Seit Mitte der siebziger Jahre hat sich die feministische Wissenschaftskritik von einem reformistischen zu einem revolutionären Ansatz entwickelt. Gingen feministische Analysen zunächst davon aus, die existierende Wissenschaft verbessern zu können, so gelangten sie bald zur Einsicht in die Notwendigkeit einer Umgestaltung eben jener Grundlagen, auf denen die Wissenschaften und die Kulturen, aus denen ihr Wert sich speist, beruhen. Am Anfang fragten wir: »Wie kann die Situation der Frauen in der Wissenschaft verändert werden?« das war die »Frauenfrage« in der Wissenschaft. Mittlerweile jedoch stellen Feministinnen eine ganz andere Frage: »Ist es überhaupt möglich, Wissenschaften, die offensichtlich so tief mit westlichen, bürgerlichen und männlich dominierten Zielvorstellungen verbunden sind, für emanzipatorische Zwecke einzusetzen?« - das ist die »Wissenschaftsfrage« im Feminismus. Die radikal-feministische Position geht davon aus, daß die erkenntnistheoretischen, metaphysischen, ethischen und politischen Ansätze der vorherrschenden Wissenschaftsformen androzentrisch sind und sich gegenseitig stützen. Sie behauptet, daß dem in der westlichen Kultur tief verwurzelten Glauben an die Fortschrittlichkeit der Wissenschaft zum Trotz, diese heute vor allem rückschrittliche gesellschaftliche Tendenzen befördert; und daß die gesellschaftliche Struktur der Wissenschaft nicht nur sexistisch, sondern auch rassistisch, kulturfeindlich und von der herrschenden Klasse bestimmt ist. Das zeigt sich an vielen ihrer technologischen Formen und Anwendungsbereiche, an der Art und Weise, wie Forschungsprobleme definiert, Experimente durchgeführt und Bedeutungen konstruiert und von einem Bereich auf den anderen übertragen werden. In ihren Untersuchungen zum Einfluß des Geschlechtersymbolismus, der geschlechtsspezifischen gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Konstruktion individueller Geschlechtsidentitäten auf die Wissenschaftsgeschichte und -philosophie haben feministische Denkerinnen die geistige und gesellschaftliche Ordnung in ihren eigenen Grundlagen in Frage gestellt. Diese feministische Kritik, die vielem, was wir an der modernen westlichen Kultur schätzen, den Glanz nimmt, scheint von außerhalb dieser Kultur zu kommen. Das ist in der Tat insofern richtig, als Frauen von der Bestimmung dessen, was Kultur sei, ausgeschlossen wurden. Sie sind das »Andere«, und gegen sie entwerfen die in Machtpositionen befindlichen Männer ihre Zielvorstellungen. Doch eine solche Destabilisierung, ein solches »Explodieren« der Kategorien gesellschaftlichen Handelns und Denkens steht fest in der Tradition der modernen westlichen Geschichte und ihrer expliziten Bejahung der Kritik überkommener gesellschaftlicher Praxis- und Anschauungsformen. Eine dieser Anschauungen besagt, daß der Androzentrismus »natürlich« und richtig ist; eine andere besteht im Glauben an die Fortschrittlichkeit wissenschaftlicher Rationalität. Aus dieser Perspektive steht feministische Wissenschaftskritik für die Forderung nach einer radikaleren geistigen, moralischen, gesellschaftlichen und politischen Revolution, als die Begründer der modernen westlichen Kultur sie sich jemals haben vorstellen können. Historisch gesehen sind es gerade solche Revolutionen - und nicht nur der wissenschaftliche Forschungsprozeß selbst - die die Entwicklung fortschrittlicher Wege der Erkenntnis beflügelt haben. Dies Buch untersucht wichtige Tendenzen feministischer Wissenschaftskritik. Das Ziel besteht darin, Spannungen und Konflikte in und zwischen diesen Tendenzen ebenso aufzuweisen wie unangemessene erkenntnisleitende Begriffe in ihren Untersuchungen; unerkannte Hindernisse für und Lücken in ihren Forschungsprogrammen ebenso zu diskutieren wie Erweiterungsmöglichkeiten, die diese kritischen Ansätze in noch bessere Instrumente für die Konstruktion emanzipatorischer Ideen und Praxen umwandeln. Ich bin davon überzeugt, daß die Auswirkungen dieser feministischen Wissenschaftskritik auf das Bild, das die westliche Kultur von sich selbst entwirft, mindestens ebenso revolutionär sein werden wie die der feministischen Kritik in den Human- und Sozialwissenschaften. Es sollte sich eigentlich von selbst verstehen - aber ich sage es trotzdem - daß mein Vorschlag nicht darauf abzielt, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir denken nicht im Traum daran, das Sprechen oder Schreiben einzustellen, nur weil unsere Sprache zutiefst androzentrisch ist, und wir hören auch nicht auf, Gesellschaftstheorie zu betreiben, wenn wir erkennen, in welchem Maße selbst unsere feministischen Umarbeitungen der von uns beerbten Theorien durch androzentrische Perspektiven überformt sind. Gleichermaßen gehe ich nicht davon aus, daß es der Menschheit zum Guten gereichte, wenn alle Versuche, die Gesetzmäßigkeiten, Kausalitäten und Bedeutungen in Natur und Gesellschaft zu beschreiben, zu erklären und zu verstehen, unter Hinweis auf den Androzentrismus der Wissenschaften verworfen würden. Nicht der systematischen Forschung, sondern dem Androzentrismus soll der Prozeß gemacht werden. Doch dies wird weitreichende Umgestaltungen in den kulturellen Bedeutungs- und Praxissystemen dieser Forschung erforderlich machen.
