Rückkehr nach der Flucht in den Süden

Unsere Rückfahrt in die Normandie begann unter chaotischen Bedingungen. Die Straßen waren überfüllt. Nur die Richtung hatte sich radikal geändert: Jeder fuhr nach Norden, zurück in die Heimat. Wir hatten den Tag für diese lange Fahrt wieder bestens ausgesucht: Die Rückwanderungswelle schien ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Die Kolonne, in die wir eingeklemmt waren, geriet ins Stocken. Die Menschen um uns sahen müde, verbissen, ängstlich aus. Niemand lachte. Auf einmal standen wir.
Unmittelbar neben uns, in der Öffnung unseres rechten Fensters, sahen wir zwei merkwürdige, nierenförmige Schilder, die, an Ketten befestigt, auf der Brust von Soldaten in grau-grünen Uniformen hingen. Waren die Buchstaben in deutscher Schrift und hieß die Inschrift vielleicht »Feldgendarmerie«? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls sah das Ganze so fremdartig aus, daß wir sofort instinktiv wußten: Das sind die Deutschen!
Wir hatten zuvor die Autofenster heruntergekurbelt, weil uns die Hitze bei dem geringen Tempo der Kolonne fast unerträglich erschienen war. Wir fühlten uns nun schutzlos dem Blick der Soldaten ausgeliefert, unfähig auszuweichen, und trauten uns nicht aufzublicken. Ein blonder Kopf bückte sich lächelnd zu uns, und unmittelbar danach reichte uns eine Hand eine angebrochene Tafel Schokolade. Wir saßen noch immer wie versteinert.
»Ja, ja!« sagte die Stimme des blonden Soldaten beruhigend und im Lärm des Verkehrs nur für uns vernehmlich. Unsere Blicke richteten sich zaghaft nach oben. Zwei junge Soldaten schauten uns fröhlich und — wie wir mit Erstaunen feststellten um Sympathie werbend an. Weil der Wagen anfuhr und wir bezüglich der Schokolade noch keine Entscheidung getroffen hatten, landete plötzlich die Tafel im Auto. Mama, zu sehr mit dem Fahren beschäftigt, hatte nichts bemerkt. »Die Deutschen haben uns Schokolade geschenkt«, sagten wir noch ganz verdutzt. »Wie?« fragte Mama entsetzt. »Durch das Fenster.« »Woher wißt ihr, daß es Deutsche waren?« »Nur so, und sie haben >Ja, ja< gesagt.« »Ihr werdet doch nicht Schokolade von den Deutschen angenommen haben!« »Wir haben es nicht. Sie haben uns eine Tafel ins Auto gelegt.« »Um Gottes willen!« sagte Mama, der eine solche Geste nicht ins Konzept passen wollte. »Eßt bitte nicht davon! Sie könnte..., also ich weiß es nicht...., aber sie könnte vielleicht doch vergiftet sein.« Wir schauten die Tafel an. Ein Stück davon war abgebrochen. Okay, der süße Sachen gern mochte, schnupperte in die Richtung der Schokolade, als ob es etwas besonders Leckeres wäre. Wir gaben ihm ein Stückchen, das er verschlang, und dann war uns bange, weil wir zu schnell gehandelt hatten. Würde unser Hund nun sterben müssen? Er tat es nicht, sondern wollte mehr haben. Mama, krampfhaft auf das Fahren konzentriert, kümmerte sich nicht um uns. Auf einmal gab es keine Schokolade mehr. Wir hätten nicht sagen können, wer sie gegessen hatte. Der Hund allein war es nicht gewesen! Nach einer Weile sagte Michel: »Ihre Helme hatten keine Spitzen. Sie waren ganz rund oben.« »Natürlich, du Dummkopf«, sagte Colette. »Die waren doch nur in dem Krieg 1914/18 mit Spitzen!« »Sei nicht so eklig!« antwortete Michel, der beleidigt einen der unzähligen Gegenstände, die um uns herum lagen, nach Colette warf. Colette wehrte ab und traf mich mit ihrem Ellbogen. »Du nimmst überhaupt zuviel Platz ein«, stellte ich verärgert fest. »Und ich habe es satt, in der Mitte zu sitzen«, konterte Colette wütend. »Jetzt will ich wieder einen Platz am Fenster.« In dem engen, überladenen Fond unseres Renaults war auf einmal dicke Luft. Die Spannung von vorhin entlud sich. »Seid endlich still!« sagte Mama. »Wir werden die Plätze wechseln, wenn wir die Ladung umbauen können; dann kommt Michel wieder nach vorne, wie bei der Hinfahrt. Im Moment dürfen wir nicht halten. Es fährt sich gerade gut.