Das Notizbüchlein mit den Aufzeichnungen...

... vom Religionsunterricht vor Helgas Übertritt zum Islam hat sich endlich zwischen einem Stapel nie benutzter Bettwäsche wiedergefunden. Scheich Nureddin, der ihr damals vor sieben Jahren die Anfänge im Glauben beigebracht hatte, war nur vorübergehend in Deutschland gewesen. Er konnte weder deutsch, noch verstand sie sein Arabisch. So einigten sie sich auf englisch, das er mit einem schrecklichen Akzent und ziemlich stockend sprach. Sie hatte von ihm nicht so sehr ein Lehrgebäude übernommen, als vielmehr den Eindruck, daß der Islam eine herrliche Sache sei, die froh macht und weise. Seine schönen, dunkelbraunen lachenden Augen. Sein weißer, ein klein wenig gelockter Bart. Seine Aufmerksamkeit beim Zuhören. Ömer hatte sie zu ihm gebracht in das alte Fabrikgelände, wo die Muslime sich eine Gebetsstätte eingerichtet hatten. In dem Fabrikhof zwischen Jasminbüschen und wucherndem Unkraut wandelnd, war Scheich Nureddin nicht müde geworden, ihr wie einem Kind die Gebetstexte vorzusprechen, bis sie sie auswendig konnte. Wo der Alte sich wohl aufhielt? In Damaskus oder in Amerika? Auf Cypern oder in Paris? Seine Vorträge zogen eine große Hörerschaft, besser gesagt Jüngerschaft an, überwiegend junge Leute, die sich unter seiner Anleitung einem ordensartigen Leben hingaben. Insbesondere die Männer mit Käppchen und Pluderhosen waren Helga komisch vorgekommen. Einmal hatte sie gehört, wie sie diskutierten, ob man Zahnbürsten benützen dürfe, oder nicht doch, in Nachahmung des Propheten, ein Zahnholz verwenden sollte. Sie solle sich darüber nicht den Kopf zerbrechen, sagte der Scheich, sondern erst mal das Grundlegende lernen. Was da im Notizbuch stand, las sie heute ganz neu:

  • »Nicht Gott verhüllt sich vor uns, sondern wir sind die Verhüllten (veiled). Es ist die Aufgabe des Menschen, die Schleier abzuwerfen.« Oder anders gesagt: »Man must be awakened from the dream of negligence.«[4]

Und unter einem anderen Datum:

  • »Viel Mühe hat der Scheich heute darauf verwandt mir den Islam als eine Religion des Wissens nahezubringen. Nicht: Schließ die Augen und glaube, sondern: Sieh, versteh, und vergiß nicht wieder. Dieses >Wissen< ist nicht zu verwechseln mit Rationalismus sondern >essential Knowledge, which integrates our being<.«[5]

Helga war bei ihrer Eheschließung nicht zur Annahme des Islam gedrängt worden; ein Muslim durfte nämlich durchaus eine Christin heiraten. Die »Christin« war zu jener Zeit fast zehn Jahre lang in keiner Kirche mehr gewesen, bestand weder auf Gottessohnschaft noch auf Dreifaltigkeit, womit die dogmatischen Schwierigkeiten eigentlich in sich zusammenfielen. Nur, konkret sah es dann doch so aus, daß Ömer erklärt hatte, er würde sich nie mit einer Frau verstehen, die seine Religion nicht teilte. Immerhin hatten sie sich bis dahin schon so gut verstanden, daß sie als Verlobte zu Helgas Mutter gefahren waren (er selbst hatte keine Eltern mehr). Sie sollte sich trotzdem »keinem Zwang« ausgesetzt sehen, es sollte eine ganz »freiwillige« Entscheidung sein, aus Überzeugung. Im Hintergrund stand bloß die Alternative, den Märchenprinzen aus dem Morgenland zu verlieren, den sie bis zum Wahnsinn liebte, und der, nebenbei gesagt so gut vögelte, daß es ihr zum erstenmal Spaß machte. Besonderer Eifer wurde von der Konvertitin, die ihren bedeutungsvollen Namen beibehalten durfte, nicht verlangt, nachdem sie das Bekenntnis »Aschhadu an la ilaha illa-llah...« (>Ich bezeuge, daß es keinen Gott außer Allah gibt, und ich bezeuge, daß Muhammed der Gesandte Allahs ist<) in Gegenwart von Zeugen abgelegt hatte. Auch Ömer betete nicht fünfmal, fastete seit Jahren nicht mehr im Ramazan, war nicht nach Mekka gewallfahrtet — »das wäre dann ja etwas für uns beide, wenn die Kinder (die es noch gar nicht gab) größer sind« —, leistete keine Vermögensabgabe (Zakat), weil kein Vermögen da war. Aber in Kleinigkeiten war er ein ganzer Muslim, zum Beispiel indem er sich nach dem Liebeslager von Kopf bis Fuß abduschte, sogar eiskalt, wenn es kein warmes Wasser gab. Helga mußte es ihm gleichtun. Sie war sich nicht wie eine Heuchlerin vorgekommen, denn was sie bekannt hatte, das glaubte sie wirklich: »Es gibt nur einen Gott.« Die Erfahrung mit diesem Einen hatte sie sich für später aufgespart, Es dadurch ernstgenommen auch in jener Anfangsphase; ernstgenommen, indem sie Es nicht vermischte mit ihrer Liebesromanze in der freilich eher die Anbetung des Geliebten gefragt war und die Unio mystica im Bett. Je mehr allerdings der Traumprinz sich entpuppte als ganz gewöhnlicher Mann, Mensch, Orientale, um so leichter fiel es ihr, die unter verliebten Umständen übernommene Religion zu überprüfen, um sie entweder zu verwerfen oder zur eigenen zu machen. Ob das Fasten wohl half, aus dem Traum des Vergessens zu erwachen, die verhüllenden Schleier abzuwerfen? Helga schien es so, als hätten lediglich Verwirrung und Schuldgefühle zugenommen, seit sie angefangen hatte, sich zu bemühen. Aber da war das verrückte Herz das »Allah« wollte, ihre Sehnsucht hieß neuerdings Allah. Wo war er? Nein, nicht »Er«, vielleicht Es, Du. Verfluchte Begrenztheit der Sprache. Alle diese Pronomen suggerierten ein personales Gegenüber, das war zu wenig. Der Mystiker Halladsch hatte »Ich« gesagt und war deshalb hingerichtet worden. Die Orthodoxie verstand offensichtlich keinen Spaß.
Gerade hat Helga der Yana die Tür vor der Nase zugeknallt. So eine Lügnerin, eine hysterische. Wagt es, noch einmal herzukommen und Theater zu spielen. Freilich, aus ihrer Sicht ist ihr wohl nichts anderes übriggeblieben, nachdem die schlichte Schilderung ihrer Not nichts bewirkt hat. Sie sei vierzehn und habe noch für zwei kleinere Geschwister zu sorgen. Der Vater sei völlig im Suff versunken, die Mutter mit einem anderen verschwunden. Angeblich durch die zahnstummelige Großmutter hatte sie von Helga erfahren, jedenfalls ist sie eines morgens erschienen, sie sei von der Alten geschickt, an deren Stelle zu kehren. Seltsam, der abgemachte Tag wäre eigentlich erst der folgende gewesen. Sie fegt also, reichlich schlampig, Helga muß sie mahnen, bekommt den gleichen Lohn wie die Großmutter und erzählt von ihrem Leid. Ob die Doktorfrau nicht einen Rock oder eine Baumwollhose für sie habe, ihre Hose sei ganz zerrissen. Helga bringt Nadel und Faden, um den glatten Riß im sonst noch guten Stoff zu flicken. (Der Verdacht, das Mädchen habe ihn sich selbst beigebracht.) Nähen will sie nicht, sondern das Geld für eine neue Hose. Bitte, bitte. Helga schickt sie mit Gemüse und Obst nach Hause. Am nächsten Tag weiß die alte Kehrerin nichts von einer Abmachung mit der Jungen, ist wütend, daß ihr da jemand den Job wegnimmt und rät, dem Mädchen nie mehr etwas zu geben, das sei eine schlimme Familie. Danach erscheint Yana mit den beiden kleinen Geschwistern, die freilich zum Erbarmen zerlumpt und verwahrlost aussehen. Helga schenkt Seife und Kleidung, dazu Süßigkeiten. Statt sich zu bedanken, fängt Yana an, ihr Bein tue ihr seit Tagen so weh, sie könne bloß noch humpeln. Tatsächlich hat sie sich mühsam vors Haus geschleppt. Zeig mal her. Man sieht nichts, aber angeblich ist der Schmerz grausam, Yanas Gesicht eine einzige Leidensmine. Sie bittet um Geld für Tabletten, was Helga ihr denn doch nicht verwehren kann. Zwei Stunden später ist die Yana in einem Hochzeitszug der Cingene zu sehen, hüpfend und tamburinschwingend, vom Geld schnell gesund geworden. Ist Helga vielleicht böse, daß sie tanzt? Neidet sie den Cingene denn, wie andere Leute hier, ihre temperamentvollen Feste? Als Yana nun heute kommt, hat sie den Beipackzettel eines schweren Betäubungsmittels dabei. Sie brauche diese Spritzen gegen ihre Kopfschmerzen, schon mehrmals habe sie einen epileptischen Anfall gehabt, und das Kopfweh sei die Vorstufe. Auf die Frage, welcher Arzt sie behandelt habe, nennt sie den Kinderarzt. Helga ruft in der Praxis an. Das Mädchen und seine Geschwister sind zwar öfter in der Sprechstunde gewesen, aber noch  nie  wegen  Epilepsie. Helga informiert  den Arzt auch über das verlangte Medikament. Seiner kühlen Auskunft zufolge werde sie das wahrscheinlich verkaufen, es bringe eine Stange Geld. »Verschwinde, Lügnerin, und laß dich nicht mehr blicken.