Über die naturwüchsige Deckung von Tagespolitik und Frauenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg
- »Jede Analyse dieser Jahre wird von der Feststellung auszugehen haben, daß in einem Zeitraum, in dem Millionen Deutscher die elementaren Grundlagen ihrer physischen Existenz verloren hatten oder in dieser Existenz bedroht waren, >Politik< zunächst einmal >Wirtschaftspolitik< war, und zwar in dem ganz einfachen Sinn, das Überleben im besiegten und besetzten, übervölkerten und zerstörten Deutschland zu organisieren. Es war eine Situation, in der scheinbar weniger für die Zukunft gedacht und geplant werden konnte und durfte, als vielmehr gehandelt werden mußte, um überhaupt eine Zukunft zu eröffnen.«[1]
1. Frauenpolitik als Politik der Überlebenssicherung
Die Hauptträger dieser hier geschilderten unmittelbaren Überlebenspolitik waren in erster Linie die Millionen Frauen, die bereits im Krieg vielfach Männer am Arbeitsplatz oder in der Familie ersetzt hatten und deren Hauptarbeit in den Nachkriegsjahren darin bestand, sich und ihren Angehörigen die nackte Existenz zu sichern.Nach 1945 hat es keine »Frauenpolitik« oder »Frauenfrage« in dem begrenzten Sinn gegeben, als handele es sich dabei ausschließlich um Dinge, die allein Frauen beträfen. Frauenfragen in den Nachkriegsjahren waren Lebensfragen, und zwar in der Bedeutung, daß das entscheidende politische Handeln in den unmittelbaren Notjahren nach dem Zweiten Weltkrieg darauf gerichtet war, die Überlebensbedingungen der Deutschen abzusichern, die brennenden Fragen nach Nahrung, Kleidung, Hausbrand, Wohnung zu lösen.
Die unmittelbar nach der Besatzung durch alliierte Truppen von diesen eingesetzten Bürgermeister in Städten und auf dem Land, sämtliche politische Repräsentanten auf den unteren Ebenen, in lokalen Verwaltungen, Stadt- und Gemeinderäten sahen sich jahrelang in erster Linie mit der Aufgabe konfrontiert, die wichtigsten Grundbedürfnisse der hungernden und frierenden Menschen zu befriedigen.[2] Inhaltlich deckte sich die so betriebene Politik, d. h. die Arbeiten, die für Nahrung, zumutbare Wohnungen, Brennstoff für den Winter usw. sorgten, mit Tätigkeiten, die in Bereiche traditioneller Frauenarbeit hineinreichten.
Die Überlebenspolitik dieser Jahre, wie sie sich im Bezugscheinsystem für alle Gebrauchsgegenstände, in der Vorsorgewirtschaft, in der Ernährungssicherung als öffentliche Aufgabe zeigte, war in ihrem Kern der Versuch, die Reproduktion der Menschen in den zerbombten Städten und auf dem Land zu sichern. Gleichsam »naturwüchsig« kam hier traditionell weibliches Handeln, in der Rolle der Hausfrau, Ehefrau und Mutter, die Reproduktion von Männern und Kindern durch entsprechende Arbeiten zu gewährleisten, mit einer durch die Not hervorgerufenen, gewaltsam veränderten Politik zur Deckung, deren Inhalt - zeitbedingt - eine praktisch andere Prioritätensetzung erfahren hatte. Eine bewußte Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, eine repräsentative Vertretung der Wählerschaft entsprach nicht den tatsächlichen Anforderungen. Überleben war in den Notjahren das Gebot Nummer Eins.
Frauenhandeln war in diesen Jahren, indem sie Überleben durch übermenschliche Anstrengungen sicherten, das einzig relevante »politische« Handeln, dessen politischer Kern auch erfahrbar war. Frauen erfuhren ihre immense Bedeutung nicht nur im Kreis der eigenen Angehörigen. Sie hatten ein aus Erfahrung gewonnenes Bewußtsein davon, daß ihre Arbeit gesamtgesellschaftlich unabdingbar war, daß sie die entscheidenden Trägerinnen der Überlebenspolitik waren, vermochten diesen erfahrbaren politischen Inhalt ihrer Tätigkeit jedoch nicht in ein adäquates Bewußtsein der politischen Bedeutung ihrer Tätigkeit umzusetzen. Frauen erfuhren sich in ihrer Überlebensarbeit verantwortlich, bewiesen Mut, Sicherheit und Kraft, kehrten den traditionellen Trägern politischer Öffentlichkeitsarbeit, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Kernfragen der menschlichen Existenz nicht zu lösen vermochten und damit nach dem hier zugrunde gelegten Politikbegriff als Strategie der Überlebenssicherung in der Nachkriegszeit »unpolitisch« handelten, den Rücken, doch begriffen Frauen fatalerweise ihr eigenes Handeln als »nicht politisch«.