« Und sanfter: »Kinder, seid lieb! Ich weiß, die Fahrt ist lang für euch; für mich aber auch. Ich brauche Ruhe.« Plötzlich hielt die Kolonne an. Mama bremste abrupt. Colette, Michel, ich und Okay flogen gegen die vorderen Lehnen. »Oh!« sagte Mama. »Ich wäre beinahe hineingefahren! Was ist denn vorne los?« Am Straßenrand standen in einiger Entfernung von uns zwei Militärautos und daneben eine Gruppe von acht Deutschen in Uniform, die solche Schilder mit Ketten auf der Brust trugen, wie die, die wir vorher beobachtet hatten. Zwei Offiziere waren dabei, sehr groß und schon älter. Mit ihren vielen Ketten, ihren strengen Helmen, ihren Gürteln, ihren Stiefeln und allem, was uns zu blitzen schien, machten uns diese uniformierten, ernsten Deutschen — im Gegensatz zu den zwei jungen von vorhin Angst. Sie sahen martialisch aus, unnahbar, wie Herolde, die Wappenschilder eines düsteren, weit entfernten Reiches trugen. Wir fröstelten. Die Deutschen verteilten sich, und unmittelbar danach fuhr eine ganze Reihe uns entgegenkommender Fahrzeuge zügig an uns vorbei. Dann näherten sich zwei Deutsche, davon ein Offizier, unserer Kolonne. Es wurde uns angedeutet, daß wir zu fahren hatten. Die Autos vor uns setzten sich prompt in Bewegung. Unser Renault hüpfte lediglich. Mama hatte in der Aufregung vergessen, die Handbremse zu lösen! Dann schössen wir nach vorne, an zwei lachenden deutschen Gesichtern vorbei. Der Offizier winkte uns sogar fröhlich zu. Unsere Verwunderung war groß. In der Gruppe schienen die Deutschen keine eigenen Gesichter zu besitzen. Kam man ihnen jedoch näher, dann waren sie in der Lage, Humor zu zeigen. Waren sie am Ende vielleicht gar nicht so sehr anders als wir? Dieser Gedanke kam mir so konkret formuliert natürlich erst später.
Es sollte in den Jahren 1940 bis 1944 mehr Haß zwischen Frankreich und Deutschland gesät werden als je zuvor. Aber Menschen hatten dabei die Möglichkeit, sich zu begegnen und durch persönliche Kontakte eigene Erfahrungen zu sammeln. Je mehr wir uns der Normandie und unserer engsten Heimat, dem Departement Calvados, näherten, desto unerträglicher wurde die Spannung. Endlich erreichten wir eine kleine Ortschaft, die sich bereits in dem Milcheinzugsgebiet unserer Molkerei befand. Mama sprach in Angst vor den schlechten Nachrichten, die sie möglicherweise dadurch erfahren würde zaghaft Leute an, die zufällig am Straßenrand standen. Sie schauten uns verwundert an. »In Le Molay ist alles in Ordnung. Warum fragen Sie?« »Wird die Milch jeden Tag eingesammelt?« »Aber natürlich. Nur drei Tage hat es nicht geklappt; es ist schon länger her.« Und dann leicht mißtrauisch: »Warum wollen Sie das wissen?« Unsere Mutter sagte, wer sie war. Die Gesichter erhellten sich. »Der Herr Direktor ich meine Ihr Mann, Madame ist auch wieder da«, sagte die Frau. »Die haben ihn vom Militär, wegen der Fabrik, nach Le Molay geschickt, kurz bevor die Deutschen einmarschiert sind.« »Mein Mann ist in Le Molay?« wiederholte Mama ungläubig. »Aber ja!« sagte der Bauer fast feierlich. »Monsieur B... ist wieder da.« »Papa!« riefen wir zusammen. Auch unsere Gesprächspartner waren gerührt. Eine Weile sprach niemand. »Wie lange sind Sie schon unterwegs?« fragte der Mann. »Seit dem 17. Juni.« »Dann muß Ihr Mann gleich danach zurückgekommen sein.« »Wollen Sie nicht ein Glas Cidre trinken, bevor Sie weiterfahren?« schlug die Frau vor. »Wir wohnen gleich um die Ecke.« »Es ist nett, aber wir wollen schnell nach Hause.« »Hast Du gehört, Okay?« sagte Michel, unseren Hund tätschelnd. »Zu Hause ist alles in Ordnung! Man braucht sich keine Sorgen mehr zu machen.