Es ist an der Zeit, zu unserem eigentlichen Handlungsfaden zurückzukehren. In diesem zusammenfassenden Kapitel möchte ich einige der Schlußfolgerungen, die ich aus meinen Untersuchungen zur feministischen Kritik an Wissenschaft und Erkenntnistheorie gezogen habe, auf etwas andere Art und Weise reformulieren.
Dilemmata und Spannungsverhältnisse
Ein Ziel dieser Untersuchung bestand darin, im traditionellen westlichen wie im feministischen Denken die schädlichen Inkohärenzen, Dilemmata, Dissonanzen und Spannungsverhältnisse von den wertvollen und nützlichen zu trennen. Die eigentlich gefährlichen Spannungen, so läßt sich in vorläufiger Zusammenfassung sagen, sind die, welche wir unterdrücken, verbergen, ignorieren wollen. Ihnen geben wir die Macht, uns zu fangen und zu fesseln; sie sind es, die uns zu Handlungen und Begründungsstrategien führen, zu denen es keine vernünftige Alternative zu geben scheint. Die traditionellen Wissenschaftsdiskurse sind voll von solch zerstörerischen Spannungen. Sie verleiten uns dazu, wissenschaftliche Behauptungen und Praxen sowie Behauptungen über die Wissenschaft zu unterstützen, die in historischer Hinsicht mystifizierend und in erkenntnistheoretischer und politischer Hinsicht rückschrittlich sind. Doch habe ich mich dafür eingesetzt, bestimmte Spannungen innerhalb der feministischen Ansätze nicht nur offen anzuerkennen, sondern sie sogar enthusiastisch zu befürworten. Ich bin davon ausgegangen, daß diese Spannungen wertvolle alternative Vorstellungen reflektieren, die im direkten Gegensatz zu den Zwangsverhältnissen und regressiven Strukturen der modernen Wissenschaft stehen.
Diese Erwägungen führen uns zu der Beobachtung, daß es nicht immer die stabilen und kohärenten Theorien sind, die am annehmbarsten erscheinen. Wenn wir den gesellschaftlichen Ursprüngen der Inkohärenzen und Schwankungen in unseren eigenen Denk- und Praxisformen nachgehen, können wir daraus Ideen und Vorstellungen entwickeln, die uns verschlossen blieben, würden wir die Spannungen und Schwankungen in unserem Denken unterdrücken.
Die begrifflichen Unsicherheiten, durch die feministische Kritik an Wissenschaft und Erkenntnistheorie gekennzeichnet ist, haben verschiedene Ursachen. Zum Teil resultieren sie aus einer allzu unkritischen Konzentration auf die Mystifikationen der Moderne, zum Teil aus der Vielfalt nicht immer miteinander vereinbarer theoretischer Kategorien, die wir aus nicht-feministischen Diskursen in unsere Analysen der Wissenschaft und des sozialen Geschlechts übernehmen. Doch ergeben sie sich auch aus der Instabilität der modernen Gesellschaft - aus der Vielfältigkeit der Probleme, die sich in unseren Diskursen niederschlagen.
