Von Menschen und Bäumen, die sterben müssen

16. Juni 1944.
Gegen vier Uhr früh wurden wir durch eine gewaltige Detonation schlagartig geweckt. Hatte nicht die Erde gebebt? Wir horchten, sensibilisiert noch von der Explosion des Marinegeschosses. Die Ruhe war beklemmend.
»Es hat vorher nicht gezischt«, sagte unser Pritschennachbar.
»Vermutlich haben wir zu fest geschlafen, um es hören zu können.«
Wir versuchten, ruhig zu liegen. Es gelang uns sogar, kurz einzuschlummern. Zwei Stunden später, als die Milchannahmestation mit der Arbeit begann, erfuhren wir im Graben, daß ein Hauptquartier der Amerikaner unweit von der Rotkreuz-Wiese durch eine riesige Bombe vernichtet worden war. Der Bote deutete an, es könnte sich sogar um eine V1 gehandelt haben. Die Amerikaner seien sehr aufgeregt und hätten die Stelle auf der Straße nach Tournieres rundherum abgesperrt.
Es mußte viele Tote gegeben haben - auch Verletzte. Wir dachten an unseren Freund Previti und an Leutnant Sterenson. Waren sie heil davongekommen? Wir stellten uns vor, wie die sauberen Betten im Feldlazarett plötzlich alle belegt waren und wie die stillen Zelte sich mit Lärm und Stöhnen gefüllt hatten.
Von uns glaubte zunächst niemand, daß ein deutsches Flugzeug so weit in den abgesicherten Luftraum der Amerikaner hineingeflogen war, um die ungewöhnlich große Bombe abzuwerfen, denn es hatte nach dem 7. Juni fast seit Anbeginn der Kampfhandlung keine deutschen Flugzeuge bei uns gegeben. Die Luftwaffe schien wie weggeblasen: eine für uns durchaus lebenswichtige Tatsache, die wir mit Bestürzung in Frage gestellt sahen.
Für das nächtliche Geschehen gab es nur zwei Erklärungen: Entweder hatten die Deutschen Nachschub bekommen, oder Hitler begann, die gefürchtete V1 an der Front einzusetzen. Zwei Insassen unseres Erdbunkers behaupteten nun, ein knapp über die Dächer fliegendes Flugzeug unmittelbar vor der Explosion gehört zu haben. Weil die beiden am anderen Ende des Grabens untergebracht waren, erreichte uns die Meldung, von Mann zu Mann weitergeleitet, erst später, gerade als wir aufgeregt von der V 1 sprachen. Wir nahmen die Nachricht dankend zur Kenntnis. Wenn wir schon zwischen zwei Gefahren zu wählen hatten, waren uns Flugzeuge lieber als die unberechenbaren Geheimraketen!
»Der amerikanische Brückenkopf ist, in der Luftlinie gemessen, noch sehr schmal«, sagte Papa nachdenklich.
»Wie mag die Frontlinie verlaufen?« fragte einer von uns.
»Wenn ich das nur wüßte!« erwiderte Papa, unsere Sorgen mit dieser Äußerung vervielfältigend.
Nachträglich wundere ich mich, wie sehr wir noch von den Eltern abhängig waren. Die kriegerischen Ereignisse hatten das Bild des allwissenden, schützenden Vaters für uns eher bekräftigt als geschwächt. Vielleicht klammerten wir uns nur zu gern an diesen Strohhalm der Beständigkeit in der reißenden Strömung des abrupt wechselnden Geschehens. Wir erwarteten einfach, daß unser Familienoberhaupt auf der Höhe unserer Erwartungen blieb.
»Geht ruhig nach Hause!« sagte er nun. »Wenn ich später komme, werden wir gemütlich zusammen frühstücken, und ich erzähle euch alles, was ich von den Leuten erfahren habe, die die Milch einsammeln. Sie hören von den Bauern sehr viel. Seit die Fabrik wieder arbeitet, könnten wir glatt eine Zeitung herausbringen! Wir werden gemeinsam eine Karte anschauen und Punkte zeichnen, überall, wo wir etwas in Erfahrung gebracht haben.«
Papa kam bald mit Nachrichten, die uns die Sprache verschlugen.
