Im Schutzgraben fürchten wir seit einigen Stunden eine neue Gefahr. Seitdem der Kampf sich hörbar nähert, leben wir in der Angst, daß Krieger Amerikaner oder Deutsche an unserem Loch auftauchen und aufs Geratewohl Handgranaten hineinwerfen. Diese Vorstellung plagt uns, umkreist das Gespräch, das wir lebhaft miteinander führen, bis wir endlich auf eine erlösende Idee kommen. Wir entwerfen einen kurzen Text, der deutsch und englisch geschrieben werden soll:
»Zivilisten! Bitte, nicht schießen!«
Colette und ich beschriften im Freien mit schwarzer Farbe zwei Holztafeln und malen zum Schluß ein überdimensionales Ausrufezeichen, in der Hoffnung, unserer Bitte so mehr Nachdruck zu verleihen. Die Holztäfelchen werden an beiden Eingängen unseres Erdbunkers angebracht, gut sichtbar oberhalb der jeweiligen Treppen, die hinunter führen.
Am 8. Juni hören wir gegen 18 Uhr viele Schritte. Die Stimme von Herrn Ambroix dem Mann mit dem Holzbein — ruft Papa:
»Es sind amerikanische Gefangene, Monsieur B., eine ganze Menge, und Deutsche. Sie brauchen...«
Schon steht Papa draußen. Es wird französisch, deutsch, englisch gesprochen. Obwohl wir gespannt lauschen, hören wir nur Bruchstücke. Papa schlägt vor, die ganze Gruppe in die Kantine zu führen. Er erklärt es uns:
»Die Soldaten haben seit zwei Tagen nichts gegessen. Komm mit Michel als Kurier, um Mama später Nachrichten zu bringen.«
Mit seiner Kasserolle auf dem Kopf zieht Michel stolz von dannen. Wir Mädchen wären gerne mitgegangen. Die Eltern haben es aber abgelehnt.
Die Männer sind schon eine ganze Weile weg, als wieder einmal Flugzeuge im Tiefflug über uns brausen. Eine ganze Schar. Mit eingezogenen Köpfen warten wir, daß es knallt. Es passiert nichts. Nur die Flugzeuge brausen immer noch. Wie viele Flugzeuge mögen es sein? Wieviel sind es gewesen? Denn auf einmal sind sie weg. Die Ruhe ist erstaunlich, und wir vernehmen wieder das andauernde Krachen in der Ferne, an das wir uns bereits gewöhnt haben. Irgendwo knallt es immer.
Ob es draußen schon dunkel ist? Hier in unserem Loch sieht man ohnehin kaum etwas, seitdem es zwei Stockwerke in dem Graben gibt. Wir liegen auf dem Brett oben, knapp unter der Decke, und warten. Mama ist mit Okay kurz hinausgegangen. Sie ist nervös, beunruhigt wie immer, wenn wir nicht alle zusammen sind.
Sie muß Michel getroffen haben, denn sie kommen gemeinsam zurück.
»Habt ihr vorhin wegen der vielen Flugzeuge Angst gehabt?« fragt Michel.
»Schon, und du?«
»Wir nicht«, antwortet Michel. »Ihr hättet das sehen müssen! Wir sind alle unter den Tischen der Kantine gelegen. Auf einmal lagen wir alle auf dem Bauch, die Amerikaner, die Deutschen und wir. Nachher haben die Amis gelacht. Sie sind gut gelaunt, seitdem sie reichlich Wasser getrunken haben!.... Aber ich muß euch etwas anderes erzählen. Auf dem Weg zur Kantine haben viele Soldaten gestockte Magermilch getrunken!«
Michel ist noch zutiefst beeindruckt von allem, was er erlebt hat. Er kommt fast ins Stottern.