Die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Rassen, den Klassen, den Kulturen wie auch zwischen den Geschlechtern verändern sich mit einer Geschwindigkeit, mit der unsere theoretischen Bemühungen nicht Schritt halten können. Dergestalt ist die gegenwärtige Situation für feministische Analysen nicht einfach mit dem (von Kuhn so bezeichneten) vorparadigmatischen Forschungsstadium vergleichbar. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Gegenstand unserer Untersuchungen bilden, die uns als Erkennend-Handelnde immer wieder neu hervorbringen, und innerhalb derer unsere analytischen Kategorien sich herausbilden und geprüft werden, sind ihrerseits in einer überschwänglichen Umwandlung begriffen. Sie werden jetzt weder durch die Vernunft, noch durch die Willenskraft, noch durch die »Überarbeitung des Materials«, noch selbst durch den politischen Kampf auf eine Weise zur Ruhe gebracht, über die Feministinnen erfreut sein sollten. Es wäre für den Feminismus geschichtlich verfrüht und illusionär, wollte er zu diesem Zeitpunkt ein theoretisches oder wissenschaftliches Paradigma ausarbeiten, dessen begriffliche und methodologische Annahmen wir alle akzeptieren könnten oder würden. Zu diesem geschichtlichen Zeitpunkt sollten die analytischen Kategorien im Feminismus instabil sein. Wir müssen lernen, daß unser Ziel im Augenblick nur darin bestehen kann, zwischen und über den Grundrhythmen der verschiedenen patriarchalen Theorien und unserer eigenen melodischen Transformationen dieser Theorien eine Art von erhellender Improvisation zu intonieren, statt den Rhythmus irgendeiner bestimmten Theorie (Marxismus, Psychoanalyse, Empirismus, Hermeneutik, Postmoderne etc. pp.) so zu verändern, daß er zu dem paßt, was wir gerade sagen wollen. Das Problem besteht darin, daß wir nicht wissen und auch nicht wissen sollten, was wir zu einer ganzen Reihe von begrifflichen Auswahlmöglichkeiten sagen wollen - außer daß diese Möglichkeiten selbst für unsere Ansätze verlustträchtige Dilemmata hervorbringen. Genauer gesagt besteht das Problem darin, daß es in den feministischen Theorieansätzen kein »wir« gibt - und die Anerkennung dieser Tatsache kann eine wichtige Ressource für unsere Politik und unsere Erkenntnissuche darstellen.[1] Zwar ist dies im Hinblick auf die mit dem sozialen Geschlecht und der Wissenschaft verbundenen Problemstellungen ein spannender Moment für das Leben und Denken, doch ist er ungeeignet, um einen definitiven Überblick über diese Probleme und eine Kritik an ihnen begrifflich ausarbeiten zu können. Ich vermute, daß unsere zentralen Probleme nicht mit den Begriffen gelöst werden können, mit denen wir sie bisher diskutiert haben. Ich denke mittlerweile, daß wir viele unserer Auseinandersetzungen nicht als Benennung von zu lösenden Problemen, sondern als Hinweis auf die Möglichkeit verstehen sollten, mit Problemen besser umgehen zu können. Die Destabilisierung des Denkens hat die Vorstellungskraft oft sehr viel stärker angeregt als die Wiederherstellung des Gleichgewichts es vermocht hätte, und die feministische Wissenschaftskritik ist ein besonders fruchtbares Beispiel für einen Kampfplatz, auf dem die Kategorien des westlichen Denkens der Destabilisierung bedürfen. Die Kritik begann mit Fragen zur Diskriminierung von Frauen in der gesellschaftlichen Struktur der Wissenschaft, die von politischer Streitlust, aber theoretischer Harmlosigkeit zu zeugen schienen. Doch führte ihre Weiterentwicklung sie sehr rasch dazu, die grundlegendsten Annahmen des modernen westlichen Denkens und damit die Kategorien, innerhalb derer jedwede Antwort auf diese Kritik formuliert werden könnte, in Frage zu stellen.
Die zentralen Strömungen des Feminismus stellen ihn als eine allumfassende Theorie dar was vernünftig ist. Durch die Omnipräsenz der Frauen und der Geschlechterverhältnisse läßt sich der Gegenstandsbereich dieser Theorie nicht auf Einzeldisziplinen oder irgendeine Reihe von Wissenschaften beschränken. Alle Versionen der wissenschaftlichen Weltanschauung gehen davon aus, daß die Wissenschaft eine allumfassende Theorie ist; alles, was begreifenswert ist, kann, so wird angenommen, mit Hilfe der modernen Wissenschaft erklärt oder interpretiert werden. Doch gibt es noch eine andere Welt, die sich dem wissenschaftlichen Bewußtsein entzieht - die Welt der Emotionen, der Gefühle, der politischen Werte; die Welt der gesellschaftlichen und geschichtlichen Besonderheiten, die durch den Roman, das Schauspiel, die Poesie, die Musik, die Kunst erforscht wird. Es ist die Welt, in der wir alle unter dem Damoklesschwert ihrer zunehmenden Vereinnahmung durch die wissenschaftliche Rationalität die meiste Zeit unseres Wachens und Träumens zubringen.[2] Ein Teil der feministischen Anstrengungen zielt darauf ab, die Beziehung zwischen diesen beiden Welten zu erhellen, um deutlich zu machen, wie sie sich wechselseitig formen und gestalten. Bei unserer Untersuchung der feministischen Wissenschaftskritik mußten wir uns mithin auch dieser anderen Welt annehmen und uns mit den historischen Besonderheiten und den unterdrückten psychischen Momenten und Phantasien beschäftigen, die die wissenschaftliche Weltanschauung fortwährend durchdringen, nur um von ihr beharrlich verleugnet zu werden.
