Feministische Forscherinnen haben sich mit der Problematik von Frauen, Männern und gesellschaftlich bestimmten Geschlechterverhältnissen auseinandergesetzt, indem sie den Begriffsrahmen der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beibehielten, ihn überschritten oder hartnäckig gegen den Strich bürsteten. In allen von uns untersuchten Bereichen gelangten wir zu dem Ergebnis, daß die von uns für allgemein-menschlich gehaltenen Problemstellungen, Begriffe, Theorien, objektiven Methodologien und transzendentalen Wahrheiten in Wirklichkeit das Zeichen ihrer kollektiven und individuellen Entstehungsbedingungen tragen, und diese wiederum sind in bezug auf das soziale Geschlecht (Sandra Harding unterscheidet, wie der angloamerikanische Feminismus überhaupt, sehr scharf zwischen sex und gender. Diese Unterscheidung wird in der Übersetzung mit »soziales Geschlecht« für gender, bzw. »biologisches Geschlecht« für sex wiedergegeben. Wo im Text die Bedeutungsebene nicht ganz klar erscheint, wird das entsprechende englische Wort in Klammern hinzugefügt. Aus gender abgeleitete Begriffsbildungen wie gendered, genderized, genderization wurden mit »vergeschlechtlicht« bzw. »Vergeschlechtlichung« übersetzt. Wo der Begriff »Geschlecht« in Zusammensetzungen (wie etwa »Geschlechterverhältnisse«, »Geschlechtersymbolismus« auftaucht, ist in den allermeisten Fällen das soziale Geschlecht gemeint. Der Ausdruck sex/gender system läßt sich nicht adäquat übersetzen und wurde beibehalten. Ich danke Barbara Ketelhut für Verbesserungsvorschläge und Hinweise zur Terminologie, und Eva Stäbler, die das Manuskript für den Satz vorbereitet hat. (A.d.Ü.) in bezug auf Klasse, Rasse und Kultur deutlich charakterisiert.[1] Die Auswirkungen dieser kulturellen Determination stehen uns mittlerweile deutlich vor Augen: sie zeigen sich in der Diskrepanz zwischen jenen Erkenntnismethoden und Weltinterpretationen, die die Schöpfer der modernen westlichen Kultur hervorgebracht haben, und denen, die für den Rest von uns charakteristisch sind. Die in der westlichen Kultur gehegten und gepflegten Überzeugungen spiegeln - bisweilen deutlich, bisweilen verzerrt - nicht die Welt, wie sie ist oder wie wir sie gerne hätten, sondern reflektieren die gesellschaftlichen Projekte ihrer geschichtlich aufweisbaren Schöpferpersönlichkeiten. Die Naturwissenschaften sind für die feministische Forschung ein vergleichsweise neues Gebiet. Die Kritik erzeugt hier große Erwartungen - oder Befürchtungen - doch bleibt sie sehr viel fragmentarischer und begrifflich ungenauer als feministische Analysen in anderen Wissenschaftsbereichen. Diese Erwartungen und Befürchtungen beruhen auf der Erkenntnis, daß unsere Kultur durch und durch wissenschaftlich geprägt ist, daß die wissenschaftliche Rationalität nicht nur die Denk- und Handlungsweisen unserer öffentlichen Institutionen, sondern auch unser gedankliches Umgehen mit den intimsten Einzelheiten unseres Privatlebens durchdrungen hat. Vielgelesene Handbücher und Zeitschriftenartikel über Kindererziehung und Sexualverhalten beziehen ihre Autorität und Popularität aus der Berufungsinstanz Wissenschaft. Zudem hat sich während des letzten Jahrhunderts die Art und Weise der gesellschaftlichen Verwendung von Wissenschaft verschoben: war sie früher nur ein gelegentliches Hilfsmittel, so ist sie jetzt zum Motor wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Akkumulation und Kontrolle geworden. Und nun erkennen wir, daß die Hoffnung, durch »Naturbeherrschung« zum Fortschritt der Menschheitsgattung beizutragen, sich in das Bemühen verkehrt hat, einen durch Ungleichheit geprägten Zugang zu den Naturressourcen zu gewinnen, um gesellschaftliche Herrschaft ausüben zu können. Vielleicht war der Wissenschaftler einmal ein exzentrisches Genie am Rande der Gesellschaft, der sein privates Vermögen (und oftmals seine Freizeit) jener rein intellektuellen Beschäftigung opferte, die gerade sein Interesse erregte - heute ist er es mit Sicherheit nicht mehr. Es kommt äußerst selten vor, daß seine Forschungen keinen vorhersehbaren gesellschaftlichen Nutzen haben. Statt dessen ist er (oder seit kürzerer Zeit auch sie) Teil einer umfassenden Arbeitsmaschinerie und wird von der Grundschule an auf die Tätigkeit in universitären, industriellen und regierungseigenen Laboratorien vorbereitet, von denen man erwartet, daß 99 (und mehr) Prozent ihrer Forschung unmittelbar in gesellschaftlichen Projekten Anwendung finden können. Diese industrialisierten Riesenreiche dienen - absichtlich oder unabsichtlich - der materiellen Akkumulation und der gesellschaftlichen Kontrolle, und wenn nicht nachgewiesen werden kann, daß sie durch die Verwendung objektiver, leidenschaftsloser, unparteiischer und rationaler Erkenntnismethoden den fundamentalen Interessen des sozialen Fortschritts Genüge tun, dann fehlt ihnen in unserer Kultur jegliche Legitimationsgrundlage. Weder Gott noch die Tradition genießen ein solches Maß von Glaubwürdigkeit wie die wissenschaftliche Rationalität in der modernen Kultur.
Natürlich hat es vor den Feministinnen schon andere gegeben, die die moderne Wissenschaft auf solche Art und Weise untersuchten. Aus den Kämpfen gegen Rassismus, Imperialismus und Kapitalismus, aus den homosexuellen Emanzipationsbewegungen und der Gegenkultur.
