Alfred Adler hat seine Individualpsychologie schon früh aus der Kritik der Psychoanalyse entwickelt und Freud in allen zentralen Hypothesen widersprochen: dem Unbewußten, dem Libido- und Persönlichkeitskonzept etc. Deshalb haben wir die berechtigte Hoffnung, hier genaueren Aufschluß über die »weibliche Psyche« zu finden.
Adler ist in der psychologischen Wissenschaft zwar längst nicht so bekannt und verbreitet wie Freud; aber er hat einigen Einfluß nicht nur auf die Neopsychoanalyse gehabt, sondern auch die Umgangssprache mit psychologischen Begriffen angereichert, von denen »Minderwertigkeitskomplex« und »Kompensation« die wichtigsten sind. Im folgenden sollen zunächst einige Grundzüge der Individualpsychologie dargelegt werden, um dann auf die weibliche Psyche einzugehen und zu untersuchen, ob Adlers, Ansichten für Emanzipationsbestrebungen von Frauen heute nützlich sein können.
Grundzüge der Individualpsychologie
Adler trennte sich 1911 von Freud und begründete eine eigene Schule, die er Individualpsychologie nannte. Ausgehend vom Begriff individium (lat.) = unteilbar, postulierte Adler die ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen. Er stimmte nicht mit Freuds Triebtheorie und den damit implizierten Triebschicksalen überein, die den Menschen in Instanzen aufteilt.
»Die Individualpsychologie lehnt die Mystifikation des Triebes ab, sie versteht einen Trieb nicht als ein der Person entfremdetes Objektives. Im Gegenteil, sie findet die Art und Weise, wie der Trieb in Erscheinung tritt, in der Struktur der Persönlichkeit begründet«
(Jacoby, 1914, S. 36).
Adler hielt 1911 im Freudschen »Mittwochskreis« mehrere Vorträge zum Thema: »Zur Kritik der Freudschen Sexualtheorie des Seelenlebens« (Adler, 1973, S. 94ff.). Er bestritt darin nahezu alle Grundannahmen der Freudschen Theorie. Nach Adler spielt die infantile Sexualität keine entscheidende neurosenverursachende Rolle, der Ödipuskomplex beleuchtet nur die Auseinandersetzung der kindlichen Selbstbehauptung mit der elterlichen Autorität und die Verdrängung ist abhängig von Ehrgeiz und Eitelkeit des Neurotikers. Statt »Triebbefriedigung« bestehen für die Individualpsychologie in Sicherung, Geltung und Macht die Hauptziele der psychischen Aktivität. Nach Adler empfindet jeder Mensch aufgrund seiner mangelhaften biologischen Ausstattung (Fehlen von Instinkten) ein Gefühl der Minderwertigkeit. Er ist auf seine Mitmenschen und deren Pflege und Betreuung über lange Zeit angewiesen. Diese Situation beinhaltet Unsicherheitserleben, so daß jedes Kind nach Sicherung, Vollwertigkeit und Überlegenheit strebt. Bei einigermaßen gelungener Sozialisation werden Kompensationsbestrebungen sozialer Prägung (Gemeinschaftsgefühl) eingeleitet, die dem Kind Sicherung und Beruhigung verschaffen. Bei übermäßiger Belastung des Kindes durch einen überbürdenden Erziehungsstil (autoritär, verwöhnend, vernachlässigend), durch die ökonomische Situation der Familie oder durch die Stellung des Kindes innerhalb der Geschwisterreihe - um nur einige Faktoren zu nennen - greift das Kind zum Mittel der Überkompensation. Es wird zum Ausweicher, der unter Ausschaltung gemeinschaftlicher Bindungen Überlegenheit anstrebt. Aus dieser Haltung heraus entstehen Neurosen, Psychosen und Perversionen.
Bereits in der genannten Vortragsreihe betonte Adler die Zukunftsorientierung des menschlichen Psyche. Was Freud als Unbewußtes beschreibt, sei im Grunde doch immer wieder das »Ich« - also die Einheit und Ganzheit der menschlichen Persönlichkeit. Die Neurose ist nach Adler kein Konflikt zwischen Bewußtem und Unbewußtem, sondern die Reaktion eines verängstigten Ichs, das angesichts sozialer Aufgaben, für die es nicht genügend vorbereitet ist, die Flucht ergreift und sich in einem Symptom manifestiert zum Zweck der Sicherung des Persönlichkeitsideals.
