Ein Krieg, der sich mitten im Frieden breit macht

Bis zum Sommer 1939 war die Welt für mich in Ordnung hübsch in Länder aufgeteilt, die friedlich nebeneinander lagen wie auf den farbigen Landkarten beim Erdkundeunterricht. Ich war zehn Jahre alt und konnte hingebungsvoll Frankreich auswendig zeichnen. Die anderen europäischen Länder bekamen noch ziemlich verschwommene Konturen; sie interessierten mich sozusagen nur am Rande. Mit einer Ausnahme: Die Engländer, unsere Nachbarn, hatten mich, wie jede Normannin, gelegentlich beschäftigt. Mit vier Jahren wachte ich voller Entsetzen auf und schrie: »Die Engländer kommen. Sie wollen Jeanne d'Arc verbrennen!« Meine Eltern hatten uns anscheinend diese Geschichte zu früh erzählt.
Uns, das waren meine Schwester, ich und mein Bruder Michel, alle knapp hintereinander geboren, ein fröhliches Trio, das unsere Mutter gelegentlich an die Grenze ihrer Geduld gebracht haben muß, obwohl ich keinerlei Erinnerungen an irgendeine ungerechte Mahnung oder gar Strafe habe. Mit ihr und meinem Vater, der gelegentlich einem Wirbelwind glich, erlebten wir die schönste Kindheit, die man sich vorstellen kann.
Wir wohnten in Le Molay, einer Ortschaft mit 735 Einwohnern und ebenso vielen Kühen mitten in üppigen Wiesen, unweit von herrlichen Laubwäldern, wo Riesenpfifferlinge wuchsen. Die ganze Gegend war ein Paradies, vor allem im April, wenn die Apfelbäume blühten, die unserem Landkreis Calvados zum Ruhm verholfen haben.
Das Städtchen Bayeux lag mit seiner Kathedrale und den alten Fachwerkhäusern 15 Kilometer von uns entfernt. Dort konnte jedermann in der prächtigen Tapisserie der Königin Mathilde wie in einem Bilderbuch nachsehen, wie die Normannen 1066 England erobert hatten. Wir waren als Schulkinder mit Begeisterung dort gewesen, aber unser Leben verlief so spannend, daß wir wenig Zeit hatten, über die Geschichte nachzugrübeln. Wir waren eben ganz normale Kinder.
Richtung Meer, genau nördlich von Le Molay, gab es an der Küste einen schönen Strand, wo wir mit den Eltern öfter unsere Sommerferien verbrachten. Er hieß Vierville. Zwölf Kilometer Luftlinie trennten uns davon. Die Amerikaner haben später auf ihren Geheimkarten für die Landung am 6. Juni 1944 Vierville und das nebenan gelegene Dorf in Omaha-Beach umgetauft, was nicht ohne Bedeutung für die weitere Erzählung dieser Geschichte ist. Doch der »längste Tag« liegt noch fern.
Im Juni 1939 war die Welt für mich noch friedlich. In der Schule malte ich Frankreich meistens in Rosa mit einem nach außen heller werdenden Rand: blau für das Meer, das ich liebte, gelb für die Südländer und Belgien, die ich nicht kannte, grün für Deutschland, das weit im Osten lag. Plötzlich erlangte diese grüne Zone eine schlimme Bedeutung: Mein Vater wurde als Reserveoffizier eingezogen.
Nun kamen Briefe, die von langen Märschen durch eine traurige Landschaft mit fremdklingenden Namen erzählten. Sollte dort noch Frankreich sein? Oder war Papa schon drüben? Natürlich nicht. Sein Regiment hielt sich hinter der Maginot-Linie auf.
In der Normandie aufgewachsen, war mir bisher nicht bewußt geworden, daß die Geschichte Elsaß-Lothringens auch im Zusammenhang mit einer Gegenüberstellung zweier Sprachen betrachtet werden konnte. Bei meiner ersten Begegnung mit der deutschen Sprache hatte ich den Eindruck, ein von Tabus umgebenes Thema berührt zu haben.
Einer der traurigsten Abende meines Lebens war der 3. September 1939. Meine Geschwister waren schlafen gegangen, und ich saß mit meiner Mutter am Kamin, unruhig auf die Meldungen lauschend, die eine kalte, sachliche Stimme in kurzen, mit Musik gefüllten Abständen im Rundfunk ankündigte.
»Krieg!«
Erklärungen folgten, die ich nicht mehr hörte. Meine Mutter weinte, und ich fragte verzweifelt:
»Kann man nichts mehr dagegen tun?«
Ich dachte an die Toten, die es geben würde. Auch an Papa. Wie erbärmlich machtlos waren nur die Erwachsenen! Seitdem hasse ich die offiziellen Nachrichten, die schonunglos Ereignisse bekanntgeben, die unwiderruflich sind. Als ich in dieser Septembernacht erschöpft vom langen Weinen einschlief, konnte ich nicht ahnen, was aus den Trümmern meiner kindlichen Welt einmal entstehen würde.
