicht zu klärende Mißverständnis. Nur gut, daß hier niemand die Bedeutung ihres Namens wußte, »die dem Gott Geweihte, die Geheiligte«.[3] Was sich wohl die Eltern gedacht hatten, sie mit so einem Namen zu belasten, wahrscheinlich gar nichts. Doktor Mahmuts Schwiegermutter läßt kein Gebet aus, kennt heilbringende Praktiken, wie zum Beispiel das Einnähen von Koranversen in die Kleidung oder extra Fastenübungen, ist auch überzeugt, daß eine Frau für jedes Haar, das sie aus dem Kopftuch herausschauen läßt tausend Jahre in der Hölle brennen müsse. Und ihre Weisheiten darf sie der Neubekehrten nicht verschweigen, fühlt sich verantwortlich dafür, daß diese den letzten Schliff bekommt, flüstert ihr das zu wie einer Mitverschworenen. Es ist gut gemeint. Helga juckt es, etwas Schockierendes dagegenzusetzen, wie etwa der verrückte Derwisch Kaygusuz Abdal, der die Normalfrommen durch sein ausgeflipptes Benehmen geärgert hat. Aber das war wohl in ihrem Fall eine Anmaßung. Lieber spielt sie das Spielchen »elegante Weltdame« (der Blazer hält sich) als sanfte Verhöhnung ihrer »Heiligkeit«. So schont sie die anderen, wenn es auch ein bißchen feige ist. Während die Gäste von dem amerikanischen Fernsehschicksal gebannt sind, hat Mahmut bey freundlicherweise ein Ohr für die Situation der Cingene. Warum tue der Staat nichts? »Wir können uns eben, im Gegensatz zu euch in Deutschland, keinen Wohlfahrtsstaat leisten bei uns soll die Gesellschaft solche Probleme lösen. Nähme jeder Muslim seine Pflicht zum Almosengeben ernst dann wäre alles in Ordnung.« Der Doktor hat sich in Eifer geredet, monologisiert. Helga darf nur ab und zu ein Stichwort geben. Die Leute könnten sich ja versichern lassen, wollten das aber oft nicht (es sei keine Pflicht), weil dann der ausbezahlte Lohn geringer würde. Die Krankenhausbehandlung sei kostenlos, übrigens für die Armen auch die Medikamente, aber die meisten wüßten es nicht, oder sie scheuten sich, den Antrag bei der Stadtverwaltung zu stellen. Der Staat tue schon was. »Bei allem guten Willen, die Cingene fallen einem doch auf die Nerven mit ihren ununterbrochenen Klagen. Und gibt man etwas, sind sie nicht zufrieden, sondern fordern mehr. »Arbeitsbeschaffungsprogramm? Also für meine Begriffe wollen die gar keine geregelte Arbeit, bei der sie stetig und pünktlich dabeibleiben müssen. Sobald es fürs Notwendigste reicht, hört der Cingene doch auf, sich zu plagen. Mahmut bey setzt sich bis zur Erschöpfung ein im Krankenhaus, das staatliche Gehalt dort ist nicht reichlich, Nebeneinnahmen aus der Privatpraxis sind schon aus Zeitgründen begrenzt. Helgas Empörung trifft bei ihm auf den Falschen. Wer aber wäre der Richtige gewesen? Gegen 23 Uhr, mit dem Ruf zum Nachtgebet, löst sich die Versammlung auf. Man erwähnt, wie schön im Ramazan das Teravi-Gebet sei, die zwanzig Rekat (Verneigungen) zusätzlich zu den Pflichtgebeten. Mahmut beys Bruder lädt die Frauen ein, mit ihm in ein bestimmtes Dorf zu fahren. In der kleinen Moschee seien nur an die zehn Bauern, und der Hoca bete so schnell, daß man kaum mitkäme. Es sei köstlich, ein Gehampel wie in Stummfilmen. Helga hätte schon Lust, aber die anderen verstehen den Vorschlag gleich so, wie er gemeint ist — als einen Spaß, der allenfalls Männern vorbehalten ist. Erleichterung, wieder »bei sich« zu sein. Die Stille der Nacht vor dem Haus, ganz schwach nur schreien die Kätzchen im Holzverschlag. Es ist kalt und klar, Sterne funkeln, leise bewegt sich der Maulbeerbaum. Jeden