« Jeder lachte, und wir fuhren weiter. Am Anfang redeten wir aufgeregt durcheinander, dann san26 gen wir wie verrückt. Wir schienen alle beschwipst vor Freude zu sein. Unmittelbar vor Le Molay wurden wir still: Wir saugten die bekannte Landschaft mit allen Fasern unseres Wesens auf und freuten uns über jede wiedererkannte Einzelheit. Als wir das Tor zu dem eingezäunten Fabrikgelände erreichten und unser Haus mitten in seinem gepflegten Garten sahen, erblickten wir zwei auffällige Holztafeln, die mit einem unverständlichen, ziemlich langen Text und mit Stempeln versehen waren. Was sollten diese Schilder hier? Bald hatten wir sie vergessen. Es gab Wichtigeres: Papa war zu Hause. Die Welt stimmte endlich wieder! Am nächsten Tag beim Frühstück fielen uns die Tafeln wieder ein, und wir fragten Papa danach. »Wir haben sie anbringen lassen müssen«, antwortete er, »weil wir hier keine Ruhe hatten. Die deutschen Soldaten benahmen sich zwar nicht schlecht, aber sie kamen oft in die Fabrik. Niemand verstand sie, und sie liefen so herum.« »Wovon sprecht ihr?« fragte Mama. »Ich habe keine Tafeln gesehen.« Wir gingen gemeinsam zu dem Tor und schauten die großen, weißen Holzschilder mit der deutschen Beschriftung stumm und eigenartig betroffen an. Später habe ich beide Texte genau abgeschrieben: »Betreten und Besichtigung der Fabrik für Soldaten ohne Genehmigung der Ortskommandantur verboten.« »Verkauf von Käse und Butter an einzelne Soldaten verboten, Verkauf nur im Ladengeschäft.« »Was heißt >verboten<?« fragte ich. »Dieses Wort werdet ihr öfter sehen«, belehrte uns Papa, »interdit heißt es. Kommt! Ich zeige euch ein anderes Schild.« Wir gingen über die Straße bis zur Eisenbahnlinie. Dort war an einem Telefonmast ein Schild in französisch befestigt: »Residence surveillee. Bewachter Wohnbezirk. Sperrgebiet von der Eisenbahn bis zum Meer. Nur mit Sondergenehmigung zugänglich.« Wir schauten uns entgeistert an. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, erklärte Papa. »Nachdem wir an der Grenze wohnen, dürfen wir praktisch jederzeit hinüber. Bis jetzt bin ich nie kontrolliert worden. Wie weit wir gehen dürfen, weiß ich allerdings nicht.« Drüben, in der verbotenen Zone, stand die Kirche von Le Molay. Unsere Schule, das Haus unserer besten Freunde..., ja 27 die ganze Ortschaft war eigentlich drüben..., und weiter, viel weiter das Meer, »unser Meer«. Nichts hatte sich in Le Molay geändert, und doch schien alles anders geworden zu sein. »Wie kommst du mit den Deutschen aus?« fragte Mama. »Nicht schlecht bisher«, antwortete Papa. »Sie benehmen sich korrekt und höflich. Eine merkwürdige Armee von Fachleuten ... Sie haben die Fabrik sehr gelobt, aber ich bin nicht sicher, daß es für uns gut ist.« »Warum?« »Ich weiß es noch nicht. Laßt uns nach Hause gehen!« sagte Papa, und wir wußten, daß er vor uns nicht reden wollte. Das Leben organisierte sich. Wir hatten so schlimme Befürchtungen mit uns herumgetragen, daß wir erstaunt waren, wie glatt alles ging. Die Erwachsenen betonten immer wieder, wie »korrekt« die Deutschen sich benahmen. »Sie haben Anweisungen«, hieß es. »Nur abwarten«, sagten die Pessimisten. »Ihr wahres Gesicht werden sie noch zeigen.« Unsere Eltern sprachen vor uns wenig darüber. Sie benahmen sich abwartend und wollten, daß wir unsere Sommerferien trotz allem genossen. Sie luden Kinder ein, vor allem unsere Freunde Morice. Es gab in diesem Sommer eine besonders gute Beerenernte. Wir pflückten mit Begeisterung Himbeeren und aßen viele davon. Zu Hause reihten sich die rubinroten Marmeladengläser, und es duftete köstlich. Papa ließ so viel Zucker kommen, daß wir zwei große Milchkannen damit füllen konnten; solche Mengen von Zucker hatten wir noch nie gehabt! Vater versuchte, diese Vorsichtsmaßnahme zu rechtfertigen, und Mama pflichtete ihm bei: »Der Quittenbaum ist voller Früchte; wir werden im Herbst viel Gelee und Konfekt machen.