Am Anfang geschah erstaunlicherweise gar nichts. Meine Schwester Colette und ich kamen nach Caen ins Internat. Es war unser Eintritt ins Gymnasium. Wir lernten Englisch, kämpften mit der lateinischen Grammatik und entdeckten die Völker des Altertums. Im Geschichtsunterricht fanden wir, beim Kampf um die Thermopylen angelangt, insgeheim »unseren Krieg« sonderbar. Viele unserer Väter waren an der Front, die Fenster des Internats hatten Verdunklungsvorhänge bekommen, und draußen auf der Straße sahen wir gelegentlich große Plakate: »Wir werden siegen, denn wir sind stärker.« Sonst geschah nichts. Mitten in unserem frommen Zöglingsleben erbat ich mir ein Privileg. Wir gingen, ich glaube dreimal in der Woche, nüchtern in die Frühmesse. Weil ich dort ohnmächtig wurde, trug man mich nach draußen. Später verließ ich rasch den Raum, wenn mir schwindelig wurde, und spazierte durch den Park und den großen Gemüsegarten des Internats. Ich fand bald heraus, daß es sich entschieden besser zwischen Bäumen und jungen Salaten beten ließ als in der engen Kapelle. Ich unterhielt mich auch mit der Schwester, die den Garten versorgte, war über die neuen Pflanzungen bestens informiert und kehrte rechtzeitig zum Frühstück zurück. Die Mutter, die die jungen Zöglinge betreute, duldete anstandslos diese frommen Ausflüge in die Natur. Ich war ihr dankbar. Meine Schwester Colette und ich hatten große Mühe, uns an die Stadt zu gewöhnen. Wir trauerten unserem verlorenen Paradies nach. Wären wir nicht zu zweit gewesen, hätten wir den Schock wahrscheinlich schwer überwunden. Die Bindung zwischen uns wurde dadurch verstärkt, daß wir in derselben Klasse waren; das half uns beiden. Trotz allem blieb das erste Jahr im Internat sehr hart. Es ließ sich einfach nicht leugnen, daß uns mit unseren zehn und elf Jahren die Eltern sehr fehlten. Andererseits waren wir uns darüber im klaren, daß Internat und Gymnasium für uns unabänderlich miteinander verbunden waren: Das Leben im Internat ermöglichte eine Zukunft, die wir uns wünschten. Manchmal weinte ich jedoch nachts unter meiner Bettdecke und dachte an Le Molay. Was tat sich dort, 60 Kilometer von uns entfernt? Unsere Mutter wartete täglich auf Nachrichten von Papa und auch von uns. Wir schickten lange Briefe, die vieles erzählten, ohne zu klagen. Warum hätten wir ihr das Leben noch schwerer machen sollen? Zwei von drei Kücken auf einmal entflogen und der Mann im Krieg; es muß für sie schlimm gewesen sein. Ein Glück, daß wenigstens Michel noch zu Hause war! Hier im Internat umsorgten uns die Nonnen, Ursulinen, so gut es ging. Die Schule machte uns Spaß, obwohl wir beide für die mathematischen Fächer weniger spontane Zuneigung als für die anderen empfanden. Wir begeisterten uns für die Helden von Corneille in Le Cid, bekamen Ballettunterricht und entdeckten Ravel und Debussy... Dann nahm, im sonnigen Mai 1940, der Krieg seinen furchtbaren Lauf. Nachrichten platzten in die Ruhe unseres Klosters: Rotterdam liege in Schutt und Asche, die Deutschen seien in Belgien, hätten die französische Grenze überschritten. Alles überstürzte sich. In Dünkirchen war die Hölle los. Spätere Berichte machten das tatsächliche Ausmaß deutlich: Über den Hafen von Dünkirchen konnten vom 26. Mai bis zum 3. Juni 1940 insgesamt 338 226 alliierte Soldaten nach England entkommen. Ungefähr 200 000 davon gehörten der britischen Expeditionsarmee an. 24 000 französische Soldaten waren dabei. 40 000 ihrer Kameraden fielen oder gerieten in Dünkirchen in deutsche Gefangenschaft.
Die Internatskinder wurden nach Hause geschickt.
In Le Molay fanden wir unsere Mutter damit beschäftigt, vorsorglich Kisten mit allem Möglichen voll zu packen. Der Salon war bereits ausgeräumt und mit fremden Perserteppichen, Gemälden und versiegelten Kisten gefüllt, die Bekannte aus Paris bei uns in Sicherheit gebracht hatten. Am nächsten Tag kam eine ganze Kolonne von Flüchtlingen, die knapp vor der Sprengung der Brücken über die Seine nach dem Süden gefahren waren. Sie sahen müde und verstört aus. Sie erzählten grausame Geschichten von Stukas, die mit gellendem Geheul Tiefangriffe flogen, von deutschen Panzern, die unaufhaltsam vorwärts stürmten, von einem unbeschreiblichen Chaos auf den Straßen, wo Zivilisten und Soldaten mühsam versuchten, sich fortzubewegen. Sie waren von dem, was sie erlebt hatten, noch ganz aufgewühlt. Sie wollten kaum rasten, nur weg, weiter weg. »Wohin?« fragten wir. Das wußten sie nicht. Nach Süden, vielleicht nach Spanien. Am besten wäre es, wenn wir gleich mitführen, ohne die Nacht abzuwarten. Meine Mutter sagte: »Wir haben aber noch nicht fertig gepackt.« Die Flüchtlinge sahen uns verständnislos an, so als ob wir eine ihnen bereits fremd gewordene Sprache benützten, die Sprache von Menschen, die noch ein Zuhause haben, und sie sagten lediglich: »Wir haben die Hölle gesehen und Sie, mit drei Kindern, wollen hier bleiben?!«
