Sollen die französischen Männer in den Krieg ziehen?

Le Molay, 17. Juni 1944.
Die zweite Reise meines Vaters nach Bayeux konfrontierte uns mit den Grundentscheidungen, die die Erwachsenen damals zu treffen hatten: entweder für eine gerechte Sache mitkämpfen oder gemütlich abwarten, bis die anderen sich dafür einsetzen und das Risiko tragen. Von diesem Dilemma war zunächst in der Erzählung von Papa nach seiner Rückkehr nicht die Rede. Er sprach fröhlich davon, daß Raymond Triboulet tatsächlich Sous-Prefet geworden war. Der Vater meiner Freundin ManeJo war ein weiser Mann mit genug Humor, um keine Komplexe zu haben. Er erzählte uns später, daß er bei seiner Amtseinführung die Uniform seines Vorgängers, des von der Vichy-Regierung eingesetzten Beamten, getragen hatte. »Warum nicht?« fragte er und machte sich einen Spaß daraus. »Wir hatten beide die gleiche Größe, und der gute Rochas war in Ordnung.«
Daß er eine Weile der höchste Verwaltungsbeamte des befreiten Frankreichs war, amüsierte ihn, ohne ihn daran zu hindern, seine Aufgaben pflichtbewußt und mit Einfühlungsvermögen wahrzunehmen. Triboulet bemühte sich, eine Kontinuität der Verwaltung und der menschlichen Beziehungen herzustellen, weil er wußte, daß die Normannen dies damals am meisten brauchten. Mit Charme betonte er nebenbei die Selbständigkeit Frankreichs den Alliierten gegenüber.
Papa hatte, nicht ohne Absicht, seine Erläuterungen über die Verhältnisse in Bayeux in die Länge gezogen. Plötzlich schwieg er, wie zwischen komplizierten Erwägungen hin und her gerissen:
»Im übrigen...«
Er schien nach Worten zu suchen. Uns war klar, daß etwas Bedeutendes folgen würde.
» ...in Bayeux ist seit kurzem ein Büro für die französische Armee eröffnet worden, das eine Kooperation zwischen den gelandeten französischen Truppen und den sich im Lande neu organisierenden Streitkräften gewährleisten muß.«
Nach diesem umständlichen Satz kam eine Pause. Dann sprang Papa über seinen Schatten.
»Ich habe mich dort beim Obersten de Chevigne erkundigt, ob man Verbindungsoffiziere zu der amerikanischen Armee braucht, und ich habe mich unter der Bedingung freiwillig gemeldet, daß weder Herr M. noch Herr D. einberufen werden, obwohl sie jünger sind als ich. Damit wird die Fabrik ohne Störung weiterarbeiten können. Ich bin der sechste auf der Liste derjenigen, die sich freiwillig meldeten!«
»Aber warum, warum so plötzlich?« fragte Mama.
»Es kommt alles plötzlich in der letzten Zeit. Bitte, glaube mir, es ist die einzig richtige Lösung. Offiziere werden gebraucht. Mir ist es lieber, zusammen mit den Amerikanern tätig zu sein. Als Freiwilliger kann ich das eben aussuchen. Ich will nicht kämpfen, sondern Frieden stiften, und dies können die Amerikaner am besten, weil sie stark sind und weniger Vorurteile haben.«
»Frieden stiften«, sagte Mama sachlich, »bei einem Brückenkopf, der nur einige Kilometer tief ins Land reicht, das klingt etwas zu schön.«
»Momentan ja, aber es wird sich rasch ändern. Es steckt so viel Macht hinter den Amerikanern. Wir werden bald ein friedliches Europa haben. Daran müssen wir arbeiten.«
Es klang großartig. Sollten wir stolz sein? Wir waren es nicht. Vielleicht hatte Papa recht.... Im Augenblick wußten wir überhaupt nicht mehr, was wir denken sollten. Wir fühlten uns von den Ereignissen überrumpelt. Wir sehnten uns ganz simpel nach einem ruhigeren Stand der Dinge, nach Geborgenheit und Sicherheit. Was ging uns Europa an? Was ging uns eine gut funktionierende Fabrik in der Abwesenheit von Papa an? Ihn wollten wir haben!