»Die Kannen standen draußen; seit dem 5. Juni! Nicht abgeholt und voll mit Magermilch für die Kälber und die Schweine der Bauern! Ein Amerikaner hat einen Kannendeckel hochgehoben und jubelnd seine Kameraden gerufen. Sie haben die innere, weißglänzende Kopfform von ihren Stahlhelmen abgezogen und die sauer gewordene Milch hineingegossen wie in eine Schüssel. Es ist nicht zu fassen, wie sie das Zeug getrunken, gegessen haben!«
»Wieviel Amerikaner sind es insgesamt?«
»Ungefähr 70 und neun Deutsche mit Maschinengewehren. Die Amis schälen eifrig Kartoffeln, und man hat ein halbes Kalb aus dem Kühlraum geholt. Das Fleisch war für das Kantinenessen vom 6. Juni vorgesehen. >Ein Glück, daß wir's haben!< hat Herr Ambroix gesagt, während ich für ihn Zwiebeln geschält habe. Es riecht toll in der Kantine! Ich wäre gern geblieben. Als Papa mich weggeschickt hat, haben einige Soldaten sogar gesungen.«
»Sind keine Offiziere dabei?«
»Doch, einige Amerikaner und ein deutscher Kapo, aber das spielt dort keine Rolle. Als sie in die Kantine kamen, sahen sie alle grau, erschöpft und schmutzig aus, egal welche Uniform sie trugen. Stellt euch mal vor: Sie haben zwei oder drei Nächte nicht geschlafen! Seit der Landung kämpfen sie oder verstecken sich. Bei Formigny sind die Amerikaner in kleinen Gruppen gefangengenommen worden. Ihre Panzer kamen nicht nach, vom Strand von Vierville her. Ein Vortrupp!«
»Sprechen die Soldaten französisch, weil du das alles weißt?«
»Ja, ein Amerikaner spricht sogar wie wir. Er wohnt in den Staaten an der kanadischen Grenze, und seine Frau ist Kanadierin. Zwei andere sprechen ganz gut. Vielleicht hat man sie deshalb für die Landung in Frankreich ausgesucht. Auch der deutsche Kapo spricht übrigens französisch.«
»Kommt Papa bald?«
»Nein, er wird sicher die ganze Nacht in der Kantine bleiben, denn der Deutsche hat gesagt: >Die Gefangenen sollen nach dem Essen hier schlafen. Um fünf Uhr wird aufgestanden.<«
»Können die Amerikaner nicht fliehen?«
»Ich glaube nicht, daß sie es tun. Papa führt sie einzeln zur Toilette, wenn sie es brauchen. Der Kapo hat Papa gewarnt: >Sie haften mit Ihrem Leben, daß dabei nichts passiert!<, und der amerikanische Offizier, der gut Französisch kann, hat gesagt: >Sie können beruhigt sein, Sir, keiner von uns wird versuchen zu fliehen. Hier nicht. Wir sind Ihnen sehr dankbar.< Danach hat er mit allen englisch geredet.«
Arme Mama! Es wird für sie eine lange Nacht des Wartens werden!
Als Papa in der Früh zurückkommt, scheint ihn die Ruhe der bewährten Krieger angesteckt zu haben. Er lächelt.
»Kommt raus!« sagt er schlicht. »Das müßt ihr unbedingt sehen!«
Dieser Satz klingt fast erhaben, und das Bild draußen hat wirklich etwas Feierliches und zugleich Ergreifendes an sich. Die 70 Amerikaner, wie für eine Parade in Reihen geordnet, stehen im Morgengrauen startbereit, von den Deutschen umgeben. Kaum haben sie zum Abschied gewinkt, als Maschinengewehre zu rattern beginnen. Amerikanische Flugzeuge, die die Brücke von Le Molay beschossen haben, fliegen sehr niedrig über uns. Niemand hat Zeit oder kann sich hinlegen. Die Amerikaner, eingezäunt von den Deutschen, ziehen ihre Taschentücher heraus und lassen sie lässig, wie kleine Fahnen, über sich flattern. Sie sind unwahrscheinlich ruhig, diese Amerikaner, so als ob sie fest daran glauben würden, für ihre eigenen Kugeln unverwundbar zu sein. Auch wir, obwohl das letzte Flugzeug noch schießt, stehen da, unfähig uns zu bewegen. Als die Flugzeuge nach kurzer Zeit erneut im Sturzflug auf die Fabrik zufliegen, sind wir allerdings im Graben verschwunden, atemlos nach dem schnellen Lauf. Dieses Mal wird kein einziger Schuß abgefeuert. Wahrscheinlich haben die amerikanischen Gefangenen wieder mit ihren Taschentüchern gewinkt.
»Meine old fellows!« sagt Papa gerührt. »Sie sind wirklich okay. Ob sie es geschaffft hätten zu fliehen? Sie haben uns keinen Ärger machen wollen. Alle waren fair. Auch die Deutschen.«
Dann zieht er aus seiner Tasche einige, in den USA speziell für die Landung gedruckte Geldscheine, die ihm der amerikanische Offizier als Souvenir und Porte-bonheur (Glücksbringer) geschenkt hat. Es sind keine Dollars, sondern französische Francs, aber in einem anderen Format und mit einem anderen Druck als die unseren.