« Das Mädchen hat einen wunden Punkt bei ihr getroffen, die Einbildung, mit den Armen schwesterlich und auf gleicher Ebene zu verkehren. Vertrauen gegen Vertrauen. Wahrscheinlich war Yanas Einsicht in das Verhältnis größer als das der enttäuschten Wohltäterin. Denn es spielte sich in Wirklichkeit ja ein Kampf ab zwischen denen, die besaßen und nicht gerne — alles schon gar nicht — geben wollten, und den anderen, die List, wenn nicht sogar Gewalt aufbieten mußten, um ihren Anteil zu erringen. Wenn die meisten Bettlerinnen sich noch in etwa an die Spielregeln hielten, höflich waren und baten, statt zu schimpfen und zu fordern, so bedeutete das nicht, daß Frieden zwischen den Fronten war. Daher auch immer diese Spannung zwischen Elmas und ihr. Sie waren keine Freundinnen. Helga rückte, bis auf Kleinigkeiten, nichts freiwillig heraus. Die andere mußte es ihr ablisten durch Bitten, Arbeitsangebote, bewegte Lageschilderungen. Elmas war eine Künstlerin im Erfinden neuer Umstände, da das alte gleichbleibende Elend die Herzen kalt ließ. Und so war Yana auf das Simulieren von Krankheiten verfallen. Die Krankheit zum Ausdruck für ein anderes Leid werden zu lassen, — als ob Helga das nicht kannte. Sie hatte mal einen Film hier gesehen, in dem zwei berühmte Komikerinnen vorspielten, wie die Cingene Krankheit und Tod gezielt einsetzen, um andere weichzukriegen. Im Film waren es zwei Mütter gewesen, denen es auf diese Weise gelang, ein Liebespaar zusammenzuführen.  Harmlos,  sehr komisch auf Kosten der Cingene (die Schauspielerinnen waren in Wirklichkeit keine) und eine Stützung der alten Vorurteile. Gleichzeitig eine Verschleierung des hinter dem Spiel stehenden Verteilungskampfes, bei dem es ja ums Überleben ging. Das Fasten ist heute ganz leicht erschienen, der Magen hat bloß beim Vorfall mit der Yana ein wenig gezogen. Jede Aufregung, besonders Ärger, wirkt schlimmer als stundenlange Arbeit. Zum Glück löst Essenszubereitung bei Helga keine Eßlust aus. Aber als sie nachmittags an der Bäckerei vorbeigeht, wo gerade das frische Brot aus dem Ofen kommt, ist es mit ihrer Fassung vorbei. Das Wasser schießt im Mund zusammen, gleichzeitig knurrt der Magen, ihr bricht der Schweiß aus, und sie fängt an zu zittern. Dazu die Zwangsvorstellung, sie müsse sich auf ein Brot stürzen, um es mit einem Mal zu verschlingen. Ganz schwach in den Knien wendet sie sich ab und erneuert den Fastenvorsatz. Abends kann sie neuerdings fressen.
Es fängt an zu regnen; sie ist früh ins Bett gegangen, und nun kann sie nicht schlafen. Der Po juckt. Wenn sie liegenbleibt, muß sie kratzen. Also auf in den Sessel. Aber beim Sitzen tut die Narbe am Bauch weh, wie öfter bei Wetterumschlag. Ächzend zurück ins Bett. Helga, was bist du für ein Unglückswurm. Ihre Narbe quer über den Bauch, wieder weiß geworden im Laufe der Zeit, nur die Haut zieht nach innen wie eine Falte. Da haben sie das Kind herausgeschnitten als es durchaus nicht anders zur Welt kommen wollte. Drei Tage lang unregelmäßige Wehen und keine Geburt, schließlich der Wehentropf. Da setzten die Herztöne aus, also schnell schneiden. Sie erinnert sich, wie sie schon halb betäubt etwas unterschrieb, dann war sie weg und kam erst am nächsten Tag auf der Intensivstation zu sich, zähneklappernd und fieberglühend. Einmal zeigte man ihr das Kind. Sie kämpfte mit Fieber und Durchfall, trainierte, mit dem Arm an der Infusionsflasche zum Klo zu gehen, den Tropf am Ständer hinter sich herziehend. Das war der Test für die Verlegung auf ein normales Zimmer in der Entbindungsstation; dort erst durfte nämlich das Baby zu ihr. Beim Stillen eine Hand mit der Infusion verbunden. Sie war noch lange nicht gesund, jede Nacht schwitzte sie mehrmals das Bett klatschnaß. Fünf Wochen lag sie im Krankenhaus und erfuhr von einer Schwester so nebenbei, ihre Gebärmutter sei voller Myome — ein Kind kriegen Sie damit sowieso nicht mehr —, aber schließlich habe für eine Entfernung die schriftliche Einwilligung gefehlt. Der Chefarzt versicherte auf Nachfragen: »Nichts Schlimmes.« Alle wunderten sich über ihr strammes gesundes Söhnchen. Zu der Zeit arbeitete Ömer in einer anderen Stadt und kam nur an den Wochenenden. Ob er von seinen Kollegen mehr erfuhr? Helga hatte das Gefühl, daß ihr da Entscheidendes verheimlicht wurde. War bei der Operation etwas schiefgegangen, oder hatte man doch einen malignen Befund konstatiert? Auf die Geburt des Kindes war ein Schatten gefallen, dunkel und unfaßbar. Ihre Träume verrieten ihr mehr als der Arzt. Noch auf der Intensivstation träumt sie in einem Keller zu sein, voller Gerümpel, über das eine Wanne mit graugrünem schwabbeligem Glibber ausgekippt wird — das fließt überall hin - nie mehr wird sie es aufwischen können. Später träumt sie ein paarmal, sie hinge an einem abschüssigen Bahndamm, voller Angst, auf die Geleise herunterzurutschen, wo eine Art Spielzeugeisenbahn heranrast. Die dampft und bimmelt und steckt mit ihrem Feuer die Bäume in Brand. Alles zwergenhaft klein, aber gefährlich und sehr rasch. Rasende bimmelnde Zwergenmechanik. Helga kannte ihre Träume auswendig, tagelang hatte sie darüber nachgedacht. Trotzdem waren sie Rätsel geblieben. Irgendwann würde sich aus der Rätselhaftigkeit ein Muster ergeben. Wie das Muster der Maulbeerbaumblätter vor dem Mond. Hatte der Regen aufgehört? Noch einmal nach dem Kind sehen, das liegt am Rand des Bettes und schwitzt leicht. Den Kater rauslassen und dann kuschelig in die Decken. Drei Stunden Zeit bis der Trommler kommt. Schlaf stellte sich nicht ein, wie sie sich auch drehte. O, du Scheiß Versöhnlichkeit! Alles sollte gut sein, weil sie die paar Träume bewahrt hatte! Aber die Geburt hatten sie ihr weggenommen, die Männer, Ärzte, Zwergentechniker. Nein, nicht mal ihre Bilder wollte sie einsetzen für die, die ihr »Leben gerettet« hatten. Und etwas Wichtiges aus dem Leben wegoperiert. Warum sollte sie nicht wissen, was mit ihr geschehen war? Warum nicht konfrontiert werden mit ihrer Krankheit, wenn es eine war? Oder mit dem Versagen der Maschine Operationssaal? Warum wollten da welche nicht zur Wahrheit stehen und es ihr dadurch unmöglich machen, ihrerseits die Wahrheit zu erleben? Ihr Kind war aus ihr herausgeschnitten worden, das konnte sie allenfalls akzeptieren. Aber was war dann passiert? In den 24 Stunden danach, von denen sie nichts wußte. Was hatten die da mit ihr gemacht? Sie solle dankbar sein, daß es ihr wieder so gut ginge, sagte die Schwester. Gerne hätte sie das Ausmaß der Rettung gewußt. Das Kind hatte trotz allem Muttermilch getrunken von Medikamenten verseucht. Es hatte ihr auf dem Bauch gelegen, mit seinen Füßchen gegen die Klammern im verheilenden Schnitt gestoßen, war auf ihr eingeschlafen, das Köpfchen an ihrem Hals. Als wenn da kein Abgrund zwischen ihnen gewesen wäre, aus dem sich die Depressionen der folgenden Jahre nährten. Fremdheit zwischen ihr und dem Wesen, das das vertraute Nächste sein sollte. Durch Welten getrennt, ein toter Stern. Die Schuld, nicht warm fühlen zu können. Auch auf das Verhältnis zu Ömer übertrug sich diese Verwirrung. Wenn der mal da war, hatte er auf der Seite der Ärzte gestanden, der Männer, hatte gar nichts Schlimmes an der Ungeheuerlichkeit gefunden, nur gewollt, daß Helga bald wieder gesund würde (wie lieb) und alles so sei wie bisher. Damals war es ihr recht gewesen, das, was sie sowieso nicht verstand, mit Blumensträußen, Pralinen Brillantring zudecken zu lassen. Ein bißchen kleine Frau sein, sich anheimgeben, nicht zu sehr bohren. Aber jetzt wollte sie erwachsen werden, über sich Bescheid wissen. Da gab es immer noch die Möglichkeit, an das Krankenhaus und den damaligen Chefarzt zu schreiben — mit dem Zweifel, ob sie wirklich Einsicht bekam. Aber das war nicht der Weg, wußte Helga. Irgendwie lag doch alles schon offen da, sie konnte es bloß nicht fassen. Wie eine Geheimschrift, deren Code sie nicht kannte. Auch damals hatten ihr die anderen schon verschlüsselte Mitteilungen gemacht. Ein Angebot, dem sie durch das angstvolle Beharren auf ihrem »aber es tut nicht weh«, immerzu ausgewichen war. Wer hatte denn angefangen mit dem Beschwichtigungsspiel? Sie war am Rand des Todes gewesen, offensichtlich. Und sie hatte sich nicht getraut, dem schlichtweg ins Auge zu blicken. Jetzt sah sie sich in aller Deutlichkeit mit offenem Bauch an den Schläuchen hängend, erkaltend, geschüttelt, auf der schiefen Ebene zwischen Leben und Tod. Du kannst dich nicht festhalten am ausgedörrten Gras des Bahndamms, unten rast der Zug vorbei du rutschst runter, kollerst, es gibt keine Rettung, und oben brennt der Wald lichterloh. Die Entscheidung, abstürzen oder verbrennen, war damals nicht verlangt worden von ihr; den Traum hatten die Zwerge beendet und sie dem Leben wiedergegeben. Da hatte sie den Gegenpol schnell vergessen wollen und sollen über dem Kind. Die Narbe schmerzt, erinnert an jenen Tag, an dem sie schon auf der anderen Seite gestanden hat. Und muß wohl schmerzen, bis Helga es kapiert hat: nicht bloß die anderen haben mir etwas verheimlicht, nicht bloß die anderen, ich selbst habe bisher meinen Tod nicht anschauen wollen. Wo dieser Tod nun wohl geblieben war? Sie wußte mit einemmal: in mir ist er, mein Tod, er kommt gar nicht von außen, nicht zusätzlich zu bestimmten Ereignissen, sondern ist etwas, mit dem ich geboren bin und das wächst bis zu seiner vorbestimmten Größe. Und statt des Grauens, das schon das Wort »Tod« bisher immer in ihr ausgelöst hatte, wurde Helga über dieser Vorstellung so friedlich, daß sie fast augenblicklich einschlief. Wie die Katze durchs Schlafzimmerfenster wieder hereinsprang, hörte sie nicht mehr.