Wir schwiegen alle. War unser hellsehender Vater von seiner Sippe enttäuscht? Er sagte ehrlicherweise:
»Könnt ihr nicht verstehen, daß ich im übrigen keine Lust mehr habe, mich weiterhin hier zu verausgaben? Ich brauche ein neues Wirkungsfeld, das mich begeistern kann.«
Diese Sprache verstanden wir schon besser. Papa engagierte sich überaus gern, er wollte nur wissen, wofür. Seine Umwelt hatte ihn enttäuscht, und er suchte anderswo die Motivation, die er brauchte. Aber wir? Irgendwie fühlten wir uns im Stich gelassen. Wir sollten hier ohne Rückhalt mit den Gegebenheiten fertig werden und wußten überhaupt nicht, was uns bevorstand. Papa wußte es noch weniger, es war jedoch seine freie Entscheidung. Unsere war es nicht. Wir wurden nicht gefragt.
Alle diese Gedanken gärten in uns. Wir standen da, ein wenig feindselig, zumindest ratlos und unglücklich.
Das heftige Bellen von Okay erschreckte uns plötzlich. Die amerikanischen C. I. C.-Offiziere standen vor der Tür.
Ich kann mich übrigens nicht erinnern, daß jemals eine Glocke in unserem Haus ordentlich funktioniert hätte. Bei uns meldeten die Hunde die Gäste an, oder sie kamen durch die offene Tür einfach herein. Es war einer der liebenswürdigen Mängel unserer häuslichen Organisation. In Zukunftsträumen waren wir groß, im Alltagsleben kam es darauf an: Ging es um die Fabrik, dann wurde alles bis ins letzte durchdacht, ging es um private Dinge, dann handelte es sich von vornherein um zweitrangige Angelegenheiten. Bisher war dies für uns selbstverständlich gewesen. Warum machten wir uns plötzlich Gedanken darüber?
»Wir sollten wirklich eine Glocke haben«, stellte Mama fest, die schnell ein Tablett mit Gläsern holte.
Ihr Sinn für Gastfreundschaft sollte sich bewähren. Es wurde ein großartiger Abend. Der Hauptmann stellte den Eltern seinen Colonel vor. Wir fanden uns alle im Salon wieder. Das erste, was der Colonel dort erblickte, war das Klavier! Er bat Mama um die Erlaubnis, darauf zu spielen, und begann mit einem ziemlich schwierigen, sehr wirkungsvollen Stück von Rachmaninow. Wir waren beeindruckt und zugleich sehr erstaunt. Diesen Abend hatten wir uns ganz anders vorgestellt. Der Colonel erzählte, daß der russische Komponist ein Jahr zuvor in Beverly Hills gestorben war.
»Es hat mich damals sehr bewegt, denn ich lebe in Santa Barbara in Kalifornien und liebe die russische Musik.«
Der Colonel wollte, daß Mama spielte. Mit Komplimenten an seine Adresse lehnte sie ab und suchte statt dessen im Notenschrank nach alten englischen Melodien, die sie aus der Zeit des Ersten Weltkrieges kannte. Sie reichte dem Colonel einen Stapel vergilbter Notenheftchen.
»Sorry!« sagte sie. »Ich habe diese Lieder so oft gespielt und gesungen. Die Hefte sind in einem miserablen Zustand!«
»Splendid!« rief er erfreut. »You have got >My little grey home in the West<. I love this song.«
Na, so ein Glück, dachte ich bei mir. Ich wußte zu gut, daß Mama nicht von ungefähr das romantische Lied von dem kleinen Haus im Westen oben auf den Stapel gelegt hatte. Dieses Lied war sozusagen eine alte Leier unserer Familie. Lange bevor uns sein Text verständlich sein konnte, hatten wir es als Wiegenlied gehört. Mama sang gern und oft. Älter geworden, fühlten wir uns durch die Beschreibung der heilen Welt der Pioniere angesprochen. Lebten wir nicht ebenfalls im Westen unseres Kontinents?
Der Colonel spielte die Melodie einmal auf dem Klavier, dann drehte er sich zu uns und sagte heiter:
»Jetzt singen wir alle zusammen. Let's go!«
Angesteckt von seiner Herzlichkeit, bemüht ihm zu gefallen, gruppierten wir uns alle um das Klavier. Der Oberst, auf dessen Befehl Papa vier Tage zuvor von zwei M. P.s abgeführt worden war, hatte eine warme, ausdrucksvolle Stimme. Die Welt der Erwachsenen war nicht immer leicht zu begreifen.

»Ich möchte, weit von hier, dort ankommen,
wo die blauen Schatten lang werden,
Zufriedenheit und Ruhe finden,
die Plage des Tages schwinden lassen,
in meinem kleinen Haus im Westen.«

Sicher sehnte sich der Colonel sehr nach Kalifornien. Ob es neben seinem Haus Palmen gab?