Am nächsten Tag fuhren auch wir weg. Es war der 17. Juni 1940. Um Mittag erreichten wir Vire. Die Gegend wurde sehr hügelig, die Straße kurvenreich. Militärkonvois fuhren vorbei. Wir überholten Soldaten, meistens in Gruppen und zu Fuß, die wechselnde Nummern von Regimentern trugen. Wir lasen viele Zahlen, suchten aber in Wirklichkeit nur eine: die 8! Es war das Regiment von Papa. Mama schaltete gelegentlich den Motor aus, wenn wir bergab fuhren, um Benzin zu sparen. Das ruckartige Anlassen, welches sich zunächst wie ein plötzliches Bremsen auswirkte und uns nach vorn schleuderte, das anschließende bange Stottern des Motors, die Gefahren, die wir im Leerlauf in den Kurven witterten, alles hatte auf uns Hintensitzende eine üble Wirkung. Wir waren heilfroh, als die Straße nach SaintHilaire-du-Harcouet ebener wurde und solche Kunststücke nicht mehr zuließ. Am Straßenrand lag zuweilen Kriegsmaterial, das man nicht weiter hatte befördern können. Sogar Kanonen standen dort verlassen: Waren das die Dinge, die uns angeblich stärker als den Gegner gemacht hatten? Bei Louvigne-du-Desert gab es eine Sperre. Während wir warteten, hörten wir, daß Marechal Petain Deutschland um die Bedingungen für einen Waffenstillstand ersucht hatte, hielten aber diese Nachricht für eine falsche, propagandistische Meldung. Man ließ uns weiter fahren. Wir schliefen die erste Nacht, eingehüllt in unsere Decken, auf dem Boden eines Gasthauses. Neben uns lagen völlig fremde Menschen. Es war seltsam. Als wir aber, aufgeschreckt von tieffliegenden Flugzeugen, gegen drei Uhr wach wurden und, von der gleichen Angst ergriffen, gemeinsam in einem Graben Schutz suchten, waren wir plötzlich Gefährten. Der Himmel war voller Sterne, aber die Ruhe hatte uns endgültig verlassen. Wir waren auf der Flucht. Wovor? Vor den Deutschen? Vor dem Krieg? ... Wo war Papa geblieben? An vielen Kreuzungen kamen neue Flüchtlinge hinzu, die alle die Loire überqueren wollten, so als ob dieser Fluß die magische Kraft besessen hätte, dem Schrecken Einhalt zu gebieten. Unsere Fahrt wurde von Minute zu Minute beschwerlicher, langsamer, bis unser Wagen ein winziger Punkt innerhalb einer endlosen Kolonne von Fahrzeugen, Pferdewagen oder gar Handkarren geworden war, die sich im Schrittempo ab und zu vorwärts bewegte. Meine Mutter hatte einige Monate zuvor den Führerschein erworben, und ich frage mich heute noch, wie sie uns in diesem furchtbaren Gedränge heil weiterbringen konnte.
Ich weiß nur noch, daß Michel mit großem Eifer die Handbremse betätigte! Endlich fuhren wir über die Loire, so langsam allerdings, daß wir mit entsetzten Augen in allen Einzelheiten die weiße Schnur, die die Sprengladungen verband, deutlich entlang der Brücke verfolgen konnten. Unter den Brückenbogen sah es vermutlich noch viel aufregender aus! Die Überquerung der Loire änderte wenig an unserer Lage. Es stellte sich heraus, daß wir bald kein Benzin mehr bekommen würden, auch nicht gegen die Butter, die wir mitgenommen hatten. Damit war Gott sei Dank unsere Flucht nach Spanien vereitelt. Während wir so ohne wirkliches Ziel weiterfuhren, entdeckte Mama ein Verkehrsschild, das ihr wie ein Wink des Himmels vorkam: Saint-Jean-d'Angely. Sie hielt den Wagen an, stieg aus und sprach mit dem Fahrer des Lastwagens, der uns seit Le Molay begleitet hatte. Dann fuhren wir alle weiter, Richtung Saint-Jean, bis wir Antezant unweit von Cognac erreichten. Die kleine Ortschaft schien zu schlafen wie zu Friedenszeiten. Plötzlich gab es weder Staub noch Lärm. Die Vögel sangen. Wir fuhren sehr langsam durch eine Allee von herrlichen Bäumen. Um uns eine grüne Welt. Unsere Mutter war auf einer Fährte, und wir schwiegen gespannt. Sie versuchte, alte Erinnerungen wachrufend, den Weg zu einem Gut zu finden, wo sie als junges Mädchen im Ersten Weltkrieg Zuflucht gefunden hatte. Wir sollten bald mehr darüber erfahren. Nach einer Kurve erblickten wir, halb verdeckt hinter Kastanienbäumen, ein wunderschönes, altes Haus. »Da!« sagte Mama, und wir fühlten so sehr ihre Erleichterung, daß auch wir von Dankbarkeit ergriffen waren. Dann stiegen wir mit unserem jungen Hund aus dem Auto. Eine Dame mit weißem Haar stand vor dem Haus. Sie beobachtete uns abwartend, dann lief sie plötzlich zu uns und rief: »Marie-Therese! Wie ist das nur möglich?« Es gab Umarmungen und einige Tränen. Wir wurden vorgestellt. »Arme Marie-Therese!« sagte Monsieur Guibet, der, dem Ruf seiner Frau folgend, zu uns gekommen war. »Alle 20 Jahre das gleiche Malheur wieder! Moment, nein . .., es sind 22 Jahre. Aber egal. Die Menschheit ist nicht zu retten! Kinder, ihr seid sicher halbverdurstet. Kommt schnell, ein Glas vom berühmten hausgemachten Johannisbeersaft von Ma Mie trinken!« Und zu unserer Mutter gewandt: »Du erinnerst dich doch daran, nicht wahr? Ihr habt ihn so gern getrunken damals, du und deine Schwester Simone.