Tag seien die Mahmuts eingeladen oder hätten selber Gäste, hatte seine Frau gesagt. Daß ihr der Mann auf die Nerven fiel, weil sie sich selber die Rolle der guten Ehefrau zudiktierte! Ömer hatte von Helga weder einen perfekten Haushalt, noch die Erfüllung von Repräsentationspflichten verlangt. Sie selbst hatte sich angetan, was eine Arztfrau ihrer Vorstellung nach tun mußte. Nun, da kein Mann mehr zu betreuen, zu bewundern zu erwarten war, keiner, von dem sie erzählen, mit dem sie streiten oder dem sie widerstehen konnte, tat sich Leere auf. Meine Freiheit habe ich noch nicht begriffen. Der Mann an der Seite ist ein Vorwand gewesen, und der tote wieder einer. Vorwände, um nicht zu leben. Dieses herrliche, volle Leben, ich kann es nicht beginnen, nicht spüren. Um mich ein Nebel, eine Hülle, wie um den Kurzsichtigen, der ohne Brille im Ungefähren tappt. Sie will endlich aufmerken. Seit zwei Tagen hat sie die Po-Salben weggelassen, nun ist alles geschwollen, gereizt — auch wohl, weil sie so Verstopfung hat. Mit viel Druck pressen sich kleine, harte Klößchen heraus, danach tut alles noch mehr weh. Sogar die äußeren Schamlippen fangen an zu jucken. Hätte sie sich nie eingelassen auf dieses Experiment Fasten, so ohne Anleitung und Hilfe. Die anderen hatten wenigstens die Stütze der Tradition und ihrer gewohnten Umwelt. Sie könnte sofort abbrechen und übermorgen nach Deutschland reisen. Schluß mit dem therapeutischen Selbstversuch. Worauf hoffte sie denn? Daß alles noch unentwirrbarer wurde, Wunden aufbrachen, die nicht mehr zuheilten? Die Innerlichkeit als Schreckenskabinett. Überall Schubladen herausgezogen, aber die Schubladen waren leer bis auf einen ekelhaften Lappen. Das Wrack einer Frau, Kopf, Hände und Arme rot skalpiert. Hölzerne Stützen bewahrten sie vor dem Umsinken. Im Hintergrund die brennende Giraffe. Braunbraun, unendlich die Wüste. Offen lagen Muskeln, Gedärme. Die Uhren bei Dali weich wie Camembert. Und auf dem geschlossenen Mund, in den Augenwinkeln, an den Schamhaaren das Kribbeln der Ameisen. Todesphantome. Der irrende Blick bleibt am Cellokasten hängen. Zweifel, ob sie das Instrument herausnehmen soll in einer solchen Zerrissenheit. Wie wenn es ihm schaden könnte. Sie hat so selten gespielt. »Seit Ömers Tod« — das ist schon zu einem Standardsatz geworden, und nun dient er auch zur Entschuldigung für die Vernachlässigung ihrer Musik. Was sagte das Cello? Es war Harmonie, ehe nur ein Ton erklang. Das fein lasierte Holz des Bodens, der helle Hals, die dunklen Wirbel. Ein Körper, dem Körper der Frau angemessen und schön schwer zwischen den Schenkeln. Komm, mein Liebes, laß dich hören. Alle Saiten zu tief. Die Wirbel sind festgeklebt, lösen sich ruckartig und mit Knacken. Stimmen war nicht bloß eine Frage der richtigen Frequenzen, sondern vor allem der Abstimmung, Übereinstimmung. Wenn das Cello die seinem Resonanzraum gemäßen Quinten gefunden hatte, ging auch durch den Leib der Spielerin vom Scheitel bis zu den Lendenwirbeln ein Vibrieren, eine Erschütterung wie von einer großen Glocke. D — Es — Fis — G. Sie baut sich eine Melodie auf diesen vier Tönen auf, singt auch dazu, eine lange, ziehende Weise ohne Metrum. Endloses Gehen über den Karst zwischen vertrockneten Disteln den Schafen nach, es gibt keinen Weg, kein Wasser, und im Hintergrund die kahlen Felsen unter der sengenden Sonne. Die Melodie kennt kein Zurück, wiederholt immer den gleichen Ansatz. Ich werde verschmachten, liegenbleiben