»There are hands that will welcome me in,
there are ups I am longing to kiss,
there are two eyes that shine,
just because they are mine,
and a thousand things others may miss...«

(Dort gibt es Hände, die mich empfangen,
Lippen, die ich brenne zu küssen,
es gibt Augen, die nur deshalb leuchten,
weil sie es für mich tun wollen,
und tausend andere Dinge, die ich missen muß...)

Mama, die damals fast ohnmächtig vor Angst geworden war, als der Jeep des C. I. C. mit Papa abgefahren war, sang nun gefühlvoll, so als ob niemals in ihrem Leben etwas Aufregendes passiert wäre. Ihr Mezzosopran klang hübsch zu der Stimme des Colonels.
».... in my little grey home in the West.«
Das Lied war zu Ende, doch die Melodie blieb im Raum spürbar. Das gemeinsame Musizieren hatte eine harmonische Verständigung geschaffen, die keine Grenzen kannte. Wir standen alle gerührt da. Waren wir erstaunt, uns so nahe zu fühlen? Es mußte mehr sein, was den Offizier des Intelligence Service so sehr bewegte, daß er deutlich mit seiner Selbstbeherrschung rang.
»I beg your pardon!« sagte er. »Ich dachte die ganze Zeit an etwas sehr Persönliches. My boy ist am 6. Juni in Omaha gefallen. Er gehörte bei der Landung der ersten Welle an. Joe war 21 und voller Begeisterung. Ich dachte an meine Frau, die allein zu Hause mit dieser Nachricht fertig werden muß.«
Jetzt waren wir diejenigen, die erschüttert waren. Was für eine bewundernswerte Selbstbeherrschung dieser amerikanische Oberst besaß! Papa drückte stumm seine Hand. Wir trauten uns nicht, das gleiche zu tun. Ein wenig später sagte Papa:
»Ich habe mich freiwillig gemeldet bei der M. M. F. L. Ich hoffe, daß ich in der Normandy Base Section von Nutzen sein kann. In den nächsten Tagen werde ich erfahren, wo mich die >Mission Militaire Francaise de Liaison< hinbeordern wird. Ich bin stolz und glücklich, mit Ihnen mitmachen zu können.«
Es wurde mir plötzlich klar, daß die bisher angezweifelte Entscheidung meines Vaters zu bejahen war, und ich wunderte mich, welche zufällige Übereinstimmung von Ereignissen das Leben mit sich bringen kann. Daß wir dem amerikanischen Oberst zwar keinen Trost, aber eine unmittelbare kleine Bestätigung seines Tuns geben konnten, freute mich.
Später tranken wir Champagner eine unserer letzten Flaschen im Keller. Auch wir Kinder bekamen einen Schluck davon. Es war eine Feier und doch keine. Noch nie waren uns Trauer, Begeisterung, Angst und Hoffnung so kunterbunt durcheinandergemischt erschienen.
Papa sprach von Vichy und vom Ersten Weltkrieg. Die alte Geschichte schien uns, in englischer Fassung, fast neu. Sie bekam an jenem Abend eine Aktualität, die ihr unerwartete Aspekte verlieh.
»You know«, sagte Papa, »ich habe aus nächster Nähe miterlebt, wie die Amerikaner damals gelitten haben. Ich lebte 1917 in Vichy, der Rotkreuz-Stadt der US-Army und war so alt wie meine Kinder jetzt. Ich sah am Bahnhof, wie junge Männer täglich von den Zügen auf Tragen zu den wartenden Militärautos geschleppt wurden. Als Junge bewunderte ich diese motorisierte Armee, die mir phantastisch gut organisiert zu sein schien. Die Notkrankenhäuser der Stadt verfügten über 80000 Betten eine verrückte Zahl! Vichy war voll von Verwundeten, Sanitätern und Genesenden. Viele Soldaten — auf Krücken gestützt übten mühsam das Gehen am Ufer des Alliers. Weil ich damals schon gern angelte, saß ich oft dort mit meiner Rute. Die Amerikaner sprachen mich an. So lernte ich Englisch. Ich war stolz, amerikanische Freunde zu haben. Am schlimmsten war es für mich, wenn die Amerikaner, die man in Vichy schnell gesund gepflegt hatte, zum Bahnhof marschierten. Sie sangen >Over there< und fuhren zur Front zurück, obwohl es nicht einmal ihr Krieg war...«
In Vichy gab es einen großen amerikanischen Friedhof, dachte Papa, ohne es auszusprechen.