« Auch Prinzeßbohnen gab es im Garten in Fülle. Mama legte sie sorgfältig in Gläser ein. Es war wie eine Invasion von selbstgemachten Konserven. Als die Spargelsaison anfing, kaufte man eiligst neue Gläser ein. Sie waren rar geworden. Wir bekamen die letzten. Spargelausstechen gehörte zu jenen begehrenswerten, schwierigen Aufgaben, für die wir bisher als zu jung gegolten hatten. Plötzlich durften wir diese Tätigkeit ausüben, ja, man bat uns sogar darum. Waren wir auf einmal älter geworden, oder mußten die Erwachsenen jetzt mit so viel anderen Dingen beschäftigt uns notgedrungen einen Teil ihrer Befugnisse überlassen? Alle schienen in der letzten Zeit überfordert. Auch 28 Thomas, der den Garten versorgte, Antoinette, die bei uns half, und Mademoiselle Renee, die zum Nähen und Bügeln kam. Niemand hatte mehr Zeit zu plaudern. Der September kam mit dem doppelten Geburtstag von Mama und Michel; wie jedes Jahr war das Haus mit Riesensträußen bunter Dahlien angefüllt. Wie schnell war der Herbst gekommen! Es war Zeit für Colette und mich, ins Internat zurückzukehren. Papa brachte uns nach Caen. Michel durfte noch ein Jahr zu Hause bleiben. In »Sainte Ursule« verfügten wir noch nicht über die Standhaftigkeit der älteren Jahrgänge, die den Betrieb auswendig kannten, aber ganz neu waren wir auch nicht mehr. Im großen Schlafraum wurde uns als Geschwistern sogar eine doppelte Zelle zugeteilt das heißt, ein Raum, der vom übrigen Geschehen durch weiße Vorhänge von drei Seiten abgeschirmt werden konnte. Die Wand mit einem Fenster bildete die vierte Seite. Wir fühlten uns damit entschieden mehr zu Hause als im ersten Jahr, als wir noch zu den Kleinen gehörten, die in der Mitte des Schlafsaals leben mußten, von allen Seiten zu sehen. Auch hatten wir dieses Jahr die Möglichkeit, nach Belieben zwischen musischen Fächer zu 'wählen. In gewohnter und doch erstaunlicher Übereinstimmung entschieden sich Colette und ich für Malen und Zeichnen. Mit unserer Wahl begegneten wir einer bemerkenswerten Frau, die uns einen goldenen Schlüssel anvertrauen würde: Marguerite-Marie Leboeuf! Sie besaß eine Wohnung und ein großes Atelier in dem schönen, uralten Haus, wo Malherbes, der Hofdichter von Henri IV., im Jahr 1555 geboren war (schon wieder der König mit der schönen Gabrielle, dachten wir belustigt!). Unsere Lehrerin war eine bekannte Malerin, eine Meisterin im Aquarellieren. Wir waren von ihr fasziniert. Die Sehnsucht nach dem harmonischen Reich aus Formen und Farben, zu dem sie einen leichten Zugang zu haben schien, würde uns ungeahnte Freude bescheren. Den Stunden, die wir vier Jahre lang im Haus von Malherbes verbrachten, haftete ein Erleben von seltener Intensität an. Ist aber nicht alles von erstaunlicher Tiefe, was man zwischen zehn und 18 Jahren empfindet? Jeden Tag marschierten wir mit unseren Schulranzen in der Hand durch die Stadt, denn der Unterricht fand nicht im Internat statt, sondern neben der Sankt-Peter-Kirche, ziemlich im Zentrum von Caen. Mit dem häufigen normannischen Regen, mit dem Wind, der vom Kanal her durch die schmalen Straßen 29 der Altstadt blies, bereitete uns im Winter der lange Weg zu Fuß nicht immer Vergnügen. Zweifelsohne war er aber für uns eine willkommene Abwechslung. Das Treiben der Stadt fügte sich in unser fromm-pflichtbewußtes Leben von Internatszöglingen wie eine interessante exotische Würze ein und vermittelte unserem Alltag einen Hauch von brennender Aktualität. Neu unter unseren Bürgersteigbegegnungen waren die Deutschen. Merkwürdig, daß wir sie nicht als Kriegsherren antrafen, sondern, mit allen möglichen Paketen beladen, als eifrige Einkauf sbummler. Der Ausverkauf Frankreichs hatte begonnen! Neugedruckte Geldscheine wanderten in die Kassen der kleinen Händler, die sich des Segens der schnellen Käufe der Deutschen nicht zu erwehren wußten. Offiziere und Soldaten schleppten die von ihnen ehrlich erworbene Beute an uns vorbei. Altbewährte Ware wurde zu Papier (bei einem Wechselkurs von 1 zu 20). Lederkoffer waren begehrt; sie hatten den Vorteil, als Behältnisse für andere Schätze zu dienen. In den übrigen Päckchen ließ sich vieles vermuten. Sogar eine Harfe begann eines Dezembertages vor unseren erstaunten Augen am Trottoir der Rue Saint-Jean ihre beschwerliche Reise nach Deutschland; ein