Elmas ist heute zum Arbeiten gekommen; sie sagt, als Dank für die Bezahlung der Steuern. Jetzt im Ramazan hätte Helga sich nie an einen Hausputz gemacht. Aber Elmas hört gar nicht auf Proteste, greift zu Eimer und Besen, rollt Teppiche auf, poliert Fenster und verschiebt Möbel. So ein Trubel. Helga merkt, daß sie nervös wird und verzieht sich in den Garten. Während sie in den Blumenbeeten herumhackt, Unkraut auszieht, matschige Maulbeeren vom Weg kehrt, sieht sie vor dem inneren Auge Elmas Manteltaschen und Schubladen mit raschem Griff durchstöbern. Sie schämt sich ihrer Gedanken, geht nun extra nicht rein und kann doch nicht umhin, sorgfältig auf die Geräusche aus dem Haus zu achten. Während die Cingene Teppiche abbürstet, klaut sie ja wahrscheinlich nicht. Als Helga endlich in die Küche kommt, ist Elmas schon beim Geschirrspülen mit viel Reinigungsmittel und viel Wasser, offensichtlich glücklich, mal verschwenderisch umgehen zu dürfen. Hingebungsvoll putzt sie auch die Aluminiumtöpfe und den Kessel, die Teekanne sogar innen, was der Deutschen gar nicht lieb ist, aber sie mischt sich nicht ein, sondern sucht aus dem Kühlschrank einen Imbiß zusammen für die Frau. Elmas fastet nicht. Sollen die Armen, die sowieso nie satt werden, auch noch fasten? Es ist Nudelsuppe da, außerdem gefüllte Weinblätter und ein Pudding.
Du hast genug gearbeitet, danke, danke, es glänzt alles wunderschön, iß jetzt und dann geh heim, ich möchte mich hinlegen. Die Anwesenheit der Cingene stört Helga sehr, auch wenn da Hausarbeit getan wird, die sie selbst nicht mag. Die andere möglichst bald wieder loswerden und das nächste Mal sich gar nicht einlassen auf ein Hilfsangebot. Für sich und das Kind schafft sie den Haushalt schon, und die Waschfrau ist auch noch da. Wie Elmas die Suppe schlürft, schmatzt. Wie sie nach Schweiß riecht. Helga kommt sich so schuldig vor, aber es ist ihr einfach unerträglich, diesen anderen Menschen nahe zu haben in seiner fremdartigen Körperlichkeit, mit den Ausdünstungen der Armut. Ins Bett flüchtete sich die feine Dame, die sich mit Geld loskaufte, und der es übel wurde, wenn sie einem Menschen leibhaftig begegnete. Jetzt war es heraus: Die guten Werke für die Armen, diese Almosen waren lediglich ein Ersatz für eine von ihr nicht zu schaffende Mitmenschlichkeit. Warum war die Elmas gerade heute gekommen, an einem Tag, an dem sie am liebsten gar nicht aufgestanden wäre. Sie hätte über so etwas Wichtiges nachzudenken gehabt, bloß, was das war, darauf konnte sie sich in ihrem Bett nicht mehr besinnen. Sie sah in den Maulbeerbaum, bemerkte erstmals, daß Stamm und Äste ganz hell waren, grau-beige, vor einem blauen Himmel. Die Sonne war schon auf die andere Seite des Hauses gewandert, die Uhr zeigte kurz nach drei. Hoffentlich ist Elmas inzwischen gegangen. Ja, keine Rede davon. Im Badezimmer hat sie den großen Kelim vom Flur in der Badewanne eingeweicht, Waschmittel dazu, und tritt nun mit nackten Füßen drauf rum, wie die Frauen hier dicke Stoffe zu waschen pflegen. Die Fastende hält an sich, um nicht loszuschreien. Tagelang würde es dauern, bis der Kelim getrocknet wäre, die Flusen würden den Ablauf der Badewanne verstopfen, überhaupt würde bei dieser Wascherei das hauseigene Wasserdepot bald leer sein, und wie immer war unsicher, wann von der Pumpstation Nachschub kam. Elmas hatte es ja nur gut gemeint, wollte Sklavendienste leisten, würde jeden Tag putzen und waschen. Also, in Ordnung, häng den Kelim über die Gartenmauer. Das Waschen war schließlich die Domäne von Fatma abla, einer Frau aus der Nachbarschaft; die würde angesichts des tropfenden Kelims fragen, wer da in ihren Bereich eingedrungen war. Keinesfalls wollte Helga es mit der sauberen, zuverlässigen Fatma abla verderben, die bei der Arbeit nicht viel redete. Hast du noch einen Wunsch? So will sie Elmas hinauskomplimentieren. Doch die verzichtet heute auf Kleinigkeiten wie Gemüse, Brot und Fett, bindet ihr Kopftuch zum Gehen fester und krempelt die Ärmel runter. An der Tür meint sie beiläufig: »Ich könnte mir meinen Lebensunterhalt mit Handel verdienen. Viele Cingene tun das, gehen mit einem Sack voll Plastikgeschirr durch die Dörfer und werden reich dabei.« Helga pflichtet dem bei, täglich kommen ja Hausierer durch die Straßen. Als hätte Elmas auf Zögern und Beipflichten gewartet, rückt sie mit ihrem Plan heraus; da ist schon alles überlegt: eine ihrer Nachbarinnen kennt einen Großhändler, bei dem sie sich einen Sack voll Teller und Schüsseln erhandeln würde, und beide Frauen wollten dann zusammen auf ein Dorf gehen. Aber es müßte heute entschieden sein, da der Großhändler gerade nur vorübergehend anzutreffen sei. Was denn so ein Sack mit Ware koste? Elmas nennt eine Summe, die in etwa hundert deutsche Mark entspricht, und rechnet hurtig vor, wie sie beim Verkauf das Doppelte herausschlagen könne. Es ist einleuchtend und für Helga deshalb so bestechend, weil da eine Strategie entwickelt wird über das Von-der-Hand-in-den-Mundleben hinaus. Ein Schritt auch hin zur Selbständigkeit. Schnell, noch ehe die Cingene darum bittet, hat Helga sich ausgerechnet, daß sie das allenfalls geben kann, auch wenn dadurch das Haushaltsgeld knapp wird, denn ihre Witwenpension geht auf der Bank erst in etwa zehn Tagen ein. Vielleicht ist Elmas zu überrascht über den schnellen Erfolg — Überredungskunst ist gar nicht gefragt gewesen — jedenfalls fällt der Dank nicht üppig aus, gemessen an der Höhe der Summe. Statt dessen schiebt sie gleich noch eine Jammerlitanei nach, morgen sei Markttag, und sie habe nun keinen Pfennig für die Kinder mehr. Die alte Bettlerinnenplatte: Was soll ich tun, soll ich stehlen, soll ich Hure werden? Junge Witwe mit vier Kindern, diese Mittellosigkeit ist zu schrecklich. Helga weiß nicht, ob sie auflachen soll oder die Frau anbrüllen. Hat sie ihr nicht vor einigen Minuten eine Riesensumme in die Hand gedrückt? Ist Elmas unverschämt oder nicht bei Sinnen? Mensch, mach was du willst, und komm so schnell nicht wieder. Sie spürt, wie ihr vor Aufregung schwindlig wird, sie läßt sich auf die Steinfliesen im Flur nahe dem Hauseingang gleiten und hat nur noch den einen Wunsch, die andere solle gehen. Alle sollen sie in Frieden lassen, niemandem will sie mehr die Tür aufmachen. Die kamen nur um zu bitten und zu holen, pumpten sie aus, saugten ihr das Mark ab. Nichts als Forderungen, und kein Absehen, daß das Elend dadurch geringer würde. Als jetzt noch das Kind vom Spiel draußen hereinspringt und »Wasser, Mama, gib mir Wasser« plärrt, bricht bei der Fastenden ein Damm. Sie schreit den Sohn an, holt auch zu einem knappen Schlag auf den Po aus, er solle sich sein Wasser endlich selbst einzufüllen lernen, mit fünf Jahren sei er groß genug dafür, sie sei nicht die Dienerin aller und wolle endlich in Ruhe gelassen werden. Es knallt die Tür vom Schlafzimmer, das Kind steht verschreckt ohne einen Laut, Elmas gießt ihm das Wasser ein und nimmt dann ihr Bündel. An diesem Abend essen sie nur gewärmte Reste. Dem Kind fällt es nicht auf, und Helga wird satt von Nudelsuppe, gefüllten Weinblättern und einem Pudding. Scheich Nureddin hat gesagt, daß es ohne Geduld keine wahre Frömmigkeit gäbe. Er hat nicht gesagt — aber es war gewiß in seinem Sinn — daß eine künstliche Geduld, aufgeklebt auf Antipathie, Mißtrauen und unterdrückter Wut sich bei nächster Gelegenheit als von Pappe erweisen würde, Pappe, die wegfliegt oder verbrennt. Daß man folglich den Ursachen der Un-Geduld nachgehen müsse, was nichts anderes bedeutet als: wahrhaftig zu werden.