« Wir betraten gemeinsam das gemütliche Haus. Man holte schöne Kristallgläser herbei, und wir tranken mit Genuß. Alles schien uns köstlich, nicht nur der zu Recht gepriesene Saft, sondern auch die leicht singenden Stimmen unserer Gastgeber und der liebenswerte Kosename aus der Zeit der Minnesänger, den Monsieur Guibet für seine Frau verwendete. »Ma Mie« »mein Lieb« -, wo hatten wir dies zuletzt gehört? War es nicht in einem Gedicht von Ronsard? Diese Gegend der Charentes abseits der Invasionen, die die Geschichte Frankreichs im Laufe der letzten Jahrhunderte erschüttert und geprägt hatten hatte sich in ihrer Sprache einen altmodischen Charme bewahrt. Hier, im ehemaligen Kulturkreis der schönen »Langue d'oc«, südlich der Loire, haftete den goldenen Regeln der Gastfreundschaft noch der Charakter eines heiligen Brauches an. Wir konnten unsere Mutter immer besser verstehen, die, von der Nostalgie nach einer sicheren Zuflucht getrieben, nach Antezant wie nach einer erhofften Erlösung gesucht hatte. »Daß ihr noch da seid!« sagte Mama zu den Guibets. »Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich mir dies bei unserer Fahrt von Saint-Jean-d'Angely zu euch gewünscht habe!« »Wohin sollten wir denn?« sagte Ma Mie mit ihrer sanften, singenden Stimme. »Schön, daß ihr gekommen seid, Kinder... Nun wird in unserem Haus alles wieder gut.« »Ihr habt wirklich nie vorgehabt, Antezant zu verlassen?« fragte unsere Mutter. »Nein!« antwortete Monsieur Guibet, und es klang fast erstaunt, so als ob er sich diese Frage bis jetzt nie gestellt hätte. »Na, was ist mit euch, Kinder?« rief er. »Ihr könnt ruhig lachen, oder habt ihr beim Geschichtsunterricht nicht aufgepaßt? In unserer Gegend flieht man nicht; das Meer ist zu nah. Man harrt aus und versteckt sich, wenn es unbedingt sein muß, bis bessere Zeiten kommen. Glaubt mir: Nichts ist vergänglicher als anormale Zustände. Sogar die Französische Revolution haben wir überstanden..., und die war nicht von Pappe! Unsere Ahnen, die Chouans, haben sich ganz schön dagegen gewehrt... Ihr wißt schon, wer die >Chouans< waren?« Er imitierte mit beiden Händen vor dem Mund das eigentümliche, langgezogene Kreischen der Eule ehemaliges Feldgeschrei der Königsanhänger. Es klang so perfekt, daß wir lachen mußten. »Na, seht ihr. So gefallt ihr mir schon viel besser. Und euren Papa, den werden wir auch noch finden! Nur keine Bange! Aber, sagt mal, wo habt ihr euren Hund gelassen?« »Okay, Okay!« riefen wir erschrocken, denn unser junger Irish Terrier hieß tatsächlich »Okay«. Man schrieb zwar erst Juni 1940, aber der Name »Okay« war in unserer Familie ein Überbleibsel des Ersten Weltkrieges wieder eines! Papa, damals 14 Jahre alt, hatte sich in Vichy mit Amerikanern befreundet, die der Rot-Kreuz-Einheit der US-Army angehörten. Vichy, bereits 1914 zur Rot-Kreuz-Stadt erklärt, wurde Ende 1917 den Amerikanern übergeben, die alle Hotels der Stadt in Lazarette umfunktionierten, so daß 80 000 Verwundete dort gleichzeitig behandelt werden konnten. Damals hatte unser Vater den Ausdruck »Okay«, den er unkompliziert, vielsagend und lustig fand, oft gehört. Er war ihm eingefallen, als wir nach einem Namen für unseren Hund gesucht hatten. »Damit er in jeder Weise großartig wird!« Unser Terrier wird im Laufe dieser Geschichte noch zu Ehren kommen. Damals, bei den Guibets in Antezant, war er keineswegs okay. Als wir ihn wiederfanden, hatte er soeben ein Huhn gerissen und lief gierig nach dem nächsten. Es gab eine furchtbare Aufregung und ein unbeschreibliches Gegacker auf der Wiese hinter dem Hühnerstall! An die 30 Hühner alle weiß liefen und flogen, von Panik ergriffen, in alle Richtungen und Okay sauste wie ein brauner Teufel kreuz und quer hinterher. Die Federn, die er bereits erwischt hatte, lagen zerstreut am Boden, auch das tote Huhn. Als wir unseren Hund zurückriefen, horchte er zwar für den Bruchteil einer Sekunde, rannte aber gleich weiter, viel zu sehr im Jagdfieber, um gehorchen zu können. Endlich konnte Colette ihn am Halsband packen: Keuchend war er gefangen. Mama entschuldigte sich betreten, aber Monsieur Guibet unterbrach sie: »Was ist schon ein Huhn in dieser verrückten Zeit! Es sind heute leider ganz andere Dinge passiert«, und nach einer Weile: »Diese Terrier sind phantastisch schnell. Ihr werdet Mühe haben, Okay abzurichten, nachdem er diese Jagd so genossen hat.« Herr Guibet sollte Recht behalten. Es gelang uns nie. Anderen Tieren, auch unserer Katze, tat der Hund nichts; sobald er aber ein Huhn sah, ritt ihn der Teufel! Für den Augenblick sperrten wir ihn ein. Der Lastwagen, schwerbeladen mit allem, was wir aus Le Molay mitgebracht hatten, wurde in eine Scheune gefahren. Allein eine lange, schwarze Kiste, die mit zwei Griffen versehen war, wurde heruntergeholt. Sie 'war scheinbar schwer, und die Erwachsenen taten sehr geheimnisvoll, als sie sie ins Haus trugen.