In zeitgenössischen Veröffentlichungen wird immer wieder über die »politische Unlust« der Frauen geklagt, die, sich ihrer Verantwortung für das Ganze nicht bewußt, jeder politischen Tätigkeit verschlössen. Gemeint waren in erster Linie Parteien, deren Frauenanteil im Vergleich zur Weimarer Ära zum Teil drastisch gesunken war.[3] Obwohl Parteienpolitik in den Nachkriegsjahren sowohl von der parteipolitischen Zielsetzung als auch ihrer zunächst gegenüber deutschen Verwaltungsgliederungen verhältnismäßig schwachen Position auf die entscheidenden Nöte der Deutschen kaum angemessen reagieren konnte, geschweige denn wirkliche Alternativen anzubieten hatte, Parteien im Grunde »unpolitische« Vereine darstellten, die lediglich aus der Weimarer Tradition heraus existierten, erschienen sie als die Bereiche der legitimen politischen Betätigung. Allein ihre Existenz und die Hilfe einer langen historischen Kontinuität stellte dem Willen, sich gesellschaftlich zu betätigen, die Weichen. Die Herausgeberin einer der vielen Frauenzeitschriften in den Nachkriegsjahren bemerkte dazu:
- »Die Frauen, die ein ganzes Leben lang für Haus und Hof, für die Familie, für das Geschäft sorgen und handeln müssen, die oft ganz allein die schwere Arbeit leisten, sei es auf dem Lande oder in der Stadt in Haushalt und Beruf, die im Kriege ohne Mann ihre Kinder großgezogen haben und die ganze Last des freudlosen Daseins im mörderischen Ringen zwischen den Völkern auf ihren Schultern trugen, diese Frauen werden heute dazu aufgerufen, als Stimme für die eine oder andere Partei an die Wahlurne zu schreiten. Damit aber ist ihre Funktion zu Ende. Dann können sie wieder nach Hause gehen, und alles bleibt beim alten. Ist die eine oder andere - als Lockvogel für die Allgemeinheit - glücklich Stadtrat oder Landtagsabgeordnete geworden, dann hat sie sich an die Parteidisziplin zu halten und darf reden, wenn es ihr gestattet wird. Sonst fällt sie unangenehm auf. (...) Auch bei dem größten Wohlwollen der Männer gegen die Frauen wird in einer so anteilmäßig verschieden zusammengesetzten Fraktion niemals die Frau in entscheidenden Momenten in Parlament und Regierung sich für das Wohl und Wehe der Familie so durchsetzen können, daß darin der Mehrheitswille der Frauen zum Ausdruck kommt. Wir haben ein Männerregime hinter uns und eines vor uns.[4]
Vor dem Hintergrund der extremen Erfahrungen, die Frauen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren machten, vor der Hauptsorge des Hungers konnte ein traditioneller Politikbegriff das Verhältnis Individuum und Gesellschaft nur mangelhaft fassen. »Unpolitisch« in seiner herkömmlichen Bedeutung hieß in den Nachkriegsjahren gerade für die Masse der Frauen nicht etwa Stillhalten, Passivität und Desinteresse gegenüber Ereignissen, die über den alltäglichen privaten Lebenszusammenhang in Gesellschaft und Nachkriegsöffentlichkeit hineinwiesen, sondern bedeutete, die Ressourcen, die zum Überleben notwendig waren, zu sichern und notfalls zu verteidigen, machte es für Frauen notwendig, die von den Alliierten verhängten abendlichen und nächtlichen Ausgangssperren zu umgehen, wenn zu Hause die Kinder noch hungerten, hieß unter Umständen Zonengrenzen illegal zu überschreiten, wenn Frauen gezwungen waren, bei Bauern Brot, Butter, Speck gegen nichteßbare Wertgegenstände, Bettwäsche, Handtaschen, Selbstgestricktes, Teppiche usw. zu ertauschen. Frauen und Männer, die sonst verhungert wären, setzten praktisch einen anderen lebensnahen Begriff von Politik durch, eine Politik, die Leben unmittelbar sicherte, weil sie in traditionellen Bahnen offenbar zunächst dies aus unterschiedlichen Gründen nicht organisieren konnte. Dennoch galt dieses Handeln der Millionen Männer und Frauen als gesellschaftsfern und unpolitisch. Frauen erlebten es selbst so.
»Dürfen wir Frauen noch unpolitisch sein«, fragte die Autorin einer Frauenzeitung im Jahr 1947, als gerade die Ernährungskatastrophe im Winter 1946/47 in erster Linie durch den verzweifelten Einsatz der Frauen, auf jedem nur denkbaren Weg Nahrung zu beschaffen, überwunden worden war. Die Autorin kommt nicht umhin, politisches Handeln weiter zu fassen, als es ein traditioneller Politikbegriff zuläßt. Daß im Überlebenskampf der Frauen aber Momente einer humanen Politik angelegt waren, denen aber auf nahezu allen gesellschaftlichen Ebenen die bewußte Reflexion fehlte, bleibt auch in den folgenden Ausführungen eher vage. Einerseits gezwungen, mit der eigenen weiblichen Erfahrung von gesellschaftlichem Handeln als individuelle Überlebenstaktik auf traditionelle Formen politischer Öffentlichkeit bestenfalls so zu reagieren, indem mangels Alternative den wiederentstehenden Parteien als »Stimmvieh« Tribut gezollt wurde, mußte Frauenpolitik auf der anderen Seite als komplementäres Moment zu Parteien- und Gremienpolitik erfahren werden. Damit war eine andere, weibliche Erfahrung verkehrt konserviert, als den eigentlichen gesellschaftspolitischen Entscheidungsträgern vorgeschalteter Dienst an der Menschheit.