Die Frage nach der Wissenschaft im Feminismus der sechziger Jahre, und aus den gegenwärtigen Ökologie- und Friedensbewegungen sind zielgerichtete Analysen der Verwendung und des Mißbrauchs wissenschaftlicher Forschung hervorgegangen. Doch scheint die feministische Kritik einen besonders empfindlichen Nerv zu treffen. Zum einen verkörpert sie in ihren gelungensten Versionen die zentralen Einsichten jener anderen Bewegungen, während sie sich zugleich gegen den geringen Stellenwert richtet, der spezifisch feministischen Gesichtspunkten in solchen gesellschaftlichen Reformplänen zugewiesen wird. Zum anderen hinterfragt sie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und berührt damit einen Aspekt der Organisation gesellschaftlicher Verhältnisse, der durch unsere Vorstellung davon, was als »natürlich« und was als gesellschaftlich zu gelten habe, verdunkelt worden ist. Was vielleicht am meisten beunruhigt, ist, daß sie unser Gefühl persönlicher Identität auf einer ganz und gar prärationalen Ebene, im Kern selbst, in Frage stellt. Die für die meisten Männer und Frauen zutiefst befriedigenden Bestandteile der je eigenen Identität - die vergeschlechtlichten Aspekte unserer Persönlichkeit und die expressive Ausgestaltung des Geschlechts in den gesellschaftlichen Praxisformen - werden nun in ihrer vermeintlichen Attraktivität zur Disposition gestellt.
Schließlich ist die Geschlechterdifferenz als Symbolsystem der älteste, universellste und mächtigste Ursprung vieler mit moralischen Werten behafteter Begriffsbestimmungen von Dingen, die uns in der Welt umgeben. Auf diese Weise wird Wirbelstürmen und Schiffen ebenso ein Geschlecht zugewiesen wie Bergen und Nationen. Soweit wir in die Geschichte zurückblicken können, haben wir unsere gesellschaftliche und natürliche Umwelt durch geschlechtsspezifische Bedeutungen strukturiert, aus denen sich historisch je besondere Institutionen und Bedeutungen als Organisationsformen von Rasse, Klasse und Kultur herausbildeten. Wenn wir das soziale Geschlecht als eine analytische Kategorie definieren, in der die Menschen gesellschaftlich denken und handeln, und es nicht als natürliche Konsequenz der biologischen Geschlechterdifferenz oder lediglich als gesellschaftliche Variable auffassen, die den Individuen gemäß der Kultur, in der sie leben, zugerechnet wird, dann erst beginnen wir damit, den Geschlechtsbegriff theoretisch zu erfassen - und dann können wir allmählich das Ausmaß begreifen, in dem seine Bedeutungen unsere Weltanschauungen, unsere Institutionen und selbst solche scheinbar geschlechtsneutralen Phänomene wie unsere Architektur und Stadtplanung durchdr-ungen haben. Wenn die feministische Auseinandersetzung mit der Wissenschaft in angemessener Weise theoretisch aufgearbeitet worden ist, werden wir deutlicher begreifen, in welcher Hinsicht wissenschaftliches Handeln vergeschlechtlicht ist und in welcher nicht. Nun kann sicherlich nicht bezweifelt werden, daß Rassismus, Klassenhierarchie und kultureller Imperialismus die Lebensbedingungen der Individuen oft sehr viel stärker einschränken als der Sexismus dies tut. Wir können uns das ohne Schwierigkeiten verdeutlichen, wenn wir die Lebensbedingungen von Frauen gleicher ethnischer Abkunft, aber unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit (oder umgekehrt) miteinander vergleichen, wobei der Bezugspunkt die heutigen Vereinigten Staaten oder eine andere geschichtliche Koordinate sein kann.
Von daher ist verständlich, warum Angehörige der Arbeiterklasse ebenso wie Opfer des Rassismus und Imperialismus feministischen Projekten oftmals keine Priorität auf der jeweiligen politischen Tagesordnung einräumen. Darüber hinaus erscheint das Geschlecht immer nur in kulturspezifischen Ausdrucksformen. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, wird das vergeschlechtlichte gesellschaftliche Leben durch drei Prozesse unterschiedlicher Prägung hervorgebracht: es ist erstens das Ergebnis der Zuschreibung dualistischer Geschlechtsmetaphern zu verschiedenen wahrgenommenen Dichotomien, die kaum etwas mit sexueller Differenz zu tun haben; es resultiert zweitens daraus, daß in der Organisation gesellschaftlichen Handelns auf diese Dualismen Bezug genommen wird, ist eine Folge der Verteilung gesellschaftlich notwendiger Handlungsprozesse auf verschiedene Menschengruppen; es ist drittens eine Form gesellschaftlich konstruierter individueller Identität, die mit der »Wirklichkeit« oder der Wahrnehmung sexueller Differenzen nur sehr lose zusammenhängt. Ich bezeichne diese drei Aspekte als den Symbolismus (oder, unter Verwendung eines anthropologischen Ausdrucks, »Totemismus«) des sozialen Geschlechts, als die Struktur des sozialen Geschlechts (oder geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) und als individuelle Geschlechtsidentität. Die Referenzobjekte für diese drei Bedeutungsebenen des Männlichen und Weiblichen sind kulturspezifisch verschiedene, doch die Ebenen selbst sind in jeder Kultur wechselweise aufeinander bezogen. Vermutlich können, wenn überhaupt, nur einige der symbolischen, institutionellen, individuellen oder verhaltensbezogenen Ausdrucksformen des Weiblichen und Männlichen in allen geschichtlichen Kulturen oder Epochen beobachtet werden. Doch ist die Tatsache, daß es zwischen Frauen wie zwischen Männern Unterschiede hinsichtlich Klasse, Rasse und Kultur gibt, kein Grund für die von manchen gehegte Annahme, die Geschlechterdifferenz sei entweder theoretisch unwichtig oder politisch bedeutungslos.