Helga schließt die Haustür zu. Endlich ist Nacht. Beim Gehen hat sie heute die ganze Zeit das Gefühl gehabt, als stecke ihr ein Kegel im Poloch, ein Tampon, oder aus ihrem Fleisch gewachsen, eine Riesenmaulbeere, rosa, lila, dunkelrot. Irgend etwas drückt da von innen, soll sie nicht dagegendrücken? Ein schnelles Gewächs, das war er, ja, ihr Tod. Die Maulbeere würde wuchern, den ganzen Unterleib ausfüllen, kleine Maulbeeren im Körper ausstreuen. Das ginge so rasant, daß man zusehen könnte. Sie würde sich nicht operieren lassen, das  auf keinen  Fall.  Erlaubt mir, die letzte Zeit noch voll zu leben, endlich das Leben auszuschöpfen im Angesicht des Todes. Ich will mich nicht aufschneiden lassen mit der Scheinhoffnung, daß dann alles wieder gut ist. Sie stellte sich vor, wie sie andere dafür um Verständnis bat. Ihr Kind wäre sicher einverstanden, wenn die Mutter nicht ins Krankenhaus ginge. Aber, wer würde sie pflegen? Oder konnte sie ohne Pflege bleiben bis zu einem gewiß raschen Ende? Der berauschende Gedanke, nun schon eingeholt worden zu sein von dem, was sie bis gestern nicht zu denken gewagt hatte. Wäre es aber nicht vernünftig, doch noch einen Arzt zu befragen? Helga nahm an, sie würde in ihrem jetzigen Zustand keiner beruhigenden Diagnose glauben. Sie brauchte die Todeskrankheit als Bestätigung und einzig richtige Folge aller bisherigen Abläufe: So kam halt doch die Strafe für das Pokratzen und das nie eingehaltene Onanieverbot, zugleich holten die verhängnisvollen Umstände bei der Geburt des Kindes sie ein, ganz klar, man hatte damals einen Krebs entdeckt und ihr verschwiegen. Und als verspäteten Liebestod für Ömer konnte sie es auch gelten lassen, »... hat ihn nicht mal um ein Jahr überlebt«.  Ihr wird ganz heiß unter der Fülle der Beweise. War sie wirklich für so etwas Großes ausersehen? Ein Schicksal! Gleichzeitig erwägt sie in einer anderen Ecke des Gehirns schon mögliche Alternativen. Vielleicht war das Dicke eine geschwollene Vene, sie hatte einfach Hämorrhoiden; und die Vorstellung vom Liebestod — schnulzig. Sie grinst, als sie sich auf die Kloschüssel hockt. Kacken geht nicht, das dicke Ding ist noch da. Abwarten, ob es sich bis morgen vergrößert. Warum nicht ein bißchen schlemmen, wenn sie schon sterben mußte? Weil keine Pralinen im Haus sind, holt sie sich die Kirschenmarmelade, stochert die kleinen süßen Früchte mit der Gabel heraus, bis der Ruf zum Nachtgebet kommt. Sie wollte schnell beten und gleich schlafen. Dieser Tag hatte sie todmüde gemacht. Das Gebet ist kein Trost, dachte sie, während sie sich verneigte. Ich will die Religion nicht benutzen, nachdem andere Methoden versagt haben an meiner kaputten Existenz. Hör weg, Allah, was geht dich mein Schlamassel an. Welche Frechheit, aus meiner Wüste heraus zu Dir, Fülle des Lebens... »Dich« zu belästigen mit meiner Todesangst, meiner Liebessehnsucht. Die Hände auf den Mund gelegt, verbot sie sich, noch irgendeinen Gedanken zu formulieren. Es konnte ja alles nur abgrundtief falsch sein. Im Traum war die Freundin in den Park gelaufen und kam nicht wieder. Sie hatten sich verabredet, zum Einkaufen in die Stadt zu fahren. Nun war plötzlich die Abenddämmerung da und draußen Glatteis. Dann mußte Helga die Leichen identifizieren, die noch im Auto waren. Sie zog sie heraus »wie aus einer erschlagenen Katze die toten Jungen« — so wörtlich im Traum —machte das mit geschlossenen Augen. Als die Krankenschwestern ihr die Leiche von hinten über die Schulter warfen, kreischten sie dazu: »Das ist ja kein Mensch.« Die Freundin war nur noch einen halben Meter lang und schlabberig wie eine Strickpuppe. Mit einem Ruck riß Helga die Augen auf: das Gesicht der Toten war dunkelrot von angetrocknetem Blut, wie im Schreck erstarrt. Sie wußte, der andere Tote war der Doktor. Da wachte sie auf.

Für den Körper ist das Fasten nur in der ersten Zeit schwierig gewesen. Jetzt, am dreizehnten Tag, hat er sich umgestellt, baut Schlacken und Fettpolster ab und braucht tagsüber keine Nahrung. Wunderbar erscheint es Helga, daß sie keinen Durst verspürt, wie sie es sich früher als das Schlimmste an der ganzen Sache vorgestellt hat. Früher ist: vor dem Ramazan. Da hat ein Eisstand unbezwingliche Eislust ausgelöst und im Siphon perlende Limonade den Durst. Da hätte sie ohne einen Kaffee nach dem Mittagessen den weiteren Tag nicht überstanden und ist regelrecht zusammengebrochen, wenn die Mahlzeit sich nur um zwei Stunden verschob (so einmal auf der Suche nach einem Fischrestaurant mit Ömer — schließlich hatten sie aufs Weiterfahren verzichtet und sich über die im Auto liegenden Brote und Bananen gestürzt). Fasten war eben nicht Hungern, die Enthaltung eine vornehmlich geistige Anstrengung. Wie sehr sie sich anstrengte, merkte sie, wenn etwas schiefging, wenn etwa beim Nähen an der Maschine der Faden abriß oder sich eine sehr benötigte Schere nicht gleich fand. Da waren die Tränen immer schnell hinter den Lidern, und auch Mutlosigkeit stellte sich eher ein als sonst. Ganz anders noch war schwer arbeiten mit leerem Magen. Helga erinnert sich an den ausgemergelten Mann, der ihnen zu Beginn des Winters das Holz gehackt hat. Nach drei Stunden hat er um etwas Brot und Käse gebeten, weil er »heute noch nichts gegessen habe«.  Wie sein Atem pfeifend gegangen war, wenn er die Axt auf die Klötze niedersausen ließ. Woher der überhaupt die Kraft genommen hatte in seinem ausgezehrten Körper? Angesichts der unterernährten Armen erschien ihr das Fasten zwischen zwei reichlichen Mahlzeiten wie eine Farce. Das ging nicht ans Leben. War es denn überhaupt Ernst? Wie wenig setzte sie sich selbst aufs Spiel in diesem begrenzten Versuch, jedenfalls von der materiellen Seite her betrachtet. Das Ganze glich einem homöopathischen Vorgang: die Medizin wirkte nicht durch ihre grobe Stofflichkeit, sondern als Information, war ein Angebot, kein Automatismus. Nach einer gründlichen Stuhlentleerung am Morgen hat Helga den After gewaschen und abgetastet. Die dicke Stelle ist flacher geworden, also doch: nichts als Hämorrhoiden. Irgendwo muß eine Salbe sein für dieses Leiden — die Empfindlichkeit der Schleimhaut und das Jucken sind einfach nicht auszuhalten, auch mit größtem Willensaufwand nicht. Im ersten Moment beißt die Salbe, tut dann aber wohl. Die Mutter des tuberkulösen Babys, sie heißt Raziye, ist heute nach längerer Zwischenzeit wieder aufgetaucht. Das Baby ist gestorben, der Mann, der eigentliche Krankheitsherd der Familie, in ein Sanatorium verschickt worden. Raziye hat ihn besucht, es fehlt an allem: Bettwäsche, Schlafanzug, Schlappen, Seife. Die Ärzte hätten auch sie untersucht und beruhigt: keine Tb. Helga steuert zwei Schlafanzüge und einen Pullover von Ömer bei; es ist das erstemal, daß sie etwas aus seinem Wäscheschrank verschenkt. Die junge Frau hat sich auf dem Flur auf den Boden gehockt, sie schwitzt leicht. Ihr schönes Gesicht ist hell, gar nicht typisch für eine Cingene. Das angebotene Glas Milch trinkt sie ganz langsam. Sie sei hier allein, ohne Eltern und Geschwister, am liebsten würde sie sich eine Arbeit suchen in der Hauptstadt, nahe dem Sanatorium. Ob die Doktorfrau ihr das Fahrgeld geben könne. Und vielleicht die erste Miete für ein Zimmer. Das Fahrgeld allenfalls, die Miete ist nicht mehr drin in Helgas Budget. Es wird ihr nicht leicht, nein zu sagen. Sie muß es begründen, noch eher vor sich selbst als vor der anderen, die das Nein als normale Antwort gewöhnt ist. Raziye, als hätte sie die Ablehnung gar nicht gehört, schildert noch einmal ihre Situation, mit dem erstaunlichen Schlußsatz, daß der Mann möglichst lange im Sanatorium bleiben solle, am besten gar nicht wiederkommen. Stumm sitzen sich die beiden Frauen am Fußboden gegenüber. Durch den Vorhang vor der offenen Haustür dringen Geräusche, eine Nachbarin kehrt mit dem Reisigbesen ihren Gartenweg, der Kringelverkäufer ruft seine Ware aus, ein paar Kinder imitieren den Ruf. Helga sieht die Bettlerin an. Sie kann ihr nur Zuhören schenken und Mitleiden. Das Geben von Dingen war an eine Grenze geraten, nicht bloß, weil die Mittel nicht reichten, sondern auch, weil Dinge überhaupt die Kraft nicht hatten, diesen Kreislauf von Hoffnungslosigkeit zu durchbrechen. Wie Raziye dasaß, den Kopf in die eine Hand gestützt, leise den Oberkörper wiegend, aufseufzend, das war kein Bettlerinnentheater, und Helga spürte den Schmerz der Armen als ihren Schmerz. Als ihr die junge Frau zum Abschied die Hand küssen will, wie es hier die Sitte verlangt, ist es eigentlich nicht peinlich, denn es besteht ein Bedürfnis nach einer älteren Schwester, einer Trösterin. Und die kann ja wiederküssen, wie es die Sitte erlaubt, auf die beiden Wangen der Bettlerin.