- »Es ist jetzt wiederum menschlich verständlich, daß (diese) Frauen heute überhaupt nichts mehr mit Politik zu tun haben wollen oder mit dem, was sie bisher unter Politik verstanden haben. Diese Einstellung resultiert aber aus einer Verwirrung der Begriffe und aus einem vollständigen Mißverstehen des Begriffes Politik. Der größte Irrtum ist wohl, den Begriff Politik zwangsläufig mit dem der Partei zu verbinden. Es kann sehr wohl z. B. eine Aufgabe oder eine Zusammenkunft höchst politisch, aber durchaus überparteilich sein. Es gibt kulturpolitische Aufgaben, die Sache des ganzen Volkes sein sollten, aber mit Parteien nichts zu tun haben. Politik bedeutet ja doch nur die Verantwortung dem Allgemeinwohl gegenüber, einen Austausch von Erfahrungen zum Wohle des Ganzen. Man müßte erreichen, daß der Begriff »unpolitisch« in diesem Sinne in Zukunft gleichzusetzen wäre mit »verantwortungslos und gleichgültig«. (...) Wir Frauen sind doch aus dem Alltag gewohnt zu prüfen, ehe wir uns zur Wahl entschließen, wieviel mehr, wenn es um die Zukunft Deutschlands geht. Sagen wir nicht, die Politik überlassen wir dem Mann. So hundertprozentig hat er sich in der vergangenen Epoche schließlich nicht bewährt, daß wir ihm blind vertrauen könnten. Viele von uns haben einmal blind vertraut und sollten daraus gelernt haben. Wir wollen keine Stellung gegen den Mann beziehen, aber wir wollen zeigen, daß bei kameradschaftlicher Zusammenarbeit ein besseres Resultat herauskommt als bei Alleinherrschaft des Mannes in der Politik. Wenn wir unsere besonderen weiblichen Qualitäten in den Dienst der gemeinsamen Sache stellen, können wir mitwirken an einem Ausgleich der politischen Gegensätze unserer heutigen Parteien, können eintreten für ein einiges unteilbares Deutschland, in dem hoffentlich bald die trennenden Zonengrenzen fallen.«[5]
Die Autorin TRUDE BOSSE unterlag zusammen mit der Masse der Frauen einem folgenschweren Irrtum. Zwischen Frauenpolitik als Politik der Überlebenssicherung, die folgerichtig für die Beseitigung der Zonengrenzen, die Ex- und Importe von Lebensmitteln zu einem aufwendigen Verwaltungsakt machten, eintraten und dem, was gesponsert durch die mit dieser Politik verbundene Arbeit allmählich als traditionelle Struktur der Öffentlichkeit mit Parteiengegensätzen, zonalen Kämpfen, Länderegoismus und national divergierenden Interessen der Besatzungsmächte in den Nachkriegsjahren Gestalt annahm, hat es keine »gemeinsame Sache« gegeben, in deren Dienst Frauen ihre »weiblichen Qualitäten« hätten stellen können. Politik in der Nachkriegszeit war menschenverachtend bis zur physischen Ausrottung von Alten, Kranken, Schwachen und Kindern, die unmittelbaren Lebensinteressen wurden von den Hauptentscheidungsträgern kaum berücksichtig, dagegen lebensfernen Zielen wie den sich konsolidierenden nationalen Blöcken und nationalem Sicherheitsdenken erste Priorität eingeräumt. Frauen haben richtig gesehen, daß diese Politik in erster Linie auf ihre Kosten ging. Ihre Versuche, nationale Gegensätze zu überbrücken mit Argumenten, die sich auf unmittelbare Überlebensbedürfnisse richteten, mögen als »politisch naiv« eingestuft werden, wären zu dem Zeitpunkt, als sie vorgebracht wurden, jedoch die einzig denkbare humane Alternative gewesen.
»Berliner Frauen appellieren an die Menschlichkeit« heißt eine Flugschrift, die eine Rede enthält, die Frauen der CDU, SPD und der Liberalen am 19. Juni 1948 im Berliner Stadtparlament aus Protest gegen die verheerenden Zustände, die durch die Berlinblockade ausgelöst wurden, hielten. Auch hier wieder der Versuch, menschenbedrohende politische Ziele mit dem dadurch ausgelösten physischen Elend der Menschen zu konfrontieren, auch der Versuch, Politik auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen, die sich in der Nachkriegszeit um die nackte Existenz drehten. Ich nenne diese Sichtweise eine von Frauen, nicht weil ich glaube, daß Frauen bessere Menschen als Männer sind, oder weil Frauen von »Natur« aus lebensnaher denken als Männer, sondern weil die überleben sichernden Aufgaben in den Nachkriegsjahren an der Basis in erster Linie von Frauen erfüllt wurden, und Frauen deshalb wußten, daß ein Mensch erst essen muß, bevor über die Ereignisse der »großen Politik« entschieden werden kann. In diesem hochpolitischen Sinn beurteilten Frauen unterschiedlicher politischer Couleur die Berlinblockade:
- »Die Berliner Bevölkerung kann kein Verständnis dafür aufbringen, daß wegen der politischen Uneinigkeit der Besatzungsmächte ihr Leben und ihr Bestehen in der nackten Existenz bedroht wird. Denn sie ist bedroht! Waren schon Maßnahmen wie die, daß man den Güter-, insbesondere den Lebensmittelverkehr mit der Ostzone so gut wie unmöglich machte, außerordentlich belastend, so sind die Maßnahmen, die jetzt erfolgt sind, nicht mehr tragbar. Der Verkehr mit den Zonen, sowohl der Güter- als auch der Personenverkehr, ist völlig abgeschnitten, unter Vorwänden abgeschnitten, die von uns fast als zynisch empfunden werden müssen. Die Lieferung von Lebensmitteln ist so gut wie unterbunden. Wir haben keinen Strom, um unsere Wirtschaft aufrechtzuerhalten, geschweige denn um die privaten Haushalte zu versorgen. Ich möchte an die Krankenhäuser erinnern. Selbst diese werden nicht genügend mit Strom versorgt!