»Thomas liegt im Krankenhaus von Bayeux«, begann er. »Er ist am Kopf verletzt worden. Angeblich geht es ihm nicht schlecht. Er hat uns Grüße ausrichten lassen. >Mein Gesicht war eh nichts wert<, soll er gelassen erklärt haben. >Sagt ihnen, daß ich sehen kann und daß meine Hände nichts abgekriegt haben.<«
Er lebt! jubelte ich, und es war mir so, als ob ich eine Wiese voller blauer und weißer Stiefmütterchen sehen konnte ... Gärtner sollten nie sterben, dachte ich bei mir.
Die zweite Nachricht ernüchterte mich:
»Duc ist von einem Militärkonvoi überfahren worden.«
»Wann?« fragten wir entsetzt.
»Vor einer halben Stunde. Der Arme ist von einem Lastwagen erfaßt und vom nächsten überrollt worden. Franjois Martin hat es zufällig gesehen. Er sagte zu mir: >Der Hund wird nicht einmal bemerkt haben, was mit ihm geschah. Es ging so schnell. Leiden hat er nicht müssen. <« »Armer Hund!«
»Ich lasse ihn in unserem Obstgarten begraben. Geht nicht hin! Erst später, wenn ihr wollt. Duc hat in der letzten Zeit vermutlich so heftig an seiner Kette gezogen, daß sich ein Glied davon gelöst hat. Ihr müßt auf Okay höllisch aufpassen. Er darf nicht ohne Leine außerhalb des Hauses herumlaufen!«
»Das ist kaum zu schaffen mit unseren Türen, die immer offen stehen!«
»Ich weiß, doch wir müssen versuchen, ihn zu schützen! Ich muß euch übrigens wegen etwas anderem warnen und zwar gleich, denn es kann jede Minute losgehen. Erschreckt nicht, wenn es bald fürchterlich knallt! Die Amerikaner haben Artilleriegeschütze auf dem Hügel unmittelbar hinter der Eisenbahnlinie postiert. Sie werden genau über unsere Köpfe schießen, und das wird einen Radau machen, wie ihr es euch kaum vorstellen könnt.«
»Hast du noch mehr solche Nachrichten parat?« fragte Colette rasch wie immer.
»Glaube mir, ich hätte lieber andere. Aber wartet! Ich habe wirklich eine gute Nachricht für euch: Die alte Abtei von Cerisy, die ihr so gern habt, ist bisher nicht zerstört worden. Sie hat's überstanden! Heute kam zum erstenmal ein Milchwagen aus Cerisy wieder zu uns. Der Mann erzählte davon.«
Fröhliche Sommertage, die wir in Cerisy verbracht hatten, fielen uns ein. Während wir in alten Erinnerungen schwelgten, kam so unerwartet der erste ohrenbetäubende Knall der amerikanischen Artillerie, daß wir hochfuhren. Die Vorwarnung von Papa hatte nichts genützt. Die Lautstärke übertraf unsere Erwartungen, sie war schier unerträglich. Kaum hatten wir uns vom ersten Schlag ein wenig erholt, ging es wieder los. Wir zuckten erneut zusammen. Beim vierten Mal lachte Papa.
»Gute Kanoniere seid ihr alle nicht! Ihr müßt lernen, die Zeitabstände in Sekunden zu zählen. Es ist sehr einfach. Die Dinger schießen zweimal in der Minute. Paßt auf!«
Wir zählten und dachten unwillig: Was werden wir noch alles lernen müssen? Die Welt ist rundherum allmählich kaum mehr zu ertragen!.... Obwohl wir erneut zählten, schraken wir heftig auf, als die Zündung stattfand.
»Es ist einfach scheußlich«, stellte Mama fest.