Allerdings bestehen gleichermaßen wichtige Strömungen im Feminismus darauf, daß es sich hierbei nicht um eine allumfassende Theorie handeln könne. Wenn dereinst die »Frau« in »Frauen« aufgelöst und erkannt worden sein wird, daß das »soziale Geschlecht« nichts ein für allemal Festgelegtes ist, dann wird auch der Feminismus keine Theorie mehr sein, die die Stimme einer naturalisierten oder substantialisierten Sprecherin wiedergibt. Jedoch bleibt der Feminismus als fundamentaler Bestandteil unserer politischen Identitäten und als Triebkraft für die Entwicklung politischer Solidarität erhalten. Wie könnte es auch anders sein in einer Welt, in der wir jetzt die Vielzahl moralischer Ungeheuerlichkeiten zu benennen vermögen, die nur zu dem Zweck entworfen worden sind, uns in unseren jeweiligen kulturell determinierten weiblichen Tätigkeiten wie in einer Zwingburg festzuhalten? Doch aufgrund der geschichtlichen Besonderheit der sexistischen Strukturen ermutigt uns diese Richtung im feministischen Denken, unsere »Bindestriche« zu verteidigen und zu schätzen sind sie doch theoretischer Ausdruck unserer vielfältigen Kämpfe. Den Behauptungen patriarchaler Diskurse, daß eine kohärente Theorie nicht nur ein guter Zweck in sich selbst, sondern auch der einzig verläßliche Leitfaden für erstrebenswertes Handeln sei, sollten wir keine Treue bewahren. Statt dessen können wir als unseren Maßstab für eine angemessene Theoriebildung die Treue zu bestimmten Parametern der Dissonanz gegenüber und zwischen den Behauptungen dieser Diskurse ansehen. Eine solche Art und Weise der Theoriebildung steht im Einklang mit der feministischen Betonung kontextgebundenen Denkens und Entscheidens und der Prozesse, die für das Begreifen einer nicht von uns geschaffenen Welt notwendig sind - einer Welt, in der wir erkennen, daß die Realität sich nicht in die Formen gießen läßt, die uns als wünschenswert erscheinen mögen. Wir müssen fähig sein, bestimmten Arten geistigen, politischen und seelischen Unbehagens einen Wert beizumessen, und bestimmte allzu klare Lösungen für die von uns gestellten Probleme als ungeeignet, wo nicht gar gefährlich anzusehen.
- Eine Reihe von Unsicherheiten in der feministischen Wissenschaftskritik wird durch grundlegende Spannungen zwischen unseren Zielvorstellungen hervorgerufen, die einerseits der Moderne, andererseits der Postmoderne verpflichtet sind. Dazu gehört auch die überflüssige Frage, ob man die unseriöse oder die normale Wissenschaft kritisieren solle - beides ist notwendig.
