Karen Horneys neopsychoanalytische Theorie der Weiblichkeit

Karen Horney gehört zu den Tiefenpsychologen der zweiten Generation, wenn man Freud, Adler und Jung als erste Generation betrachtet. Sie wird der »Kulturschule« zugerechnet, die heute noch im Rahmen der »Humanistischen Psychologie« eine führende Rolle spielt, und gilt neben Erich Fromm, Harry Stack Sullivan und Harald Schultz-Hencke als Hauptvertreterin der Neopsychoanalyse.
Wie der Name bereits andeutet, baute diese tiefenpsychologische Richtung zunächst auf den Erkenntnissen Sigmund Freuds, auf. In den Jahren von 1935 bis 1950 unterzog Horney jedoch die psychoanalytische Sexualtheorie mit ihren weit verzweigten Ausläufern einer ähnlich tiefgreifenden Revision wie der Individualpsychologe Alfred Adler 30 Jahre zuvor.
Vor allem kritisierte Horney die Freudsche Weiblichkeitstheorie hinsichtlich dreier Elemente:

  • a) Sie griff Freuds Theorie der Bisexualität an, daß das Mädchen bis zum 5. Lebensjahr keine eigenständige Entwicklung durchmache und eigentlich bis dahin ein kleiner Mann sei;
  • b) Sie stellte seine Theorie des Penisneides in Frage; und sie wandte sich
  • c) gegen Freuds Auffassung vom primären Masochismus der Frau.

Bisexualität

Mit der Behauptung Freuds, daß die frühe Triebentwicklung des Mädchens synchron verlaufe zu der des Jungen und daß die frühen genitalen Empfindungen nicht an der Vagina, sondern ausschließlich an der Klitoris auftreten, setzt sich Horney in ihrem Aufsatz »Die Verleugnung der Vagina« (1977) auseinander. Horney bezweifelt, daß die genitalen Sensationen des Mädchens sich im wesentlichen an der Klitoris abspielen, denn

»Auskünfte von psychologisch interessierten Frauen und Kinderärzten gehen in der Mehrzahl darauf hinaus, daß gerade in den frühen Kinderjahren vaginale Onanie mindestens so häufig sei wie die an der Klitoris«. (Horney 1977, S. 135)

Vielmehr sei anzunehmen, daß die vaginale Onanie viel verbreiteter sei als die klitoridale und sich dieses Verhältnis erst in späteren Kinderjahren zugunsten der Klitoris umkehre. Daß solche Empfindungen bei vielen Frauen fehlen, wird auf die Ängste zurückgeführt, die sich dem Willen zur Lust entgegenstellen. Demnach handle es sich nicht um ein Unentdecktsein der Vagina, wie Freud annahm, sondern um eine ängstliche »Verleugnung« der Vagina.
Wenn die Vagina also bereits in der frühen Kindheit als erogene Zone existiert und damit Mädchen eine eigene spezifische Lustquelle besitzen, müssen es in erster Linie Umwelt- und Erziehungseinflüsse sein, die zum Penisneid führen.

Penisneid

Horney unterscheidet zwischen dem primären Penisneid des kleinen Mädchens und den Männlichkeitswünschen erwachsener Frauen. Der primäre Penisneid liegt offenkundig in dem rein anatomischen Unterschied begründet. Er wird gebildet von direkten Kindheitsbeobachtungen des kleinen Mädchens und den daraus resultierenden Benachteiligungen, die sich aus den verschiedenen Geschlechtsteilen ergeben:

»die augenscheinliche Bevorzugung des Knaben hinsichtlich der Harnerotik, des Schautriebes, der Onanie«. (Horney, 1977, S. 46)

Den Penisneid oder die Männlichkeitswünsche erwachsener Frauen hingegen interpretiert Horney als symbolischen Ausdruck des Neides auf die Privilegien des Mannes in einer patriarchalischen Kultur. Unsere ganze Kultur ist männlich geprägt, und sowohl Männer als auch Frauen legen an die weibliche Entwicklung einen männlichen Maßstab an, der dem Wesen der Frau nicht gerecht wird. Die Frauen entwickeln deshalb starke Minderwertigkeitsgefühle.