»Sehr gut sieht man hier nicht«, sagt Mama beim Betrachten der Scheine. »Wieviel Uhr ist es eigentlich?«
»Bald sechs Uhr«, antwortet Papa, »und es ist der 9. Juni, bis heute Abend, wenn nichts dazwischen kommt.«
»Mach keine solchen Witze!« bittet Mama.
Wir konnten es damals nicht wissen, und doch bedeutete diese Uhrzeit für uns einen wichtigen Wendepunkt: das Ende aller Angriffe auf das Gelände rund um die Fabrik. Gehörten wir bereits dem Schonstreifen unmittelbar vor der Front an? Oder war die Anwesenheit der amerikanischen Kriegsgefangenen bei uns gemeldet worden? Möglicherweise war der Wendepunkt rein zufällig. Wir sollten es nie erfahren. Daß diese erste Begegnung mit den Amerikanern unserer Familie Glück gebracht hatte, blieb für uns allenfalls eine liebenswürdige Vermutung.
Eine andere Begegnung einige Stunden später stürzte uns in Aufregung. Auf der Suche nach frischer, vitaminreicher Nahrung waren wir mit den Eltern in den Gemüsegarten gegangen.
»Die Leute im Graben werden sich wieder über unsere Radieschen freuen«, sagte Michel. »Die Idee von Thomas ist Klasse gewesen!«
Die Erwähnung des Gärtners stimmte uns alle nachdenklich, und wir schwiegen. Von Thomas hatten wir seit drei Tagen nichts gehört. Plötzlich merkten wir mit Entsetzen, daß uns ein deutscher Soldat den Weg zum Graben versperrte. Er trug eine Maschinenpistole und las gerade unser Schild »Zivilisten, bitte nicht schießen!«. Wir blieben wie angewurzelt stehen. Vielleicht hätten wir daraufhin versucht, uns im Garten zu verstecken, aber der Soldat ließ uns dazu keine Zeit. Er hatte vermutlich unsere Schritte gehört, machte eine sehr rasche Kehrtwendung und richtete dabei seine Waffe auf uns.
Erst jetzt fiel uns auf, wie elend, heruntergekommen und schmutzig der Mann aussah! Er war von unten bis oben mit Lehm bespritzt. Sogar sein Gesicht und sein Haar waren beschmutzt. Er trug keinen Helm. In diesem Augenblick kamen nichtsahnend drei Fabrikarbeiter aus dem hinteren Ausgang unseres Grabens heraus. Sie unterhielten sich. Der Soldat schaute blitzschnell zu ihnen nach hinten und dann gleich wieder zu uns. Die Mündung seiner Maschinenpistole hatte die Drehung mitgemacht.
Ich mußte seltsamerweise an die Radieschen denken, die ich in der Hand hielt, starrte aber in meiner Angst ständig auf das Gesicht des Deutschen. Auf einmal hatte ich den Eindruck, daß in seinen Augen ebenfalls Angst flackerte. Er erinnerte mich an ein gehetztes Tier, das vor Erschöpfung nicht mehr weiß, wohin es noch fliehen kann. Angst!
Ich glaube, niemand hätte in diesem Augenblick sagen können, wer von uns allen am meisten Angst hatte. Der Soldat besaß zwar eine Waffe, wußte dafür nicht, wieviel Menschen insgesamt im Graben waren und ob wir ihn angreifen würden. Wir dagegen fürchteten, er könne aus Verzweiflung in Panik geraten und wild um sich schießen. Seine Augen erschienen in seinem mageren, unrasierten Gesicht groß und unendlich müde. Er ließ die Maschinenpistole an seiner Schulter baumeln und formte seine beiden Hände zu einer Mulde.
»Boire!« sagte er, und auf deutsch noch einmal: »Zu trinken, bitte!«.
»Kommen Sie mit!« antwortete unser Vater betont langsam auf französisch. »Wir werden Ihnen zu trinken und zu essen geben. Hat jemand Trinkwasser parat?« fragte er anschließend in die Runde, während er den deutschen Soldaten ein wenig vom Graben weglockte.
Dieser folgte bereitwillig, aber immer noch mit der rechten Hand auf seiner Waffe. Ein Mann brachte einen Krug und schenkte Wasser ein. Der Soldat trank in einem Zug.