Um was handelt es sich bei solchen Maßnahmen?
Sprechen wir das Wort auch hier offen aus! Es ist einfach eine Blockade einer offenen Stadt. Eine solche Blockade wird schon im Kriege als ein Vergehen gegen die Menschlichkeit betrachtet, da sich eine solche Blockade in erster Linie doch gegen Frauen und Kinder richtet. Wieviel größeres Entsetzen muß diese Maßnahme in einer Zeit auslösen, in der Kampfhandlungen längst nicht mehr bestehen, und in der auch sonst keinerlei Berechtigung oder Notwendigkeit besteht, eine solche Maßnahme durchzuführen!«[6]
Frauen unternahmen in der Nachkriegszeit vielfältige Versuche, ihre eigenen Anliegen, die keine isolierten Frauenfragen, sondern vor dem Hintergrund des Elends und der Not allgemeine Überlebensfragen darstellten, in den Bereich einer traditionell vorstrukturierten Öffentlichkeit hineinzutragen. Sie scheiterten aber bei dem Versuch, ihre Anliegen nach humanen Zuständen, einer menschlichen Politik durchzusetzen. In den Bahnen einer traditionellen Politik mußten sie notwendig kapitulieren. Erst einmal in »Sachzwänge« verstrickt, überlagerten Ideologien, Parteienschemata, Angst vor dem Kommunismus übergreifendere gesellschaftliche Überlegungen nach Nahrung für alle, gerechter Verteilung der Güter usw.
Der Teil der Frauen, die sich in Bahnen traditionell historischer Öffentlichkeit bewegten und dort auf die engen Grenzen menschlicher Möglichkeiten stießen, fanden einen Ausweg, der sie vor dem »schlechten Geschäft der Politik« bewahrte und ihnen dennoch das Gefühl gab, öffentlich, entlang humanen Idealen zu wirken. In der Wohlfahrtsarbeit der konfessionellen und überkonfessionellen Verbände, den mit sozialen Belangen befaßten Untergruppierungen der Parteien, eröffnete sich für viele Frauen ein breites Feld zum großen Teil unbezahlter, sprich: ehrenamtlicher Arbeit. So konnte weibliches Engagement, das nach Öffentlichkeit drängte, mehr oder weniger nahtlos in die Nachkriegsgesellschaft integriert werden, die die Frauen mit ihren »typisch weiblichen« Fähigkeiten notwendig brauchte, um die durch eine drastische Wirtschaftspolitik noch verschlimmerte Not bis in die heutige Zeit hinein zu lindern.
Der deutsche Caritas-Verband, das Diakonische Werk, das Deutsche Rote Kreuz, Arbeiterwohlfahrt und Paritätischer Wohlfahrtsverband, die Spitzenverbände der deutschen Wohlfahrtspflege, die während des Nationalsozialismus zum Teil aufgelöst und in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) zusammengeschlossen waren, begannen bald nach 1945 wieder mit ihrer Arbeit, die gerade für Frauen ein vielfältiges, geschlechtsbegrenztes Betätigungsfeld bot.[7]
Frauen arbeiteten hier in der Flüchtlingshilfe, in öffentlichen Volksküchen, die in allen größeren Städten errichtet wurden, halfen bei Kinderspeisungen, in der Kranken- und Altenpflege, in der Kriegsheimkehrerfürsorge, kurz, auf dem ganzen breiten Feld sozial caritativer Arbeit, für die nach dem verheerenden Krieg ein besonders großer Bedarf bestand. Umfangreiche Sammlungen wurden durchgeführt, um Notleidenden zu helfen, ausländische Hilfsgüter wie Lebensmittel, Kleidung, Hausrat, Medikamente, Bücher usw. verteilt, Nähstuben von Spendengeldern eingerichtet, und obwohl keine umfassenden Zahlen über die geschlechtliche Zusammensetzung der ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter befriedigend ermittelt werden konnten,[8] dürfen wir annehmen, daß besonders Frauen diese Dienste leisteten, da es sich in der Regel dabei um typische Frauenarbeiten aus dem pflegerischen und hauswirtschaftlichen Bereich handelte.