»In der Regel erwachsen die Minderwertigkeitsgefühle eines Mannes nicht aus der Tatsache, daß er ein Mann ist; dagegen kommt sich die Frau oft minderwertig vor, nur weil sie eine Frau ist.« (Horney, o. J., S. 94 f.)

Bereits vom ersten Lebenstag eines Säuglings an verhalten sich Vater und Mutter einem Mädchen gegenüber anders als einem Jungen, anders entsprechend ihren eigenen durch die Kultur geprägten Vorstellungen und Wertungen über das Männliche und das Weibliche. So erfährt die Frau vielfältige  Zurücksetzungen gegenüber männlichen Geschwistern, Vorrechten des Mannes hinsichtlich Besitz, Geltung und Selbstdurchsetzung. Aus den selbstverständlichen Privilegien des Mannes, wie Recht auf freie Partnerwahl, sexuelle Freiheit, Unabhängigkeit, Erfolg etc. resultieren unbewußte Phantasien und Wünsche, männlich sein zu wollen. Aus dem Erleben heraus, daß diese männlichen Ansprüche natürlicherweise nicht erfüllt werden können, erwachsen weitere Gefühle der Benachteiligung dem Mann gegenüber.
Menstruationsbeschwerden, irrationale Ängste vor Schwangerschaft und Mutterschaft, Ablehnung der Frauenrolle sind Symptome für intensive Männlichkeitswünsche und Phantasien. Horney bezeichnet diese negative Einstellung zur weiblichen Rolle als Männlichkeitskomplex. Viele Frauen reagieren auf die Vorrangstellung des Mannes mit Neid, Eifersucht und daraus resultierendem überhöhtem Ehrgeiz. Aber trotz dieser Geringschätzung des Mannes identifiziert sich die Frau häufig mit der männlichen Geringschätzung der Frauen, denn:

»Wenn sie schon selbst kein Mann ist, will sie sich wenigstens in seinem Urteil über die Frauen gleichstellen.« (Horney, 1977, S. 63)

Diese Wertsicht macht es ihr dann allerdings unmöglich, ihre eigenen Stärken zu erkennen. Das ständige Messen mit dem ihr wesenfremden - nämlich männlichen - Maßstab führt zu ständigen Frustrationen und damit verbunden zur Erschütterung ihres Selbstwertgefühls. Das Gefühl, grundsätzlich vom Schicksal benachteiligt zu sein, dient als Alibi für den eigenen verdrängten und übersteigerten Ehrgeiz und dem geschwächten Selbstwertgefühl. Horney geht — im Gegensatz zu Freud - davon aus, daß alle Frauen entsprechend ihrer individuellen Möglichkeiten zu einer schöpferischen Tätigkeit fähig seien. Nur sei für jede schöpferische Tätigkeit ein gewisses Selbstvertrauen nötig.
Aufgrund der weiblichen Sozialisation, in der alle Bemühungen in Richtung Expansion und intellektuelles Arbeiten gebremst werden, hat die Frau es nicht gelernt, sich durch Ausdauer und Training Wissen und Fertigkeiten intellektueller Art anzueignen.

»Statt ihr unausweichliches Scheitern auf ihre unrealistischen Erwartungen zurückzuführen, halten sie (die Frauen) sich einfach für unbegabt. Sie geben dann die Arbeit, die sie gerade machen, auf; sie erwerben sich mit ihrer fehlenden Ausdauer nicht das Wissen und die Fertigkeiten, die für den Erfolg unerläßlich wären; und der Widerspruch zwischen dem gesteigerten Ehrgeiz und dem geschwächten Selbstvertrauen nimmt so immer mehr zu.« (Horney, 1977, S. 185)

In diesem Zusammenhang kritisiert Horney stark die Vorgehensweise der Psychoanalyse bei der Erklärung des Penisneides. Das Postulieren eines Penisneides hält sie für unanalytisch, und zwar deshalb, weil nicht weiter hinterfragt wird, was hinter den vordergründigen Peniswünschen steckt. Mit der Theorie eines Penisneides kommt man jeder Frau mit Männlichkeitswünschen entgegen,