auf trockenem, steinigem Boden, und die Herde ist verloren irgendwo im Geröll. Daß der Trommler schon um ein Uhr vorbeikam! Das war nicht der gewohnte Rhythmus. Ein anderer Typ hatte sich eingeschlichen, schreckte die Leute aus dem Schlaf und forderte mit quäkender Stimme ein Almosen. In den Nachbarhäusern wird Licht gemacht, weiße Gestalten huschen heraus, stecken Geldscheine zu. Helga tut dasselbe. Will den fetten Großvater schnell loswerden, der ihr noch das Kind aufweckt mit seiner Paukerei, die die Fensterscheiben erzittern läßt. Jetzt zu schlafen wäre nicht schlecht. Eine dumpfe Müdigkeit überkam sie. Bloß keinen Wecker stellen. Ob sie aufwachte, sollte dem Zufall — oder der Vorsehung — überlassen sein.
Die Kätzchen sind tot. Den Kopf nach Mekka, so begraben die Kinder sie im Garten, rufen dabei Gebete. Die Nachbarinnen zwischen Lachen und Entrüstung: normalerweise wurde eine tote Katze ohne Zeremonie in die Abfalltonne geworfen. Helga legt schwere Steine auf das Grab, damit kein Hund sie wieder ausgräbt. Erstmals hat sie heute gute Verdauung gehabt, zwei große Haufen, und das Kopfweh ist weg. Allerdings spürt sie schon den ganzen Morgen gräßlichen Hunger. Ob das eine Folge der gestrigen Einladung ist? Oder auch eine Folge der ausgefallenen Suhur-Mahlzeit? Helga hat glatt verschlafen, ist erst mit der hellen Sonne aufgewacht. Den Vorsatz zum Fasten hat sie dann aber doch gefaßt. Zu schade wärs gewesen, schon aufzugeben. Vielleicht hatte sie ja doch noch eine Chance. Das Hungergefühl saß in der Kehle, als wollte da etwas durch und kam nicht. Wie schnell sich das Kind mit der Hand an die Kehle fuhr, um sich zu erwürgen. Heute wegen einer heruntergefallenen Eistüte. Und die Mutter war so stur, keine weitere zu kaufen. Weil die Elmas sie so bittet (noch nie hast du mich besucht), entschließt sich Helga am Nachmittag, mit zu ihrem Häuschen zu kommen. Es sei nicht weit und das Wetter doch kühl genug für einen Spaziergang. Der Weg führt an der alten Schule vorbei zur Stadt hinaus. Im disteligen Ödland verstreut die weißen und blauen, ockerfarbenen und grauen Häuser und Hütten. Ziegen und Schafe weiden um eine Gruppe von verwachsenen Mandelbäumen, eigentlich malerisch, sieht man mal davon ab, daß im Winter und bei jedem Regen hier eine undurchdringliche Schlammwüste entsteht. Die Elmas eilt mit wiegenden Schritten voraus. »Noch ein bißchen weiter.« Nicht alle Häuser wirken ärmlich. Da gibt es richtige Villen in Blumengärten, mit Balkon und Fernsehantenne. Dann wieder Buden, deren Wände schon einzufallen drohen, die Fensterhöhlen mit Plastikfolie abgedichtet. Auch hier wohnen Menschen, rotzige, barfüßige Kinder spielen davor, eine Frau kocht die Wäsche auf offenem Feuer neben der Hütte. Helga schämt sich, hinzuschauen. Weil aber die Cingene bei ihr ist kommt nicht die Angst auf wie im letzten Winter, als sie, um einen Weg abzukürzen, durch ein solches Elendsviertel gegangen ist. Damals hat sie die Vorstellung gehabt, die barfüßigen Kinder, die ihr nachliefen, würden sie einkreisen und regelrecht überfallen, ihr den Pelzmantel von den Schultern reißen und das Geld aus der Tasche. Oder aus dem Düster eines dieser Häuser würde plötzlich eine verzweifelte Frau hervorstürzen und sie endgültig in ihr Schicksal hineinziehen. Nur entkommen dem saugenden Elend, war ihr Gedanke gewesen — und heute ist sie nun trotzdem verstrickt. Das Kind an ihrer Seite findet den Weg mühsam und fragt dauernd, ob es noch weit sei. Elmas