Feldwebel in grau-grüner Uniform umarmte sie selig. Wir marschierten tagein tagaus in Reihen von je zwei Schülerinnen, gut 60 insgesamt, und bildeten damit eine lange wandernde Schlange. Vorn gingen zwei Nonnen, hinten eine. Wir entwickelten bald eine Technik, die die deutschen Uniformierten zwang, sich mit ihren Einkäufen an die Wand zu drücken oder das Trottoir zu verlassen, während unsere Kolonne, mit Schulranzen bewaffnet, den schmalen Bürgersteig besetzte. Vor allem wenn es sich um Offiziere handelte, empfanden wir einen diebischen Spaß, den die Nonnen uns gelegentlich aus Angst verdarben. Alberner Krieg ohne Sinn und Bedeutung; denn der trotzige Blick unserer Kinderaugen verursachte lediglich kurzes Erstaunen im Vorbeigehen. Augen, oft hell wie die unseren, schauten uns den Bruchteil einer Sekunde fragend an. Sehr selten reagierten unsere Gegner mit Worten, die wir ohnehin nicht verstanden. Mehr Respekt flößte uns die Besatzungsmacht ein, wenn sie singend an uns vorbeimarschierte. Die rhythmischen Lieder, ohne falsche Töne gesungen, die tadellose Disziplin der Schritte der jungen Soldaten imponierten uns unwillkürlich. Die Nonnen sahen solche Begegnungen nicht gern. Die meisten Schülerinnen gingen zwar besonders aufrecht und still neben den Sol30 daten, auch wenn diese, belustigt über den Anblick eines Mädchenpensionats, nach ihren Liedern gelegentlich pfiffen. Ich dachte an unseren stolzen Wilhelm, dessen mittelalterliche Burg ganz in der Nähe über die Altstadt wachte. Wie hätte er getobt, der »Eroberer«, wenn er fremde Stiefel auf den normannischen Boden hätte hämmern gehört! Wo waren die roten Fahnen mit den goldenen Leoparden geblieben, die die Burg von Caen ehedem schmückten? Wir sprachen unter uns Mädchen in der letzten Zeit öfter von unserem ruhmreichen Herzog. Der Titel, den er nach der Eroberung Englands getragen hatte, bedeutete uns ohne Zweifel Trost. Es war nichts anderes, als eine kindliche Flucht vor der Wahrheit in die Legende. Als Normannen waren wir nicht unterlegen gewesen deshalb fühlten wir uns gerne als Normannen und konnten somit die Gegenwart überspielen. Mitte Dezember kam ein trauriger Brief von Mama. In Le Molay hatte man unsere schmucken weißen Pfautauben innerhalb von zwei Tagen alle schlachten müssen. Befehl der Kommandantur von Bayeux, unter Androhung schwerer Strafe. Fürchtete man sich vor Brieftauben? Die Anordnung galt vorsichtshalber für alle Arten von Tauben. Unsere schneeweißen Pfautauben, die Attraktion der Umgebung, waren jedoch zu einfältig, um Briefe nach England zu schleppen. Dafür konnten sie wunderschön radschlagen, hielten still, wenn man im richtigen Ton turtelte, und flogen danach mit einer unnachahmlichen Grazie weg. Es gab andere Bestimmungen, die auf lange Sicht viel schwerwiegender waren, uns Kinder aber nicht störten: Allgemeines Ausgehverbot zwischen 19 Uhr abends und 7 Uhr früh. Schließung aller Bars und Restaurants um 19 Uhr, ausgenommen die für deutsche Militärangehörige reservierten Lokale. Am 23. Dezember fuhren alle Internen, Caen und die sanfte Obhut der Ursulinen verlassend, nach Hause. Die sonst so heitere Welt der Ferien fanden Colette und ich diesmal nicht. Wir hatten bei unserer Ankunft nur das Weihnachtsfest im Sinn, aber von Weihnachten war zu Hause nicht im geringsten die Rede. Jeder sprach von der Rettung des Schlosses von Le Molay! Dieses Schloß, das seit Jahren einen Dornröschenschlaf hinter seinem schönen Barockgitter schlief, weil niemand es bewohnte, war mit Schrecken erwacht. Die Deutschen waren dort einquartiert, und sie versuchten,  die durchdringende Kälte seiner Räume zu vertreiben, indem sie anfingen, alles in die offenen Kamine zu werfen, was ihnen brennbar erschien. Es gab im Schloß eine Unmenge sehr alter Bücher! Ein deutscher Leutnant, zu Friedenszeiten Notar in Bayern, rannte erregt zum Leiter der Volksschule von Le Molay und bat ihn, schnell etwas zu