Sie liegt und liest. Nachmittagsstunde Zeit der Ermattung, das Buch sinkt aus der Hand. »Fasten aus medizinischer Sicht.« Viele Selbstverständlichkeiten wurden da breitgetreten. Als aber das Kind nun ins Zimmer stürmt, zu einem Spiel auffordert, ist es plötzlich doch wichtig, das Buch. Der Sohn tippt Helga mit einem Stöckchen an, versucht sie so zu reizen zu seinem Spiel. »Nachher, Kind, siehst du nicht, daß ich lese.« Da tut es einen Schlag auf den Arm, der schmerzt richtig. »Was fällt dir ein?« Der Junge lacht. Sie reißt ihm den Stock weg, zerbricht ihn, ein Splitter fliegt ihr unters Auge, auch das tut weh. Sie gräbt sich in ihr Kissen, demonstriert Schmerz begraben. Das Kind wird gleich kommen und sie streicheln. Nichts geschieht. Als sie sich umdreht, ist der Sohn über ihr, hebt ein Holzklötzchenals wollte er es auf sie werfen, lacht wieder und zeigt sich ungerührt über ihre Erschütterung. »Warum weinst du denn, Mama?« »Weil du mich gehauen hast.« »Du hast mich gestern auch gehauen.« Gestern, da hatte sie ihn angeschrien, wie schon oft, hatte ihm eine auf den Po geklatscht, dem so viel Kleineren, Hilflosen. Sie hatte ja immer die Macht, konnte sein Leben bestimmen, gewähren, verbieten. Mitspielen oder nicht, sich ihm zuwenden als »liebe Mama«, oder weit weg sein in unerreichbarer Ferne. Einmal waren die Rollen jetzt vertauscht, er stand oben mit dem Klötzchen in der längst nicht mehr zum Werfen erhobenen Hand. »Komm her, Emanuel.« »Sag nicht Emanuel, ich will Osman heißen.« (Es war der Name, den der Vater ausgesucht hatte. Das Kind entschied sich für eine Identität.) »Einverstanden, Osman.« »Ich komme bloß, wenn du mit mir spielst.« »Brauchst du mich denn so notwendig für das Spiel?« »Ich habe einen Bus gebaut, aber die Puppen sind doch blöde Fahrgäste. Mit einem wenigstens muß man reden können.« Die Stuhlreihe fährt nach Deutschland, drei Tage und drei Nächte hindurch. Meine Damen und Herren, haben Sie keine Angst, wir erschießen jeden Räuber, sehen Sie die zwei Pistolen unter dem Fahrersitz. Brrm, brrm. Während der Sohn die Motorengeräusche macht, muß die Mutter den Part des Radios übernehmen, Schlager singen, Wetterbericht ansagen, und dann die Kinderstunde. Deutsche Märchentantenstimme. Alles aussteigen, wir sind in Hamburg. Hoffentlich hatten Sie eine angenehme Reise.
Schön wie der Mond in der vierzehnten Nacht« waren die Prinzessinnen in den orientalischen« Märchen. Um Mitternacht hängt der Vollmond in der Spitze des Maulbeerbaums, versilbert die Blätter. Der Wind jagt die Wolken weg. Es ist kalt, Helga hat sich im Pelzmantel vors Haus gesetzt. Diese Nächte im Ramazan, wenn die Anstrengung des Tages und die Spannung beim abendlichen Fastenbrechen überwunden sind. In den Nachbarhäusern brennt fast überall noch Licht; so schnell geht man nicht schlafen. Leute kehren heim vom Gebet oder vom gemeinsamen Mahl, Hadiye hanims Jungen kommen, wie fast täglich, mit Freunden im Auto vorgefahren. Radiomusik klingt herüber. Nach Sonnenuntergang in fröhlicher Runde zu sitzen ist nicht verpönt, sogar Hochzeiten werden gefeiert. Eine Familie mit Kindern geht vorbei, die Kleinen werden am Abend überallhin mitgenommen, sogar ins Kino. Babys auf den Armen der Väter sind im Lokal keine Seltenheit. Helga wollte sich auch Gäste einladen, die Mahmuts und ein paar Nachbarn, sich nicht selbst abschneiden von den Freuden des Zusammenseins. Zu Ömers Zeiten hatten sie oft Gäste gehabt, aber das waren meistens Männer gewesen, Kollegen, Offiziere, Kaufleute, die er zum Essen mitbrachte, als Anhängsel manchmal die Ehefrau. Alle diese Leute hatten sich verflüchtigt; es galt als unanständig, eine junge Witwe zu besuchen. Aber so leid war es Helga um diese Bekanntschaften nicht. Wenn Gäste da waren, hatte die Hausfrau am Tisch keinen Platz gehabt, sondern sich um die Bewirtung gekümmert. Und bei den Gesprächen hatten sich stets Männerrunden und Frauenrunden gebildet. So war es Tradition und feine Sitte, obwohl die jungen Leute, besonders die in der Stadt sich längst nicht mehr daran hielten. Helga seufzte. Das alles mußte ihre Zukunft nicht mehr bestimmen. Sie war frei. Sogar die Ausrede »mein Mann will es so« gab es nicht mehr. Der Mond war ein Stückchen weitergerückt, sie konnte ihn auch vom Schlafzimmer aus betrachten, vor allem war es da drinnen nicht so kalt. Helga setzte sich in den Sessel am Fenster. Sie machte kein Licht, ließ den Vorhang offen. Sinnlos, die Gedanken zu verdrängen. Der Tod war immer noch da. Auch wenn sich die »Krebsgeschwulst« am Hintern lächerlicherweise innerhalb eines Tages aufgelöst hatte, der Krebs war in ihr. Das Ziehen in der Leistenbeuge, die Empfindlichkeit des Bauches unterhalb der Narbe, all das bedeutete, es braute sich etwas zusammen. Wieviel Zeit wohl noch blieb? Und ob sie grauenhaft leiden mußte? Helga spürt die Angst als Kälte in allen Gliedern. Unwillkürlich duckt sie sich unter dem kommenden Schlag. Schrecklich und aufregend war die neue Gewißheit. Oder sie war hysterisch und brauchte bloß einen ordentlichen Fick, um diese Zipperlein zu vergessen. Der Ansicht waren wohl Männer, sogar Ömer hatte manchmal scherzhaft und auch »zärtlich« so auf ihre Äußerungen von Unbehagen reagiert. Das Mittel half für ein paar Stunden, wie eine Schmerztablette, die bloß das Symptom beseitigt. Aber nun wollte sie endlich bis an den Grund tauchen, sich nicht hinwegmogeln über die Schrecken der Tiefe. Noch einen Arzt zu konsultieren, einen berühmten Professor vielleicht, der sich mehr Mühe gab als die bisherigen, wäre ebenfalls ein bequemer Ausweg gewesen. Die Ärzte rissen ja — für gewöhnlich — das Leiden aus dem Zusammenhang, versuchten von außen Gesundung zu bringen. Dabei war der Arzt in ihr. Wenn nun der Tod der Arzt war? Und ganz gesund würde sie erst im Tode? Paradox. Abwegig. Vielleicht aber abwegig auch das starre Festklammern an einer Vorstellung von Gesundheit, die die Krankheit ausschloß. Weshalb sollte nicht ein bißchen Krankheit den Menschen sogar gesund erhalten? So wie ein bißchen Gift als Arznei wirkte. Ihr wurde jetzt deutlich, daß sie die Heilung einesteils nicht wollte, sondern ganz heil sein, und sei es unter Drangabe dessen, was so gemeinhin Gesundheit genannt wurde. Der Mond war an die rechte  Fensterseite gerutscht. Ohne Baum davor wirkte er ermüdend. Sie konnte nicht ständig in das bleiche Licht schauen, ohne dösig zu werden — oder eine Vision zu haben. Sie sah: wie eine geöffnete weiße, ein wenig beschmutzte Schwertlilie ihren After, daneben als vertrocknete Blüte die Vulva. Der Trommler war hereingekommen und hatte ihr die Hände zu beiden Seiten festgehalten, sie vor die Wand gestellt und so im Stehen vergewaltigt. Sie hatte es kaum gespürt, weder Lust noch Schmerz. Als der Mann sich dann aber in eine Frau verwandelte und von ihr die angeblich versprochenen Ohrringe verlangte, wehrte sie sich. Helga schrickt zusammen, erwachend hängt sie schief im Sessel, der Mond ist nicht mehr im Zimmer. Draußen, entfernt, ist das rhythmische Dröhnen der Trommel zu hören. Da liegt der Haustürschlüssel auf seinem Platz neben dem Kopfkissen. Niemand kann hier eingedrungen sein. Soll sie sich jetzt noch einmal hinlegen für die halbe Stunde, die bis zur Suhur-Mahlzeit bleibt? Besser gleich Tee aufbrühen und dann gut Zeit haben für das Frühstück. Sie kocht sich ein Ei und deckt den Tisch. Der Kater erhebt sich von seiner Decke, reckt sich und will von Käse und Eigelb seinen Anteil. Es ist drei Uhr. Helga putzt sich die Zähne, duscht und nimmt die rituelle Gebetswaschung vor. Sie ist ganz wach. Das Kind hat sich wieder mal die Decke weggestrampelt und liegt quer über dem Bett, die Hände hinter dem Kopf. Wie Ömer. Die festen Ärmchen und Beinchen, der kleine Leib. Zart und hell ist die Haut, blond die kurzgeschorenen Haare auf dem breiten Schädel. Haltung und Körperbau sind ganz die des Vaters, nur dunkler ist Ömer gewesen. Zart küßt sie die rechte Schulter des Schlafenden und deckt ihn zu. So sehr hatte sie ihn schon alleingelassen. Von den Moscheen kommt jetzt die Vorankündigung zum Beginn des Fastens, ein feierlicher Gruß. Helga tritt vor die Tür. Das Minarett am Ende der Straße ist von einem Kranz elektrischer Birnen erleuchtet. Wie eine synthetische Glocke tönt die mikrophonverstärkte Stimme des Muezzin. Von den anderen Moscheen dringen die Rufe leiser, in verschiedenen Tonlagen; kein Sänger achtet auf den anderen. Es entsteht ein bizarres Gebäude aus Tönen, ein Kelch, der sich zum Himmel hebt, wächst, dann zerschmilzt, sich verliert.