deutet auf ein paar Häuschen, etwa zehn Minuten entfernt zwischen den Feldern: Sonnenblumen, Mais, Kartoffeln. Ein weißes Pferd springt mit seinem Fohlen auf einer Grasfläche, nicht eingezäunt, nicht angebunden. Es ist wirklich schön hier und frei. Im Hintergrund die Bergkette. Sie sind da. Helga zieht die Schuhe aus und tritt ein in Elmas' Hütte, in den Vorraum, der gleichzeitig als Küche dient. Dahinter das einzige Zimmer, dessen Mobiliar aus einem breiten Bett und drei kaputten Stühlen besteht. Elmas nötigt den Gast auf einen Stuhl mit grünen Polstern. Sie bedauert, keinen Tee anbieten zu dürfen wegen des Fastens. Aber das Kind kriegt ein Stück Zucker. Von den eigenen Kindern ist nichts zu sehen. »Die gehen ihrer Wege und sammeln, was sie finden«, sagt die Mutter. Dabei die besorgte Anmerkung, ob der Älteste nicht doch etwa klaut. Sauber getüncht sind die Wände des Zimmers, sauber die Decken auf dem Bett. »Wenn ich wenigstens Vorhänge hätte, um nachts die Fenster zuzuhängen.« Helga verspricht ein Stück Stoff und auch einen Fußbodenbelag. Der kalte Zement ist ihr schon nach wenigen Minuten unangenehm an den Füßen. Nachbarsfrauen kommen scheu herein, begrüßen die Fremde und gehen bald wieder, ohne etwas zu fragen, wie es sonst eigentlich üblich ist. Elmas gibt an, sich viel mit den Nachbarinnen zu streiten, die seien so gemein, liehen ihr nie Brot und Tee — dabei verdienten deren Männer doch alle. »Schau, das war mein Mann.« Sie zeigt ein Foto, die starke Vergrößerung eines Paßbildes, die reinste Verbrecherphysiognomie — aber das rührt vielleicht aus der unnatürlichen Situation des Fotografiertwerdens her. Helga würde ihr kein Foto von Ömer zeigen, sie nicht einladen in ihr Zimmer. Elmas kramt in der Kiste, sucht etwas zum Schenken und fördert schließlich ein weißes Kopftuch mit Perlenstickerei zutage. Blaue Perlchen, die den Rand angenehm schwer machen und die Ecken nach unten ziehen. Solche Tücher trugen sich gut, Helga freut sich. Auch ein Tesbih, eine Art Rosenkranz, soll sie unbedingt annehmen, obwohl sie das ein zu großes Geschenk dünkt, noch dazu, wenn es von Elmas' Mann stammt. So ein Geschenk verbindet und bindet auch; die Geberin weiß, was sie tut. (Ich habe dir mein Haus gezeigt und das Tesbih geschenkt, du bist mir wie eine Mutter, von dir erwarte ich alles.) Wie Helga befürchtet hatte, sie entkam nicht, konnte die Distanz nicht halten die eine mit bloßen Geldspenden doch nie zu gefährden brauchte. Das Kind drängt zum Aufbruch. - »Spiel halt draußen.« »Ich habe Angst vor den anderen Kindern.« »Dann sitz ruhig, noch ein paar Minuten.« Elmas hat ein Anliegen. Die Häuser sind zwar »schwarz« gebaut, aber neuerdings durch ein Gesetz legalisiert und nun verlangt der Staat Steuern. Nur wenig, aber auch das könne sie nicht aufbringen. Aus dem Täschchen ihrer weiten Hose zieht sie einen amtlichen Steuerbescheid. Wer nicht zahle, dessen Haus werde abgerissen. Freilich, meint die andere, das werde sie schon in Ordnung bringen. Heute nicht mehr, aber morgen könnten sie zusammen zur Bank gehen und den Betrag auf das angegebene Konto überweisen. Elmas küßt ihr die Hände und die Wangen. Sie schwitzt. Ihr Körper so nahe ist Helga unangenehm. Sie lenkt ab von den Dankesbezeugungen, will die Küche sehen. Der Herd dort ist die einzige Heizquelle des Hauses. Wie Elmas darauf Brot backt, ist ein Rätsel. Im Wandschrank ein schwarzer Topf, etwas Plastikgeschirr, ein paar Gläser. Große Vorräte könne man hier gar