Die Frage nach der Wissenschaft im Feminismus. Vielmehr ist sie in nahezu jeder Kultur ein Dreh- und Angelpunkt der persönlichen Identitätsbildung, der Organisation gesellschaftlicher Verhältnisse und der Symbolisierung bedeutungsträchtiger Ereignisse und Vorgänge in Natur und Gesellschaft. Und in nahezu jeder Kultur werden die dem »männlichen« Prinzip zugewiesenen Bedeutungen zuungunsten des »weiblichen« Prinzips höher gewertet. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, daß in den durch Geschlecht wie auch Rasse strukturierten Kulturen das Geschlecht immer eine durch Rasse bestimmte Kategorie bildet (und vice versa). Das heißt, sexistische Formen der Politik äußern sich für Menschen gleichen Geschlechts und unterschiedlicher Rasse auf unterschiedliche Weise, während eine rassistische Politik sich für Frauen und Männer der gleichen Rasse unterschiedlich äußert. Ein Vorschlag ging dahin, diese Politikformen als rassistischen Sexismus beziehungsweise sexistischen Rassismus zu bezeichnen.[2]
Und schließlich werden wir später die wichtige Rolle untersuchen, welche die offene Anerkennung der Geschlechterdifferenz in ethnischen Gruppen und die Anerkennung ethnischer und kultureller Differenzen in Geschlechtergruppen für emanzipatorische Erkenntnistheorien und Politikformen spielt. Der Begriff der Differenz kann ein unsicheres und gefährliches Gelände für Forschungsprojekte und Politikformen sein, doch jeder Kampf um Emanzipation muß, wenn er Erfolg haben will, die Handlungspläne anderer Kämpfe als integrale Bestandteile der eigenen Orientierung anerkennen. (Schließlich sind farbige Menschen mindestens zweierlei Geschlechts, und Frauen haben viele Hautfarben.) In allen diesen Kämpfen könnten auf Solidarität gegründete Erkenntnistheorien und Politikformen jene anderen ersetzen, die problematisch sind, weil sie sich auf substantialisierte Identitäten beziehen, deren Echtheit vielleicht in Frage gestellt werden kann.
Aus all diesen Gründen scheint eine feministische Kritik, die behauptet, daß auch die Wissenschaft vergeschlechtlicht ist, für die Gesellschaftsordnung zutiefst bedrohlich zu sein. Das gilt selbst für solche Gesellschaften wie die US-amerikanische, in der unser aller Leben durch Rassismus, Klassenherrschaft und Imperialismus bestimmt wird. Offensichtlich stützen und unterstützen die verschiedenen Herrschaftsformen sich gegenseitig auf vielfältige Art und Weise. Wir finden es schon schwierig, uns das Alltagsleben in einer Welt vorzustellen, die nicht mehr von Rassismus und Klassenherrschaft dominiert wird. Fast unmöglich aber scheint es, auch nur ansatzweise das Bild einer Welt zu entwerfen, in der unser Denken, Fühlen und Handeln nicht mehr durch die Geschlechterdifferenz eingeengt und mithin das »Männliche« nicht mehr mit Werthaftigkeit und Autorität gleichgesetzt wird. Und die Alltagswelt, in der wir leben, ist dermaßen von wissenschaftlicher Rationalität und vom Geschlecht durchdrungen, daß schon die Idee einer feministischen Kritik wissenschaftlicher Rationalität für nichtfeministische Menschen und vielleicht auch für einige Feministinnen eher an Blasphemie als an normale Gesellschaftskritik grenzt.
In anderen Forschungsbereichen haben Feministinnen damit begonnen, den Begriffsrahmen der jeweiligen Fächer auf klare und zusammenhängende Weise in Frage zu stellen. Indem sie die Perspektive der Frauen hinsichtlich der symbolischen, strukturellen und individuellen Bedeutungen des sozialen Geschlechts in das Zentrum ihres Denkens rückten, konnten sie die Ziele anthropologischer, historischer, literaturwissenschaftlicher (und anderer) Forschungsprogramme neu definieren.[3] Sie haben damit begonnen, die eigentlichen Themenbereiche der von diesen Fächern zur Verfügung gestellten Erkenntnisse theoretisch neu zu fassen. Doch glaube ich, daß die eigentlichen Themenbereiche und Ziele einer feministischen Wissenschaftskritik sich bisher dem festen Griff der klaren begrifflichen Formulier-ung, die für andere Forschungsprogramme bereits kennzeichnend ist, entzogen haben. Die Stimme der feministischen Wissenschaftskritik ertönt in fünf verschiedenen Projekten, von denen jedes sein eigenes Publikum, seinen eigenen Themenbereich, seine eigenen Vorstellungen über Wissenschaft und Geschlecht und seine eigenen Heilmittel gegen den Androzentrismus besitzt. In mancher Hinsicht stehen die Annahmen, von denen diese Analysen sich leiten lassen, in direktem Gegensatz zueinander. Es ist durchaus unklar, wie ihre Autorinnen sich die theoretischen Verbindungen zwischen ihnen vorstellen, und von daher bleibt auch ungewiß, wie eine umfassende Strategie aussehen könnte, die die Wissenschaft vom Androzentrismus befreit. Das muß vor allem deshalb Besorgnis erregen, weil die Klarheit über eine so grundlegende Komponente unserer Kultur einen machtvollen Einfluß auf andere feministische Kämpfe ausüben könnte.
Vielleicht waren wir zu sehr damit beschäftigt, die Sünden der gegenwärtigen Wissenschaft mit den Mitteln anzuprangern, derer sich unsere Kultur für die Rechtfertigung dieser Sünden bedient, als daß wir der Suche nach einer wahrhaft emanzipatorischen Erkenntnis die gebührende Aufmerksamkeit hätten schenken können. Noch fehlt uns der Raum, um einen Schritt zurückzutreten und das vollendete Bild einer möglichen Wissenschaft der Zukunft vor unseren Augen aufscheinen zu lassen. In unserer Kultur mag das Nachdenken über ein angemessenes Modell von Rationalität als Luxus erscheinen, den nur wenige sich leisten können, doch ist es ein Projekt von immenser Tragweite, denn es könnte eine Politik der Erkenntnissuche hervorbringen, die uns die notwendigen Bedingungen aufzeigt, unter denen die gesellschaftliche Kontrolle von den Besitzenden auf die Besitzlosen übergehen kann. Welcher Art wäre wohl unser Verständnis von Wissenschaft, wenn wir mit anderen Kategorien als denen, die uns jetzt an die Hand gegeben sind, beginnen könnten? Wenn wir nicht gezwungen wären, Mißbräuchlichkeiten, Fehler und Unklarheiten der Wissenschaft ins Auge zu fassen, sondern die Möglichkeiten der Biologin in Marge Piercys Roman Die Frau am Abgrund der Zeit besäßen, die ihr (oder der sein) biologisches Geschlecht willentlich verändern kann und in einer Kultur lebt, in der das soziale Geschlecht nicht institutionalisiert (und das heißt: nicht existent) ist? Oder wenn wir in einer Welt lebten, in der solche Kategorien wie »Maschine«, »Mensch«, »Tier« keine Unterscheidungskriterien mehr darstellen oder kulturell belanglos geworden sind, wie es Anne McCaffrey in The Ship Who Sang darstellt?[4] Vielleicht sollten wir uns an die Dichterinnen und Romanautorinnen wenden, um einen besseren intuitiven Zugriff auf die von uns benötigte Theorie zu bekommen. Wohl stehen sie oft an der Spitze der Kämpfe um eine gerechte und fürsorgende Kultur, doch sind sie weniger als wir darauf festgelegt, die Befestigungen, mit denen eine Kultur ihre Existenz verteidigt, Stein für Stein abtragen zu müssen.