Sie hat im Wohnzimmer die Vorhänge weggezogen und das Fenster etwas geöffnet, sich auf den Teppich gesetzt und erwartet nun den nächsten Ruf, zum Morgengebet. Hahnenschreie sind in der Luft. Die Hähne spüren den Morgen, obwohl sich das Dunkel noch nicht gelichtet hat. Am Ende der Nacht so ohne Gedanken, ohne Absicht auf dem Teppich sitzen, ganz wach sein, ohne etwas tun zu müssen... In dieser Tageszeit lag etwas Besonderes. Die Jünger von Scheich Nureddin waren verpflichtet, ein bis zwei Stunden lang vor dem Anbruch der Dämmerung im Gebet zu verbringen; das ging auf das Vorbild des Propheten Muhammed zurück. Im Koran stand:

  • »Gott  durchschaut die Diener wohl... die geduldig und wahrhaftig und  demütig ergeben sind, und die Spenden geben und in der Morgendämmerung um Vergebung bitten.«[6]

Einmal hatte der  Scheich erwähnt, daß das an dieser Stelle   für   »Morgendämmerung«   verwendete  arabische Wort auch das »Innerste des Herzens« bedeuten konnte. Welch herrliche Doppelsinnigkeit. Die Stille und Dunkelheit schufen eine Hülle um die Betende, sie war umfangen vom Universum, das in Anbetung pulste. Sie brauchte nicht nach Worten zu suchen, nicht mal sich sonderlich zu konzentrieren, nur mitzupulsen im Innersten des Herzens, das sie umschloß. Purpurfarben purpurnes Licht. Ein tiefer Celloton. Wärme und Emporgetragenwerden.
Dann der Ezanruf: »Kommt herbei zum Gebet kommt herbei zur Freude. Das Gebet ist besser als der Schlaf.« Draußen bereitet sich der Aufgang der Sonne vor. Eine Handbreit über dem Horizont im Osten der purpur und orangefarbene Streifen, milchig verhangen vom Frühdunst. Eine Schicht tintenblauer Wölkchen trennt dieses sich rasch ausbreitende Lichtband von dem unwahrscheinlichsten Türkis, das leuchtend und klar über den Wolken liegt. Ein einziger Stern wacht an der Grenze zum dunklen Nachthimmel, der nun langsam über das Dach des Hauses zurückweicht.

Als sie aufwacht, sitzt Osman schon mit den Nachbarskindern vor dem Haus. Er hat den ganzen Vorrat von vielleicht zwei Kilo Walnüssen aus der Küche geholt und verteilt. Geschickt schlagen die Kinder die Nüsse mit Steinen auf. Die Fülle verleitet zu Verschwendung; in den weggeworfenen Schalen liegen noch viele gute Kerne. Seufzend rettet Helga die ungeknackten Nüsse und hilft den Kindern, aus dem Abfall das Eßbare herauszuklauben. Er hat von mir das Verteilen gelernt denkt sie und versucht, ihre Ermahnungen nicht zu sehr in Schimpfen ausufern zu lassen. Wenig später bringt Elmas Proben der neugekauften Ware, zwei blaue Plastikschüsselchen mit roten und gelben Blumen, als Geschenk für Helga. Der Preis, den sie sich für diese kleinen Dinger von minderer Qualität vorstellt, entspricht dem Gegenwert von vier Broten. Ob es auf dem Dorf dafür Kunden gäbe, bezweifelt sie selbst. Man müsse Bäuerinnen finden, die keinen Preisvergleich mit den Waren vom städtischen Markt anstellten. Offensichtlich hat der Großhändler Elmas übers Ohr gehauen. Oder das Ganze ist wieder eine ihrer »Geschichten«.  Helga ist etwas kurz angebunden, nicht besonders gerührt von dem Schüsselgeschenk. Elmas muß halt mal losgehen mit ihrem Sack. »Ja, noch heute, zusammen mit der Nachbarin. Die Kinder lasse ich allein zu Hause zurück, ohne Brot.« — »Sag ihnen, sie können zu mir zum Essen kommen.« Osman, der neben der Mutter steht, bemerkt wohl deren Ungeduld, jedenfalls schreit er plötzlich die Cingene an, sie solle abhauen, wobei er die schlimmsten Gassenausdrücke verwendet. Die Bettlerin lacht ein bißchen und versucht, den kleinen Burschen zu fangen und zu küssen, was der sich jedoch nicht gefallen läßt. »Ich bringe dir vom Dorf ein Hühnerküken, ein lebendiges Spielzeug, das kannst du mit ins Bett nehmen. Und Käse bringe ich auch vom Dorf, ganz frisch.« Nachher fragt Helga den Sohn, was ihn denn an der Elmas so geärgert habe. »Sie stört mich. Dauernd kommt sie und jammert. Und du sagst dann, wir haben kein Geld mehr.« Anscheinend wurden dem Kind die Armen zuviel — wie der Mutter auch. Es war etwas ermüdend Falsches und Selbstzerstörerisches an dieser Art des Almosengebens. Helga konnte und wollte das so nicht weiterbetreiben. Im Laufe des Vormittags wird sie gerufen, die kurze Notiz eines deutschen Postbeamten auf einem Brief zu übersetzen. Der Brief ist zurückgekommen. Seit vier Monaten reagiert da ein Gastarbeiter in Bamberg nicht. Ist der Mann verzogen, untergetaucht, tot, oder hat er eine andere? »Nicht abgeholt«, steht auf dem Brief. »Er wird schon schreiben. Vielleicht will er dich bloß nicht beunruhigen. Sicher spart er für dich und die Kinder« Unter Helgas Tröstungen steigen der jungen Nebiye die Tränen in die Augen, sie beherrscht sich aber, will vor den versammelten Frauen, Mutter, Schwägerin und Nachbarinnen, die Fassung nicht verlieren. Nebiyes Großfamilie, übrigens auch Cingene, hat ganz wesentlich von den Überweisungen aus Deutschland gelebt, die jetzt ausbleiben. So verfertigen die Frauen Handarbeiten zum Verkauf, wunderschöne, breite Häkelspitzen, wie sie hier an Kissen und Bettlaken genäht werden. Helga möchte schon einige dieser Spitzenborden erwerben, bloß erlaubt das im Moment ihre finanzielle Lage nicht mehr. Sie sitzen in der Wohnküche. Niedliche braune, ziemlich schmutzige Kinder wuseln heraus und herein, knüpfen Kontakt mit dem zurückhaltenden Osman. Die alte Mutter, ein breites Cingeneweib mit hennaroten Zöpfen und völlig zerfurchtem Gesicht, schneidet Zwiebeln und Bohnen für einen Gemüsetopf zurecht. In dem Haus mit seinen drei Zimmern leben die beiden Alten, Nebiye mit zwei Kindern und eine Schwägerin (ebenfalls mit Kindern), deren Mann, Nebiyes Bruder, der wegen einer Schlägerei im Gefängnis sitzt. Das alles wird der Doktorfrau ohne Klage und ohne Berechnung erzählt. Eine große Herzlichkeit geht aus von den Frauen, die Helga bitten, bald wiederzukommen. Es war nicht weit nach Hause; diese Cingene wohnten nur ein paar Straßen entfernt im gleichen Wohnviertel. Nebiyes Tränen. Warum eigentlich leiden an einem abwesenden Mann? Wurde eine dadurch wertvoller vor sich und den anderen? Brauchte sie ein konkretes Leiden das erklärte, weshalb sie nicht einfach »so« leben konnte? In dem zertrümmerten Unfallauto hatte auch ein Lippenstift gelegen. Möglicherweise war eine Frau mit Ömer in den Tod gefahren. Eine zweite Leiche gab es allerdings nicht. Dann war der Lippenstift vielleicht schon vorher aus einer Handtasche gefallen. Es könnte so harmlos sein: Ömer hatte eine Patientin kurz mitgenommen, warum nicht? Helga zwang sich, auch die andere Möglichkeit, ihren Verdacht, deutlich auszudenken. Das Blut schoß ihr ins Gesicht und gleichzeitig krampften sich Brust und Unterleib zusammen. Sie zitterte leicht. Und wenn es so gewesen wäre, worin lag der Betrug? Hatte sie das Recht, das für sich zu verlangen, was nur ein Geschenk sein konnte, Treue? Auch wenn sie selbst eben diese Treue immerzu geleistet hatte. Ihre heftige Reaktion war eigentlich das Gegenstück zum ausschließlichen Besitzanspruch des Mannes auf die Frau. Wut und Enttäuschung, daß der andere sich nicht in gleicher Weise hatte beschränken lassen. Das Gefühl, gedemütigt zu sein und mißbraucht. Nach dem Koran war es erlaubt, daß ein Mann bis zu vier Ehefrauen hatte (als legale, öffentliche Beziehungen), Liebschaften dagegen waren verboten, — und zwar um die Frauen vor Ausbeutung zu schützen. Die Vielehe, ein Fortschritt für die Frau! Frauensolidarität gegenüber dem Pascha. Ein Mann und eine Frau, das wäre vielleicht das Ideal, in dem seltenen Fall ausschließlicher persönlicher Liebesbindungen, aber nicht eine für alle verbindliche Rechtsform. »Mama, warum lachst du?« fragte der neben Helga einhertrottende Osman. Sie hatte sich gerade vorgestellt wie sie in einem Harem mit anderen Frauen auskommen würde. Schöne Theorie. Dabei war sie nach einem halben Jahr noch empört über eine Affäre, — wenn es die überhaupt gegeben hatte. Sie hatte langsam einsehen gelernt, daß man mit einem Menschen, einem Mann insonderheit, das ganze Leben nicht teilen konnte, aber zwischen diesem Wissen und der Erkenntnis, daß sie und Ömer das Leben so weitgehend nicht geteilt hatten, war ein schmerzlicher Unterschied. »Ich liebe doch nur dich«, hatte er gesagt wenn sie sich beklagte, daß sie so viel allein sei. Was war dann überhaupt Liebe? Vielleicht dies: den anderen seinen Weg gehen lassen, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern — aus Liebe eben.