- Ferner geht es um den offensichtlichen Gegensatz zwischen der Konstruktion einer Nachfolgewissenschaft und der anders gearteten (aber nicht weniger anspruchsvollen) Aufgabe, jene Annahmen zu dekonstruieren, auf die alles sich gründet, was der uns bekannten Wissenschaft ähnelt. Auch hier halte ich beide Projekte für notwendig, weil jedes Projekt den Erfolg des jeweils anderen erforderlich macht. Eine angemessene Nachfolgewissenschaft wird sich auf die Ressourcen gründen müssen, die sich aus den Unterschieden in den gesellschaftlichen Erfahrungen und den emanzipatorisch-politischen Zielvorstellungen der Frauen ergeben; und eine wirksame Dekonstruktion der in unserer Kultur vorherrschenden Wissenschaftsmacht erfordert eine gleichermaßen starke Solidarität, die sich gegen rückschrittliche und mystifizierende Kräfte der Moderne richtet.
- Drittens ergibt sich die Frage, ob der Feminismus mit einer Stimme oder mit einer Stimmenvielfalt sprechen soll. Hier räume ich der Vielfalt fragmentierter Identitäten den Vorrang ein, aber nur jenen gesunden, die auf einer im Kern festen und zugleich offenen Identität beruhen und die in einer einheitlichen Opposition, einer Solidarität gegen die kulturell vorherrschenden Kräfte, welche auf Vereinheitlichung dringen, verwurzelt sind.
Schließlich ergeben sich noch zwei weitere Unsicherheiten, die uns zur Lage der Frauen in der Wissenschaft und damit an den Anfang meines Überblicks über die feministischen Ansätze zur Wissenschaftskritik zurückführen.
Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Frauen:
Reform oder Revolution?
Obwohl die Forderung nach Anti-Diskriminierungsmaßnahmen von vielen für das am wenigsten bedrohliche Moment der feministischen Wissenschaftskritik gehalten wird, haben wir doch gesehen, daß ihre Verwirklichung offensichtlich umfangreiche gesellschaftliche Veränderungen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft erforderlich macht. Lohnt sich eigentlich der immense Aufwand an Zeit, Energie und Kampfkraft, der für die Durchsetzung solcher Maßnahmen notwendig ist, wenn die Wurzel des Problems außerhalb der Wissenschaft in der Organisation der Geschlechterverhältnisse und in den gesellschaftlichen Anwendungen und Bedeutungen von Wissenschaft überhaupt liegt? Ja und nein. Nein, weil diese Strategien allein nicht die Gleichberechtigung der Frauen in der Wissenschaft bewirken können. Trotz jahrzehntelanger Auseinandersetzungen sind die Naturwissenschaften eine männliche Domäne geblieben, und der persönliche und politische Preis, den Frauen hier für eine erfolgreiche Karriere bezahlen müssen, ist oft sehr hoch. Ja, weil diese Maßnahmen kleine Fortschritte bringen, das Denken einiger Menschen verändern, zukünftigen Generationen von Frauen ein bißchen mehr Raum schaffen, Frauen (und Männern), die für die Gleichberechtigung kämpfen, ein politisches Bewußtsein und ein Gefühl für Solidarität vermitteln, und weil sie die Natur der Bestie in ihrem Widerstand gegen »vernünftige« Forderungen entlarven. Noch einmal nein, weil solches Stückwerk und solche winzigen Veränderungen des Bewußtseins in einer gesellschaftlichen Institution, in der eine relativ kleine Anzahl von Frauen arbeitet, für die politischen Probleme des täglichen Überlebens der Frauen in der übrigen Gesellschaft ohne Bedeutung sind. Noch einmal ja, weil die Wissenschaft (abgesehen vom militärischen Fronteinsatz) in unserer Kultur das Modell für eine supermännliche Tätigkeit darstellt; dergestalt können selbst geringe Veränderungen eine relativ große Auswirkung auf die Geschlechterverhältnisse im allgemeinen haben.