Fünf Forschungsprogramme
Wenn wir die Aufmerksamkeit auf das Fehlen einer entwickelten feministischen Theorie für die Kritik an den Naturwissenschaften lenken, so wollen wir damit keineswegs die Beiträge übersehen, die dieser ebenso junge wie kräftig aufgeblühte Forschungszweig hervorgebracht hat. In sehr kurzer Zeit ist uns das Ausmaß, in dem auch die Wissenschaft der Geschlechtersemantik unterliegt, deutlicher vor Augen getreten. Allmählich begreifen wir die ökonomischen, politischen und psychologischen Mechanismen, die den Sexismus in der Wissenschaft am Leben erhalten, und die es zu beseitigen gilt, wenn Wesen, Wert und Nutzen der Erkenntnissuche allen Menschen dienlich sein sollen. Alle diese Forschungslinien eröffnen faszinierende Ausblicke begrifflicher und politischer Art, und zwar nicht nur hinsichtlich dessen, wie wissenschaftliche Praxis betrieben und legitimiert wird, sondern auch für ihre jeweiligen Verfahrensweisen selbst. In den nächsten Kapiteln werde ich diese Forschungsprogramme im einzelnen erörtern; an dieser Stelle betone ich die von ihnen aufgeworfenen Probleme in erster Linie, um zu zeigen, wie wenig der ganze Bereich theoretisch entwickelt ist.
- Zunächst: Studien zur Gleichberechtigung haben anhand historischer Dokumente gezeigt, wie massiv Frauen gegenüber vergleichbar qualifizierten Männern benachteiligt worden sind; Zeugnisse, qualifizierende Abschlüsse, Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten wurden ihnen verweigert.[5] Ebenso haben diese Untersuchungen auf die psychologischen und gesellschaftlichen Mechanismen hingewiesen, mittels derer die Diskriminierung auch nach der Beseitigung der formalen Hindernisse informell aufrechterhalten wird. Motivationsstudien haben gezeigt, warum Jungen und Männer in Wissenschaft, Technik und Mathematik zu einem stärkeren Engagement neigen als Mädchen und Frauen.[6] Doch sollten Frauen in der Wissenschaft »genau wie Männer« werden wollen, wie diese Studien vielfach unterstellen? Das heißt, sollte der Feminismus nicht über die bloße Gleichberechtigung mit Männern hinauszielen? Und welchen Männern sollten Frauen in der Wissenschaft gleichgestellt sein - unterbezahlten und ausgebeuteten Laborarbeitern ebenso wie Nobelpreisträgern? Mehr noch: sollten Frauen zu wissenschaftlichen Projekten beitragen wollen, die sexistisch, rassistisch und klassenhierarchisch orientiert sind? Sollten sie auf dem Gebiet militärischer Forschung arbeiten? Und weiter: worin resultierte die Naivität der Frauen, was die Stärke und das Ausmaß des männlichen Widerstandes anbetrifft - das heißt, hätten Frauen um den Zugang zur Wissenschaft gekämpft, wenn ihnen von vornherein bewußt gewesen wäre, welch geringe Tragweite die Beseitigung der formalen Hindernisse für die Gleichstellung der Frau haben würde?[7] Schließlich: wirkt sich die zunehmende Präsenz von Frauen in der Wissenschaft überhaupt in irgendeiner Weise auf wissenschaftliche Fragestellungen und Forschungsresultate aus?
- Zweitens: Studien über den Ge- und Mißbrauch der Biologie, der Sozialwissenschaften und ihrer Technologien haben enthüllt, auf welche Weise die Wissenschaft in den Dienst rassistischer, sexistischer, klassenhierarchischer und antihomosexueller Projekte gestellt werden kann. Eine repressive Bevölkerungspolitik, die Regelung der Hausarbeit aller Frauen durch den Weißen Mann, die Stigmatisierung, Diskriminierung und medizinische »Behandlung« von Homosexuellen, die geschlechtliche Diskriminierung am Arbeitsplatz all dies ist auf der Grundlage sexistischer Forschung gerechtfertigt worden und wird durch Technologien aufrechterhalten, die sich aus dieser Forschung entwickelt haben. Mit ihrer Hilfe wird den Frauen die Bestimmung über ihr eigenes Leben entzogen und geht auf Männer über, die der herrschenden Schicht angehören.[8] Ungeachtet der Bedeutung dieser Studien gehen die Kritikerinnen des Sexismus in der Wissenschaft von zwei problematischen Annahmen aus. Die eine besagt, daß es eine wertfreie, rein wissenschaftliche Forschung gibt, die von der sozialen Anwendung der Wissenschaft unterschieden werden kann; die zweite besagt, daß angemessene Verwendungsweisen von unangemessenen abgesetzt werden können. Sind derlei Unterscheidungen wirklich möglich? Gibt es einen wertneutralen Kern, der aus der Anwendung der Wissenschaften und ihren Technologien herausgeschält werden kann? Und was unterscheidet eine angemessene von einer unangemessenen Verwendungsweise? Mehr noch: jeder Mißbrauch war nicht nur rassistisch und klassenhierarchisch, sondern auch ein Beitrag zur Unterdrückung der Frauen. Dies verdeutlicht die Tatsache, daß selbst in der US-amerikanischen Gesellschaft zu jedem Zeitpunkt ihrer Geschichte für Frauen verschiedener Klassen und Rassen verschiedene Formen der Bevölkerungspolitik, der Hausarbeit und der Diskriminierung am (und durch den) Arbeitsplatz in Anschlag gebracht worden sind. (Man denke zum Beispiel an gegenwärtige Versuche, für einige gesellschaftliche Gruppen die Möglichkeit der Abtreibung und der Information über Verhütungsmittel zu beschränken, während anderen Gruppen zugleich die Sterilisation aufgezwungen wird. Gleichermaßen werden, unter tätiger Beihilfe der Wissenschaft, sentimentale Vorstellungen von Mutterschaft und Kleinfamilie zu neuem Leben erweckt, während man bestimmten Gruppen die Sozialhilfe für Mütter und alternative Familienformen entzieht.) Muß es nicht das zentrale Anliegen des Feminismus sein, für die Beseitigung von Rassismus und Klassengesellschaft, von Lesben- und Schwulendiskriminierung und Imperialismus zu kämpfen, damit die sexistischen Verwendungsweisen von Wissenschaft ein Ende finden können?