nicht aufbewahren, alles nagten die Ratten an, auch die Schuhe. Die Außentür schließt nicht dicht, unten über der Schwelle bleibt ein handbreiter Spalt. Offensichtlich stammt die Tür aus einer Ruine. Recycling. Ein Brett ist quer über die Latten genagelt worden, um sie zusammenzuhalten. Draußen, etwas entfernt, das Gemeinschaftsklo für die Gruppe von zehn Hütten. Wasser wird aus dem Brunnen geholt, der etwa 500 Meter entfernt ist. Das Wassertragen, die tägliche Frauenbeschäftigung. Ob eigentlich auf dem freien Platz vor dem Haus nicht Gemüse gedeihen könnte? — Wenn sie Geld für Samen bekäme, würde Elmas schon Paprika und Zwiebeln pflanzen, der Boden sei gut. Also wird auch das noch versprochen, eine Kleinigkeit. Und nun wollte Helga heim, sich besinnen in der Stille ihres Hauses. Armut war anstrengend, ging auf die Nerven. Der Hunger würgte wieder im Hals. Der Hunger der Armen. Der Hunger nach Gerechtigkeit. Die Verhungernden der ganzen Welt. Elmas begleitet den Besuch noch bis zur Schule zurück. »Und denk an den Vorhangstoff und den Bodenbelag, ich erinnere dich morgen daran, wenn wir zur Bank gehen. Als Helga in ihrem Zimmer auf dem Teppich saß, atmete sie auf. Diese Hütte war zu bedrückend gewesen. Freilich, die Cingene hatte ein Dach über dem Kopf, das Existenzminimum an Wohnen, aber keine Gemütlichkeit. Mindestens Kalenderbilder konnte man doch an die Wand kleben oder eine Topfpflanze ins Fenster tun. Die Deutsche verlangte romantische Armut, und das hier war bittere Armut. — Im Winter wurden Schnee und Regen durch den Türspalt hereingetrieben, den abzudichten war vordringlicher als Bilder und Blumen. Und woher nahm die Elmas Holz und Kohlen für eine lange Heizperiode? Es fiel Helga ein, daß die Bettlerinnen jetzt im Juni schon den Winter erwähnten; die wußten, worauf die Zeit unweigerlich zulief. Das Schlimmste an der Armut war wohl die Unsicherheit, genauer: Ungesichertheit. Denn »sicher waren Kälte und Hunger in Zukunft schon, wenn nicht ein großer Glücksfall eintrat. Reichtum dagegen bestand hier weniger in den paar Sesseln und Teppichen, dem Kühlschrank und einer immerhin dichten Haustür — nicht zu unterschätzen freilich —, sondern dem Gefühl, auch in Zukunft das alles noch zur Verfügung zu haben, gepolstert zu sein gegen das Unheil. Die Täuschung der Reichen, daß man sich derart absichern könne. Ganz plötzlich kam ein Schlag, und man stand da, entblößt und verlassen. Wie an dem Tag, an dem es keinen Fürsprecher gab. Was half dann selbst der geistige Besitz (den man gewohnt war für unverlierbar zu halten), wenn er nicht das Ohr geöffnet hatte für die Notschreie der Elenden? Welche Entschuldigung in aller Welt gab es vor denen, die man hatte Hungers sterben lassen, während man las und Cello spielte. »Mama, ich will ein Brot.« Immer platzte das Kind herein. Nie konnte sie mal einen Gedanken zu Ende führen. Nichts hatte eine Mutter für sich, keine ruhige Minute. Welche weitergehende Entblößung wurde denn noch verlangt? »Hier hast du dein Brot, und schieb ab.