»In zwei Tagen habt ihr euch daran gewöhnt«, sagte Papa optimistisch. »Denkt daran, daß eure Freunde, die Piper-Cub-Piloten, die Geschütze von oben lenken. Es wird euch leichter fallen, die Schießerei als notwendig zu empfinden.«
»Und wo fallen die Dinger hin?« fragte ich. Kriegerisches Denken ist Glücksache. Mein Fach wird es nie werden.
»O Nany!« sagte Papa sanft.
»Sie hat recht!« Colette gewährte mir Rückendeckung, obwohl Papa mich eigentlich gar nicht hatte tadeln wollen.
Damit begann am Frühstückstisch eine spannende Diskussion über die Notwendigkeit, an manchen Kriegen teilzunehmen, obwohl das Töten von Menschen verabscheuungswürdig ist. Wir liebten solche Gespräche. Wir warfen uns gegenseitig Argumente zu. Es wurde von der Freiheit in der Welt geredet, von den Träumen aller Menschen, sich frei zu entfalten, auch von ihrem elementaren Recht zum Leben. Wie großartig wir beim Frühstück sein konnten! Die reinste Wonne!
Wir hatten das Schießen der Artillerie eine Weile überhört. Sprechen war besser als Zählen ... Als Papa jedoch fragte, ob wir Lust hätten, mit ihm zu den Amerikanern zu fahren, waren wir froh, uns vom Höllenlärm ein wenig zu entfernen. Wir waren ohnehin, nach der tragischen Geschichte mit dem Hauptquartier, um unseren Freund Previti sehr besorgt. Sicher würden wir unterwegs von ihm erfahren. Papa teilte unsere Sorgen. Primär ging es ihm um einen Passierschein für seine morgige Fahrt nach Bayeux.
Der Trichter, den die Luftmine in der Nacht verursacht hatte, war unfaßbar groß und tief. Wir standen erschüttert mit Captain Previti in einer gewissen Entfernung von der Einschlagstelle, dort, wo die Absperrung begann. Previti, den wir mit Erleichterung und großer Freude getroffen hatten, sprach von einem zwölf Meter breiten Durchmesser und von einer Tiefe von acht Metern. Er sagte, daß die Bombe anderthalb Tonnen gewogen haben mußte. Sie hatte in der Nacht fünf Zelte mit in die Tiefe gerissen und zertrümmert. Previti war sehr ernst, so ernst, daß wir den jovialen Südländer kaum erkannten. Wir erfuhren auch nicht von ihm, wieviel Tote es gegeben hatte. Wir fragten nicht danach. Wir merkten, daß er nicht darüber sprechen wollte.
Später hörten wir, daß Ike General Eisenhower sich am Abend zuvor in der Nähe aufgehalten hatte. Bestätigt wurde diese Meldung nie. Die Umstände des Luftangriffes blieben mysteriös. Schon aus Taktgefühl sprach bald niemand mehr darüber. Daß das Panzerhauptquartier getroffen worden war, schien reiner Zufall gewesen zu sein. Ob unsere steinerne Brücke für den deutschen Piloten wieder Anhaltspunkt oder verfehlte Zielscheibe gewesen war? Daran dachten wir, als wir über die Brücke fuhren, um die Ortschaft Le Molay zu erreichen.
Beim »Civil Affairs Office« bekam Papa einen »Travel-Permit« für die Strecke zwischen Bayeux und Le Molay. Alles war damit geregelt. Bevor wir nach Hause fuhren, wollten wir jedoch sehen, was mit dem Haus unserer Freunde Morice am Ende der Ortschaft passiert war. Es stand scheinbar unbeschädigt. Im Garten rührte sich nichts. Das Tor war verschlossen. Unsere Freunde hatten nicht aus Caen flüchten können... oder wollen. Als Chirurg war Doktor Morice sicher unentbehrlich.