- Drittens. Die Kritik der Biologie und der Sozialwissenschaften hat nicht nur die tatsächliche, sondern auch die mögliche Existenz reiner Wissenschaft überhaupt auf zweierlei Weise in Frage gestellt.[9] Auswahl und Definition von Problemfeldern - das heißt die Entscheidung dar~über, welche Erscheinungen in der Welt der Erklärung bedürfen, und die Definition dessen, was problematisch an ihnen ist - sind zweifellos auf die männliche Wahrnehmung zugeschnitten und damit verzerrt worden. Sicherlich ist es »wissenschaftlich unseriös«, anzunehmen, daß die von Männern ausgewählte Problematik Allgemeingültigkeit besitzt, während zugleich viele Phänomene, die Frauen für erklärungsbedürftig halten, unter den Tisch fallen. Entsprechendes gilt für die Unterstellung einer geschlechtsneutralen, d.h. von den Wünschen und Bedürfnissen der Männer unbelasteten Problemauswahl. Doch ist dies lediglich (oder überhaupt) ein Beispiel für unseriöse Wissenschaft? Sind es nicht immer die herrschenden Gruppen, die der Auswahl und Definition von Problemen ihren Stempel aufdrücken? Diese Fragen werfen ein Schlaglicht auf die grundsätzliche Wertabhängigkeit von Erkenntnisprozessen, die es unmöglich macht, zwischen unseriöser und normaler Wissenschaft zu unterscheiden. Darüber hinaus sind Forschungsvorhaben und -interpretationen wieder und wieder auf männlich-verzerrende Art und Weise durchgeführt worden. Wenn aber Probleme notwendigerweise von Werten abhängen und Theorien der Erklärung von Problemen dienen, wenn Methoden immer von Theorien abhängen und Beobachtungen von Methoden, kann es dann überhaupt wertfreie Forschungsvorhaben und -interpretationen geben? Dies führt uns zu der Frage, ob nicht wertabhängige Forschung bisweilen sogar ein Höchstmaß von Objektivität erlangen könnte. Sind zum Beispiel eindeutig antisexistische Forschungsvorhaben objektiver als eindeutig sexistische oder, wichtiger noch, als solche, die das Geschlechterproblem überhaupt nicht beachten? Und sind antisexistische Untersuchungen, die zugleich bewußt antirassistisch sind, objektiver als solche, die es nicht sind? Es gibt Präzedenzfälle in der Wissenschaftsgeschichte, welche die Unterscheidung zwischen objektivitätssteigernden und objektivitätsmindernden gesellschaftlichen Werten eher nahelegen als die Unterscheidung zwischen wertfreier und wertabhängiger Forschung. Wiederum ein anderes Problem ergibt sich, wenn man nach den Implikationen fragt, die sich aus der Kritik an Biologie und Sozialwissenschaft für solche Gebiete wie Physik oder Chemie ergeben, deren Themenbereiche angeblich mit der physischen Natur und nicht mit gesellschaftlichen Entitäten befaßt sind. (»Angeblich« deshalb, weil wir, wie sich noch zeigen wird, hinsichtlich der Möglichkeit, zwischen dem Physischen und dem Nicht-Physischen klar und deutlich zu unterscheiden, skeptisch sein müssen.) Und was für Schlußfolgerungen allgemeinerer Art lassen sich aus diesen Anmerkungen zum Objektivitätsproblem für unsere Auffassung der wissenschaftlichen Weltsicht ableiten?
- Viertens. Die aufeinander bezogenen Methoden der Literaturkritik, der historischen Interpretation und der Psychoanalyse führten dazu, »Wissenschaft als einen Text zu lesen«, um die gesellschaftlichen Konnotationen - die verborgenen symbolischen und strukturellen Bedeutungen des sozialen Geschlechts - angeblich wertfreier Behauptungen und Praxisformen zu entlarven.[10] Für diese Textkritik entspringen die Metaphern einer Politik des sozialen Geschlechts in den Schriften der Väter der modernen Wissenschaft wie auch in den Ansprüchen, die heute von den Verteidigern einer wissenschaftlichen Weltsicht erhoben werden, nicht mehr der individuellen Neigung, noch sind sie für die Bedeutung, welche die Verfechter der Wissenschaft dieser beimessen, ohne Belang. Des weiteren ändert sich auch die Beurteilung einer Reihe starrer Dichotomien, die in Wissenschaft und Erkenntnistheorie für lange Zeit Gültigkeit besessen haben. Ihre definitorische Fortschreibung reflektiert offensichtlich nicht mehr den fortschrittlichen Charakter wissenschaftlicher Untersuchungen, sondern bezeichnet die unauflösliche Verbindung mit spezifisch männlichen - und vielleicht ausschließlich westlich-bürgerlichen Bedürfnissen und Erfordernissen. Objektivität vs. Subjektivität, der Wissenschaftler als erkennendes Subjekt vs. die Objekte seiner Untersuchung, Vernunft vs. Emotion, Geist vs. Körper - in jedem Fall wurde das erstere mit Männlichkeit, das letztere mit Weiblichkeit assoziiert. Und in jedem Fall wurde behauptet, der menschliche Fortschritt sei nur dadurch zu erreichen, daß das erstere die Herrschaft über das letztere erlange.[11] Diese textorientierte Kritik ist sehr wertvoll gewesen, doch wirft sie auch viele Fragen auf. Welche Relevanz besitzen die Schriften der Väter der modernen Wissenschaft für die zeitgenössische wissenschaftliche Praxis? Welche Theorie könnte die Begründung dafür liefern, diese Metaphern als grundlegende Bestandteile wissenschaftlicher Erklärungen anzusehen? Wie können geschlechtsbezogene Metaphern auch dann noch Inhalt und kognitive Form wissenschaftlicher Theorien und Praxen beeinflussen, wenn sie gar keinen direkten Ausdruck mehr finden? Und können wir uns vorstellen, wie eine wissenschaftliche Form der Erkenntnissuche aussehen würde, die auf die Unterscheidung zwischen Objektivität und Subjektivität, zwischen Vernunft und Gefühl verzichtete?