Nach vielem Sitzen gegen Abend das Verlangen zu laufen, Weite zu atmen. Nur eine kleine Anstrengung war notwendig bis zum Ortsrand und Feld. Wer begleitete Helga? Kein Kind und keine Nachbarin ist zu bewegen zu dem unüblichen Gang. Also allein, vorbei an den beiden Teehäusern, wo die Männer stumm an leeren Tischen sitzen in Erwartung des Abendezan der doch erst in zwei Stunden sein würde. Vorbei an der Quelle — der faulige Geruch in der Abwasserrinne macht ein elendes Gefühl, vorbei an den letzten verstreuten Häusern. Es ist heiß noch um sieben Uhr abends, und kein Baum gibt Schatten. Der erste heiße Tag im Ramazan. Den Mantel, den Helga sich wie gewöhnlich über die Schultern gelegt hat, kann sie jetzt nicht mehr zurückbringen, sie weiß, dann würde sie gleich ganz zu Hause bleiben. Auch haben die Füße einen Rhythmus gefunden, der sie vorwärts bewegt, in langsamem, stetigem Schreiten. Das Gefühl des Gehens bis in die Oberschenkel, bis in die Hüften. Durch die flachen Schlappen sind die Bodenrisse zu spüren. Die Teerstraße hat schon an der Quelle aufgehört. Langsam steigt der Weg in der Mulde an. Eine graue, gelbe Wüste. Zur Linken ein verrosteter Bagger. Staub fliegt auf. Helga wäre am liebsten umgekehrt. Sie hat plötzlich Angst, den Rückweg nicht mehr zu schaffen. Und der Mantel ist eine Last. Sie schwitzt, Kraftlosigkeit lähmt alle Glieder. Wahrscheinlich gibt schließlich der Hund den Ausschlag zum Weitergehen, ein graues, verhungertes Biest, das in einiger Entfernung folgt. Nur langsam vorwärts, nicht rennen. Im Notfall konnte sie einen Stein schmeißen. Nicht mehr weit ist es bis zum Rand der Mulde, nur noch durch die Sandsteinfelsen hinauf. Zwischen dem Geröll wird ein Weglein erkennbar, ausgewaschene Tritte. Das Gestein strahlt die Hitze des Tages ab. Helga schafft die letzte Steigung mit rasendem Herzklopfen. Und ist oben. Diese Herrlichkeit erschreckt sie immer wieder aufs neue: Berge, Berge bis zum Horizont, keine hohen, beileibe nicht, Mittelgebirge. Aber so viel Weite, wie riesige Meereswellen wogt es. Kein Dorf, kein Haus, nicht einmal eine Straße. Bis auf die eine wiederaufgeforstete Kuppe mit der Radiostation droben sind die runden Erhebungen baumlos, von buschigem Krüppelgewächs überzogen. Stoppelig, wie tagelang nicht rasierte Männergesichter.  Hier oben geht immer ein leichter Wind. Helga hockt sich an den Rand eines braungoldenen schnittreifen Weizenfeldes. Zu ihren Füßen winzige blaue Blümchen, Minirittersporn. Auch viele Disteln, die pieksig an den Strümpfen hängenbleiben. Ausatmen, aufatmen, den schwarzen Vögeln folgen die sich dem Wind entgegenwerfen. Als sie nach dem Hund schaut — der hat sich getrollt — sieht sie zwei Männer den Abhang hochklimmen, gerade auf sich zu. »Brüder, ich faste«; diese Beschwörungsformel flüstert sie vor sich hin. Mantel und Kopftuch waren Signale, daß sie kein Abenteuer suchte — aber was denn sonst tat eine Frau in der Einöde? Sie konnte nicht bleiben, wandte sich zum Abstieg und hörte im Vorbeigehen die Männer über den geringen Ertrag der Weizenernte, bedingt durch die außergewöhnlichen Regengüsse im Juni, sprechen. Auf sie hatte es keiner abgesehen. Nun lag die kleine Stadt vor ihr mit ihren weißen und grauen Häusern, den fünf Moscheen und den roten, hohen Neubauten im Westen, wo jetzt die Sonne schon ziemlich tief stand. Sie hatte die Stadt nie gemocht in ihrer staubigen Trostlosigkeit. Von malerischem Orient nicht ein Hauch. Was hielt sie eigentlich? Ömer zuliebe, der seine Aufgabe am staatlichen Krankenhaus nach vielen Jahren Deutschland übernommen hatte, war sie mitgekommen, von Anfang an nicht gewillt, das Leben hier zu beschließen. Sie hätte sofort weggehen können nach dem Tod ihres Mannes, das Haus aufgeben, sich einen schöneren Platz suchen in diesem Land oder in der alten Heimat. Nach Ramazan wollte sie einen Entschluß fassen. (Alle verschoben die Entscheidungen auf »nach dem Fest«. )
Bisher war sie geblieben, gebannt von dem Ort, an dem Ömer begraben lag. Hier waren das Haus und die Straßen getränkt von ihm; Helga »sah« ihn immer deutlicher in seiner Umwelt. Aber es ging nicht um Nostalgie, nicht um das schmerzliche Schwelgen in Erinnerungen, sondern um Abrechnung und Klarheit. Sie wollte nicht, wie in der Vergangenheit, weglaufen vor dem Angebot, aus dem Schmerz heraus zu lernen. Die Gnade des Schmerzes annehmen.
Auch mit den Armen hatte die Desperatheit des Ortes zu tun. In eine schöne, reiche Gegend ziehen, wo man vom Elend der Erde abgeschirmt war, wie bequem. Da wurden einem die Verhungernden höchstens noch durch Zeitung und Fernsehen vermittelt, als Zahl und Sensation. Hier bestürmte das Elend die Haustür, fraß einen guten Teil der Zeit auf, störte, stank, jammerte. Sie mußte von sich etwas hergeben und wurde verwandelt. Vielleicht würde sie es nicht aushalten und sollte doch vorher weggehen. Die Verwandlung tat weh. Was sie sich eigentlich erhoffte, ungeduldig herbeizuhoffen versuchte, war das Durchscheinendwerden aller Dinge, so daß die verborgene Innengestalt sich offenbarte und das Wesen und der Zusammenhang, in dem alles auf das Eine bezogen war. Sie glaubte, daß es hier geschehen müsse, in der scheußlichen, dreckigen Kleinstadt. Dagegen wäre das südliche Urlaubsparadies, Palmen am Mittelmeer, womit Ömer sie aus der alten Heimat gelockt hatte, ein billiger Trost gewesen. Sie war schon bei der Quelle. Der Rückweg erschien kürzer, sie ging auch rascher. Die Kraft hatte gereicht. Und sie hatte den Aufstieg aus der Niederung geschafft - die »Berge« gesehen, die Weite, in die ihre Zelle eingebettet lag. Beim Zubettgehen fragt das Kind nach der besten Methode, sich umzubringen. Ob der Mensch wirklich tot sei, wenn er sich mit dem Messer die Kehle durchschneide. »Das Huhn, das der Onkel Salih heute geschlachtet hat, das hat noch lange gezappelt.« »Wieso bloß, Osman, fragst du danach?« »Na, wenn du stirbst, Mama, will ich doch auch nicht mehr leben.«
Merkte das Kind ihr die Todesgedanken schon an? Sie hatte sich bewußt zusammengenommen, keine dahingehende Äußerung zu tun. »Ich bin ja bei dir.« Helga blieb neben den Sohn geschmiegt liegen, bis er eingeschlafen war, fühlte sich selbst unsagbar müde.