Die ersten beiden Kapitel geben einen Überblick und eine theoretische Einführung. Das erste Kapitel setzt sich mit fünf feministischen Kritikansätzen und drei feministischen Entwürfen von Erkenntnistheorie auseinander und zeigt die Herausforderungen auf, denen sie jeweils ausgesetzt sind. Das zweite Kapitel widmet sich einigen Problemen, die sich aus der Auffassung von Wissenschaft und sozialem Geschlecht in der feministischen Wissenschaftskritik ergeben und zeigt, wie daraus Hindernisse für die Entwicklung einer feministischen Wissenschaftstheorie erwachsen. Ich entwickle dann angemessenere Begriffe von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, die in den folgenden Kapiteln zum Tragen kommen. Die nächsten drei Kapitel zeigen die Verbindungen zwischen den Teilen des von Feministinnen entworfenen Wissenschaftsbildes und weisen Inkonsistenzen und Mängel nach. Kapitel 3 gibt einen Überblick über feministische Ansätze zum Problem der Gleichberechtigung in der Wissenschaft und deckt das Mißverhältnis zwischen diesen ahistorischen Bildern und der tatsächlichen gesellschaftlichen Struktur der Wissenschaft auf. Das vierte Kapitel untersucht die feministischen Anklagen gegen den Androzentrismus hinsichtlich der Wahl wissenschaftlicher Probleme (d.h. hinsichtlich dessen, was als erklärungsbedürftig gelten darf) und der Planung von Forschungsprogrammen in der Biologie und den Soziaiwissenschaften. (Ich beziehe hier die Sozialwissenschaften ein, um eine Analyse vorzubereiten, die sich mit den unangemessenen gesellschaftlichen Annahmen befaßt, welche die vorherrschenden Auffassungen von moderner Wissenschaft geleitet haben.) Kapitel 5 untersucht den Beitrag der Wissenschaft zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Bedeutungen für Natur und Forschung und arbeitet die entsprechende Literatur auf. Es kann gezeigt werden, daß das, was gemeinhin dem biologischen Geschlechtsunterschied und dem geschlechtlichen Begehren zugerechnet wird, in vielfacher Hinsicht gesellschaftlich konstruiert ist.
Die Kapitel 6 und 7 untersuchen feministische Erkenntnistheorien, erkenntnistheoretische Grundlagen der modernen Wissenschaft und die von feministischen Kritikerinnen vorgetragenen alternativen Begründungsstrategien. Kapitel 6 setzt sich mit dem von vier Theoretikerinnen - Hilary Rose, Dorothy Smith, Jane Flax und Nancy Hartsock inaugurierten Projekt einer »Nachfolgewissenschaft« (successor science) auseinander und analysiert ihre Ansätze zu alternativen Formen und Zielen in der Erkenntnissuche, die im Gegensatz zu den Begründungsstrategien der herrschenden Wissenschaft stehen. Im siebten Kapitel beschreibe ich einige Schwierigkeiten, die mit diesen Erkenntnistheorien vermacht sind; ich konzentriere mich dabei auf die Beziehung zwischen diesen Entwürfen und ähnlichen Projekten einer emanzipatorischen Wissenschaft, die von Menschen aus ehemaligen Kolonien entworfen wurden. Damit betrachte ich zugleich einige schwierige Fragen, die sich aus der Gegenüberstellung von feministischer postmoderner Kritik und dem Projekt einer »Nachfolgewissenschaft« ergeben. Im achten und neunten Kapitel wird der Argumentationsgang unterbrochen; ich kehre hier zur Wissenschaftsgeschichte zurück, um die Ursachen für den Verfall gesellschaftlich fortschrittlicher Erkenntnissuche etwas aufzuhellen. (Diejenigen Leserinnen und Leser, denen nicht genehm ist, daß der Gang der Handlung durch die geisterhaften Erscheinungen der geschwätzigen Vorfahren der Protagonistin in seinem Fortschreiten behindert wird, können gleich zum zehnten Kapitel übergehen.) Kapitel 8 behandelt die Institution »Wissenschaft« als eine Person, die vom Kind zum Erwachsenen reift und zeigt die Lücken in den Standardgeschichten auf, die diese Erwachsene über ihre Kindheit erzählt. Das neunte Kapitel untersucht einen Ansatz in der jüngsten Sozialgeschichte der Wissenschaft, der diese Lücken füllen will. Die Untersuchung zeigt aber, daß auch in diesem Fall die Neigung besteht, das zu unterdrücken, was der Wiedergutmachung bedürfte, weil die Einbeziehung geschlechtsspezifischer Symbolisierungen und der tatsächlichen Geschlechterverhältnisse in der Geschichte systematisch vermieden wird.
Kapitel 10 nimmt den Handlungsfaden wieder auf, um über einige wesentliche Unsicherheiten und Spannungen in den von mir diskutierten und entwickelten feministischen Theorien nachzudenken. Es bezeichnet Fragen seitens der Wissenschaftskritikerinnen, die nicht in der Hinsicht beantwortet werden können, in der sie gestellt worden sind. Zum Schluß zeige ich auf, in welcher Weise feministische Wissenschaftskritikerinnen eine Umkehrung jener These von der »Einheit der Wissenschaften« vorgenommen haben, die im Mittelpunkt der Diskussionen des Wiener Kreises stand. Für Feministinnen ist es nicht so sehr die wissenschaftliche, sondern die moralische und politische Diskussion, die als wenngleich problematisches - Paradigma des rationalen Diskurses gedient hat.