unternehmen. Er wäre bereit, sich persönlich einzusetzen, um eine Genehmigung des Ortskommandanten zu erwirken, wenn die Gemeinde den Abtransport der Bücher organisieren würde. Am nächsten Tag fuhren zwei vollgepackte Lastwagen durch das Tor unseres Fabrikgeländes. Die Bücher waren gerettet. Wir blätterten darin voller Bewunderung, während sie sorgfältig in einem Speicher verstaut wurden. Die Männer erzählten uns, daß die Deutschen dabei waren, im Schloß einen großen Weihnachtsbaum zu schmücken. Waren es wirklich die gleichen Soldaten, die sich gedankenlos benommen hatten? Einer von ihnen hatte aber den Mut gehabt, sich gegen seine bequemen Kameraden zu stellen, um alte Bücher, Zeugen einer ihm fremden Vergangenheit, zu schützen. Warum hatte sich dieser Offizier verantwortlich gefühlt? Weil er als Notar der mutwilligen Zerstörung unersetzbarer Urkunden nicht untätig zusehen konnte? Weil er mehr Bibliophile als Soldat war? Oder vielleicht, weil er ein Mensch war, der über den Augenblick hinaus in die Zukunft dachte? Ein Humanist im schönsten Sinne des Wortes, der Achtung vor seinen Mitmenschen und Solidarität mit ihrer Kultur auch in Ausnahmesituationen nicht verleugnen wollte? Die Deutschen waren inzwischen bei uns zum wiederholten Tischgespräch avanciert. Nun beschäftigte meine Eltern die Frage: Warum hatten die Vorgesetzten des »Nur-Leutnants« die von ihm eingeleitete Rettungsaktion unterstützt? Von nun an schien es uns unmöglich, alle Deutschen pauschal zu beurteilen. Ebenso unmöglich war es allerdings, die Deutschen aus unserem täglichen Leben wegzudenken: Sie waren überall. Unweit des Schlosses der Lecoulteux du Molay wohnte ein älteres Ehepaar mit zwei erwachsenen Töchtern. Er: ein ehemaliger Offizier der Kavallerie, aufrecht und schlank wie in einem Bilderbuch; sie: feingliedrig und sanft mit der Haltung einer Königin, wenn die langen Kleider, die sie zu jeder Tageszeit trug, die Treppe ihres großen Hauses wie eine Schleppe streiften. Nie hatte mich ein Ehepaar in meiner Kindheit mehr faszi32 niert als dieses. Monsieur und Madame d'Estel bewegten sich wie die Helden meiner Phantasie. Was sie sagten, was sie taten im selben Augenblick hatte ich es von ihnen erwartet oder mir gewünscht. Alle Jahre hindurch haben sie keine Geste angedeutet, die nicht perfekt zu der Rolle gepaßt hätte, die sie zu spielen schienen. Nur war dies keine Rolle. Die d'Estels lebten überzeugend ein Leben abseits des Alltäglichen. Abseits der Hauptstraße stand auch das schöne weiße Haus, das sie bewohnten. Eine geheimnisvolle Allee von jeweils zwei Reihen alter Bäume führte dorthin. Diese Baumreihen setzten sich auf Erdwällen fort, die, wie überall in unserer Boccagelandschaft, jedes Feld und jede Wiese umsäumten. Bis zu anderthalb Metern hoch waren diese Schutzböschungen, die seit Jahrhunderten unsere Gegend »Bessin« in kleine Rechtecke teilten. Breite Tore aus Baumstämmen, die sich, richtig verankert, mit ihrem Gewicht leicht öffnen ließen, riegelten die Wiesen ab. Notwendig, um die Kühe durchzulassen, wenn die Bauern sie von einer Wiese in die nächste führten, stellten sie ein echtes Problem bei unseren Versteckspielen dar, denn dort, wo die Tore angebracht waren, mußten wir herunterklettern und konnten dabei gesehen werden. Dreieinhalb Jahre später sollten in dieser unübersichtlichen normannischen Landschaft mörderische Panzerschlachten stattfinden. Nichtsahnend, daß viele Menschen in diesem grünen, buschigen, waldigen Landstrich ihr Leben lassen würden, betrachteten wir ihn damals als ein ideales Gelände für Spiele mit wechselnder Rollenverteilung als Gallier und Normannen oder Piraten und Prinzessinnen. Der ländliche Besitz der d'Estels bot dazu einen besonderen Vorteil: Die doppelte Bepflanzung, die ihm eigen war! Dazwischen konnte man sich fast ungesehen bewegen und von oben herab die Gegner entdecken. Dort trafen wir oft die Morice-Kinder, die in der Nähe der