Zusammenfassung

Wir haben uns in diesem Teil der Arbeit bemüht, tiefenpsychologische Theorieansätze darzulegen und ihre Relevanz für das Problem der neuen Geschlechtsidentität zu begründen, einer Identität, die auf den androgynen Menschen abzielt und damit Emanzipation anstrebt. Zur Verdeutlichung möchten wir noch einmal den zentralen Gedanken hervorheben.
Aufgrund der gesellschaftlichen Unterbewertung der Frau im Produktions- und Reproduktionsbereich erwirbt schon das kleine Mädchen - vermittelt durch den Sozialisationsprozeß - sehr frühzeitig ein Gefühl der Unterlegenheit bzw. Minderwertigkeit gegenüber dem Jungen. Das Mädchen fühlt sich also als Mädchen minderwertig; eine entsprechende Gefühlsqualität gibt es beim Jungen nicht. Für die tiefenpsychologische Forschung ist daran nun wichtig, was dieses Gefühl für den Aufbau der Persönlichkeit eines Kindes bedeutet, wie und auf welchen Wegen das Mädchen dieses Gefühl in seinen Charakter einbaut.
Von Adler haben wir dabei erfahren, daß jeder Mensch seine erlebten Gefühle dazu verwendet, einen Lebensstil bzw. eine Orientierungslinie für das Leben zu erschaffen, die vor allem in der Neurose zu einem starren und schwer veränderbaren System ausgebaut wird. Die so entstehende Charakterkonstanz macht es aufgrund der neurotisierenden Sozialisation den meisten Menschen fast unmöglich, im späteren Leben irgendwelche Korrekturen ihrer Sichtweise von den Menschen und der Welt zuzulassen. Es bilden sich geradezu Vorurteile aus, die dadurch gekennzeichnet sind, daß sie wegen ihrer tiefen emotionalen Verankerung selbst widersprechenden Erfahrungen keinerlei Raum zur Korrektur gewähren können. Sie werden vielmehr selbst bis zur größten Unlogik und Gewaltanwendung verteidigt.
Wir haben nun des weiteren erfahren, daß nach Adler und Horney das Mädchen bzw. die Frau in verschiedener Weise auf das anerzogene Minderwertigkeitsgefühl eingehen kann: entweder kann sie sich damit abfinden wollen, dagegen aktiv protestieren oder eine passive Verweigerung in Gang setzen. Alle drei Lösungen sind jedoch mit erheblichen psychischen Kosten verbunden. Diese Kosten werden über den »Krankheitsgewinn« kompensiert, der darin bestehen kann, daß die Frauen, wie Horney genau ausgeführt hat, in eine passive und bequeme Position verfallen und sich vermeintlich »männlich stark« gebärden, wenn sie sich in der Sexualität verweigern oder den Mann in anderen Bereichen ihre Verachtung mit »weiblich schwachen« Mitteln spüren lassen. Auf diese Art und Weise verstrickt sich die Frau in neurotische Beziehungsmuster, die einer rein verstandesmäßigen Argumentation nicht mehr zugänglich sind. Die psychische Struktur hat sich gegenüber der Realität so verfestigt, daß Aufklärung über die vorliegenden Irrtümer und Entfremdungserscheinungen beinahe unmöglich erscheint.
Trotzdem ist es nun die Aufgabe der Psychotherapie, an die dem neurotischen Geschehen zugrundeliegenden nicht-bewußten emotionalen Konflikte heranzukommen und sie in der Beziehung zum Therapeuten in Richtung androgyner menschlicher Beziehungen aufzulösen. Wie dies geschieht, werden wir in den folgenden Kapiteln versuchen darzulegen. Hier werden wir über die psychischen Zusammenhänge, die Adler und Horney seinerzeit gefunden haben, hinausgehen. Ihre Theorien haben sich in vieler Hinsicht, wie schon angedeutet, als zu eng erwiesen. Zum einen erscheint es notwendig, eine umfassendere Theorie vom Menschen zu entwickeln, in der nicht nur die Gefühle und Motivationen des Menschen zur Sprache kommen, sondern der ganze Mensch mit all seinen psychischen und vor allem auch geistigen Regungen; zum anderen müssen in Anbetracht der riesigen Aufgabe, Emanzipation möglichst allen Menschen besser zugänglich zu machen, neue therapeutische Konzeptionen entwickelt werden, die die abgekapselte und langwierige Zweierbeziehung von Therapeut und Analysand überwindet.
Wir nehmen an, daß nun deutlich geworden ist, wie tief im Menschen diejenigen Strukturen verankert sind, die Emanzipation verunmöglichen und daß Psychotherapie für Emanzipation unumgänglich ist.