Ein weiterer zentraler Punkt der Individualpsychologie ist die Betonung der sozialen Bezogenheit des Menschen. Alle Lebenserscheinungen werden aus der Wechselwirkung zwischenmenschlicher Beziehungen interpretiert (s. hierzu Rattner 1972, 1974a und Köppe, 1977).
Damit rückt Adler ab von einer Ich-Psychologie, wie wir sie bei Freud vorfinden. Die von ihm begründete Theorie der Individualpsychologie kann eine soziale Tiefenpsychologie oder vergleichende Sozialpsychologie genannt werden. (Brachfeld, 1976, S. 13)
Begriffe wie Minderwertigkeitsgefühl, Geltungsstreben, Gemeinschaftsgefühl, Lebensstil sind Grundpfeiler der Individualpsychologie. Diese Termini gingen ein in die Theorien von E. Fromm, K. Horney, Frieda Fromm-Reichmann u.a., häufig ohne Hinweis auf ihre Entlehnung bei Adler.
Die wichtigsten Gedanken der Individualpsychologie hat Adler in folgenden Werken niedergelegt:
Über den nervösen Charakter (1912), Heilen und Bilden (1913), Praxis und Theorie der Individualpsychologie (1920), Menschenkenntnis (1927), Individualpsychologie in der Schule (1929) und Der Sinn des Lebens (1933).
Adlers Theorie der Weiblichkeit
Im Gegensatz zu Freuds Theorie über eine spezifisch weibliche Psyche geht Adler von der Gleichwertigkeit der Geschlechter aus. Seiner Auffassung nach bringen Mädchen und Jungen von ihrer biologischen Ausstattung her die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten mit. Erst durch Erziehungs- und Umwelteinflüsse, aber auch durch die eigene schöpferische Kraft des Kindes, bildet sich der Charakter oder Lebensstil heraus. Adler ging das Geschlechtsproblem auf zwei Ebenen an: Zum einen stellte er in seiner Abhandlung über »Das Verhältnis der Geschlechter« (1976a, S. 113ff.) eine allgemeine sozialpsychologische Studie an über die Rollenverteilung in unserer Gesellschaft und den daraus resultierenden psychischen Folgen für Mann und Frau. Zum anderen beschäftigte er sich mit den Problemen weiblicher Neurotiker, die gegen ihre »Frauenrolle« rebellierten. Er nannte dieses Phänomen »männlicher Protest«.
Es soll daher im folgenden darum gehen, erstens darzustellen, welche Aussagen Adler zum Rollenverhalten von Mann und Frau in unserer Gesellschaft gemacht hat und welche Auswirkungen sich auf die Psyche der Frau daraus ergeben und zweitens zu untersuchen was Adler unter »männlichem Protest« bei Frauen verstand.
Sozialpsychologische Betrachtungen
zum Verhältnis der Geschlechter
Der Vorrang des Mannes in der heutigen Kultur
Ausgehend von der patriarchalischen Gesellschaft führt Adler einige Beobachtungen an, die auf die Vorrangstellung des Mannes hinweisen. So meint er beispielsweise, die Männer verschafften sich in der Arbeitsteilung im Produktionsprozeß Vorteile, indem sie die ihnen »angenehmen Formen des Lebens« (Adler, 1976a, S. 116) durchsetzen und die Frauen auf den Platz verweisen, der ihnen vom männlichen Standpunkt aus zukommt. Er sieht ein dauerndes Streben des Mannes nach Überlegenheit über die Frau und eine zunehmende Unzufriedenheit von Seiten der Frau mit den männlichen Privilegien. Aus dem dadurch entstehenden Spannungsfeld resultieren die Störungen zwischen den Geschlechtern.
»Alle unsere Einrichtungen, traditionellen Festlegungen, Gesetze, Sitten und Gebräuche geben Zeugnis von der privilegierten Stellung des Mannes, nach der sie gerichtet und von der sie festgehalten sind. Sie dringen bis in die Kinderstube und nehmen ungeheuren Einfluß auf die kindliche Seele.« (Adler 1976a, S. 116)
Adler untersucht nun, welchen Eindruck die privilegierte Stellung des Mannes und die geringer geschätzte Rolle der Frau auf das heranwachsende Kind machen. Denn er geht davon aus, daß die Anschauungen des Kindes in bezug auf Männer- und Frauenrolle in erster Linie in der Erziehung gewonnen und im Erwachsenenalter dementsprechend gelebt werden. Nach seiner Auffassung ist die Erziehung geeignet, schon dem kleinen Knaben dessen größere Wichtigkeit vor Augen zu führen. Die Geburt eines Jungen wird häufig freudiger aufgenommen als die eines Mädchens. Der Junge bekommt auf Schritt und Tritt zu spüren, wie er als männlicher Sproß bevorzugt und in seinem Wert höher angesetzt wird. Im Laufe der Entwicklung kristallisiert sich bei ihm ein dementsprechendes Bild von der weiblichen Minderwertigkeit heraus. Der Knabe sieht, daß überwiegend Frauen die geringer geschätzte Hausarbeit erledigen und die Mütter in der Regel innnerhalb der Familie weniger zu sagen haben als die Väter. So wird dem Jungen nahegelegt, sich männliche Attribute wie Ehrgeiz, Mut, Stolz, Härte zuzulegen.