Aber was geschah nur auf der Hauptstraße? M. P.-Soldaten winkten abweisend vor der Sperre, die sie bewachten. Dahinter standen dichtgedrängt Militärfahrzeuge und Menschen in einem lärmenden Durcheinander. Wir kehrten um und bogen links in die Allee ein, die zu den d'Estels führte. Dort stellten wir den Wagen ab. Beim Aussteigen waren wir über den Krach entsetzt. Eine riesige Raupe fuhr, halbverdeckt hinter der Baumreihe neben uns. Motorsägen kreischten in einer enervierenden Lautstärke. Ein großer Baum fiel um. Es wurde gebrüllt. Khakigekleidete Menschen liefen herum.
Gerade hier bei dem ehemaligen stillen Wohnsitz der Familie d'Estel schien dieses Tohuwabohu heller Wahnsinn. Ich war zunächst gelähmt vor Schreck, dann so entrüstet, daß ich vorwärts lief. Ich kletterte durch eine mir wohlbekannte Öffnung zu dem erhöhten Pfad zwischen den zwei Baumreihen.
»Warte!« schrie Michel.
Nun standen wir dort, wo wir früher so oft Versteck gespielt hatten, und überblickten die Fläche unter uns. Zwei Ungeheuer von Bulldozern hatten eine lange, häßliche braune Narbe in die grüne Wiese geritzt. Sie fraßen sich vorwärts.
»Oh!« sagte Colette, die nachgekommen war.
Der Bagger in unserer Nähe krallte sich in die Erde und versuchte, den Wurzelstock des vorher gefällten Baumes zu heben. Er zerrte daran, fuhr zurück, nahm einen neuen Anlauf, rüttelte, zitterte und hob mit einem Satz Wurzeln und Erdreich. Der schwarze Fahrer, glänzend vor Anstrengung, lächelte stolz über die Leistung seiner Maschine. Plötzlich erblickte er uns zwischen den Zweigen der Hecke.
»Hallo babys!« rief er bestens gelaunt.
Ich hätte heulen können.
Am Ende der Wiese lag eine ganze Reihe von Bäumen wie gemäht am Boden. Zwei Raupen näherten sich ihnen, um sie wegzutragen. Was geschah mit den uralten, seit Generationen behüteten Bäumen?
Von der Hauptstraße fuhr ein Monster von einem Lastwagen in die Wiese hinein. Langsam, scheinbar ohne Mühe, bewegte er sich auf der weichen Erde vorwärts. Es war gespenstisch. Warum blieb er nicht wie unsere Fahrzeuge stecken? Ein anderer Lastwagen folgte ihm, ebenfalls mit Eisengittern beladen. Danach ein dritter. Wie auf ein Signal blieben alle drei stehen. Soldaten sprangen herunter. Die Eisengitter kippten polternd seitlich zu Boden. Faszinierend und grauenvoll war das Ganze.
»Die Amerikaner bauen einen Flugplatz für die Spitfires«, sagte Papa, der sich inzwischen erkundigt hatte. »Sie wollen bis morgen eine Piste von 1200 Metern aus dem Boden stampfen!« In seiner Stimme klang eine Bewunderung, die mich rebellisch machte. Ich verspürte das Bedürfnis zu fliehen und entfernte mich unbemerkt. Die ganze Familie stand gebannt vor dem überdimensionalen Schauspiel.
Der grüne Pfad zwischen den Baumreihen empfing mich mit all meinen Erinnerungen. Ich schritt, den lärmenden Betrieb wahrnehmend, im Laubwerk davon abgeschirmt, immer weiter ... Plötzlich sah ich ihn! Er stand aufrecht, unbeweglich und schaute hinunter auf eine Wiese, die sich zusehends in eine braune Kloake verwandelte.
Monsieur d'Estel!
Gerade weil ich an ihn gedacht hatte, erschrak ich, wie bei einem sehr persönlichen Gedanken ertappt. Auch er hatte die naheliegende Idee gehabt, den erhöhten, ehemaligen Besichtigungsweg zu benützen, um ungesehen, versteckt, dem Opfergang seiner geliebten Bäume beiwohnen zu können.