»Oh Gott!« rief er aus. »Diese Erinnerungen bin ich nie losgeworden. Deshalb kann ich nicht ertragen, daß es zum zweiten Mal passiert, während ich einfach zusehe. Irgendwie muß ich persönlich etwas wiedergutmachen, dem erwähnten Lied entsprechen! They're calling you and me, every son of liberty, over there, over there!«
Papa wiederholte den Text auf französisch, wie er ihn für sich in Vichy übersetzt hatte:
»Sie rufen uns, dich und mich, jeden Sohn der Freiheit, dorthin! Dorthin!«
Der Hauptmann klopfte Papa auf die Schulter:
»Sie sind ein guter Kerl. Der Mann, der Sie ankreiden wollte, ist ein niederträchtiger Schurke. Ich glaube allerdings, daß er nicht ganz richtig im Kopf ist.« »Ah!« sagte Papa. »Wie heißt er denn?«
Der Oberst nannte einen Namen, der uns seit eh und je vertraut war. Es handelte sich um einen leitenden Angestellten, mit dessen Arbeit Papa in der letzten Zeit nicht zufrieden war. Er hatte ihn deshalb zur Rede gestellt; es war offensichtlich Rache gewesen.
»Typisch!« stellte der Hauptmann fest. »Und wie der Kerl sich aufgespielt hat! Er behauptete sogar, einen deutschen Offizier während der Besatzungszeit heimlich umgebracht und verscharrt zu haben...«
»So als ob deutsche Offiziere in Frankreich verschwunden wären, ohne daß jemand es bemerkt hätte!«  unterbrach der Oberst.
»Wo die Leiche lag, konnte er großartig erklären, bis ich vorschlug, mit ihm zu der Stelle hinzufahren. Dann wurde er verdammt unsicher!«
So ein unverschämter Wichtigtuer! dachte ich empört. Ich horchte, bemüht, mir keine Silbe entgehen zu lassen, und wußte noch nicht, daß ich somit einen, von ungeahnten, verwirrenden Gedanken unterminierten Boden betrat. Die Begegnung mit der Verleumdung, später mit ihren schleichenden Auswirkungen, sollte mich und meine Geschwister ein gutes Jahr ernsthaft beschäftigen. Mit 15 Jahren nimmt man solche grundlegenden Fragen, wie die Notwendigkeit des Verzeihens, nicht auf die leichte Schulter. Wie oft hatten wir früher ».... und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« nachgeplappert! Jetzt wurde dies ernst. Schlimmer noch, es ging nicht um uns, sondern um den Vater. Wir brachten es nicht fertig, auf Anhieb zu verzeihen, und sahen damit unsere ganze Religion in Frage gestellt.
Mit der Zeit würde die Bedeutung der falschen Beschuldigung eines vermuteten Freundes schrumpfen. Hinterläßt aber nicht jede Verleumdung eine Spur? Für unseren Vater wirkte die Enttäuschung wie ein Tropfen Säure in einem Reagenzglas! Der Inhalt seines Lebens geriet dadurch in Bewegung. Latente Energie wurde freigesetzt. Ohne diesen Verrat, ohne den Zwischenfall mit der Butter am Bahnhof, hätte Papa vermutlich die Normandie nie verlassen. Wir damit auch nicht. Kein Mensch verläßt freiwillig das Paradies. Aus dem Paradies wird man vertrieben!
So weit dachten wir an diesem Abend natürlich nicht. Die Aussage des Hauptmanns fesselte zu sehr unsere Aufmerksamkeit:
»Und was dieser Bursche bei seinem zweiten Besuch alles anführte, um aus Ihnen einen Nazi zu machen! Sie hätten einem deutschen Soldaten, >der am Krepieren war<, öffentlich zu Essen und zu Trinken gegeben. Als französischer Offizier hätten Sie sich dessen nicht geschämt!«
Vor drei Tagen hatte das Verhör stattgefunden. Der Hauptmann schien sich nachträglich darüber zu amüsieren:
»Der Kerl war ganz verblüfft, als ich lediglich >Na und?< entgegnete. Dann tischte er mir die blöde Geschichte mit der schwarzen Aktentasche erneut auf. Sie hätten den Deutschen wieder Dokumente überbracht. >Zwei Nächte hintereinander fragte ich besorgt, Er fiel prompt auf meine ernste Reaktion herein. Ich ließ ihn zappeln, fragte nach Details, notierte Uhrzeiten. Ganz happy berichtete er danach, Sie hätten General de Gaulle kritisiert...«
»Nur seine Rede«, stellte Papa fest.