»Wird der Knabe älter, so wird ihm die Bedeutung seiner Männlichkeit fast zur Pflicht gemacht.« (Adler, 1976a, S. 120)
Adler lehnt die Einteilung in »männliche« und »weibliche« Charakterzüge ab mit der Begründung, daß keinerlei Tatsachen diese Wertung rechtfertigen. Vielmehr findet er, daß solche Klassifizierungen nur dann beobachtet werden können, wenn Jungen und Mädchen bereits in eine bestimmte Haltung gedrängt worden sind aufgrund der geschlechtsspezifischen Erziehung. Daraus eine »natürliche Tatsache« ableiten zu wollen, wäre abwegig.
Das Vorurteil von der Minderwertigkeit der Frau
Argumente des Mannes, um seine Vormachtsstellung zu rechtfertigen, sind nach Adler meist:
- a) sie komme ihm von Natur aus zu;
- b) die Frau sei ein minderwertiges Wesen.
Adler meint, die Ansicht von der Minderwertigkeit der Frau sei so weit verbreitet, daß es den Anschein habe, sie sei Gemeingut aller Menschen. Er erinnert an die Zeit des Hexenwahns und der Hexenverbrennungen, an die biblische Darstellung von der Erbsünde, an Sagen und Märchen, die von der Bosheit, Falschheit und Unverläßlichkeit der Weiber zeugten und an geistliche Konzilien, auf denen lebhaft die Frage diskutiert wurde, ob die Frau überhaupt eine Seele habe. Des weiteren wird die Frau bezüglich ihrer Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit herabgesetzt in Redensarten, Anekdoten, Sprichwörtern und Witzen wie z. B. >lange Röcke, kurzer Sinn<.
»Ein ungeheurer Scharfsinn wird aufgebracht, um den Beweis der Minderwertigkeit des Weibes zu führen, und die Reihe dieser Menschen - man denke an Strindberg, Moebius, Schopenhauer und Weininger - wird sogar durch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Frauen vermehrt, die in ihrer Resignation dazu gelangten, die Auffassung von der Minderwertigkeit der Frau und der ihr zukommenden untergeordneten Rolle zu teilen. Auch in der Bezahlung der Frauenarbeit, die, unbekümmert darum, ob sie mit Männerarbeit gleichwertig ist oder nicht, weit niedriger gehalten ist als Männerarbeit, kommt die Geringschätzung der Frau zum Ausdruck« (Adler, 1976a, S. 122).
Das Vorurteil von der Minderwertigkeit der Frau begegnet bereits kleinen Mädchen täglich auf Schritt und Tritt. Sie werden nur zu untergeordneten Tätigkeiten herangezogen, es wird weniger von ihnen gefordert, Fähigkeiten in Mathematik z. B. werden ihnen von vornherein abgesprochen etc. Das kindliche Selbstvertrauen erfährt dadurch nicht gerade große Stärkung, sondern im Gegenteil, das Mädchen übernimmt in der Regel die misogyne Einstellung und identifiziert sich mit den ihm vorgegebenen Werten. Dem Mädchen wird von Kindheit an ein Unzulänglichkeitsgefühl suggeriert, so daß sich keiner wundern soll, meint Adler, wenn die Frauen dann tatsächlich weniger leisten als die Männer. Wer dieses Ergebnis als Bestätigung seiner Prognose von der Minderwertigkeit der Frau wertet, soll nicht sagen, daß er recht gehabt hat,
»sondern wir müssen eingestehen, daß wir das ganze Unglück verschuldet haben.«
(Adler 1976a S. 123)
Darüber hinaus weist Adler darauf hin, daß die Zahl der unfähigen Männer so groß ist, daß man mit der gleichen Anzahl von Beweisen - allerdings mit dem selben Unrecht - ein Vorurteil von der Minderwertigkeit des Mannes vertreten könnte.