Kurz gesagt sollten wir Strategien der Anti-Diskriminierung in der Wissenschaft als reformistisch und revolutionär begreifen, und zwar vor allem deshalb, weil wünschenswerte Aussichten auf einen radikalen Wandel sich nur aus unseren Versuchen ergeben, das zu erreichen, was man als bloße Reform hätte ansehen können, und weil solche »bloßen Reformen« trotz allem Ressourcen für diesen radikalen Wandel geschaffen haben. Dies Paradox läßt erkennen, auf welch unangemessene Weise die Dichotomie im marxistischen Diskurs, dem wir sie entlehnt haben, begriffen worden ist. Es ist ein grundlegender Unterschied, ob man eine Institution kosmetisch verbessert oder sie radikal verändert, doch ergeben sich aus diesem Dualismus keine unmittelbar nützlichen Handlungsanweisungen für Frauen in der Wissenschaft.[3]
Wissenschaft als Handwerk: Nur ein Anachronismus?
Wir haben gesehen, daß die traditionelle Wissenschaftstheorie dem anachronistischen Bild von Forschenden als isolierten Genies nachhängt, die Problemstellungen auswählen, Hypothesen formulieren, Methoden zur Überprüfung der Hypothesen entwerfen, Beobachtungen zusammentragen und Forschungsresultate interpretieren. Dies anachronistische Bild findet sich hier und da auch in der feministischen Wissenschaftskritik.
Einerseits haben wir bereits darauf hingewiesen, daß die wissenschaftliche Forschung heute zumeist in ganz anderen Bahnen verläuft. Die handwerksähnlichen Formen der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis wurden in bezug auf die Naturwissenschaften im neunzehnten, in bezug auf den größten Teil der sozialwissenschaftlichen Forschung Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts durch industrialisierte Formen ersetzt. Demgemäß sind die Regeln und Normen, die die Wissenschaftstheorie für individuelle Forscherinnen und Forscher festgeschrieben hat, für die gegenwärtige Wissenschaftspraxis bedeutungslos.
Andererseits haben wir immer wieder festgestellt, daß die interessantesten feministischen Forschungsansätze gerade in jenen Bereichen auftauchten, die noch auf traditionelle Weise organisiert sind.
Da die vom Feminismus kritisierte wissenschaftliche Weltanschauung ausgearbeitet wurde, um die Tätigkeiten, Ergebnisse und Zielvorstellungen der die frühe Wissenschaftspraxis konstituierenden handwerklichen Arbeit zu erklären, und da die auf solche Weise organisierte feministische Forschung einige der wertvollsten neuen Einsichten und Kategorien hervorgebracht hat, sieht es ganz so aus, als müßten wir zugleich das irreführende Bild handwerklich organisierter Forschung, das als Ressource für die traditionellen Wissenschaftstheorien dient, kritisieren und ein angemessenes Verständnis dieser Forschungsweise entwickeln, um feministische Wissenschaftspraxen zu erhellen. Vielleicht ist das wissenschaftliche Unternehmen der Gegenwart überhaupt nicht wissenschaftlich im ursprünglichen Wortsinn; vielleicht entspringt die kritische Sichtweise, die dem Begreifen wesentlich zu eigen ist, nur aus jener Einheit von Herz, Hirn und Hand, durch die handwerkliche Arbeit sich auszeichnet, und vielleicht verdankt sie sich nur der Entfremdung von der herrschenden Kultur, ohne die eine derartige Praxis heutzutage gar nicht möglich ist. Kann es sein, daß der Feminismus und andere dem Wissenschaftsbetrieb entfremdete Forschungsweisen die wahren Erben der Schöpfung eines Kopernikus, eines Galilei, eines Newton sind? Und wäre dies wahr auch angesichts der Tatsache, daß der Feminismus und andere Bewegungen die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie unterminieren, welche Hume, Locke, Descartes und Kant entwickelt haben, um für ihre Kulturzusammenhänge die neuen Erkenntnisweisen, die die moderne Wissenschaft hervorbringt, zu rechtfertigen?