- Fünftens. Auf welche Weise gründen Anschauungen und Überzeugungen in gesellschaftlichen Erfahrungen? Und welche Art von Erfahrung sollte jene Anschauungen begründen, die wir als Erkenntnis auszeichnen? Darauf antwortet eine Reihe von erkenntnistheoretischen Untersuchungen, die für ein neues Verständnis solcher Probleme das Fundament gelegt haben.[12]
Diese feministischen Erkenntnistheorien stellen eine Beziehung zwischen Erkennen und Sein, zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysik her, welche eine Alternative zu den herrschenden, die Erkenntnis- und Seinsweisen der Wissenschaft rechtfertigenden Erkenntnistheorien darstellt. Aus den Widersprüchen zwischen diesen erkenntnistheoretischen Ansätzen erwachsen die hauptsächlichen Themen meiner Untersuchung.
Feministische Erkenntnistheorien: Ein Leitfaden
Das erkenntnistheoretische Problem besteht für den Feminismus darin, eine offensichtlich paradoxe Situation zu erklären. Der Feminismus ist eine politische Bewegung, die gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen will. Zugleich aber scheinen viele eindeutig durch feministische Gesichtspunkte bestimmte Behauptungen, die auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften, der Biologie, und der Sozialtheorie der Naturwissenschaften von Forscherinnen und Theoretikerinnen aufgestellt werden, plausibler (d.h. empirisch besser bestätigbar) zu sein als die Anschauungen, die sie ersetzen würden. Wie kann eine dergestalt politisierte Forschung die Objektivität wissenschaftlicher Untersuchungen vergrößern? Wie können diese feministischen Behauptungen begründet oder gerechtfertigt werden? Auf dieses offensichtliche Paradox hat der Feminismus in der Hauptsache mit drei Lösungsversuchen geantwortet. Zwei davon sind relativ gut ausgearbeitete Theorien, der dritte ist eher programmatischer Natur. Ich bezeichne diese drei Antworten als feministischen Empirismus, als feministische Standpunkttheorie und als feministischen Postmodernismus.
Der feministische Empirismus geht davon aus, daß Sexismus und Androzentrismus gesellschaftlich bedingte Verzerrungen sind, die durch striktere Anwendung der bereits existierenden methodologischen Normen wissenschaftlicher Untersuchung korrigiert werden können. Soziale Bewegungen »ermöglichen es den Menschen, die Welt aus einer umfassenderen Perspektive zu betrachten, weil sie die Verdunkelungsmechanismen beseitigen, denen Erkenntnis und Beobachtung unterliegen.«[13] Die Frauenbewegung bringt nicht nur die Bedingungen für eine solche umfassendere Perspektive, sondern auch eine größere Anzahl weiblicher Wissenschaftler hervor, denen androzentrische Verzerrungen eher auffallen als Männern. Diese Lösung des erkenntnistheoretischen Paradoxons ist aus vielerlei Gründen sehr anziehend, und nicht zuletzt auch deshalb, weil sie die bestehenden methodologischen Normen der Wissenschaft nicht anzutasten scheint. Eine solche Argumentation erleichtert die Akzeptanz feministischer Behauptungen, weil sie nur die unseriöse, nicht aber die normale Wissenschaft als das eigentliche Problem ansieht.
Der beträchtliche strategische Vorteil dieses Ansatzes läßt seine Fürsprecherinnen jedoch oftmals übersehen, daß die empiristische Lösung den Empirismus in Wirklichkeit untergräbt. Die gesellschaftliche Identität des Wissenschaftlers sei, so wird angenommen, für die Qualität der Forschungsresultate ohne Belang, denn die wissenschaftliche Methode könne alle Verzerrungen beseitigen, die sich aus der Tatsache ergeben, daß der je individuelle Forscher schwarz oder weiß, Chinese oder Franzose, männlich oder weiblich ist. Doch der feministische Empirismus argumentiert, daß Frauen (oder Feministinnen, seien sie nun männlich oder weiblich) als Gruppe eher zu unverzerrten und objektiven Ergebnissen gelangen können, während dies Männern (oder Nichtfeministen) als Gruppe in sehr viel geringerem Maße möglich ist.
Ferner kann die empiristische Behauptung, die wissenschaftliche Methode reiche aus, um den geschichtlichen Fortschritt in der Objektivität des von der Wissenschaft vermittelten Weltbildes zu begründen, unter Verweis auf die Geschichte selbst relativiert werden. Es waren in erster Linie die sozialen Bewegungen, die die Objektivität der Wissenschaft befördert haben, und nicht die de facto angewendeten oder von Philosophen rational rekonstruierten wissenschaftlichen Normen. Man denke zum Beispiel an die Auswirkungen der bürgerlichen Revolution des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts, die die moderne Wissenschaft selbst hervorgebracht haben, oder man betrachte die Auswirkungen der proletarischen Revolution des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Ähnliches gilt für den Befreiungskampf gegen den Kolonialismus in diesem Jahrhundert, der die Auffassung von wissenschaftlicher Objektivität entscheidend beeinflußt hat.