Impulsiv wollte ich leise wie ich gekommen war wieder gehen, bevor er mich entdecken konnte, aber irgend etwas in der Gebärde dieses Mannes hielt mich fest. Daß er der Verwüstung keinen Einhalt gebieten konnte und wollte, stand in seinem versteinerten Gesicht geschrieben. Er, der das Kommen der Alliierten von Herzen herbeigesehnt hatte, würde sich ihren Wünschen nicht entgegenstellen. Plötzlich wußte ich das mit absoluter Sicherheit. Die leise Hoffnung, die ich noch mit mir getragen hatte er würde etwas tun, um die Bäume zu retten, zerbrach. Seine versteckte Anwesenheit war eine Bestätigung seines Willens, nicht einzugreifen. Im umgekehrten Fall wäre er unten, neben den Offizieren bei der Hauptstraße gewesen. Das Gespräch mit den Amerikanern mußte vorher stattgefunden haben. Weil der Flugplatz als erforderliche Einrichtung hingestellt worden war, hatte er nicht anders gekonnt, als seine Zustimmung zu geben. Einen Augenblick lang nahm ich ihm seine Passivität übel. Er hielt sich vornehm zurück, damals mit den Deutschen, jetzt mit den Amerikanern! Er schwieg lediglich betroffen. Ich war zu jung, um auf Anhieb zu glauben, man müsse die Dinge so hinnehmen, wie sie kommen. Noch einmal dachte ich daran zu verschwinden. Ich blieb.
Unten, rechts von uns, ging ein Soldat zielstrebig auf eine noch unberührte Stelle von besonders hohen Bäumen zu. Er trug eine Motorsäge. Fünf Soldaten begleiteten ihn. Um die Ecke stand eine herrliche Eiche. Sie begannen mit ihr. Das Geräusch der Säge war unerträglich. Ich schaute Monsieur d'Estel von der Seite an. Er litt. Er litt, ich spürte es, sehr intensiv. Sein Mund verzog sich. Seine grau-blauen Augen waren nur noch ein Strich. Sein Blick ruhte auf der alten Eiche. Als sie krachend umkippte, hatte ich den Eindruck, der Schlag hätte ihn persönlich getroffen. Ich war fast erstaunt, daß er so stramm stand wie ein Soldat, wenn die Landesfahne eingeholt wird, dachte ich.
Leise schritt ich zu ihm. Bevor der nächste Baum fiel, berührte ich schüchtern seine Hand. Er schaute mich an, als ob ich gar nicht da wäre. Er sagte nichts. Ich steckte meine Hand in die seine, ebenfalls ohne zu sprechen. Er erwiderte den Druck, und ich fühlte mich ruhiger, fast gelassen. Man hörte die Axt, die den Anschnitt machte, dann die Säge. Die Bäume fielen, einer nach dem anderen. Die Holzfäller arbeiteten mit geübten Bewegungen.
»Es geht uns beiden heute besonders schlecht«, sagte Monsieur d'Estel. Er fragte nicht, warum ich hier war. Ich war da, das genügte. Ich wußte jetzt, daß er sich darüber freute.
»Man kann, man darf nichts dagegen tun!« sagte er etwas später. ».... Jetzt sind die schönen Ulmen dran.«
Die Bäume fielen genau dorthin, wo die Holzfäller sie haben wollten. Sie reihten sich fast parallel am Boden. Die Präzision war erschreckend.
»Die Wälder in den Staaten und in Kanada müssen riesengroß sein«, sagte ich.
»Gerade daran dachte ich jetzt... Danielle, unsere alte Kultur wird überrollt, ich glaube, weil sie versagt hat.«
Ein mächtiger, leicht geneigter Baum drehte sich in seinem Sturz. Erschreckt schrien die Männer. Am Boden sah der Baum noch größer aus: ein gefallener Riese! Ich dachte an die Vögel, die jedes Jahr darin genistet hatten.
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich habe das Endgültige, zum letztenmal Dagewesene nie vertragen können. Die Landschaft wurde verschwommen. Ich wischte den nassen Schleier vor meinen Augen nicht ab. Ich fand ihn sinnvoll. Wozu alles genau sehen? Ich wollte vor allem jede Bewegung vermeiden, um meinen großen Freund nicht zu erschrecken. Es war gut, daß er zu sprechen begann.