Ich habe darauf hingewiesen, daß wir diese oder die weiter oben erwähnten Dilemmata nicht auf die Art und Weise lösen können, in der wir sie bisher verfolgt haben, und daß wir diese Unsicherheiten in sich selbst als wertvolle Ressourcen betrachten sollten. Wenn wir sie zu benutzen wissen, werden wir in dem Maße die neuen Erbinnen des Archimedes sein, in dem wir seine Erbschaft für unser Zeitalter neu interpretieren. Während das, was wir nicht ohne Grund als archimedisches Zeitalter bezeichnen können, zer- und verfällt, können wir erkennen, daß die große Errungenschaft des Archimedes nicht seine Theorie einer einheitlichen Perspektive, sondern sein theoretischer Erfindungsgeist selbst gewesen ist.
Eine neue »Einheit der Wissenschaft«?
Das erste Gebot der Wissenschaftstheorie lautet, man solle sich nicht mit instabilen und unsicheren Elementen befassen. Dies Gebot haben wir übertreten und ad acta gelegt. Das zweite Gebot, das wir verworfen haben, berührt die Beziehung zwischen der Wissenschaft und den Werten. Wertfreiheit ist kein Mittel zur Maximierung von Objektivität - jedenfalls nicht in der Hinsicht, in der traditionelle Wissenschaftsdiskurse diese Begriffe konstruiert haben. Ich bin davon ausgegangen, daß nur erzwungene Werte - Rassismus, Klassenherrschaft, Sexismus - die Objektivität zerstören, während partizipatorische Werte Anti-Sexismus, klassenlose Gesellschaft, Anti-Rassismus - die Verzerrungen und Mystifikationen in unseren kulturbedingten Erklärungs- und Verstehensweisen allmählich zum Verschwinden bringen. Wie ich in dieser Untersuchung verschiedentlich vorgeschlagen habe, können diese partizipatorischen Werte als konstituierende Vorbedingungen einer Reformulierung von Objektivität angesehen werden. Diese Strategie kolonisiert die Idee der Objektivität und läßt nur den »Objektivismus« als wissenschaftsinhärenten Ausdruck übrig. Wenn wir die Entscheidung darüber, welche Kämpfe um rhetorische Ressourcen weitergeführt werden sollen, einmal beiseite lassen, fördert diese neue Sichtweise des Problems eine damit zusammenhängende Spannung in den Ansätzen feministischer Wissenschaftskritik zutage. Diese Ansätze scheinen auf ironische Weise zu jener These von der »Einheit der Wissenschaften« zurückzukehren, die der Wiener Kreis, dem sich die positivistische Wissenschaftstheorie des zwanzigsten Jahrhunderts verdankt, so emphatisch verfochten hat.
Für den Wiener Kreis bildeten die Wissenschaften ein ontologisches und methodologisches Kontinuum, eine hierarchisch gegliederte Ordnung, an deren Spitze die Physik stand. Ihr nachgeordnet folgten die anderen physikalischen Wissenschaften, sodann die eher quantitativ ausgerichteten und »positiven« Sozialwissenschaften (wofür die Ökonomie und die behavioristische Psychologie Modell standen), welche ihrerseits den Vorrang vor den »weicheren« und qualitativ ausgerichteten Wissenschaften (Anthropologie, Soziologie, Geschichtswissenschaft) besaßen. [4] Die feministischen Ansätze der Wissenschaftskritik und -rekonstruktion scheinen ebenfalls eine Einheit der Wissenschaften zu postulieren, drehen aber die Anordnung des Kontinuums um. Und diese These gilt sowohl als Beschreibung dessen, was in den Wissenschaften der Fall ist, wie auch als Rezept (oder Vorschrift) dafür, wie die Wissenschaften angeordnet sein sollten. Die Entwicklung der geistigen und der sozialen Strukturen der Wissenschaft ist durch moralische und politische Überzeugungen gelenkt und geleitet worden, und dies sollte auch so bleiben. Problemstellungen, Begriffe, Theorien, Methodologien, Interpretationen von Experimenten und Verwendungsweisen sind im Hinblick auf moralische und politische (und nicht nur kognitive) Zielvorstellungen ausgewählt worden, und dies sollte auch so bleiben.