Wir werden auch sehen, daß ein hauptsächlicher Ursprung androzentrischer Verzerrungen in der Auswahl der zu untersuchenden Phänomene und in der Definition dessen, was an ihnen problematisch ist, liegt. Doch der Empirismus hält daran fest, daß seine methodologischen Normen sich nur auf den »Begründungszusammenhang«, d.h. auf das Überprüfen von Hypothesen und die Interpretation des Beweismaterials beziehen sollen, nicht aber auf den »Entdeckungszusammenhang«, innerhalb dessen die Probleme bezeichnet und definiert werden. Auf diese Weise scheint eine kräftig sprudelnde Quelle gesellschaftlich bedingter Verzerrungen der methodologischen Kontrolle der Wissenschaft einfach zu entrinnen. Und schließlich läßt sich der Eindruck nicht vermeiden, daß die Befolgung methodologischer Normen oft genug androzentrische Ergebnisse zeitigt. Auf diese Weise lenken feministische Reformversuche dessen, was als unseriöse Wissenschaft betrachtet wird, unsere Aufmerksamkeit auf tiefsitzende logische Inkohärenzen und auf das Paradoxon der (von uns so genannten) empirischen Unzulänglichkeit empiristischer Erkenntnistheorien. Das feministische Standpunkt-Denken hat seinen Ursprung in Hegels Dialektik von Herr und Knecht und in der Weiterverarbeitung dieser Thematik durch Marx, Engels und Lukâcs. Kurzgefaßt geht die Argumentation dahin, daß die gesellschaftliche Vorherrschaft der Männer partielle und pervertierte Auffassungen und Vorstellungen zur Folge hat, während die Frauen aufgrund ihrer untergeordneten Position vollständigere und weniger pervertierte Vorstellungen zu entwickeln vermögen. Feminismus und Frauenbewegung stellen die theoretischen und motivationalen Grundlagen für wissenschaftliche Untersuchungen und politische Auseinandersetzungen zur Verfügung, aufgr-und derer die Sichtweise der Frauen zu einem »Standpunkt« werden kann, d.h. zu einer moralisch und wissenschaftlich akzeptableren Grundlage für die feministischen Interpretationen und Erklärungen natürlicher und gesellschaftlicher Phänomene. Die feministische Kritik der Sozialund Naturwissenschaften, werde sie nun von Männern oder Frauen vorgetragen, gründet in den aus feministischer Sichtweise begriffenen universellen Charakterzügen weiblicher Erfahrung.[14] Dieser Versuch, das erkenntnistheoretische Paradox aufzulösen, vermeidet die Probleme des feministischen Empirismus, erzeugt aber Spannungen eigener Art. Zunächst werden Empiristinnen sich höchst ungern der Überzeugung hingeben, die gesellschaftliche Identität des Beobachters oder der Beobachterin könne eine wichtige Variable für die mögliche Objektivität von Forschungsergebnissen sein. In strategischer Hinsicht ist dieser Ansatz weniger überzeugend, weil er ohnehin nur die erreicht, die bereits von der größeren Angemessenheit feministischer Behauptungen ausgehen. Im naturwissenschaftlichen Bereich dürfte er besonders unplausibel wirken.
Zwei weitere Fragen ergeben sich, wenn man das Standpunkt-Denken vor seinem eigenen Hintergrund betrachtet. Kann es überhaupt einen oder den feministischen Standpunkt geben, wenn die gesellschaftliche Erfahrung der Frauen (oder Feministinnen) je nach Rasse, Klasse und Kultur verschieden sich darstellt? Sind nicht die Standpunkte abhängig davon, ob eine Frau schwarz oder weiß ist, der Arbeiterklasse oder dem Bürgertum angehört, aus Amerika oder Nigeria kommt. Erwägungen dieser Art führen bereits zum postmodernistischen Skeptizismus: »Vielleicht besitzt >die Realität< nur in der fälschlicherweise universalisierenden Perspektive des Herren >eine< Struktur. Das heißt, nur in dem Maße, in dem eine Person oder Gruppe das Ganze beherrscht, scheint >die Realität< einer bestimmten regulativen Ordnung zu gehorchen oder durch ein privilegiertes System gesellschaftlicher Beziehungen konstituiert zu werden.«[15] Ist das feministische Standpunktdenken noch zu stark der geschichtlich verheerenden Allianz von Macht und Erkenntnis verpflichtet, die für die Epoche der Moderne so charakteristisch ist? Wurzelt es zu fest in einer Politik, deren Problem in der Konstruktion substantialisierter Identitäten lag?
Bevor ich mich dem feministischen Postmodernismus - der Quelle dieser eben angeführten Kritik - zuwende, möchte ich hervorheben, daß sowohl der empiristische als auch der standpunktbezogene Ansatz offensichtlich behaupten, Wertfreiheit könne nichts zur Vermehrung wissenschaftlicher Objektivität beitragen; diese entspringe vielmehr der Verpflichtung auf antiautoritäre, partizipatorische, emanzipatorische und anti-elitäre Werte und Projekte. Darüber hinaus sollte die Leserschaft der Versuchung entgehen, feministische Behauptungen relativistisch mißzuverstehen. Feministische Forscherinnen gehen in keinem Falle davon aus, daß sexistische und antisexistische Behauptungen gleichermaßen plausibel wären. Man kann die Situation der Frauen auf primär biologische oder primär gesellschaftliche Faktoren zurückführen, man kann »das Menschliche« für identisch oder für nichtidentisch mit »dem Männlichen« halten, doch besitzen die jeweils entgegengesetzten Äußerungen nicht den gleichen Grad von Plausibilität. Die Beweisführung für feministische vs. nichtfeministische Behauptungen mag in einigen Fällen noch nicht abgeschlossen sein, und viele feministische Behauptungen, die heute als sicher gelten, werden zweifellos im Zuge weiterer Materialerschließung und der Konstruktion besserer Hypothesen und Begriffe fallengelassen werden. Es sollte auch gar kein Zweifel darüber bestehen, daß diese normalen Forschungsbedingungen für viele feministische Behauptungen völlig ausreichend sind. Doch sollte ein gewisser erkenntnistheoretischer Skeptizismus und die Anerkennung des hypothetischen Charakters aller wissenschaftlichen Behauptungen nicht mit Relativismus verwechselt werden. Unabhängig davon aber, ob Feministinnen