Die Verfasserin führte im Frühjahr mehrere Gespräche mit einer alten Frau, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Fürsorgerin tausende hilfesuchende Männer, Frauen und Kinder in einem Bunker in Berlin-Tempelhof betreute, sich durch Bittgänge bei der Firma Sarotti Säuglingsnahrung beschaffte, Schlafmöglichkeiten im Bunker einrichtete, die vor allem von Frauen in Anspruch genommen wurden, die nachts zum Schlafen in den Bunker kamen, weil sie in ihren Wohnungen Angst hatten, vergewaltigt zu werden, eine Frau, die mit einer List erreichte, daß sie »ihren« Bunker nachts abschließen durfte, und eine Virtuosin auf dem Gebiet der Improvisation und Organisation aus dem Nichts heraus war. Für ein Lazarett, das vollständig leergeplündert war, beschaffte sie Matratzen, verlangte Ärzte und schaffte die Kranken zum Teil mit dem Handkarren in das von ihr »wiedergegründete« Krankenhaus. »Man mußte nur Ideen haben«, sagte mir Frau A.[9] Nach 1947 baute sie für die »Innere Mission« der Evangelischen Kirche in Groß-Berlin die Bahnhofsmission mit 32 Stationen auf, betreute hier die aus dem Osten eintreffenden Flüchtlingstransporte, richtete Übernachtungsheime ein und verpflegte die hungernden Menschen.
»Ich wußte manchmal morgens nicht wie, und abends habe ich über tausend Menschen satt gemacht.«
Es waren nach Frau A.s Schilderungen, die eine Pioniertat nach der anderen auf dem Gebiet humaner Hilfe enthalten, in erster Linie Frauen, die diese unglaublichen Leistungen erbrachten und denen nirgendwo ein Denkmal gesetzt wurde, die nicht einmal in einer historischen Fußnote Erwähnung fanden.
- »Fragen Sie nicht, was wir an Elend gesehen haben. Wir hatten eine Mitarbeiterschaft, ja das waren alles Frauen aus den besten Kreisen, ganz wurschtegal, die sich nicht scheuten, nie nach Zeit oder Stunde fragten, sondern die da waren, die erfinderisch wurden im Helfen. Wir hatten in den Kirchen den >barmherzigen Brotkorb<. Da durfte ich mir von jeden Gemeinden etwas holen. Dann hatten wir ein städtisches Krankenhaus, da durfte ich mir immer die Brot- und Essensreste holen, weil ja manches übrigblieb. Meine Mitarbeiterinnen damals, die haben von uns Mittagessen gekriegt und ein kleines Entgelt (von der Inneren Mission der EKD, A. F.), daß sie grade die Miete bezahlen konnten. Die haben aus Idealismus mitgemacht. Es gab ja damals nach '45 weder eine Rente noch sonstwas. Es gab ja nichts. (...)
Die Arbeit war die reine Improvisation. Was da an Nächstenliebe und menschlicher Leistung passierte, das kann ich gar nicht schildern.«
Es handelte sich um Arbeiten, die ein so hohes Maß an Flexibilität, Improvisationsgabe und eine so große Portion echter menschlicher Anteilnahme erforderten, daß die wiedereingerichteten städtischen Verwaltungsstellen offenbar in der Konsolidierungsphase hoffnungslos mit diesen sozialen Aufgaben überfordert gewesen wären und froh waren, daß Frauen da waren, die es freiwillig und gerne machten.[10]
- »Wissen Sie, das war so eine Organisation, ich kann Ihnen das gar nicht sagen. Das ist alles so passiert. Die städtische Verwaltung hatte überhaupt keine Ahnung. Die konnten so was nicht. Das haben wir eben in unserer freiwilligen Arbeit getan.«
Die Wichtigkeit und Einmaligkeit dieser Frauenarbeit war von öffentlichen Stellen nicht zu übersehen. Die Frauen wurden berücksichtigt, waren in diesem begrenzten Bereich freiwilliger Fürsorgearbeit wichtige Mitarbeiterinnen, zwar ohne Sitz und Stimme im Senat, aber als Beraterinnen zeitweilig unerläßlich.
- »Ich war sozusagen ein bißchen politisch vom Senat anerkannt wegen meiner Arbeit, und dann natürlich wurde ich zu diesen Besprechungen (des Flüchtlingsausschusses, A. F.) immer hinzugezogen. Ich hatte (damals) jahrelang eine sehr große Schlüsselstellung. (...)
Wenn etwas passierte, wenn ich dann sagte >das und das<, dann wußten die oha! Ich war sozusagen für einige Senatsleute schon maßgebend für Dinge.«
Weder Frau A. noch den meisten anderen Frauen wurde diese maßgebliche Kompetenz in den dringenden Nöten des Nachkriegsalltags mit einer angemessenen gesellschaftlichen Stellung honoriert, obwohl kaum jemand lebensnaher dachte und geeigneter für Tagespolitik in der Nachkriegszeit war wie gerade diese Frauen.
- »Es war so viel zu tun, und dennoch haben wir auch versucht, politische Akzente zu setzen.«
Viele Frauen leisteten soziale Arbeit im »subpolitischen« Raum und gehörten gleichzeitig als Mitglieder einer der traditionellen politischen Gruppierungen an. Zwischen Frau A. und dem von einer Führerin der Frauenbewegung der Weimarer Republik, Agnes von Zahn-Harnack, nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin gegründeten »Wilmersdorfer Frauenbund« bestanden enge freundschaftliche Kontakte. Ebenso zu anderen Frauen, die nach 1945 in Berlin versuchten, wieder eine Frauenbewegung aufzubauen.