« Nutzte es den Elenden, wenn die musikliebende Helga auf ihre Schallplatten verzichtete? Wurde eine Elmas davon satt, daß sie heute abend das sechste Streichquartett von Bartok nicht hörte? Warum gerade die Kunst ausspielen gegen den Hunger? Du hast als Studentin auch schon mal aufs Sattessen verzichtet, um eine Konzertkarte zu bezahlen. Das ist mit dem langsamen Verhungern der Armen nicht zu vergleichen. Dann gib doch, gib. Das Haus ist voll von entbehrlichen Dingen, Kissen, Decken, »unmodernen« Kleidungsstücken, alten Tellern, Uhren, Lampen, Öfen... Also, du übertreibst. Um dir zu zeigen, wie du übertreibst. Wo sind denn die Grenzen? Ihr war, als hörte sie Ömers Stimme. Oft hatten sie Streitgespräche geführt, sich erhitzt, empört aneinander und nachher gut gefühlt. Schon sie beide waren sich nicht einig gewesen über das Notwendige. Seine Leidenschaft für schnelle Autos hatte Helga lächerlich gefunden (sie hatte ihn ja auch das Leben gekostet). Und er hatte den Kopf geschüttelt über ihre Schwäche für Seidenkleider. Nach den Vorschriften der Religion sollten die Gläubigen beim Geben maßhalten und nicht die eigene Lebensbasis zerstören. Der Prophet Muhammed hatte sehr einfach gelebt. Seine Frauen waren vor die Entscheidung gestellt gewesen, seine Armut zu teilen oder wegzugehen. Das galt aber nicht für jeden. Wo Jesus aufrief zum Verlassen der Welt und zur Nachfolge in Armut, da erlaubte der Islam die Freude an den guten Dingen dieser Erde und schrieb nur vor, den Besitz durch das Almosengeben zu reinigen. Die Dämmerung rückt heran. Helga muß in die Küche die frischen Lammnierchen grillen. Heute freut sie sich aufs Essen, ebenso wie ihr Kind, das gerade mit einem heißen Fladenbrot zur Tür hereinkommt. Später bringt Gül, die Nachbarin von schräg gegenüber, zum Nachtisch Kuchen. Sie ist die junge Frau eines Polizisten und kocht gut. Erst vor ein paar Monaten ist ihr Mann in diese Kleinstadt versetzt worden, für sie wohl nicht leicht zu ertragen. Fast jedes Gespräch beginnt mit: »Als wir noch in A. waren...« Das Herz muß dort geblieben sein. Ihren Vorsatz, den ganzen Ramazan einmal mitzufasten, hat sie nach einer Woche aufgegeben. Es ist ihr zu schwer gewesen, als Raucherin den Tag über auf Zigaretten zu verzichten. Und ihre Familie hat sie ständig aufgezogen: »Dickerchen, das Fasten nützt dir auch nichts mehr.« Anscheinend hat sie das ganze doch mehr als Diätübung praktiziert, denn sie erzählt in diesem Zusammenhang von vielen vergeblichen Versuchen, durch Kalorienzählen das Gewicht zu reduzieren. Im Hintergrund die leise Erinnerung an eine fromme Kindheit. Wehmut, als ob etwas Schönes verlorengegangen sei. Wenn Gül mit in der Runde sitzt, wird immer gelacht. Sie erzählt temperamentvoll, pointenreich, manchmal pikant. Ab und an kochen sie und Helga zusammen, dabei hat Gül es auf den elektrischen Rührer aus Deutschland abgesehen, und Helga lernt neue Rezepte. Freilich jetzt im Ramazan, will die Fastende allein sein bei der Arbeit, dem verlangsamten Rhythmus entsprechend werken und nicht reden müssen. Der Kuchen ist gut. Helga revanchiert sich mit einem Schälchen selbstgemachter Erdbeermarmelade. Essen verbindet, so wie es das Fasten tut. In den anderen Nachbarhäusern wird der Ramazan überall gehalten, jedenfalls von den Frauen, allen voran den beiden verwitweten Großmüttern, direkt gegenüber. Sie bleiben tapfer, auch wenn zur Schwäche durch Enthaltung noch Altersschwäche kommt. Und erstaunlich, nach neun Tagen der Schweigsamkeit und des bloßen Kopfnickens werden die Alten munter. Sie zünden im Hof ein großes Feuer an und machen nach dem Wäschewaschen auch noch den Fettkessel für Krapfen heiß. Die Kinder der ganzen Straße sind eingeladen und glücklich. Den Kleinen geht es nicht schlecht, wenn die Erwachsenen tagsüber das Essen ausfallen lassen. Man schickt das Völkchen zum Picknick, und so sitzen sie denn im Schatten eines Baumes und leeren ganze Körbe