Männlicher Protest bei Frauen
Historische Entwicklung des Begriffs
Im Jahre 1910 führte Adler die Begriffe »Minderwertigkeitsgefühl« und »männlicher Protest« in seine Theorie ein. Wie für Freud die Libido, war für Adler ab diesem Zeitpunkt der »männliche Protest« das wichtigste dynamische Prinzip in der Neurose. Er erfolgt als Reaktion auf ein empfundenes Minderwertigkeitsgefühl, und zwar sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Adler verstand darunter, daß das Minderwertigkeitsgefühl mit Hilfe übertriebener »männlicher« Reaktionsweisen verdeckt werden soll. Er meint, der Neurotiker strebe in erster Linie die Sicherung seines Persönlichkeitsideals an. Der Nervöse lasse nur
»Empfindungswerte gelten, die einem Oben und Unten entsprechen und sucht diese ... regelmäßig auf einen ihm real erscheinenden Gegensatz von >Männlich - Weiblich< zu beziehen... Den als >weiblich< empfundenen Zügen seiner Seele - passives Verhalten, Gehorsam Weichheit, Feigheit, Zärtlichkeit - versucht er eine übertriebene Richtung ins >Männliche< zu geben, und er entwickelt Haß, Trotz, Grausamkeit, Egoismus und sucht Triumphe in jeder menschlichen Beziehung« (Adler, 1977a, S. 50).
In seinem späteren Werk hat Adler den Begriff des männlichen Protestes stark eingeengt und durch »Überlegenheitsstreben« ersetzt.
Der Ausdruck männlicher Protest wurde beibehalten für Verhaltensweisen von Frauen, die gegen ihre weibliche Rolle protestieren. (Ansbacher, 1972, S. 67)
Die Flucht vor der Frauenrolle
Die Vormachtstellung des Mannes hat nach Adler in die seelische Entwicklung der Frau eine schwere Störung gebracht. Die Psyche der Frau ist denselben Bedingungen ausgesetzt wie die aller Menschen, die aus ihrer Position heraus ein starkes Minderwertigkeitsgefühl beziehen. Adler ist der Ansicht, daß bei der seelischen Entwicklung der Frau als erschwerendes Moment »das Vorurteil ihrer vermeintlichen Minderwertigkeit hinzu«(komme). (1976 a, S. 125).
Im Kampf gegen die Frauenrolle lassen sich drei Typen von Frauen unterscheiden, deren abweichendes Verhalten als neurotisch angesehen wird.
Der erste Typus ist derjenige, »der mit einer Art Männlichkeit das Übel gutzumachen sucht«. (1976a, S. 126). Alle als männlich angesehenen Charaktereigenschaften und Tätigkeiten werden von solchen Frauen bevorzugt. Mädchen dieses Typs mit männlichem Protest wollen viel lieber ein Junge sein. Sie raufen gerne, kämpfen, klettern, hetzen und wetteifern in übertriebenen Sportleistungen. Während der Pubertät zeigt sich der männliche Protest und die Abneigung gegen die Frauenrolle besonders deutlich. Menstruationsbeschwerden ohne organische Ursache sind häufig ein Zeichen dafür. Sie sind als Vorzeichen anzusehen für eine mögliche Entwicklung zur frigiden Frau. (Kronberg, 1976, S. 56 f.)
Den zweiten Typus von Frauen, die gegen ihre Rolle rebellieren, beschreibt Adler als diejenigen, die mit einer Art Resignation durchs Leben gehen. Anpassung, Demut und Gehorsam sind ihre hervorstechenden Charaktereigenschaften. Sie fügen sich scheinbar überall ein, fassen immer mit an, aber häufig mit so großer Ungeschicklichkeit, daß man sich fragen muß, ob nicht ein Protest gegen das »Frau-Sein« in passiver Verweigerung zum Ausdruck kommt. Häufig sind Frauen dieses Typus krank, schwach oder unpäßlich, was heißen soll: ich bin der beste Mensch der Welt, aber leider krank und kann den gestellten Anforderungen nicht genügen. Z. B. sieht Adler in der Frigidität eine passive Form der sexuellen Ablehnung. Er spricht von einem »Leiden des Nichtmitgehens« (Adler, 1975, S. 74). Die Enttäuschung des Partner durch die »Sabotage« der Sexualität ist von der Frau unbewußt gewollt. Ihre Passivität, ihr Gefühl, Opfer zu sein, signalisieren eine masochistische Komponente. Doch hat diese Haltung auch eine Kehrseite: Durch die gefühlsmäßige Verweigerung kommt auch ein sadistisches Moment ins Spiel. Die frigide Frau strebt unter Umständen mit »weiblichen«, d. h. masochistischen Mitteln, die Mannesgleichheit an. Adler sieht hinter dem Symptom Frigidität Angst vor dem Mann. Die eventuell schon als Kind empfundene Schwächeposition und die damit verbundene Unterlegenheit soll in der Liebesbeziehung nicht noch einmal zustande kommen. Diese Angst vor dem »Schwach-Sein« verhindert die unbefangene Hingabe und stört die Liebesbeziehung.