»Ich weiß. Im Schutzgraben«, ergänzte der Hauptmann heiter. »Der Kerl erzählte so viel, daß ich ihn am liebsten mit einem Fußtritt hinausgefeuert hätte. Anschließend fuhr ich zu Ihnen. Ihre Kinder holten Sie. Es war mir ein Bedürfnis, reinen Tisch zu machen!«
Der Oberst hatte schweigsam zugehört. Er schien auf einmal sehr müde. Er wirkte älter als zuvor.
»Solche Typen sind wirklich nicht wert, daß man sich mit ihnen beschäftigt«, stellte er lakonisch fest. »Ich bin dankbar, den heutigen Abend bei einer französischen Familie verbracht zu haben, die mich manches vergessen ließ. It was a very nice time at your home.«
Er fuhr fort, sich für seinen musikalischen Spleen entschuldigend: »Eine Bitte hätte ich noch. Ich habe vorhin bei Ihren englischen Liedern die Noten von >When irisch eyes are smiling< gesehen. Könnten wir zum Abschied ein letztes Mal zusammen singen?«
Wir winkten ab. Das gefragte Lied war uns nicht geläufig. Mama sang allein mit dem Oberst. Der letzte Satz des Liedes klang wie ein unerfüllbarer Wunschtraum, eine bewußt optimistische Zukunftsvision: ».... all the world is hight and gay.« Die ganze Welt glücklich und fröhlich? Da mußte noch eine Menge geschehen.
»Wie kann man sich so viel aus Musik machen?« fragte Papa, nachdem die Amerikaner sich fast überschwenglich verabschiedet hatten. Musik blieb die Domäne unserer Mutter; seine war sie nie gewesen.
»War der Abend nicht Klasse?« fragte Colette.
»Aber natürlich!« antwortete Papa. »Wißt ihr was? Wir werden heute zu Hause schlafen. Es ist viel zu spät, um zu dem muffigen Schutzgraben zu gehen.«
»Wirst du ihn entlassen?« fragte Michel, vor seiner Schlafzimmertür angekommen.
»Wen? Ah den! Nein, jetzt nicht mehr. Aus persönlichen Gründen darf man eine solche Entscheidung nie treffen, und dann..., was geht mich das jetzt an?«
18. Juni 1944.
Das gräßliche Geböller der amerikanischen Artillerie weckte uns. Ich erwachte mit starken Kopfschmerzen. Die zuversichtliche Stimmung des gestrigen Abends schien verflogen. Es dröhnte hinter meiner Stirn, pochte in meinen Schläfen. Kaum aufgestanden, hatte ich Lust, mich zu erbrechen, und konnte es nicht. War der furchtbare Lärm nicht abzustellen? Wie lange würden wir ihn ertragen müssen?
Nach dem Frühstück merkten wir, daß Okay fehlte. Rufen half nicht. Wir suchten den Hund im ganzen Haus. Auch im Keller war er nicht versehentlich eingesperrt worden. Unsere Hoffnung, ihn lebend wiederzusehen, schrumpfte schlagartig, als wir feststellten, daß die Außentür des Büros von Papa einen Spalt offen stand. Hatte Okay von einer aufregenden Jagd nach den Hühnern eines benachbarten Bauern geträumt, als er von uns weggelaufen war? Einen solchen Rappel bekam unser Irish Terrier jeden Sommer hin und wieder. Seit Antezant ...
Mit Okay verbanden uns viele Erinnerungen. Er war an Ostern sechs Jahre alt geworden. Ein frecher Kerl von Anfang an, temperamentvoll, jederzeit bereit zu spielen, anhänglich, wenn er gerade mochte, nicht immer! Unser Hund war seit dem Tod von Duc so oft eingesperrt gewesen, daß sein Drang nach Freiheit nur zugenommen haben konnte. Er mußte geradezu nach einer offenen Tür gelauert haben!
Armer Okay! Wir erfuhren sehr bald, daß er genauso überfahren worden war wie unser Schäferhund. Die Nachricht nahmen wir hin, ohne ein Wort der Kommentierung. Dieses Schweigen war für uns ein deutliches Zeichen arger Betroffenheit.
»Okay hat nur zwei Tage länger als Duc leben dürfen«, sagte Colette endlich.
Daß es dazu kommen würde, hatten wir eigentlich gewußt. Warum entglitt uns so viel in der letzten Zeit? Seit Wochen lebten wir in der Nähe des Todes. Den Verlust von Okay werteten wir wie die Bestätigung dafür, daß um uns her alles immer mehr abbröckelte. In dieser Resignation, in dieser Entsagung steckte bereits etwas Morbides, und wir merkten es nicht.