voll Käse, Oliven, Gurken, Pflaumen, Kekse, Nüsse, Kaugummi. Auch Helgas Sohn holt andauernd Nachschub für sich und die Freunde, ein Spaß, der wenig Arbeit macht. Wie gerne er aß den Tag über, und wie lustig diese Mahlzeiten waren im Gegensatz zu dem Zweipersonentrauerspiel am Abend. Den intensivsten Kontakt zur »Doktorfrau« pflegt Hadiye hanim vom rechten Nachbarhaus. Täglich kommt sie vorbei, ist anteilnehmend und hilfsbereit, nicht bloß neugierig. Da ihr Mann auswärts einen Großhandel mit Reis und Getreide betreibt und die beiden fast erwachsenen Söhne ihre eigenen Wege gehen, sitzt sie viel allein. Nie würde sie abends das Haus verlassen, obwohl bis Mitternacht kaum mal einer von den Männern erscheint. Sie tröstet sich mit dem Fernseher und mit Nähen. Wie eine große Couturiere schneidert sie ohne Vorlage und ohne Maßnehmen das schönste Kleid auf den Leib. Und es paßt! Sie hätte sicher Geld machen können mit ihrer Kunst, ein interessanteres Leben haben. So ist sie früh gealtert, weißhaarig, faltig mit vierzig. Nur wenn sie schnell spricht, blitzen die Augen manchmal schalkhaft. Auch Tante Zehra von links nebenan und ihr völlig ausgemergelter Mann, der Onkel Salih, machen Helga immer Mut durch ihre Heiterkeit. Tante Zehra kann herrliche Geschichten erzählen aus dem alten Bulgarien, wo sie ihre Kindheit verbracht hat. Bei den strengen Sitten im Elternhaus hatte man um Erlaubnis bitten müssen, wenn man sich in Gegenwart des Vaters setzen wollte. Sie hat völlig verschrobene Ansichten über »anständige« Kleidung und geht auch bei größter Sonnenhitze mit langen Baumwollhosen unter dem Kleid daher. Sobald sie das Haus verläßt, zieht sie noch einen Mantel drüber. Heute früh hat sie ihre junge Nachbarin zum Mukabele (Koranlesen) in ein Privathaus mitgenommen, weil es dort viel feierlicher sei als in der Moschee. An die 120 Frauen sind in der Dreizimmerwohnung versammelt, natürlich alle Sofas und Stühle längst besetzt, als die beiden ankommen. Aber auf dem Boden zu sitzen ist Helga inzwischen gewohnt. Sie will nicht, daß jemand für sie aufsteht. Der Hoca läßt auf sich warten und so plaudern die Frauen, fragen einander nach dem Ergehen von Mann und Kindern, wollen in Helgas Koran eine Prachtausgabe mit Goldschnitt, schauen und sich vergewissern, ob sie denn die arabischen Buchstaben schon gelernt habe. Bewunderung eimerweise für die Konvertitin, Sensationslust und Zuneigung vermischen sich. Erstaunlich, neben den Matronen, die vielen jungen Mädchen, die ständig zu kichern und die schönen Schleier zu richten haben. Man merkt genau, daß sie im Alltag den Kopf frei tragen und nun die Haare nicht verdrücken wollen. Plötzlich erhebt sich eine volle Frauenstimme zu einem Lobpreis auf den Propheten Muhammed. Jedesmal wenn der Name erwähnt wird, legen die Anwesenden in Andacht die Hand auf Gesicht und Herz. Das Lied hat viele Strophen; wegen der alten Sprachform kann Helga den Sinn im einzelnen nicht verstehen. Inzwischen ist, von den meisten unbemerkt, der Hoca hereingehuscht und fängt an, aus dem Koran zu lesen, den Abschnitt für den zehnten Tag. Das Tempo der Rezitation ist so rasant, daß Helga immer wieder aus der Reihe gerät und ein junges Mädchen, das geübter ist, ihr einhelfen muß. Langsam beseelt die beiden ein fast sportlicher Ehrgeiz, den Faden nicht zu verlieren — von Andacht keine Rede. Im letzten Teil des Textes verlangsamt sich der Leser und gibt eine Übersetzung der einzelnen Verse. Höllenstrafen werden angedroht für die Ungläubigen. Daran schließt der Geistliche eine Reihe von Ermahnungen: den Armen zu spenden, als gläubige Frau nicht »wie die Christen« mit nackten Armen und ohne Kopftuch zu laufen, das Gebet nicht zu vernachlässigen. »Es gibt Menschen, die können ohne Nachtgebet nicht einschlafen. Einen Monat lang halte konsequent die fünf Gebetszeiten, und du wirst keine innere Unruhe mehr spüren.