Die dritte Möglichkeit, auf die Frauenrollen-Stereotype zu antworten, liegt für Adler darin, daß viele Frauen die Anschauung über ihre Minderwertigkeit voll und ganz übernehmen und die Vorrangstellung des Mannes bejahen und fördern und seine privilegierte Stellung befürworten.
Lösungsvorschläge
Adler maß der Erziehung große Bedeutung für die Charakterentwicklung zu. Seiner Auffassung nach werden im Erziehungsprozeß, in der Interaktion zwischen Mutter und Kind, später mit der gesamten Familie und Umwelt, die entscheidenden Weichen für die Charakterentwicklung gestellt. Nicht die biologischen Gegebenheiten, sondern die zwischenmenschlichen Kontakte entscheiden darüber, ob ein Kind kooperativ, mutig, selbstbewußt und lernfreudig wird oder ob es sich zu einem Nörgler, Besserwisser, Außenseiter oder Eigenbrötler entwickelt.
Deshalb sieht er eine Lösungsmöglichkeit zum Abbau der Geschlechterspannungen in einer Erziehung, die frei von geschlechtsspezifischen Merkmalen ist. Adlers Erziehungsideal liegt in der Entwicklung der Fähigkeiten, die den kooperativen Umgang mit den Mitmenschen ermöglichen, was persönliches Überlegenheitsstreben und Herrschaftsansprüche über andere ausschließt, was auch für den Herrschaftsanspruch in der Geschlechterbeziehung gilt.
Des weiteren setzte Adler große Erwartungen in die Erziehung in der Schule durch dafür besonders ausgebildete Lehrer. Er plädierte für Koeduktation in der Schule in der Hoffnung, daß hinter dem Arbeiten an einer gemeinsamen Sache das Konkurrenzdenken zurücksteht.
Kritische Einschätzung
Anknüpfend an unsere Fragestellung, inwiefern die Individualpsychologie zur Emanzipation von Frauen heute einen Beitrag leisten kann, soll zusammenfassend eine Antwort versucht werden.
Freud unternahm es, mit scharfsinnigen, zum Teil allerdings auch sehr abstrus anmutenden Überlegungen und Kombinationen, aus der angeblich biologischen Benachteiligung der Frau (Klitoris als minderwertiges Organ) eine allgemeine weibliche Minderwertigkeit zu postulieren. Ganz anders Alfred Adler. Er lenkt unsere Aufmerksamkeit weg vom individuellen Entwicklungsschicksal hin zu der allgemeinen Unterdrückung der Frau in unserer patriarchalischen Gesellschaft. Die durchgängige gesellschaftliche Wertung, die Männlichkeit mit Stärke und Weiblichkeit mit Schwäche gleichsetzt, übt verhängnisvollen Einfluß auf die familiale Sozialsituation und die Chancen der schulischen und beruflichen Bildung von Mädchen aus. Es ist ein Verdienst Adlers, darauf hingewiesen zu haben, daß die Frauen im Patriarchat stärkeren Rollen- und Identitätskonflikten ausgesetzt sind. Er hebt diese Tatsache klar ans Licht und plädiert für neue Umgangsformen zwischen den Geschlechtern, anstatt - wie Freud das getan hat - das Vorurteil von der Minderwertigkeit der Frau noch zu verfestigen.