»Encore!« bat er nach dem zweiten Becher und reichte diesen mit der linken Hand, um ihn erneut füllen zu lassen. Er trank so, als ob es um sein Leben ginge wie Kinder oder junge Tiere es tun, dachte ich. Es lag etwas Wesentliches, fast Rührendes in der Art, wie dieser Mann gierig Wasser zu sich nahm.
»Wie lange haben Sie nichts getrunken?« fragte Papa.
»Ich weiß nicht mehr«, antwortete der Mann, »zwei Tage bestimmt«. Ich mußte an das Buch >Der kleine Prinz< denken und an den Piloten, der nach einer Panne seines Flugzeuges in der Sahara fast verdurstet wäre. Wieviel Tage waren in der Geschichte von Saint-Exupery vergangen, bis der Flieger, vom kleinen Prinzen begleitet, endlich einen Brunnen entdeckte? Nachträglich war die Zeit kaum meßbar. Wichtig blieb die lange Sehnsucht nach dem Trinken; sie verzauberte das Wasser, das aus dem Brunnen kam. Ich liebte die poetischen Sätze, die Saint-Exupery erfunden hatte, und ich freute mich, daß wir, einige Minuten lang, die Bedeutung einer Oase erlangt hatten, weil wir Durst zu löschen vermochten.
Der Krieg schuf Situationen, die völlig außerhalb des Normalen lagen. In der Normandie beinahe verdursten! Es war schier verrückt, absolut unvorstellbar. Trotzdem hatten wir innerhalb von 15 Stunden zweimal das Gleiche erlebt.
»C'etait bon!« sagte der Soldat, und ich wunderte mich über den fremden Klang seiner Stimme. Ich hatte fast vergessen, daß dieser Mann Deutscher war.
Anschließend sprudelten Worte aus ihm heraus. Behindert durch seine mangelhaften Sprachkenntnisse, stotterte er und hatte offensichtlich ein großes Bedürfnis, sich endlich mitzuteilen:
»Seit drei Tagen alles, alles kaputt. Kameraden alle totgeschossen; ich allein überlebt, gegangen, versteckt. Nicht Krieg wie in Afrika. Kein fairer Krieg hier! Nicht nur Bomben, auch Dum-Dum-Geschosse, die mehrmals explodieren. Nicht erlaubt! Alles zerfetzen.«
Der Soldat trank noch einen Becher voll Wasser. »Sie, Monsieur, sind nett. Ich habe Kinder wie Ihre. Ich werde weggehen, Kameraden suchen, aber bitte vorher essen.«
Papa entfernte sich langsam, begleitet von dem Soldaten. Wir saßen wieder im Graben und debattierten heftig.
»Kein fairer Krieg«, sagte Colette, »als ob es faire Kriege gäbe!«
Wahrscheinlich war er mit Rommel in Afrika«, erklärte Michel.
»Na und? Ist der Krieg für uns vielleicht fair?«
»Alle Kriege sind unmenschlich«, mischte sich Mama ein, »für jeden, der drin steckt. Daß er jedoch ...«
»Ich weiß überhaupt nicht, warum man einem Boche Essen und Trinken geben muß«, sagte jemand erbost in der Mitte des Grabens.
»Und wenn er geschossen hätte, da wären Sie nicht so stolz«, konterte Herr D.
»Wir sitzen alle im Graben«, sagte seine Frau. »Sie auch! Daß Monsieur B. den Deutschen von hier weglotst, das ist wohl das Wichtigste, oder?«
»Hoffentlich verschwindet er, wenn er etwas zu Essen bekommen hat«, sagte noch jemand.
»Wo die Amerikaner jede Minute kommen können!« unterstützte ihn Frau D.
»Oder die Deutschen«, mischte sich ihr Mann wieder ein.
»Glaubst du?«
»Das ist genauso drin. Der Soldat ist der beste Beweis dafür.« Der Mann, der das Wasser eingeschenkt hatte, sagte sanft neben uns:
»Der wäre fast verdurstet, der arme Kerl. Er kann doch nichts dafür, daß er ein Boche ist!«
Später erzählte uns Papa, er habe dem Deutschen einen halben Butterkäse als Proviant gegeben. Der Mann habe jedoch auf der Stelle das ganze Stück samt Rinde gegessen.