Familie d'Estel wohnten. Die Freundschaft zwischen unseren drei Familien hat in unserer Jugend eine wichtige Rolle gespielt; mit ihr bleiben für mich viele Erinnerungen verknüpft unter anderem die Teegesellschaften in dem weißen Haus vor dem Krieg. Um fünf Uhr wurde uns wie den Erwachsenen Tee im zierlichen Porzellan angeboten. Es hatte keine alberne Schokolade gegeben. Nach dem Tee pflegte der Hausherr, von den Gästen begleitet, galant seine Frau vom Tisch in den nächsten Salon zu führen. Madame d'Estel setzte sich neben ihre Harfe und  rückte ihren langen Rock zurecht,  während die ältere 33 Tochter ihr Violoncello stimmte oder sich an den Flügel setzte. Hausmusik war in unserer Umgebung unbekannt, so war dies seltsam wie alles, was die d'Estels taten. Nachdem die Erwachsenen im Musikzimmer die Louis-XVLSessel in Beschlag genommen hatten, setzten sich die Kinder auf den weichen Teppich. Ich war bemüht, in der Nähe der Harfe Platz zu nehmen, und betrachtete voller Bewunderung die schlanken Finger von Madame d'Estel, die so wunderschöne Töne hervorzauberten. Auch die Wirkung ihrer kleinen Füße, die unter dem langen Rock die Pedale betätigten, war unerwartet. Ich hätte stundenlang zuhören und zusehen können. Die Musikalität unserer Gastgeberfamilie war übrigens ein Segen für die ganze Gemeinde. Denn die Damen d'Estel spielten bei den Gottesdiensten Orgel auf der Empore der Kirche von Le Molay. Die Mutter hatte es jahrelang getan, jetzt war die Tochter an der Reihe, beziehungsweise die Töchter waren es, denn die jüngere, die kinderliebe und sportliche Christiane, betätigte mit Hingabe den Blasebalg, während ihre ältere Schwester spielte. Auch am Weihnachtstag des Jahres 1940, als die Bewohner von Le Molay um elf Uhr die geräumige Kirche in Scharen betraten, begleitete feierliche Orgelmusik ihre leisen Schritte. Die Motette »Adeste fideles, laeti, triumphantes« klang allerdings an dem Tag eher wie ein Hohn: »Beeilt euch, ihr Treuen, Fröhlichen, Triumphierenden!« Was hatte dieser Satz mit unserer diesjährigen Weihnachtsstimmung zu tun? Zum Frohlocken gab es nichts. Die Christmette war wegen der nächtlichen Ausgangssperre verboten worden, und wir hatten soeben etwas Schlimmes erfahren: Die d'Estels durften seit fünf Tagen nicht mehr in Le Molay wohnen! »Venite, adoremus Dominum« den Text hatten wir bei den Ursulinen auswendig gelernt. Unwillkürlich übersetzte ich ihn und war nicht in der Lage, nur der Melodie zu lauschen. An der Orgel ließ sich Mademoiselle d'Estel schöne Variationen einfallen, als ob sie von den Ereignissen nicht betroffen wäre. Das große Haus ihrer Familie war von der Wehrmacht beschlagnahmt worden. Alle Bewohner hatten es innerhalb einiger Stunden verlassen müssen. (Es war der erste Fall in Le Molay.) Die Nachricht hatte sich soeben wie ein Lauffeuer durch die Gemeinde verbreitet. »Erhobenen Hauptes sind sie gegangen, ohne ein Wort des Streits«, hatte eine Frau mit dem natürlichen Sinn der Normannen für eine edle Sprechweise in dramatischen Momenten vor dem Gottesdienst erzählt. Madame d'Estel sei königlicher 34 denn je die Treppe hinunter geschritten, während ihr Mann in der großen Halle auf sie wartete. Er sei ihr entgegen geeilt. Dann hatten sie Arm in Arm die Halle durchquert. Die deutschen Offiziere salutierten. Monsieur d'Estel habe kurz mit dem Kopf genickt. Oberhalb der Terrasse habe das Ehepaar noch eine ganze Weile gestanden .. . Die diskret, ohne Dialog endende Erzählung, setzte ich in Gedanken fort. Welche Worte, überlegte ich, mögen zwischen Aurelie und Gerard d'Estel gefallen sein, als sie von ihrem Garten Abschied nahmen? Möglicherweise hat Monsieur d'Estel sogar wenig gesagt, denn er fühlte sich beobachtet und damit veranlaßt, seine Gefühle nicht zu zeigen. Seine Frau dagegen wollte ihm zumindest ersparen, sich ihretwegen Sorgen zu machen. »Auch in Saonnet werden wir leben, Liebster. Alles geht einmal vorbei. Aber irgendwann werden wir hierher zurückkehren, vielleicht schneller, als wir denken.