« Der Hoca eilt von einem Gesichtspunkt zum anderen; er spricht schnell, als geniere er sich, ein junger Mann vor 120 Frauen. Helga kann ihn von ihrem Platz aus nicht sehen, aber die Stimme, unsicher und salbungsvoll zugleich, läßt ein Bild entstehen. Daß die »Pastoren« in der ganzen Welt sich so ähneln. Die vielen Frauen nehmen alles hin, protestieren nicht, fragen nicht wenigstens nach. Die Gesichter sind gesenkt. Manchmal ein tiefer Seufzer. Dann folgt eine Litanei mit Fürbitten. Zuletzt erheben sich alle und hätten sich eigentlich bis zum Boden verneigen müssen, was aber wegen der drangvollen Enge nicht möglich ist. Entlassung. Beim Ausgang verteilt die Wohnungsinhaberin Rosenwasser. Jede sagt ihr einen Segensspruch. Am späten Nachmittag bringt Helga in der Runde der Nachbarinnen die Predigt zur Sprache; Tante Zehra und Hadiye hanim haben sie ja auch gehört. Keine stört sich an der Verknüpfung von Seelenfrieden und Einhaltung der Gebetspflicht. Daß für die »weibliche Unruhe« auch nichtreligiöse Gründe gelten könnten, als da sind harte Lebensbedingungen, Fehlen von minimalster Selbstbestimmung, Knechtung durch einen primitiven Ehemann..., das wird mit beifälligem Lachen zur Kenntnis genommen. Aber im Grunde sei es typisch für eine deutsche Frau, hier ein Problem zu sehen, das Leben sei »nun mal so«. Als Helga daraufhin die Armenfrage anschneidet, sticht sie in ein Wespennest. »Du läßt dich mit den Cingene ein, dabei haben wir in der Straße auch arme Leute, hilf denen, wenn du etwas geben willst« Freilich, sie weiß, daß im ganzen Viertel mit wenigen Ausnahmen Familien wohnen, die gerade das Nötigste besitzen. Daher vielleicht auch die Abwehr gegen die nächsttiefere Gruppe — Abwehr aus Angst, ebenfalls unten zu landen. Sie versucht, das Schicksal der Elmas zu schildern, ihre saubere Hütte, die Aussichtslosigkeit, Arbeit zu finden. »Glaub ihr nicht, die lügen alle.« Solange Helga brav dabeisaß, gab es keinen Konflikt. Spaß machte, wenngleich nicht ihr, so doch den anderen auch, sie nach Deutschland auszufragen. Die bevorzugten Themen kannte sie schon: saubere Straßen, Pünktlichkeit, gute Qualität der Waren. Ein Lob den netten, sauberen Deutschen. Die zunehmenden Ausbrüche von Ausländerhaß, wovon die Zeitungen ja hier auch berichteten, wurden verdrängt. Sie trugen so sehr die eigenen Traumvorstellungen an dieses Deutschland heran, daß die Realität gar nicht mehr wichtig war. Und Helga war nur als Auslöserin der Träume gefragt, nicht als wirkliche Informationsgeberin, geschweige denn als Zweiflerin. Es wurde kein Gespräch. Sie stellten ihr nie die »richtigen« Fragen, vielleicht galt das ja auch umgekehrt. Das hatte nichts mit Sprachschwierigkeiten zu tun (Helga hatte die fremde Sprache in den Jahren ihrer Ehe systematisch gelernt), sondern mit unterschiedlicher Bewußtheit. Bloß wenn eine sehr litt, war in der Gruppe ein kreatürlicher Trost möglich (beisammensitzen, zusammen seufzen, Arm in Arm auf und ab gehen, über einen Spaß lachen), Trost wie ihn eine Mutter einem kleinen Kind spendete — auch das war nicht wenig.