»Er muß völlig ausgehungert gewesen sein«, betonte Papa. »Nachher wollte er Brot haben. Als ich ihm erklärte, auch wir hätten längst keines mehr, sagte er >Pardon! Nicht daran gedacht !< Ich gab ihm noch Käse und eine Flasche Wasser, froh, daß er endlich wegging. Ich stellte mir dauernd vor, was passieren würde, wenn die Amerikaner hier auf ihn stoßen würden. Der deutsche Soldat hätte um sich geschossen. Er schien überhaupt nicht daran zu denken, sich zu ergeben.«
»Wieso?« fragte Michel. »Ich verstehe den Mann nicht. Wenn er dir seine Maschinenpistole gegeben hätte, dann wäre er unser Gefangener geworden. Er hätte es nicht schlecht gehabt, bis die Amerikaner kommen.«
»Ob sie zuerst kommen, wissen wir nicht«, sagte Papa. »Wir können es nur hoffen; nach allem, was der deutsche Soldat gesagt hat, müssen unsere Freunde ziemlich nah sein. Schon heute Nacht hatte der amerikanische Offizier von Trevieres gesprochen. Wir werden die Front bald hinter uns haben.«
Gerade weil es wichtiger denn je geworden war, den Graben möglichst wenig zu verlassen, hielten wir es drinnen vor Ungeduld kaum aus. Jeder Vorwand war uns recht, um hinauszuschlüpfen, um nachzuschauen, ob sich in der Ferne etwas veränderte. Einmal glaubte einer von uns, versteckte Bewegungen zwischen den Apfelbäumen auf einer entfernten Wiese beobachtet zu haben. Er rief die ganze Familie. In Wirklichkeit hatte nur der plötzlich auftretende Wind Zweige bewegt. Bald waren am Himmel alle Wolken weggefegt.
»Es wird eine klare Nacht«, sagte Mama.
Spät abends erreichte uns eine bestürzende Meldung über unsere hungrigen Gäste der vergangenen Nacht, über »unsere« Amerikaner. Auf der Landstraße, außerhalb von Littry, der nächsten Ortschaft nach Le Molay, waren ihre Reihen durch einen Tiefangriff amerikanischer Flugzeuge dezimiert worden. Die Nachricht traf uns wie ein persönlicher Schicksalsschlag. Wir sahen noch in unserer Erinnerung die Soldaten freundlich lächelnd oder lässig mit den Taschentüchern winkend, als sie erholt und voller Zuversicht von uns gegangen waren, ohne zu wissen, welcher sinnlose Tod auf sie wartete. Von den eigenen Leuten erschossen!
Unter den Deutschen, die sie bewachten, hatte es auf dieser geraden Strecke ohne Deckungsmöglichkeiten auch Tote gegeben. Man wußte nur, daß viele Menschen gestorben waren. Nicht wieviel und nicht wer sie waren, beziehungsweise welche Staatsangehörigkeit sie besessen hatten. Der Begriff der Nationalität schien uns zusehends an Bedeutung zu verlieren. An der Front gab es keine klare Grenze; alles mischte sich um eine Linie, die sich bewegte.
Die amerikanischen Flieger hatten von oben keinen Unterschied unter den Menschen machen können. Bei der Verpflegung der halbverhungerten, fast verdursteten und übernächtigten Soldaten hatten auch wir keine Unterschiede gemacht. Wer von den Soldaten eine Maschinenpistole trug, das konnte sich von Stunde zu Stunde ändern. In Wirklichkeit waren alle durch das gemeinsame Erlebnis, in ihrer gemeinsamen Not fast Kameraden geworden. Der Tod hatte sie vereint. Endgültig. Unsere Familie trauerte um diese Menschen, Gäste einer bewegten Kriegsnacht.
Ich habe sie nie vergessen können und möchte es auch nicht. Es ist eine Art Vermächtnis, das sie mir hinterlassen haben: Allein das Menschsein ist wichtig, alles andere mehr oder weniger zufällig. Jedesmal, wenn mir bewußt wird, daß jemand die Farbe eines Passes egal welche zu sehr betont oder zu wichtig nimmt, muß ich an diese Gefallenen denken. Allerdings ist man anderen gegenüber immer klüger als gegen sich selbst. Später, in alte Denkmuster verstrickt, werde ich diese so klare Lektion leider eine ganze Weile vergessen. 1944 stand den Europäern ein langer, schwieriger Weg bevor, ehe sie sich ihrer Gemeinsamkeit bewußt wurden. Nicht nur für meine Generation.