eine relativistische Position vertreten oder nicht, ist in Anbetracht der einander widersprechenden Behauptungen schwer vorstellbar, wie ein kognitiver Relativismus auf kohärente Weise verteidigt werden könnte. Der feministische Postmodernismus stellt die Grundannahmen des Empirismus und des Standpunktdenkens in Frage (wobei allerdings betont werden muß, daß auch Vertreterinnen der letztgenannten Richtungen vom Skeptizismus der Postmoderne nicht unberührt geblieben sind). Wenn Feministinnen von einem »tiefgehenden Skeptizismus hinsichtlich universeller (oder universalisierender) Behauptungen über die Existenz, das Wesen und die Kräfte von Vernunft, Fortschritt, Wissenschaft, Sprache und Subjekt/Identität« ausgehen, dann befinden sie sich in Übereinstimmung mit Denkern wie Nietzsche, Derrida, Foucault, Lacan, Rorty, Cavell, Feyerabend, Gadamer, Wittgenstein und Unger und beziehen sich auf intellektuelle Strömungen wie Semiotik, Dekonstruktion, Psychoanalyse, Strukturalismus, Archäologie/Genealogie der Humanwissenschaften und Nihilismus.[16]
Wenn dieser Ansatz eine fruchtbare Grundlage für wissenschaftliche Untersuchungen liefern soll, muß er die von der Moderne aufgespaltenen und partikularisierten Identitäten zusammenschließen: den schwarzen Feminismus, den sozialistischen Feminismus, die farbigen Frauen usw. Er muß in unseren widerständigen Bewegungen gegen die gefährliche Fiktion des substantialisierten, wesenhaft-natürlichen »Menschen« (d.h. des »Mannes«) und gegen die aus dieser Fiktion entsprungene Verzerrung und Ausbeutung den gemeinsamen Nenner der Solidarität suchen. Er muß möglicherweise die erträumte Rückkehr zu einem Urzustand - die frühkindliche Phase, die klassenlose Gesellschaft, das vorgeschlechtliche »einheitliche« Gattungsbewußtsein verwerfen, also all das, worauf standpunktorientierte Erkenntnistheorien sich berufen. Aus dieser Perspektive sind feministische Behauptungen nur insofern plausibler und verzerrungsärmer, als sie in einer solidarischen Haltung gründen, die diese partikularisierten Identitäten wie auch die von ihnen geschaffenen Politikformen miteinander verbindet. Auch der feministische Postmodernismus ist nicht ohne innere Gegensätze. Auf welche Weise enthüllt er, wie die beiden anderen Erkenntnistheorien, die Inkohärenzen des Diskurses, der ihn hervorbrachte? Die Wissenschaft hat mit gesellschaftlichen Projekten rassistischer, sexistischer, imperialistischer und klassenhierarchischer Prägung weitgehende Bündnisse geschlossen. Können wir uns angesichts dessen den Verzicht auf die »eine, wahre, feministische Geschichte der Wirklichkeit« leisten?
Wie sich zeigt, weisen die erkenntnistheoretischen Diskurse des Feminismus im Verhältnis zueinander Widersprüche auf, und jeder ist auf seine Art problematisch. Jedoch haben diese Widersprüche und Probleme ihren Ursprung nicht in den Diskursen selbst, sondern reflektieren die Orientierungslosigkeit, von der die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien des mainstream seit Mitte der sechziger Jahre geprägt sind. Ebenso reflektieren sie die sich verschiebenden Konstellationen von Geschlecht, Rasse und Klasse, d.h. sowohl die analytischen Kategorien als auch die gelebte Wirklichkeit. Neue soziale Gruppen wie etwa Feministinnen, die die Kluft zwischen ihrer gesellschaftlichen Erfahrung und den zur Verfügung stehenden Theorien zu überbrücken suchen - werden weit eher die Unterdrückung von Erkenntnis monieren als solche Gruppen, deren Erfahrung überkommenen Begriffsschemata besser angepaßt ist. Der Feminismus greift deshalb in diese Auseinandersetzungen ein, weil er entscheidend dazu beitragen kann, das Wesen und die Implikationen widersprüchlicher Tendenzen im intellektuellen und gesellschaftlichen Leben der Gegenwart aufzuhellen. Die verschiedenen Ansätze feministischer Wissenschaftskritik haben eine stattliche Reihe begrifflicher Probleme zum Vorschein gebracht, die unsere kulturelle Identität einer demokratischen und sozial fortschrittlichen Gesellschaft ebenso grundlegend in Frage stellen wie unsere persönliche Identität, die wir an der individuellen Ausdifferenzierung des Geschlechts festmachen. Ich möchte diese erhellenden Studien hier nicht mit Kritik überhäufen, indem ich etwa unterstelle, sie seien nicht wirklich feministisch oder hätten unser Wissen nicht bereichert. Vielmehr hat jeder Ansatz unsere Fähigkeit, das Ausmaß des Androzentrismus in der Wissenschaft zu begreifen, entscheidend vorangetrieben, und in ihrer Gesamtheit haben diese Untersuchungen es uns ermöglicht, neue Fragen über die Wissenschaft zu stellen. Ein entscheidender Vorzug dieser kritischen Ansätze liegt darin, daß sie uns die gesellschaftlich schädlichen Inkohärenzen, die in allen nichtfeministischen Diskursen sich finden lassen, schnell vor Augen führen. Wenn man sie in der von uns beschriebenen Reihenfolge betrachtet, so führen sie uns von der Frauenfrage in der Wissenschaft zum radikaler sich stellenden Problem der Wissenschaft im Feminismus. Die ersten drei dieser kritischen Ansätze fragen vornehmlich danach, wie Frauen in der und durch die Wissenschaft ein höheres Maß an Gleichberechtigung zuteil werden kann. Demgegenüber geht es den beiden letzteren darum, wie und ob eine offensichtlich so tief in genuin männliche Projekte verstrickte Wissenschaft für emanzipatorische Ziele nutzbar gemacht werden könne. Jene Kritikerinnen, die die Frauenfrage in den Vordergrund stellen, begreifen das Unterfangen der Wissenschaft noch als reformierbar; jene aber, die vom Wissenschaftsproblem ausgehen, fragen skeptisch, ob es hinsichtlich der Weltsicht der Wissenschaft, ihrer zugrundeliegenden Erkenntnistheorie oder der dadurch legitimierten Praktiken überhaupt noch moralische und politische Werte gibt, die eingelöst oder reformiert werden könnten.