Es flattern auch harmlose Dinge vom Himmel herunter

Während Michel und ich zum Schutzgraben zurückkehren, passiert etwas sehr Poetisches. Ich finde zumindest, daß es so aussieht. Vom Himmel flattern langsam silberne Streifen herunter. Sie glitzern und drehen sich in der Luft. Ich freue mich, daß wir jetzt draußen sind, um dies zu erleben. Wir trauen uns sogar, frei, ohne Deckung Streifen einzusammeln, denn die Flugzeuge, die sie abwarfen, fliegen, kaum hörbar, sehr hoch. Die Streifen sind ungefähr 20 Zentimeter lang und ein bis zwei Zentimeter breit, auf einer Seite matt, die andere glänzt. Später erzählt uns Papa, daß die Amerikaner sie vermutlich abgeworfen haben, um die deutschen Funkmeßgeräte (wir sprachen, wie die Engländer, von Radar) zu stören.
Es flattern noch mehr harmlose, leichte Dinge an diesem Tag vom Himmel herunter. Die Flugblätter, die uns Anfang des Nachmittags gebracht werden, sind im Dorf Le Molay gefunden worden. Es gibt zweierlei, beide auf französisch gedruckt.
Auf dem ersten Blatt entschuldigt sich die amerikanische Luftwaffe, uns unvermeidbares Leid zuzufügen, und bittet uns eindringlich, die Nähe der Eisenbahnlinie und alles, was damit zusammenhängt, absolut zu meiden. Wir sollen alles unternehmen, um uns davon zu entfernen! Das Schreiben zieht einen Vergleich zwischen dem Krieg 1914/18, als »französischer Boden unter Beschuß von französischen Kanonen genommen worden ist, und heute, da alliierte Bomben sich als Pfand für unsere Befreiung erweisen werden«. Es ist nicht sehr ermutigend, denn wir können nicht weglaufen. Mama erinnert sich plötzlich, daß bei der Somme-Schlacht fast 20 000 britische Soldaten an einem einzigen Tag gefallen sind.
»Daran mußte ich denken, als wir hierher gezogen sind«, sagt sie.
»Wir werden auch unter keinen Umständen von hier weggehen«, betont Papa. »Der Graben hat sich bewährt, und ich darf sowieso nicht weg.«
Das zweite Flugblatt (ich hätte es selbstverständlich zuerst nennen sollen) ist große Literatur. Vermutlich weil wir nicht gemütlich in unserem Salon sitzen, als dieses Flugblatt uns erreicht, sondern mitten im dort gepriesenen Kampf stecken, verwirrt und enttäuscht uns die Rede von General de Gaulle am 6. Juni. Der General scheint in einem stilgerechten Arbeitszimmer gesessen zu haben, als er diesen für die Nachwelt verfaßten Text geschrieben hat. Die Worte klingen gut, die Sätze großartig; nur, als wir den langen Monolog in unserem Schutzgraben zu Ende gelesen haben, fragen wir uns, was wir mit ihm gemeinsam haben. Die langen Sätze a la Bossuet, die Preisung unserer Siege seit 1500 Jahren, die theatralische Darstellung der Deutschen als wilde Tiere… am Ufer des Nils, in Rom und sonstwo gilt das ganze Gerede wirklich uns? In unserem Erdloch haben wir etwas anderes erwartet, etwas Greifbares, Wirklichkeitsnahes. Ein kurzer Spruch, wie Napoleon ihn zum Beispiel bei den Pyramiden geprägt hatte, wäre uns Kindern verständlicher gewesen: »Soldats, je suis content de vous!« (Soldaten, ich bin mit euch zufrieden!) Dieser Gedanke ist natürlich zu einfach. Um die Einheit der Franzosen wieder herzustellen, braucht man ganz andere Redewendungen, und General de Gaulle mit seinem Spürsinn für die Geschichte wird es wohl wissen. Trotzdem, weil der Ton seiner Rede so rhetorisch und blumenreich ist, fühlen wir uns nicht angesprochen. Papa sagt schlicht: »Was die Amerikaner wohl dazu sagen!