Im »politischen Vorfeld« leisteten Frauen in Parteien, Gewerkschaften, konfessionellen und freien Institutionen und in den Organisationsformen der sich reorganisierenden Frauenbewegung eine Arbeit humaner Qualität, zu der die sich bildenden offiziellen Verwaltungseinrichtungen und politischen Stellen nicht willens und nicht in der Lage waren. Die Bedeutung dieser Arbeit wurde nicht erkannt. In einer Zeit, die gekennzeichnet war durch eine Aufblähung des öffentlichen Verwaltungsapparats, weil besonders die Kriegsfolgeaufgaben einen erhöhten Personaleinsatz notwendig machten, war ein enormer Anstieg der Frauenarbeit im Angestelltenbereich der öffentlichen Verwaltung festzustellen. In Nordrhein-Westfalen betrug 1946 die Steigerungsrate der Frauen in Angestelltenberufen gegenüber 1933 etwa 500 Prozent![12]
Es kann davon ausgegangen werden, daß diese zusätzlich eingestellten Frauen in erster Linie auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge beschäftigt wurden und mit typischen Sekretariatsarbeiten betraut, unerläßliche Aufbauarbeit in den niedrigen Einkommensklassen leisteten. Der Anteil der weiblichen Beamten an den in Nordrhein-Westfalen im öffentlichen Dienst beschäftigten Frauen sank demgegenüber von 13,2 Prozent im Jahr 1933 auf 3,5 Prozent im Jahr 1946, lag damit noch unter der Quote, die während des Nationalsozialismus Ergebnis der Ausschaltung der Frauen aus höheren öffentlichen Ämtern war.«[13]
Frauenarbeit verlor in den Nachkriegsjahren stärker ihren schichtspezifischen Charakter. Die meisten Frauen wußten buchstäblich nicht, woher sie die Kartoffeln für die nächste Mahlzeit bekommen sollten. Klassengegensätze schienen gleichsam nivelliert oder auf den Kopf gestellt, wenn Frauen in der Schlange vor Läden anstanden oder zum Hamstern aufs Land fuhren oder Bäuerinnen plötzlich über die wesentlichen Ressourcen verfügten, während reiche Frauen ihr Geld nicht essen konnten. Frauenarbeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen sah in der Praxis ganz ähnlich aus: Vorsorge für die nötigsten Dinge des Überlebens zu treffen.
Wenige Frauen erlangten dabei öffentliches Ansehen, weil es der Zufall wollte, weil sie schon in den Jahren zuvor öffentliche Stellungen erklommen hatten, weil möglicherweise kein geeigneter Mann zu finden war. Die Arbeit der meisten Frauen sperrte sich dagegen, mit einem traditionellen Politik- und Öffentlichkeitsverständnis beschrieben zu werden. Sie blieb weitgehend, obwohl unverzichtbar, unsichtbar als nackter Existenzkampf hinter einer politischen Weltkulisse.
2. Die »Stunde Null« als Zusammenbruch des Ernährungssystems
Unmittelbar lebensbedrohend begann sich im Laufe des Jahres 1945 die Lage auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung abzuzeichnen. Die militärische Gefahr war spätestens seit der Kapitulation Nazideutschlands im Mai 1945 gebannt, um bald danach für einen Großteil der Bevölkerung der Aussicht auf einen langsamen Hungertod Platz zu machen. Darüber konnte zunächst die während des Krieges betriebene Vorratswirtschaft hinwegtäuschen. Die volkswirtschaftlich organisierte Bevorratung war zwar im Verlauf der Kriegsjahre im Vergleich zur geregelten Bevorratung der Vorkriegszeit immer knapper geworden,[14] doch konnte noch in den letzten Kriegsmonaten ein täglicher Pro-Kopf-Verbrauch von etwa 2000 Kalorien bereitgestellt werden.[15] Obwohl damit nur etwa knapp zwei Drittel des Pro-Kopf-Verbrauchs der Bevölkerung für die Jahre 1930 bis 1939 erzielt werden konnte,[16] ist dieser Wert noch hoch im Vergleich zu dem, was den Deutschen in den folgenden Jahren bevorstand.
Die offiziellen Angaben zu den verteilten Lebensmittelrationen bis zum allmählichen Aufbrechen des Bewirtschaftungssystems nach der Währungsreform weisen sogar in den offiziellen Sollwerten Tiefststände aus, die um 1000 Kalorien pro Tag liegen, in der amerikanischen und französischen Zone zum Teil sogar noch beträchtlich darunter.[17]
Nun sagen nominelle Angaben über die Kalorienzuteilung weder etwas über die tägliche Zusammensetzung der Nahrung aus, noch darüber, ob das Soll tatsächlich erzielt wurde. Es ist dagegen anzunehmen, daß die offiziellen Margen in den seltensten Fällen erreicht wurden. Die Gründe waren vielfältiger Natur, die Folgen wirkten sich regional unterschiedlich mehr oder weniger verheerend aus.
Ein Beispiel: Als Anfang März 1945 amerikanische Truppen in das linksrheinische Köln einrückten, befanden sich nach Schätzungen rund 45 000 Menschen in der Stadt, die den letzten Großangriff amerikanischer und britischer Bomber am 2. März 1945 überlebt hatten. Die Innenstadt war zu 85 bis 95 Prozent zerstört. Im gesamten Stadtgebiet waren etwa 70 Prozent der Wohnungen unbewohnbar.[18] In die zunächst von den Amerikanern besetzte Stadt strömten sehr schnell die vor den Bombenangriffen geflohenen Kölner zurück. Bei der ersten nach dem Krieg im Jahr 1946 durchgeführten Volkszählung lebten in der Stadt 401 380 Einwohner, deren Versorgung mit Lebensmitteln bald zu einer Frage von Leben und Tod wurde.