Inzwischen waren Betten hergerichtet worden, richtige Betten mit allem Drum und Dran! Am liebsten hatten wir sie gleich ausprobiert. Wir waren auf einmal ungeheuer müde. Nach französischer Sitte soll aber ein Wiedersehen mit Freunden egal unter welchen Umständen möglichst kulinarisch gefeiert werden. Wir wußten, daß daran nicht zu rütteln war, und fügten uns. Nach der Suppe gab es getrüffelte Entenpastete, eine Spezialität von Ma Mie, immer bereit wie wir hörten für improvisierte Essen, Picknicks und dergleichen. Das Eßzimmer war besonders schön und gemütlich. Wir schlummerten schon halb, während die Erwachsenen von der Vergangenheit sprachen. Was gesagt wurde, klang wie ein Märchen. War unsere Mutter vielleicht Rosenrot? Ich versuchte, alles zusammenzufassen: Zwei junge Mädchen lebten einmal, von ihren Eltern geliebt, sorglos auf einem Gut unweit von Amiens an der Somme. Seit sieben Generationen war die Familie, die aus dem Norden gekommen war, dort seßhaft. Das eine Mädchen hieß Simone; sie war groß, blond, ihre Haut war hell, ihre Augen ebenso. Das andere hieß Marie-Therese; sie war brünett, klein und zierlich, und hatte dunkle Augen. Plötzlich hörte ich genau zu. »Es war eine schlimme Zeit 1914 an der Somme«, sagte Herr Guibet. »Als ich zu euch kam, fühlte ich mich endlich ein wenig zu Hause. Es waren Sommerferien, und ihr, Simone und du, wart aus dem Internat von Amiens nach Boves zurückgekommen. Ihr konntet so nett Klavier spielen! Wenn ihr vierhändig ein neues Stück einstudiertet und zwischendurch lachtet, dann wußte ich, daß es wieder Frieden auf der Welt geben würde. Bis dahin sollte es allerdings noch lange dauern. Ich hatte Angst um euch, deshalb sagte ich zu euren Eltern: >Wenn es hier schlimm werden sollte, kommt bitte zu uns, nach Antezant!< Ende August 1914 näherte sich der Krieg rasend schnell. Zwei Wochen lang rückten die Deutschen nach vorn auf einer Front von fast 200 Kilometern. Die erste Marneschlacht fand im September statt.« »Ich kann mich gut daran erinnern«, sagte Mama. »Am 11. September hatte ich Geburtstag. Unsere Mutter besuchte uns im Internat. Sie hatte es eilig und war sehr traurig. Vater war zwei Tage zuvor eingezogen worden. Man erzählte sich grausame Geschichten von der Marne: Die Deutschen hätten Gewehre, die ständig schießen konnten... Ich fing an zu weinen, aber Mutter sagte: >Gott wird Vater schützen. Seid ruhig und fleißig. Ich werde versuchen, es auch zu sein.<«
»Eure Großmama war eine großartige Frau, Kinder. Ich muß euch eine Geschichte von ihr erzählen... Aber, daß ihr mir trotzdem nachher einschlaft! Es ist fast eine Kriminalgeschichte. Dein Vater wurde, wie du sagtest, Marie-Therese, eingezogen. Alle Männer waren weg. Aber eure liebe Großmama ließ sich nicht unterkriegen. Sie, die früher nicht einmal gewußt hatte, wo ihre Äcker lagen, führte nun das Gut weiter. Ein taubstummer Knecht und eine Magd waren ihr geblieben. Zwei Frauen, Flüchtlinge aus Peronne im Osten, lebten seit kurzem bei ihr und halfen mit. Eine aus der Not entstandene Frauenwirtschaft, wie es in Kriegszeiten immer welche gegeben hat. Und nun paßt auf!
Eure Großmama hatte bald Gelegenheit, ihren Mut unter Beweis zu stellen. Ein Landstreicher kam vorbei. Die Tür stand offen, und er schlich sich ins Haus. Damals streunten gelegentlich hinter der Front üble Gestalten auch desertierte Soldaten. Sie nutzten die Ausnahmesituation, um leere Häuser nach Lebensmitteln, Geld oder Wertgegenständen zu durchsuchen, immer auf der Hut, nicht gefaßt zu werden. Und nun werdet ihr gleich das Wichtigste hören. Eure Großmama kam mit der Magd von der Scheune zurück, wo sie Geräte aufgeräumt hatte. Es dämmerte, aber man sah noch genug, um ohne Licht auszukommen. Sie wollte sich für den Abend umziehen, betrat das Schlafzimmer und sah einen Mann, direkt neben ihr, der die Klappe ihres Sekretärs aufmachte. Eure Großmama war eine stattliche, große Frau aus dem Norden und nicht so leicht zu erschrecken. Der Dieb hörte sie und drehte sich um, so daß ihr keine Zeit blieb zum Überlegen. Sie verabreichte dem Mann eine so schallende Ohrfeige, daß er verdutzt stotterte: >Ich habe nichts genommene >Dann machen Sie, daß Sie schleunigst verschwindend sagte eure Großmama wütend. >Schämen sollen Sie sich! Während alle anständigen Männer an der Front ihr Leben riskieren, Sie...< Er verschwand so schnell, daß er beim Hinausgehen mit der herbeieilenden Magd zusammenstieß. >Ein Mann!< schrie die Magd, als sie wieder sprechen konnte.