« Die letzten Sätze des Generals flößen uns sogar Angst ein: »Die Schlacht Frankreichs hat begonnen. Es ist in der Nation, in dem Reich, in der Armee ein einziger und gleichbleibender Wille, eine einzige und gleichbleibende Hoffnung. Hinter der mit unserem Blut und unseren Tränen schwer gewordenen Wolke scheint die Sonne unserer Größe wieder.« Diese Sprache (die wir später besser verstehen werden) ist in London wahrscheinlich angebracht. Hier haben wir einige Jahre hindurch andere Maßstäbe kennengelernt: Wir sind demütig, maßvoll geworden, und wir haben Angst vor jeglicher Art von Einheitsdenken. Das Leben unter einer Diktatur macht scheu gegen klangvolle Phrasen. (Die Flugblatt-Rede vom 6. Juni 1944 wird uns in späteren Tagen unseres Wühlmauslebens gelegentlich beschäftigen, wenn wir mehr Zeit zum ruhigeren Nachdenken bekommen werden. Papa, mit seinen allzu ehrlichen Äußerungen zu den Sätzen des Generals, wird sogar jemanden veranlassen, ihn mit folgender Bemerkung anzuzeigen: »Er hat General de Gaulle kritisiert, Beweis genug, daß er die Deutschen unterstützt.«) Noch sind wir allerdings nicht so weit. Die Front hat erst Formigny eingeschlossen. Sie bewegt sich nach Trevieres. Heute haben wir außer Zuckerstückchen kaum etwas gegessen. Essen ist nicht mehr wichtig. Am Abend ist der Umbau unseres Grabens fast fertig geworden. Unsere Bewegungsfreiheit ist dadurch auf ein Minimum eingeschränkt: Unten kann man nur sitzen, oben nur liegen. Wir sitzen alle fünf unten und essen zur Beruhigung die sauren Gurken, die wir von zu Hause mitgebracht haben, während wir darüber debattieren, wie wir die Liegeplätze heute Nacht verteilen werden. Wir Kinder möchten gern alle oben schlafen. Die Eltern könnten, jeweils auf einer Bank, unter uns liegen. Wir angeln uns eine Gurke nach der anderen aus dem großen Tontopf, bis wir mit Erstaunen feststellen, daß er leer ist. In der Nacht bekommen wir Magenschmerzen. Vermutlich deswegen liegen wir alle wach, als in der Früh ein urplötzliches Zischen und ein entsetzlicher Krach den ganzen Graben erschüttern. Die Luftbewegung ist so stark, daß 100 unser Haar, davon angezogen, sich bewegt. Die Erde zittert. Es ächzt, bebt, kracht und zischt, wie es uns scheint, aus allen Richtungen. Wir kriechen in uns hinein, zu entsetzt, um zu schreien, überzeugt, daß der Graben gleich zusammenstürzen wird. Er tut es nicht!
Als es eine längere Zeit ruhig bleibt, gehen wir zaghaft nach draußen. Die Tarnzweige über unserem Graben liegen auf einer Breite von fünf Metern wie gemäht. Die Erde ist rundherum von Metallsplittern aufgewühlt. Wir heben ehrfürchtig welche auf. Sie sind sehr schwer, ungefähr zehn Zentimeter dick. Es sind keine Bombensplitter! Später merken wir, daß zwei große Eichen, die nicht einmal neun Meter von uns entfernt stehen, geköpft sind. Die alten und hohen Bäume haben die ganze Wucht des Marinegeschosses frontal aufgefangen. Durch den Anprall hat die Explosion des großen Kalibers in der Luft stattgefunden, was die Splitter erklärt. Wir werden andere, größere Bruchstücke dieses Ungetüms von angeblich 270 Zentimetern Länge finden, auch Teile seines 20 Zentimeter hohen Gürtels aus rotem Kupfer. (Man wird uns später erklären, daß das Geschoß rund eine Tonne gewogen hat, daß es uns alle umgebracht hätte, wenn die Explosion nicht durch die Bäume ausgelöst worden wäre, sondern am Boden stattgefunden hätte.)