Monsieur d'Estel war nie ein großer Redner gewesen, zu sehr in Nuancen verstrickt, zu feinfühlig vielleicht, um seine Meinung jemandem aufzwingen zu wollen. Es schien ihm, glaube ich, ein Gebot der Höflichkeit, die anderen zunächst reden zu lassen. Ich sagte sehr langsam, meine Worte nach und nach vorsichtig abwägend:
»Es ist schlimm, eine Welt dulden zu müssen, die die Bäume schlachtet, um überleben zu können.«
Er schaute mich erstaunt an und ich errötete. Den Blick wendend, beendete er meinen Satz:
»... eine Welt, die Effizienz größer schreibt als Schönheit.« Plötzlich wußte ich, daß ich gehen konnte. Ich sagte:
»Ich muß weg. Meine Familie wird mich sonst suchen. Es ist nicht gut für Sie, hier allein zu bleiben. Bitte, gehen Sie nach Hause, zu Madame d'Estel!«
»Noch nicht«, antwortete er fast munter. »Ich werde hinuntergehen. Die Amerikaner haben versprochen, die Baumgruppe da hinten stehen zu lassen. Ich werde aufpassen, daß wenigstens diesen Bäumen nichts geschieht.«
Als ich zurückkam, fragte Michel:
»Wo hast du gesteckt?«
»Ich bin den Pfad entlanggegangen bis zu der Stelle, wo man das Schloß von Saonnet ein wenig sieht.«
Mehr fragten sie alle nicht. Eigentlich waren sie lieb. Vielleicht war die Welt doch nicht so verrückt?
Der Hauptmann und der Colonel der C. I. C. kamen am Abend nicht zu uns. Entweder hatten sie vergessen, daß sie uns besuchen wollten, oder sie waren zu sehr mit den Folgen des Bombenangriffs der vergangenen Nacht beschäftigt.
»Es ist sicher nicht leicht, plötzlich Ersatz für hohe Offiziere zu finden«, sagte Michel. »Die waren gewöhnt, miteinander zu arbeiten. Es ist ein wenig wie in einer Fabrik.«
Wenn ich gewußt hätte, was an diesem 16. Juni rund 20 Kilometer von uns entfernt mit den Menschen geschah, hätte ich möglicherweise weniger Mitleid mit den Bäumen gehabt. Aber löscht das eine das andere aus, oder ist nicht jede Art, Leben mit Gewalt zu vernichten, wert, darüber nachzusinnen?
Bei der Schlacht von Tilly mußten manche Deutsche dreizehn Tage lang ständig im Einsatz, in ihren Panzern zusammengepfercht, ausharren - fast ohne Schlaf und warmes Essen, ohne sich waschen oder gar ausstrecken zu können - bis sie durch den Tod erlöst wurden.
Über den letzten Einsatz der Infanteristen, die Mann um Mann in den Ruinen von Tilly fielen, ließ später Hans Speidel, der letzte Chef des Generalstabes von Feldmarschall Rommel, schreiben: »Es wurde bis zum letzten Atemzug gekämpft. Führung und Truppen leisteten Übermenschliches.«
Deutsche, Engländer, Kanadier starben in einem sinnlosen Gemetzel im Kessel von Tilly, Franzosen ebenfalls sozusagen nebenbei. Als Tilly am 18. Juni endlich fiel, verlegte sich lediglich die Kampflinie hinter die Ortschaft. Damit hörte das Leiden der Menschen nicht auf.
Am 17. Juni besuchte Hitler zum ersten und zum letzten Mal die Invasionsfront.
»Wir müssen nur die Nerven behalten«, beschwor er die Marschälle. Er gab die Weisung, »jeden Fußbreit Boden zu halten«. Später, in Verbindung mit Cherbourg, sagte er: »Die gegenwärtigen Stellungen sind zu halten, um jeden Preis.«