»Wir haben keinen Grund, den bisherigen Zielen der Frauenbewegung nach Freiheit und Gleichberechtigung entgegenzutreten, wir müssen sie vielmehr tatkräftig unterstützen, weil schließlich Glück und Lebensfreude der ganzen Menschheit davon abhängen, daß Bedingungen geschaffen werden, die es der Frau ermöglichen, sich mit der Frauenrolle auszusöhnen, sowie davon, wie der Mann die Frage seiner Beziehung zur Frau zu lösen imstande ist.« (Adler, 1976a, S. 136)
Von Nachteil erscheinen uns Adlers manchmal etwas zu allgemein und unkonkret gehaltenen Äußerungen, wie zum Beispiel im obigen Zitat »...sich mit der Frauenrolle auszusöhnen...« Stehen wir der Individualpsychologie aufgeschlossen gegenüber, gelingt es uns durchaus, den Satz im Kontext des bisher Ausgeführten richtig einzuordnen, d. h. es ist nicht anzunehmen, daß Adler für eine Verfestigung der »traditionellen« Frauenrolle eintritt. Bei kritischer Betrachtung müssen wir den Hinweis auf Ungenauigkeit gelten lassen.
Des weiteren betont Adler zwar, daß an dem Dilemma der Geschlechterrollenstereotypen »die Irrwege unserer Kultur« (1976a, S. 135) schuld sind. Wir vermissen hier allerdings zumindest einen Hinweis auf die Machtverhältnisse in der patriarchalischen Gesellschaft und darauf, daß die »Machtinhaber«, die Männer, nicht ohne weiteres bereit sein werden, auf die ihnen daraus entstehenden Vorteile zu verzichten.
Wir sind der Auffassung, daß die Individualpsychologie mit ihrem humanistischen Wertsystem, in dem der Begriff des Gemeinschaftsgefühls eine zentrale Bedeutung einnimmt, weitaus nützlichere Ansätze zur Emanzipation bietet als die Psychoanalyse. Von besonderer Wichtigkeit ist die ganzheitliche, strukturelle und finale Betrachtungsweise, die Adler mit dem Begriff der zielgerichteten Einheit der Persönlichkeit in die Tiefenpsychologie eingeführt hat. Die Individualpsychologie ermöglicht unserer Auffassung nach ein umfassenderes Verständnis von den Konflikten, Motivationen und Handlungsweisen von Frauen, weil sie die zwischenmenschliche Bezogenheit, die gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen in ihre Betrachtungsweise mit einschließt.
Den größten Vorteil aber, den wir der Individualpsychologie vor der Psychoanalyse verdanken, ist die Tatsache, daß Adler praktikable. Wege aufgezeigt hat, das besondere Minderwertigkeitsgefühl der Frau anzugehen, nämlich durch Psychotherapie. Es ist hier nicht die Rede davon, das sei noch einmal deutlich gesagt, den organisierten Kampf von Frauen gegen das Patriarchat durch Psychotherapie zu ersetzen, sondern - wie dies wohl auch Adler vorschwebte - ihn weit wirksamer zu gestalten, indem in der Psychotherapie eine Aufhebung psychischer Zwänge und Abhängigkeiten erfolgt. Das erst verschafft der einzelnen Frau genügend Kraft und Energie, sich auf den Emanzipationsprozeß zu konzentrieren und sich nicht in irgendeiner offenen oder verdeckten Symptomatik zu verschleißen wie z. B. Frigidität, Migräne, Ohnmachtsgefühle, Putzzwang u. v. a., die völlig untaugliche Mittel in der Auseinandersetzung mit dem Mann sind. Alle diese Symptome sind nach Adler Ausdruck eines neurotischen Geltungswahnes, der in allem das genaue Gegenteil von dem darstellt, was Ebenbürtigkeit oder Gleichwertigkeit von Menschen beinhaltet.
Aus diesem Zusammenhang müssen wir den wichtigen Schluß ziehen, daß nur diejenige Frau in der Lage ist, Ebenbürtigkeit und Gleichwertigkeit zu empfinden und daher auch anzustreben, die ihre psychische Symptomatik aufgearbeitet hat. Wird diese psychische »Bereinigung« der Motivation zur Emanzipation vergessen bzw. ausgespart, kann es leicht geschehen, daß unter sehr wohlklingenden Schlagworten wie Emanzipation, Befreiung, Sozialismus etc. eine neuartige Form der Ungleichheit der Menschen angestrebt wird, die den neurotischen Motiven eines nach patriarchalisch-reaktionärem Muster erzogenen Menschen entspricht. Weder blinde Rebellion, noch konformistische Anpassung kann der Weg sein, sondern das Ineinandergreifen von psychotherapeutisch angeleiteter Selbsterkenntnis und politischer Organisation, wobei das Schwergewicht zunächst auf Selbsterkenntnis liegen soll. Ein Ich-schwacher, ängstlicher und symptomgeplagter Mensch wird wohl kaum in der Lage sein, eine selbstbewußte Politik zu machen.