>Ein Dieb!< konterte die Großmama, immer noch empört. Ich konnte mir alles gut vorstellen, als die Magd davon erzählte. Inzwischen war eure Großmutter schlafen gegangen, als ob nichts passiert wäre, denn sie mußte sehr früh aufstehen, seitdem sie allein für das Gut verantwortlich war. Und nun würde ich euch raten, ebenfalls schlafen zu gehen...« Dieser Monsieur Guibet war nicht nur ein guter Erzähler, sondern ein Kinderpsychologe mit Phantasie und ein Gastgeber mit Einfühlungsvermögen. Wir schliefen tatsächlich bald ein. Es war ihm gelungen, uns von unserem echten Kummer, der Ungewißheit über das Schicksal unseres Landes, unserer Familie und vor allem über das Verbleiben von Papa für eine Weile zu erlösen. Vor dem Essen war uns bestätigt worden, daß Marechal Petain sich eingeschaltet hatte, um einen Waffenstillstand zu erreichen. Wir hatten auch erfahren, daß die deutschen Truppen Orleans besetzt hatten.
Einige Tage lebten wir so dahin und nicht einmal schlecht, denn die Guibets waren immer bemüht, uns unsere Lage vergessen zu lassen. Ihr Enkel Robert, der damals 17 gewesen sein mag, nahm uns auf sein Boot mit, und wir paddelten die Boutonne entlang unter einem weichen Dach von grünen Blättern, die nachgaben, wenn wir sie streiften. Die Landschaft war eigenartig schön. Man hatte den Eindruck, ein Teil von ihr zu sein, weil man sich in ihrem Grün völlig versteckt und geborgen fühlte. Es war ein anderes Grün als in der Normandie, nicht so strotzend gesund, weicher, wärmer, mit mehr Ocker gemischt als bei uns. Alles schien hier milder, nachgiebiger, unkomplizierter zu sein: das Klima, die Menschen .. . Die Stunden auf dem Wasser zwischen den Trauerweiden, die die Boutonne umsäumten, waren mehr als ein Geschenk sie waren eine Wohltat. Während wir dahinglitten und uns dankbar und willenlos führen ließen, bauten wir unsere Ängste ab und sammelten unbewußt neue Kräfte.
Die Welt, in der wir bisher gelebt hatten, war gefällt worden wie ein Baum, der sich trotz makelloser Rinde in seinem Kern als morsch erweist. Für uns eine abrupte Konfrontation mit der Wahrheit: Noch vor sechs Tagen hatten wir behütet im Internat gelebt! Wieviel festverankerte Anschauungen waren wie ein Kartenhaus zusammengestürzt! Manche unserer Gedanken schwammen einfach dahin, während wir unsere Hände in das lauwarme Wasser der Boutonne tauchten und sie der Wirkung der Strömung überließen. Wir haben damals ziemlich viel Ballast abgeworfen: utopische Selbstgefälligkeit und nationale Verherrlichung zum Beispiel. Es war nicht schade darum, wie wir viele Jahre danach begriffen. Am zweiten Tag fühlten wir uns schon etwas wohler. Tragik ist kein Zustand für Zehnjährige. Wir bespritzten uns während der Fahrt gelegentlich mit Wasser und konnten wieder unbefangen lachen. Unsere Freude wurde aber am dritten Tag jäh unterbrochen. Wir hörten plötzlich in der Ferne ein rollendes, gewaltig anschwellendes Geräusch, das sich wie ein anhaltender Donner vernahm. Wir überließen Robert das Boot und liefen, so schnell wir nur konnten, nach Hause. Im Garten fanden wir die Erwachsenen, in ihrer Mitte die geheimnisvolle Kiste, die aus Le Molay mit unserem Hab und Gut gekommen war und als einziger Gegenstand bei der Ankunft von unserem Lastwagen heruntergeholt worden war. Was sollte nun mit ihr geschehen? Es wurde offensichtlich darüber debattiert. Ma Mie stand dabei, zierlich und ein wenig unbeholfen mit einem schweren Spaten in der Hand. Als wir näher kamen, faßten Monsieur Guibet und Mama jeweils einen Griff der schwarzen Kiste, hoben diese hoch und marschierten, von Ma Mie gefolgt, zu dem großen Kirschbaum. Dann sahen sie uns. »Gut, daß ihr da seid«, sagte Monsieur Guibet beruhigend. »Was ihr hört, sind wahrscheinlich die deutschen Panzer, die bei der Hauptstraße an uns vorbeirollen. Sie kommen nicht hierher.« »Geht ins Haus!« befahl Mama aufgeregt. »Es ist besser, wenn ihr von der Kiste nichts wißt.« Wie angewurzelt, blieben wir stehen. Was nun geschah, von trommelndem Donner begleitet, hatte Ähnlichkeit mit einer Pantomime. Die Kiste sollte anscheinend schnell im Garten vergraben werden. Aber wo? Dort. Nein, hier . .., oder vielleicht da drüben, wo die Erde weicher war? Die Kiste wurde hin und her geschleppt, abgestellt, erneut hochgehoben. Der Sinn dieses Tuns wollte uns Kindern nicht einleuchten. Das Ganze schien uns durch die Wiederholung nahezu komisch. War der Inhalt der Kiste sehr kostbar? War er wert, sich so viel Mühe zu machen und so aufgeregt zu sein? Als die Erwachsenen letztlich die Kiste entmutigt ins Haus zurückschleppten, hatten sie sich mit ihrer Last lediglich im Kreis durch den Garten gedreht. Der Donner hörte langsam auf, und es wurde unheimlich still. »Was ist denn drin?« fragte Michel. »Unser ganzes Silber .. . und Gold«, gab Mama kleinlaut zu. »Also doch eine Sphatztruhe!« rief Michel strahlend. »Aber nein, Kinder, nur unsere Bestecke, Leuchter und alles, •was 'wir aus Silber in Le Molay besaßen.« »Und Gold?« fragte Colette. »Nur Münzen, die wir schon lange haben wie fast alle Franzosen«, sagte Mama, die bereits bereute, uns eingeweiht zu haben. »Sonst nichts?« fragte ich. »Doch!« antwortete Mama mit einem Lächeln. »Eure Kinderphotos. Die wollte ich unbedingt mitnehmen. Jetzt hätte ich sie glatt vergessen!« »Warum wolltest du alles verstecken? Es gehört uns. Die Deutschen werden nichts davon mitnehmen wollen.« »Hoffentlich«, antwortete Mama plötzlich müde. »Ich weiß es nicht. Im Ersten Weltkrieg ist das passiert. Wenigstens habe ich davon gehört. Damals, an der Somme, vergrub jeder, was er konnte.