»...denn es ist für die Patientin subjektiv viel angenehmer, einen Penisneid zu haben, sich damit als unaufhebbar geschädigt zu fühlen und dafür der Natur oder der Mutter die Schuld in die Schuhe zu schieben, als eingestehen zu müssen, daß sie bisher auf die Entwicklung eigenen Ehrgeizes und eigener Geltung verzichtet und stattdessen den Mann zum Exekutivorgan ihrer latenten Geltungswünsche gemacht hat.« (Heigl 1964, S. 87)

Die Aufgabe der Analyse bestünde also darin, die zerstörerischen Elemente dieses Ehrgeizes aufzudecken und die Folgen in Form von Hemmungen in der Arbeits- und Liebesfähigkeit, der Selbstverkleinerung und der Furcht vor Mißerfolg aufzuzeigen. Dann ist die Frau nicht mehr darauf fixiert, die Realisierung ihrer Wünsche und Hoffnungen vom Mann vergeblich zu erwarten, sondern setzt sich selber in Bewegung und entwickelt eigene Fähigkeiten, um ihre Selbstverwirklichung damit voranzutreiben.

Der weibliche Masochismus

Freuds Unterstellung, die Frau habe einen primären Masochismus und ein geradezu triebhaftes Streben nach Leiden und Unterwerfung (Freud, 1969, S. 537), erweiterte Helene Deutsch noch dahingehend, daß sie den Masochismus als Elementarkraft des weiblichen Seelenlebens ansah. (Deutsch, 1948). Sie unterstellte den Frauen, daß sie in der Sexualität vergewaltigt, im intellektuellen Bereich erniedrigt werden wollten und daß der Höhepunkt der masochistischen Bedürfnisse die Geburt eines Kindes darstelle.
Zwar schließt sich Horney Beobachtungen psychoanalytischer Vertreter an, bei Frauen unverhältnismäßig häufiger als bei Männern masochistische Komponenten beobachtet zu haben, doch führt sie dies nicht auf einen biologisch verankerten Trieb zurück, sondern weist wiederum auf die kulturellen Gründe hin.

»Meine Auffassung geht, kurz gesagt, dahin, daß masochistische Phänomene den Versuch darstellen, Sicherheit und Befriedigung im Leben durch Unauffälligkeit und Abhängigkeit zu erreichen.« (Horney, o.J., S. 91 f.)

Es gibt Kulturfaktoren, die masochistisches Verhalten von Frauen fördern. Die Erziehung zur Preisgabe des Willens, der Verzicht auf Eigenständigkeit, die Einschätzung, daß die Frau dem Mann unterlegen ist und somit die Verminderung des weiblichen Selbstwertgefühls nach sich zieht, sowie die ökonomische Abhängigkeit sind nur einige Gründe.
Die starren Ideologien über die angebliche Natur der Frau haben den Sinn, die Frau mit ihrer untergeordneten Rolle zu versöhnen und sie glauben zu machen, daß gerade darin ihre Erfüllung liegt.

»Es scheint mir deshalb nicht übertrieben, daß in solchen Gesellschaften masochistische Haltungen - oder besser, mildere Äußerungen des Masochismus - bei Frauen für gut befunden, bei Männern mißbilligt werden.« (Horney, 1977, S. 216)

Ebenso kulturbedingt und nicht biologisch festgelegt sieht Horney das Problem, daß die Frauen zur Überbetonung der Liebe neigen, was zu großer Furcht vor Liebesverlust führt.
An sich ist das Bedürfnis, geliebt zu werden, kein neurotisches Phänomen. Jedem gesunden Menschen liegt daran, von Menschen geliebt und geschätzt zu werden, die ihm selbst etwas bedeuten. Das neurotische Liebesbedürfnis aber ist zwanghaft und wahllos. Auch hier weist Horney auf die jahrhundertelange bestehenden Bedingungen wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit der Frau hin. Liebe und Hingabe wurden ihr als spezifisch weibliche Tugend vermittelt, durch die sie sich definieren mußte. Ihre Beziehung zu Mann und Kindern stellte sich für sie als einzige Möglichkeit dar, zu Sicherheit und Ansehen zu gelangen. Der enge Lebensraum der Frau ließ bei ihr die Bestätigung durch die Liebe in den Vordergrund treten und zu einer so großen Überbewertung führen. Hingegen ist der Mann nicht so abhängig davon, da er mehr Bestätigungsmöglichkeiten außerhalb der Familie hat.