Wir haben also durch Zufall überlebt!
Von ihrem Stammplatz im Graben aus hat Frau D. soeben erklärt, daß sie mit ihren Kindern nie mehr oben schlafen wird.
»Auch mein Mann nicht!« sagt sie. »Es kommt nicht in Frage. Auf dem obersten Brett kann man gleich tot sein!« Sie hat sich zuvor erzählen lassen, was draußen zu sehen ist.
Wir bleiben auf Anraten von Papa eine geschlagene Stunde im Graben.
»Für den Fall, daß die Marinegeschütze ihre Schußlinie wieder ändern und auf uns zurückkommen.«
»Kann das passieren?« fragt Michel.
»Möglich ist alles«, antwortet Papa, »obwohl das, was wir abbekommen haben, mir eher ein Visierschuß zu sein scheint.«
»Sagst du das, um uns zu beruhigen?« fragt Colette.
»Nein. Diese Geschütze schießen rasch hintereinander. Wir hätten gleich mehr abbekommen, wenn die Alliierten nicht in Wirklichkeit ein ganz anderes Ziel hätten erreichen wollen.«
(Später erfahren wir, daß die Kreuzung der N. 172 mit unserer Straße Richtung Balleroy am Rand des Waldes von Cerisy Zielscheibe war. Dort fuhren deutsche Panzer nach Tilly. Um die Ortschaft Tilly, zwischen Caen und Bayeux, sollte bald eine mörderische und lange Schlacht beginnen.)
Die Frist von einer Stunde haben wir nun ohne Aufregung überstanden. Wir wollen endlich raus.
»Zum Bach?« fragt Papa, der von draußen zurückkommt.
»Ja«, antworten wir begeistert, fast im Zweifel über die Echtheit seines Vorschlages, weil er zu schön klingt.
»Wieso zum Bach?« entsetzt sich Mama.
Papa hat soeben erfahren, daß die schöne Proserpine, unser Reitpferd, hilflos in einer sumpfigen Stelle der Wiese am Bach steckt. Mit der ganzen verfügbaren Mannschaft gehen wir rasch nach unten zu der Weide mit den hohen Pappeln. Die Halbblut-Stute ist außer sich vor Schreck und wehrt sich, als man versucht, sie herauszuholen. Man muß Riemen unter ihren Bauch schieben. Die Rettungsaktion beschäftigt alle und läßt uns Abstand zum vorangegangenen Schrecken mit dem Marinegeschoß finden. Wir fühlen uns fast so erlöst wie Proserpine, als sie, endlich ruhiger geworden, im Gras dahintrabt. Erst jetzt entdecken wir das zweite Opfer: Ein Pferd steht stämmig und völlig unbeweglich in der Wiese. Als wir uns ihm genähert haben, merken wir, daß es am Hals blutet.
»Sicher ein Geschoßsplitter...«
»Nein!« schreit ein Mann. »So was gibt es nicht!«
Und doch ist es wahr. Der Splitter muß durch den Hals hindurchgegangen sein, denn auf der anderen Seite ist eine ähnliche, blutende Wunde, von schwarzen Fliegen umschwärmt. Das Pferd, wie betäubt, rührt sich nicht. In der Ferne breitet sich unterdessen ein stumpfes, andauerndes Brummen aus, was sich anschließend nicht verstärkt, sondern wie ein schweres Rollen anhält. Es müssen Panzer sein.
»Was sollen wir mit dem Pferd tun?« fragt ein Mann.
»Wir gehen jetzt alle zum Graben zurück«, sagt Papa bestimmt. »Später werde ich seine Wunden mit einem Desinfektionsmittel betupfen, damit die Fliegen es nicht so plagen. Wahrscheinlich wird es krepieren, aber insgesamt haben wir bisher Glück gehabt!«
(Von wegen! Das stämmige Pferd wird überleben und Papa wird später, nicht ohne Stolz, erzählen, daß dieser Fall wert gewesen wäre, in die Annalen der Tiermedizin einzugehen.)