Hatten die Menschen in Köln wie auch in anderen Industriestädten an Rhein und Ruhr die ersten Monate der Besatzung, als eine geregelte Versorgung aufgrund der Zerstörung der Verkehrswege und Transportmittel nicht möglich war, mit Lebensmittelvorräten aus verlassenen Wehrmachtsdepots und eigenen konservierten Notvorräten überbrücken können, so gingen diese Reserven gegen Ende des Jahres 1945 mit dem Wintereinbruch zur Neige. Die Alliierten, die von Anfang an mit Engpässen in der Ernährung der Bevölkerung gerechnet hatten, spekulierten demgegenüber auf die Überlebenstaktik der Menschen, mit eigenen Vorräten aus besseren Zeiten sparsam und ökonomisch umzugehen und dem Kampf ums nackte Überleben alle verfügbaren Kräfte zu opfern.
Eine gegenüber den Kriegszuteilungen drastische Kürzung der Lebensmittelrationen wurde auch in Köln angeordnet. Die Briten riefen die Bevölkerung im Sommer 1945 auf, jeden Quadratmeter Boden zum Anbau von Gemüse und Kartoffeln zu bearbeiten, auf dem breiten Grüngürtel, der Köln umgibt, auf ehemaligem Militärgelände und auf stillgelegten Flugplätzen wurde der Bevölkerung Land für Gartenbau zur Verfügung gestellt, da die offiziellen Rationen fürs Überleben zu knapp bemessen waren.[19] Hinzu kam, daß Rationen insbesondere hochwertiger Nahrungsmittel oft nicht ausgeteilt werden konnten; Fleisch, Butter, Hülsenfrüchte verschwanden nicht selten in großangelegten Verschiebungen spurlos aus der Verteilung und tauchten irgendwo auf »schwarzen Märkten« wieder auf,[20] Lebensmittel verdarben durch unsachgemäße Lagerung oder Lieferungen aus dem Ausland lagen in deutschen Häfen fest (vgl. Tab. 1).
Tabelle 1: Der Kalorienwert der aufgerufenen Lebensmittelrationen pro Tag für Normalverbraucher in den drei Westzonen
Städte wie Köln und das Rhein-Ruhr-Industriegebiet waren ganz auf Lieferungen von außen angewiesen. Dabei wurde der Selbstversorgungsgrad der deutschen Landwirtschaft insgesamt in den vier Zonen ohnehin lediglich auf 35 Prozent des früheren Normalverbrauchs geschätzt. Die Agrargebiete östlich der Oder-Neiße-Linie standen unter fremder Verwaltung, damit war ein Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Osten verlorengegangen, infolge der Kriegseinwirkungen und der drastischen Ausbeutung des Bodens in den letzten Kriegsjahren betrug die Ernte 1946/47 nur 50 bis 60 Prozent einer Normalernte.[21]
Das Überleben der Deutschen war völlig abhängig von der Einfuhr ausländischer Nahrungsmittel und von deren gerechter Verteilung.
Durch verschiedene Ursachen gestaltete sich der Spielraum der Versorgungsbehörden äußerst eng. Ein niedersächsischer Kartoffeltransport, der für das Rhein-Ruhr-Gebiet bestimmt war, wurde im Herbst 1945 kurzfristig in den britischen Sektor Berlins umdirigiert, was zu einem Zusammenbruch der Kartoffelversorgung in den Großstädten wie Köln und im industriellen Ballungsraum Ruhrgebiet führte. Anfang März verfügten die Briten eine weitere drastische Kürzung der Rationen auf 1000 Kalorien pro Tag und »Normalverbraucher«. Ende März kürzte die amerikanische Zone.[22] Die hohen Ausfälle in der Erzeugung, die durch Einfuhren kaum ausgeglichen werden konnten, führten im Sommer 1946 in Köln zum Jahrestiefststand von 775 Kalorien pro Tag! Die offiziellen Angaben benannten zu diesem Zeitpunkt knapp 1100 Kalorien. Auch für die folgenden Hungerjahre divergieren die Zahlen über die Nahrungsmittel, die als lebensnotwendige Mindestrationen in die behördlichen Berechnungen eingingen und dem, was tatsächlich an die Bevölkerung ausgegeben wurde, beträchtlich.[23] Bis zum Sommer 1948 war die amtliche Rationierung angesichts dieser Werte buchstäblich eine Sache von Leben und Tod. Der Winter 1946/1947 brachte durch seinen für mitteleuropäische Verhältnisse extremen Kälteeinbruch im Dezember 1946 und Januar 1947 für die Ballungsgebiete eine in die Geschichte eingegangene Hungerkatastrophe, die durch die »Politik der knappen Kalorien« im Jahre 1946 schon vorprogrammiert war.