»Aus der Gesamtheit unserer Kulturlage, aus der die Frau die Liebe als den einzigen Wert ansieht, der im Leben zählt, lassen sich auch gewisse Eigenarten der modernen Frau erklären. Eine dieser Eigenarten ist ihre Haltung in bezug auf das Altern.« (Horney, o. J., S. 93)

Horney weist hier nach, welch ein fataler Zusammenhang besteht zwischen den Depressionen und der Lebensfurcht der Frauen um 50 und den beschnittenen Möglichkeiten der Frauen, sich anders als über ihren Körper und ihre damit verbundene erotische Anziehung zu definieren. So wird der Frau die Möglichkeit versperrt, Eigenschaften zu schätzen, die außerhalb der erotischen Sphäre liegen wie Selbständigkeit, Mut, Wissen, Unabhängigkeit und Reife.

Kritische Einschätzung

Viele der ideologischen Auffassungen über die Frauen erklärt Horney damit, daß die Frau für den Mann immer ein unheimliches Wesen war. Diese geheime Angst, der bisher wenig Beachtung geschenkt wurde, fließt auch in die wissenschaftliche Forschung des Mannes über die Frau mit ein. Frauenverherrlichung ebenso wie Frauenverachtung sind die Mechanismen, derer sich der Mann bedient, um sich mit dieser Angst nicht zu konfrontieren.

»Heißt es in der liebenden und anbetenden Haltung: vor so einem wunderbaren Geschöpf brauche ich keine Angst zu haben, so heißt es in der herabwürdigenden Haltung: vor einem - nehmt alles nur in allem: minderwertigen Wesen Angst zu haben, wäre doch geradezu lächerlich.« (Horney, 1977, S. 112)

Daß Horney mit Freuds Auffassungen über die weibliche Psyche nicht übereinstimmen konnte, ist naheliegend; da Freud eine männlich-zentrierte Tiefenpsychologie und damit verbunden eine Ideologie des Patriarchats geschaffen hat. Horneys Bindung an Freud war nicht so eng wie die von Helene Deutsch, Marie Bonaparte oder Ruth Brunswick, so daß sie den Mut hatte, ihre abweichenden Meinungen deutlich zu formulieren. Ihre Zweifel an der Psychoanalyse - trotz ihrer Hochachtung vor den Leistungen Freuds - waren der Ausgangspunkt einer tiefgreifenden Revision der Libidotheorie, bedeuteten das Aufzeigen der sozialen und kulturellen Zwänge, unter denen die weibliche Entwicklung verläuft und stellten einen wichtigen Beitrag dazu dar, die Psychoanalyse aus ihren Engen und Einseitigkeiten herauszuführen.
Trotz diesem wichtigen Schritt der Revision der Psychoanalyse hin zur kulturellen und sozialen »Natur« des Menschen bleiben die gesellschafts- und kulturkritischen Analysen Horneys an der Oberfläche stecken. Horneys Orientierung an der kulturanthropologischen Schule der USA, auf die wir in diesem Zusammenhang nicht näher eingehen können, ist eine entscheidende Schwäche ihrer Theorie, die sehr leicht dazu führt, Psychoanalyse zum Anpassungsinstrument an eine bestehende Gesellschaft zu machen. Dies hat Horney folgerichtig schwerwiegende Kritik seitens der Frankfurter Schule eingebracht. So sieht z. B. Marcuse gerade darin, daß Horney das Libidokonzept Freuds abgelehnt, die Gefahr, daß damit auch der kritische Bezugspunkt zur Gesellschaft, die menschliche Natur, eliminiert worden sei. (Marcuse, 1970)
Wir können uns aus vielen Gründen diesem Versuch Marcuses, Freud als »kritischen Autor« darzustellen, nicht anschließen, nehmen aber gleichwohl die Kritik auf, daß Neurose immer als eine Rebellion des Menschen gegen unmenschliche gesellschaftliche Verhältnisse anzusehen ist. Doch meinen wir, daß nicht eine »Triebnatur« des Menschen rebelliert, sondern immer der »ganze Mensch«, was im folgenden Kapitel noch deutlicher werden wird.