« »Dürfen wir die Photoalben anschauen?« »Aber ja!« antwortete Monsieur Guibet rasch. »Es ist eine glänzende Idee. Nehmen wir sie gleich heraus!« Dann sagte er: »Setz dich hin, Marie-Therese! Du bist ganz blaß.« Und zu uns: »Colette und Nany, ihr packt den anderen Griff. Wir bringen die olle Kiste in den Weinkeller!« Später schauten wir die Photos an. Wie weit schien Le Molay, die Welt unserer glücklichen Kindheit zu sein! Wir wurden zusehends trauriger. Ma Mie sagte zu ihrem Mann: »Willst du nicht den Kindern die Bilder zeigen, wo du einen Rock trägst? Die sind lustig.« Einen Rock? Unsere Augen wurden kugelrund. Die Vorstellung von dem großen Monsieur Guibet mit einem Rock war verblüffend. Karneval feiern die Erwachsenen in Frankreich nicht, und selbst dann? Die Photos konnten uns nicht erheitern. Der Mann, der da mit Röckchen in einer südländisch geprägten Umgebung stand, hatte sich für einen kurzen Scherz mit einer griechischen Uniform verkleidet. »1918, Saloniki / Mazedonien« hieß die handschriftliche Eintragung unter den Photos. Prompt fiel uns ein: »Mazedonien, Perserkrieg, Alexander, 400 vor Christus ...» Anscheinend waren die Menschen im Laufe der Jahrhunderte nicht friedlicher geworden, aber wieso Mazedonien in Verbindung mit einem Krieg gegen Deutschland? Wir erfuhren von einem Bündnis der Franzosen mit den Serben und von einem Herrn Franchet d'Esperey, der eine bunte Armee von Verbündeten geführt hatte. Frankreich, Serbien, Bulgarien, England, Deutschland, Rußland, Österreich . .. Mein Gott war das ein Salat: Das einzig Positive war der letzte Satz von Monsieur Guibet:
»Der Krieg dauerte an dieser Front nicht mehr lange. Als ich im Oktober nach Hause kam, wart ihr beide hier du und Simone.
»Wann war Mama nach Antezant gekommen? Mit dieser harmlosen Frage sollten wir eine Schranke, hinter der schlimme Erinnerungen verstaut waren, öffnen. Plötzlich traten die Erwachsenen als Zeugen, als Zeitgenossen einer vergangenen Periode auf. Ihre Erinnerungen, anscheinend durch die unmittelbare Nähe der deutschen Truppen zum Leben erwacht, überfluteten die Unterhaltung, und alle drei sprachen bald darauf los, uns völlig vergessend. Mama war im April 1918 nach Antezant gekommen. »Bereits dreieinhalb Jahre war die Somme Kriegsschauplatz gewesen, aber im Frühjahr, als die englische Front kurz zusammenbrach, erreichten die Deutschen das Plateau de Sancerre, fünf Kilometer von Boves entfernt«, erklärte Monsieur Guibet. Damals hatte Großmama kurzerhand ihre Töchter gepackt, sie Richtung Antezant gebracht und auf halber Strecke Bekannten übergeben, die sie zu Ma Mie führten. Dann war sie rasch nach Boves zurückgekehrt. »Die Frühjahrsoffensive von Ludendorff hatte inzwischen ein ganzes Arsenal von Neuigkeiten in den Kampf geworfen«, fuhr Monsieur Guibet fort. »Der Krieg war ein Wettlauf mit den wirksamsten mörderischen Techniken geworden.« Wir hörten von Flammenwerfern, von Schrapnell-HaubitzGranaten, von leichten Maschinengewehren, von Gasbomben, von Giftgasen... Wir hörten von verkrüppelten Menschen, von Gasverseuchten, die ein qualvolles Dasein bis zu ihrem Tod fristen mußten, weil ihre Lungen unheilbar geschädigt waren. Wir hörten, daß die Flieger hatten lernen müssen, sich in der Luft zu bekämpfen... Wir liebten Mermoz und Saint-Exupery und hatten mit Leidenschaft Berichte über die ersten Flüge der Menschen über Wüsten, Berge und Meere gelesen eine Welt voller Träume und Poesie. Wie hatte man die Fliegerei so schnell degradieren können? »Die Hölle war vollkommen!« schloß Monsieur Guibet seine Ausführungen ab. »Die Menschen starben wie die Fliegen. Später hat man von achteinhalb Millionen Toten unter den Militärangehörigen berichtet, mit einem Zuschlag von 20 Prozent für die Zivilisten. Eine entsetzliche Bilanz des Wahnsinns!« »Die Bayern waren schlimm«, schaltete sich Mama ein. »Sie kämpften tapfer mit ihrem Kronprinzen und fügten uns im Norden die meisten Schäden zu. Man fürchtete sich vor ihnen, mit ihren Spitzhelmen...« Plötzlich schaute Mama uns an, verstummte erschrocken und legte schnell ihre Hand auf den Arm von Ma Mie. »Wir sollten vor den Kindern nicht so viel erzählen«, sagte Ma Mie. »Es war wirklich töricht von uns«, pflichtete ihr Monsieur Guibet bei, während er uns besorgt betrachtete. »Wir haben uns leider von unseren Erinnerungen überrumpeln lassen. Aber Kinder, diese Zeiten sind endgültig vorbei; es kann nur noch Blitzkriege geben. Vielleicht haben wir sogar schon morgen Frieden!« Der muntere Ton seiner Stimme klang nicht echt. »War der Hof zerstört, als die Großmama nach Hause kam?« fragte einer von uns. »Zum Teil ja«, antwortete unsere Mutter, »aber der Keller, den ihr so liebt, war unbeschädigt.« »Ich kann mir gut vorstellen, daß ihr dort eine Menge anstellen möchtet«, sagte Monsieur Guibet sichtlich erleichtert, ein neues Thema gefunden zu haben. »Auch ich träumte damals davon, den Geheimgang des Königs zu untersuchen. Eure Großeltern hatten mir die Geschichte erzählt, als wir hinunter gegangen waren, um eine alte Flasche Wein auszusuchen. Mein Gott, waren die frühgotischen Bögen da unten schön!« Die Geschichte mit dem Geheimgang, der zum Schloß oberhalb der Ortschaft geführt hatte, war spannend. Möglicherweise würden wir jetzt Neuigkeiten erfahren, die uns bei unserem Vorhaben weiterhalfen: Wir wollten den Gang, der in den Keller der Großeltern mündete und vermauert war, irgendwann freilegen. Wir sahen uns bereits wie die Sioux behutsam vorwärts schleichend. Daran erinnert zu werden war schön, weil es unseren Träumen von verborgenen Schätzen und gruseligen Funden neue Nahrung gab.