Doch während der Wiener Kreis ein einziges ontologisches und methodologisches Kontinuum vorschlug, das den Maßstab für die Angemessenheit verschiedener Forschungsweisen abgeben sollte, geht die entsprechende Tendenz im Feminismus dahin, die Angemessenheit von Forschungspraxen mit Hilfe eines Kontinuums moralischer, politischer und historischer Formen des Selbstbewußtseins festzustellen. Während mithin der Wiener Kreis die Physik sehr hoch einschätzt, wertet der Feminismus sie fast gänzlich ab. Genau das Umgekehrte gilt für äußerst erhellende Untersuchungen historischer, anthropologischer und soziologischer Provenienz. So stellen sich denn die paradigmatischen Modelle einer objektiven Wissenschaft in jenen Untersuchungen dar, die explizit durch moralisch-politische, emanzipatorische Interessen geleitet sind - durch Interessen, die auf die Beseitigung sexistischer, rassistischer, klassenhierarchischer und kulturell erzwungener Vorstellungen von Natur und Gesellschaft gerichtet sind. Aus der Sichtweise des feministischen Kontinuums einer Einheit der Wissenschaften rangieren die abstrakteren Bereiche des menschlichen Denkens einfach am unteren Ende des Kontinuums, an dem auch Moral und Politik, jedenfalls in ihren abstraktesten und implizitesten Formen, auftauchen. Physik und Chemie, Mathematik und Logik tragen ebenso wie Anthropologie und Geschichtswissenschaft die Fingerabdrücke derer, von denen sie hervorgebracht worden sind. Eine im maximalen Sinne objektive (Natur- oder Sozial-)Wissenschaft umfaßt eine selbst-bewußte und kritische Untersuchung der Beziehungen, die zwischen der gesellschaftlichen Erfahrung ihrer Erzeugerinnen und Erzeuger und den von ihrer Forschung bevorzugten kognitiven Strukturen bestehen.
Wie ich weiter oben bereits unter Verwendung einer behavioristischen Metapher sagte, funktioniert die Wissenschaft in erster Linie wie eine black box: wie immer die moralisch-politischen Werte und Interessen beschaffen sein mögen, die für die Auswahl von Problemstellungen, Theorien, Methoden und Interpretationen von Forschungsergebnissen verantwortlich sind, am anderen Ende der Forschung tauchen sie in Form des moralisch-politischen Universums, das die Wissenschaft als natürlich entwirft und somit auch legitimiert, wieder auf. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Wissenschaft nicht von der sprichwörtlich gewordenen Beschreibung von Computern: »junk in; junk out.« [5] Paradigmen eines rationalen Diskurses lassen sich am ehesten in moralischen und politischen Diskursen finden, nicht aber in der Wissenschaft, die von Moral und Politik nicht tangiert zu sein behauptet.
Wenn wir dergestalt von einem Vorrang moralischer und politischer vor wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Theorien und Tätigkeiten ausgehen, dann weisen wir der Wissenschaft und der Erkenntnistheorie eine weniger wichtige, weniger zentrale Stellung zu, als es die Aufklärung getan hat. Auch hier leistet der Feminismus seinen eigenen, wichtigen Beitrag zur Postmoderne - er trägt in diesem Falle dazu bei, daß wir die erkenntnistheoretisch fixierte Philosophie (und, wie wir hinzufügen können, die wissenschaftsfixierte Rationalität) als eine drei Jahrhunderte währende Episode in der Geschichte des westlichen Denkens begreifen können.[6]
Als wir vor noch nicht einmal zwanzig Jahren in der neuen Frauenbewegung damit begannen, unsere Erfahrung theoretisch zu verarbeiten, wußten wir, daß unsere Aufgabe ebenso schwierig wie aufregend sein würde. Doch hätten wir uns wohl nicht einmal in unseren kühnsten Träumen vorstellen können, daß wir sowohl die Wissenschaft als auch das theoretische Denken würden neu erfinden müssen, um der gesellschaftlichen Erfahrung der Frauen ihren Sinn und ihre Bedeutung abzugewinnen.