Fatma abla ist zum Wäschewaschen erschienen, obwohl sie fastet. Bis zum Nachmittag reicht die Kraft, und da hängt ja die Wäsche auf der Leine. Schöne Sonne auch heute. Die deutsche Waschmaschine hat schon vor Monaten wegen des geringen Wasserdrucks und gelegentlicher Stromsperren den Geist aufgegeben. Hier waschen alle Frauen von Hand, und es wäre eine Katastrophe, wenn diese Verdienstmöglichkeit für die Wäscherinnen auch noch wegfiele. Fatma abla geht nach einem eigenen System vor, mit heißer und warmer Lauge in mehreren Kesseln und Wannen. Es ist stickig im Badezimmer, denn sie heizt den Ofen, und Wasserdampf steigt auf. Immer wieder ruft sie ihren Stoßseufzer: »bismillah!« (im Namen Allahs). Zum Spülen muß im Hof das Regenwasser aus der Tonne verbraucht werden, sonst kann es vorkommen, daß der Wasserspeicher über der Badewanne   gänzlich leer  wird.
Helga hilft beim Wringen und Aufhängen. Die Kaffeepause fällt heute aus, aber zum Plaudern setzen sie sich doch ein Weilchen. »Ich sehe, daß zu dir viele Cingene kommen. Sei bloß vorsichtig.« Fatma abla ist die erste, die nicht stereotyp den Rausschmiß empfiehlt, obwohl sie allen Grund zur Eifersucht hätte. Die zahnstummelige Alte wird von ihr sogar gerühmt als eine, die »bestimmt nicht klaut«.  Vielleicht braucht die das auch nicht, denn sie hat die Fähigkeit, zu fordern. Hat sie sich doch schon heute, also zwei Wochen im voraus, ihr Geschenk zu Ramazan bayrami, dem Fest am Ende des Fastenmonats, bestellt, nämlich drei Meter Baumwollstoff für Pluderhosen. Fatma abla akzeptiert das lachend. Sie selbst stellt ihre Forderungen ja auch von Zeit zu Zeit: Kohlen, Rosinen, Kaffee, ein Spielzeug für das Enkelkind. Nur ist sie so klug, immer etwas zu wünschen, das im Überfluß vorhanden ist und nicht extra gekauft werden muß.
Ein langes Verhör hat Fatma abla heute früh mit Raziye angestellt, die aus der Hauptstadt wiedergekommen ist. Dort Arbeit zu finden, sei kein Problem, sie hätte in einer Konservenfabrik sofort anfangen können. Aber die Miete für ein winziges Zimmer wäre so hoch, daß der Lohn nicht einmal dafür ausgereicht hätte. Das kleine Kätzchen aus Ton, ein Mitbringsel, beige und grün bemalt, — weil die Doktorfrau doch Katzen so gern habe. Was sollte jetzt werden? Gemeinsam hatten sie beraten, welche Möglichkeiten es gab, den Lebensunterhalt zu verdienen. Eine Stelle im Haushalt anzunehmen, war für eine junge Cingene so gut wie unmöglich. Das galt als unanständig und gefährlich. (Der Hausherr könnte sich ja jederzeit vergreifen.) Außerdem lauerten schon zehn Frauen auf jeden frei werdenden Platz. Es stellte sich heraus, daß Raziye gerne nähen würde, einfache Röcke oder Kinderkleidung. In der Restekiste fand Helga noch allerlei Stoffe, die Frau war beglückt. Bloß woher eine Nähmaschine nehmen? Alles mit der Hand zu nähen war auf die Dauer zu anstrengend und auch nicht haltbar genug. Helga wurde der Überlegung enthoben, ob sie sich von ihrer Maschine trennen sollte, denn die funktionierte elektrisch, und dafür hatte Raziye keinen Anschluß.
Über den ruhigen, solidarischen Ton der beiden Frauen hatte die Deutsche sich gewundert. Gern hätte sie auch am Nachmittag noch Fatma abla zur Beurteilung dabeigehabt, als wieder einmal ein zum Skelett abgemagertes Baby auf dem Arm einer Bettlerin ihr Herz erweichte. Ob es wohl Mütter gab, die ihr Kind absichtlich verhungern ließen, als Warnsignal sozusagenum auf diese Weise Nahrung für die übrige Familie einzutreiben? Mit einem Achselzucken nimmt die Frau das Reismehl, aus dem hier Babynahrung gekocht wird. Daß der Säugling unterernährt sei, sähe sie selbst. Sie hätte noch fünf Kinder. Helga sucht Tüten mit Bohnen, Gries und Rosinen zusammen, legt noch ein halbes Paket Margarine darauf, gibt etwas Geld. Davon würde die Familie nicht mal einen Tag satt werden. Der Tropfen verzischt auf dem heißen Stein.

Hadiye hanim hat wegen der Monatsblutung das Fasten unterbrochen. Nicht im mindesten verlegen besprechen die Nachbarinnen, wann es bei welcher 85 von ihnen war oder sein wird. So ganz recht ist keiner die vom Koran vorgeschriebene Pause; das bedeutet danach ja wieder eine neue Umstellung mit allen Anfangsschwierigkeiten wie Hunger und Kopfweh. Und die versäumten Fastentage sind im Laufe des Jahres nachzuholen. Während der »Regel« dürfen Frauen nicht am rituellen Gebet und an der Koranlesung teilnehmen, mit keinem Mann schlafen. Das erinnert an die kultische »Unreinheit« bei den Juden, scheint aber doch nicht genauso zu sein, weil nach der Überlieferung eine, die während dieser Zeit stirbt, sofort ins Paradies eingeht, so versichern jedenfalls die Großmütter und Tante Zehra. Dieses Privileg haben ansonsten nur noch die gefallenen Glaubenskämpfer im Heiligen Krieg. Es überkreuzen sich offenbar zwei Vorstellungsrichtungen: zum einen wird die Frau in den Tagen ausgeschlossen von ihren sonstigen Pflichten und Rechten (als quasi unfähig und unrein), zum anderen befindet sie sich in diesem Zustand dem tiefsten Mysterium so nahe, daß einzelne religiöse Leistungen nicht mehr verlangt werden. Wer schon derart die Innerlichkeit erreicht hat, braucht weder zu beten noch zu fasten. Eigentümlich, daß die Blutflüssige sich von neugeborenen Kindern fernhalten mußte, waren doch deren Mütter im gleichen Zustand. Macht des Blutes. Die Menstruierende, mit magischen Kräften begabt, wäre wie eine Konkurrenz zu der jungen Mutter im Wochenbett, eine »böse Fee«, die Dornröschen mit dem Fluch belegen konnte. Natürlich taten die modernen, staatlich ausgebildeten Hebammen diese alten Überlieferungen als Aberglauben ab. Die Frauen im Schatten hinter dem Großmutterhaus wissen nicht mehr viel von ihrer Macht, und der Rückzug in die Innerlichkeit besteht höchstens darin, sich ins Bett zu legen, so wie Hadiye hanim das genußvoll berichtet. Nun werden Blutgeschichten zum besten gegeben - von Totaloperationen und Frühgeburten, von Empfängnis während der Periode und nicht aufhörendem Wochenfluß. Gül, die Polizistenfrau, liefert einen spannenden Bericht über die Geburt ihres jüngsten Kindes: zwei Hebammen hätten ihr auf dem Bauch gesessen und die Ärztin von unten gezogen, sie hätte ihnen das Gesicht zerkratzen wollen. Sozusagen als Gegenleistung erzählt Helga von ihrer Überraschung bei der ersten Periode, wie die Mutter ihr die Binde in die Hand gedrückt habe und sich in Hinweisen auf die Bestäubung der Blumen ergangen sei, nur das Kind nicht beim Namen zu nennen gewagt hätte. Für die Frauen hier ist die Periode kein Anlaß zur Scham, bloß Helga schämt sich. Auf die einfache Frage, wann es denn bei ihr soweit sei, kann sie noch nicht einmal unumwunden ein Datum nennen; ihr Zyklus war so unregelmäßig — aus dem Mondtakt geraten —, daß sie das gar nicht vorauswissen konnte. »Du hast es gut; wenn deine Regel ausbleibt, brauchst du keine Angst haben, schwanger zu sein.« Helga hatte eine ganz andere Angst. Daß in ihr etwas wuchs, das, ebenso wie ein Fötus, die Immunabwehr des Körpers ausschaltete. Das Signal »Fremdkörper« würde nicht, oder zu spät, aufleuchten. Während sich um den kleinsten eingezogenen Holzsplitter die Haut rötete, über Nacht Eiter bildete, wurde die Maulbeere in ihrem Leib wie etwas Eigenes umhegt und mit Nahrung versorgt. Krebsschwangerschaft.
Die Kinder sind auf den Baum gestiegen und futtern die Früchte vom Ast. Osman, der noch zu klein ist, die Kletterei mitzumachen, hält sich eine Schüssel über den Kopf und versucht aufzufangen, was ihm die anderen zuwerfen. Nein, die Mutter hat keine Lust auf vermatschte Maulbeeren, auch nicht, wenn sie bis zum Essen in den Kühlschrank gestellt werden. Der Sohn hatte am Morgen ein Bild mit Wasserfarben gemalt, rotes und ockerfarbenes Gewurle, darüber einen schwarzen Wirbel. Ohne die Erläuterungen des Künstlers wirkte das wie eine dreifarbige Wahnsinnstat. »Es soll ein Feuerwehrhund sein, der einen kleinen Hund aus dem Feuer rettet. Dann finden sie eine richtige Mutter, das heißt, für den Großen eine Frau. Das ist doch schön?« Ja, das war schön. Eine Logik wie im Traum. Helga hatte den Kommentar des Kindes sofort wörtlich neben die Malerei geschrieben.