Der Geheimgang hatte folgende Bewandtnis: Der legendäre Henri IV., König von Frankreich, unser erster Bourbone, hatte diesen inzwischen zugeschütteten Weg angeblich öfter benutzt, um seine schöne Geliebte, die Marquise Gabrielle d'Estrees, zu besuchen. Das war um 1600 gewesen. Man hatte damals Krieg gegen Spanien geführt, aber anscheinend einen gemütlichen Krieg, denn der bedeutendste der vielen französischen Heinriche hatte nebenbei Zeit gefunden, eine schöne Frau zu lieben. Daß es im Leben des Königs eine Menge solcher schöner Frauen gegeben hatte, wußten wir schon, aber das hatte den Reiz unseres Geheimganges nicht gemindert und unserer Sympathie für Henri IV., den Helden voller Bravour und Geist, keinen Abbruch getan. In Boves hatten wir noch von einem kleinen Bastard gehört, der beinahe König geworden wäre. Lauter aufregend romantische Geschichten!
Und nun hätten wir wie brave Kinder sofort schlafen müssen! Weil ich Durst hatte, trödelte ich noch ein wenig in der Nähe der Küche herum. Ich hörte unsere Mutter beim Aufräumen leise mit Ma Mie reden:
»Wie mag es nun in Boves aussehen? Am Abend vor unserer Abreise aus Le Molay wurde uns von Flüchtlingen erzählt, daß die 7. und die 10. französische Armee den Versuch unternommen hatten, die Deutschen an der Somme aufzuhalten.« »Arme Gegend!« sagte Ma Mie. »Es ist fast ein Glück, daß deine Eltern das nicht mehr erleben müssen.«
Während ich zu Colette und Michel ging, dachte ich nach. In Boves war der Hof längst verpachtet. Großmutter, über die wir in Antezant viel erfuhren, war ziemlich jung an einem Herzversagen gestorben. Wir wußten, daß sie bereits mit 18 geheiratet hatte und unter anderem 80 weiße Tauben mit in die Ehe gebracht hatte. Dies hatte unsere poetische Vorstellung der Großmutter mit den sanften, hellen Augen bildlich untermalt, so als ob die Tauben damals ihren weißen Schleier im Flug mit ihren Schnäbeln gehalten hätten, während sie dem Großvater langsam entgegenschritt. »Wie alt war denn Großmama, als dieser Krieg anfing?« fragte ich meine Geschwister, die bereits im Bett lagen. Wir rechneten nach: knapp 30 Jahre. »Oh!« sagte Michel erstaunt, »eigentlich jung, jünger als Mama jetzt. Ich finde, sie war verdammt mutig.« Wir waren alle drei stolz, daß es in unserer Familie eine solche Frau gegeben hatte. Dieser beglückende Gedanke ließ uns rasch einschlafen, aber der Schlaf spendete uns in dieser Nacht wenig Ruhe. Er beschwor im Gegenteil wirre Bilder, die scheinbar ohne logischen Zusammenhang rasch aufeinander folgten, bis das ganze Kaleidoskop des Schreckens in einen furchtbaren Alptraum ausartete. Ich erwachte schweißgebadet und war froh, daß alles um mich dunkel war. Die Nacht liebte ich in der Überzeugung, daß die Natur den Menschen nur Schönes schenken kann. Allerdings war diese Nacht keine gewöhnliche Nacht. Das dröhnende Geräusch der deutschen Panzer hatte mich unmittelbar zuvor im Traum erschreckt, und der Lärm schien noch in meinen Ohren zu hallen. Ich lauschte gespannt... Nein, es war wirklich still. Dann meldeten sich nach und nach Fragen, die alle nicht beantwortet werden konnten. Lebte Papa noch? Wurde das Haus in Le Molay zerstört? Das Haus in Boves wieder zerstört? Was hatte sich alles ereignet, während wir in Antezant lebten? Wo waren nun die Deutschen? Lauerten sie irgendwo in der Nähe? Wie sahen sie aus?
Am 25. Juni 1940 wurde ein Waffenstillstand mit Deutschland vereinbart, am 26. Juni mit Italien. Am 27. Juni verließen wir Antezant.