« Die letzte Szene, auf dem Weg zu den Autos, haben uns später die Betroffenen selbst erzählt: »Wo steckt denn Christiane?« hatte Madame d'Estel, um eine Ablenkung bemüht, gefragt. »Unsere Tochter ist erstaunlich in letzter Zeit. Sie findet sich mit allem zurecht, organisiert den ganzen Tag. Was täte ich ohne sie und ohne Sie, mein tapferer Mann?« Am Ende der Terrasse stand ihr wunderschönes, altmodisches Auto mit den Riesenscheinwerfern und den blankgeputzten Messingteilen, ein Auto, wie es keines mehr gab, ein Oldtimer vor der Zeit. »Da seid ihr«, rief erfreut die ältere Tochter, die bereits im Fond saß. »Mein Violoncello ist hier. Auch Ihre Schmuckkassette habe ich bei mir, Mutter.« Madame d'Estel stieg vorne ein, ihren Rock nachziehend. »Seien Sie unbesorgt, Mutter!« rief Christiane, die fröhlich zum Wagen gelaufen war. »Ihre Harfe ist gut untergebracht mit allem, was wir vorbereitet hatten. Sogar Ihr Sevres-Service habe ich mitnehmen können! Hans hat mir geholfen, die Tassen einzupacken«, fügte sie hinzu, auf die Ordonnanz des deutschen Hauptmanns deutend. Der Soldat, der bei dem Citroen gestanden war, näherte sich. »Danke!« sagte Monsieur d'Estel auf deutsch. Bevor er in seinen Delahaye einstieg, fragte er Christiane: »Mein Kind, willst du wirklich den überladenen Kombi fahren?« 35 »Ja, hinter euch, Vater.« Als der Delahaye würdevoll startete, schlug Hans beeindruckt zum Abschied die Hacken zusammen. Die merkwürdige Art einer solchen Unterhaltung, bei der sich die Eheleute per Sie anreden und ebenso von ihren Kindern angeredet werden, erstaunte uns immer ein wenig. In unserem übrigen Bekanntenkreis war sie unüblich. Auch diese besondere Sprechweise war ein Element des Lebensstils der Familie d'Estel. »Wie geht es uns, Danielle«, so sprach Monsieur d'Estel mich gewöhnlich an, das Du vermeidend. Mit sechs Jahren hatte ich diese Begrüßung verwirrend gefunden, mit acht großartig. »Wie geht es uns?« war ein Zauberspruch, der die Grenzen zu der Welt der Erwachsenen abschuf. Mit »uns« waren wir Komplizen, gemeinsame Teilhaber einer phantastischen Welt, wo lange Röcke, altmodische Courtoisie, Harfenmusik und kostbares Porzellan alltägliche Gegebenheiten waren, eine Welt, in der Oldtimer durch geheimnisvolle Alleen fuhren. Diese Welt hatte plötzlich aufgehört zu existieren. Nie mehr würde sie sein, wie sie gewesen war. Als die Orgel in der nun bis zum letzten Platz gefüllten Kirche verstummte, kullerten Tränen aus meinen Augen. Ich versteckte rasch mein Gesicht in meinen Händen. Inzwischen hatte der Gottesdienst begonnen. Der Eindruck des endgültig Vergangenen, des nie Wiederkehrenden hielt mich gefangen. Es war so viel dahingegangen in der letzten Zeit, auch unsere sorglose Kindheit... Sie war wie ein Buch, dessen Seiten gewaltsam gewendet werden, bevor man sie zu Ende gelesen hat. Als ich mich etwas gefaßt hatte, sah ich, daß Papa neben mir aufstand. Auch er hatte gekniet? Er, der uns ausnahmsweise heute in die Kirche begleitet hatte! Die Welt schien an diesem Weihnachtstag ganz und gar anders als sonst zu sein. Der Pfarrer, gefolgt von den jungen Ministranten, verließ den Altar. Ungeduldige Schritte wurden laut, während die Orgel in voller Kraft aus allen Registern freudig »Gloria in exceleis Deo« spielte. Der mittlere Gang war überfüllt, und wir standen eine Weile in der schön geschnitzten Holzbank, die unseren Namen trug. Die Familie Morice ebenfalls. Mit ihren sechs Kindern belegte sie die zwei Bänke vor uns. Ich war froh, daß ich nicht mehr weinte. Bevor wir die Kirche verließen, sahen wir in der hintersten Bank vor dem Ausgang einen deutschen Offizier, der scheinbar 36 im Gebet versunken war. Neben ihm standen drei Soldaten in Uniform. Alle Vorbeigehenden starrten dorthin. Ob der liebe Gott sich mit all den verschiedenen Gebeten innerhalb seiner Kirche auskennen würde?