Zur Ernährungskrise kam die gänzlich unzureichende Versorgung der Wohnungen mit Hausbrand, die Stromsperren, Räumlichkeiten, die den Witterungsverhältnissen nicht standhielten und sich epidemisch ausbreitende Krankheiten. In Hamburg erfroren im Februar 1947 63 Menschen.[24] Zeitgenössische Nachkriegsveröffentlichungen sparen nicht mit Schilderungen des heute kaum mehr vorstellbaren Elends. Es waren wiederum besonders die Frauen, die der Not noch erträgliche Seiten abzuringen versuchten, die vor nacktem Hunger aber auch kapitulierten, wie die Erinnerung einer Flüchtlingsfrau drastisch belegt:
- »Der Winter 1946/47 war einer der kältesten überhaupt. Das wenige Holz in den Ruinen war schnell verbraucht und so erfroren Menschen, verhungerten, litten, darbten, weinten und - hofften weiter (bis) Weihnachten kam. Vorzubereiten gab es nichts, weil wir nichts hatten. Als Festessen buk ich genau wie im Vorjahr auf der trockenen Pfanne kleine Plinzchen aus gemahlenen Körnern. Auf dem Tisch standen in einem Blumentopf ein paar kleine Tannenzweige - das war alles. Weihnachten 1947 verging, um es vorweg zu nehmen, ebenso ärmlich, nur besaßen wir ein paar winzige Lichtchen, deren Herkunft ungewöhnlich war. Ich hatte aus unserer Zahnstation ein Mustergebiß entwendet, das aus wachsähnlichem Material bestand, dieses in einer Büchse geschmolzen und Kerzlein daraus geformt. (...)
Weiter florierten Gerüchte über den Kannibalismus. Einen Fall bestätigte mir Frau Dr. H. Sie wurde von der Miliz zu einer Verhandlung beordert. Die sechzehnjährige Tochter war gestorben und man hatte die Mutter beobachtet, wie sie das Fleisch ihres eigenen Kindes zu verzehren begann. Die Leber war bereits verschwunden. Auf entsetzte Vorwürfe antwortete sie nur stereotyp: >Das Fleisch ist ja von meinem eigenen! Von anderen hätte ich bestimmt nicht gegessen!<«[25]
Auch nach dem Katastrophenwinter besserte sich im Laufe des Jahres 1947 die Lage kaum. Im Februar 1948 stellten die Sozial- und Gesundheitsbehörden der Stadt Hamburg auf Anordnung der lokalen Militärgouverneure Länderberichte über den Gesundheitszustand der Bevölkerung Nordrhein-Westfalens am Ende des Jahres 1947 zusammen, in denen sämtlich von der engen Verknüpfung der gänzlich unzureichenden Ernährung und der Zunahme der Krankheiten, Seuchen und der Säuglingssterblichkeit ausgegangen wurde. In einzelnen Zuteilungsperioden waren die Kalorien wieder weit unter das Überlebensminimum abgesunken. Die Qualität der Lebensmittel sank so drastisch ab, daß Lebensmittelkontrollen eingeführt werden mußten. Bei diesen zunächst sehr mangelhaft durchgeführten Kontrollen chemische Untersuchungsämter waren zum Teil zerstört und Lebensmittelchemiker kamen erst nach und nach aus der Gefangenschaft zurück - mußten immerhin 1947 fast ein Fünftel der untersuchten Proben beanstandet werden. Ausgesprochene Fälschungen, z. B. von Milch und Butter konnten nur mit Kontrollen bekämpft werden.[26]
Die Untergewichtigkeit der Deutschen erhöhte sich in einzelnen Bezirken der britischen Zone auf 20 Prozent. Untersuchungen, die Ende 1947 in Essen durchgeführt wurden, stellten fest, daß Hausfrauen besonders von der Untergewichtigkeit betroffen waren. Schwerstarbeit und permanenter Hunger waren die Ursachen.[27]
Fortgesetzte quantitativ und qualitativ unzureichende Ernährung höhlte allmählich die menschliche Kraft aus. Führt man sich vor Augen, daß der Eiweißbedarf eines Menschen auf etwa ein Gramm pro Kilo Körpergewicht geschätzt wurde, der Fettbedarf auf 50 bis 60 Gramm pro Tag, daß diese Werte bei weitem nicht erreicht wurden, daß die Deutschen im Gegenteil sich hauptsächlich von Kartoffeln, Brot und Haferflocken ernähren mußten,[28] war es nur eine Frage der Zeit, wann der physische Zusammenbruch erfolgte. Dies war die notwendige Konsequenz aus der seit Beginn der Besatzung betriebenen Ernährungspolitik, der verantwortliche Stellen zu entgehen glaubten, indem sie auf erhöhte Anstrengungen der Menschen setzten, sich durch Erschließung zusätzlicher Ressourcen, sei es Gemüse- und Kartoffelanbau in dafür bereitgestellten Arealen, Hamstern, Notverkäufe oder andere Quellen, irgendwie am Leben zu erhalten (vgl. Tab. 2).
Tabelle 2: Offizielle Lebensmittelrationen in den ersten Monaten nach Kriegsende (in g) für die Stadt Trier
Leben war in erster Linie die Kunst, die tägliche Nahrung zu beschaffen, auf Kürzung der Fleisch-, Fett-, Brotrationen so zu reagieren, daß der Mangel halbwegs ausgeglichen werden konnte. Die Antwort der Masse der Frauen auf die amtlichen Hungerrationen war »zeitgemäßes Kochen«.
Zeitgenössische Frauenzeitschriften waren über Jahre voll mit Notrezepten für die Zeit der besonderen Fettknappheit, die Zeit der fehlenden Fleischzuteilungen, die Verwendung von Viehfutter um die tägliche Nahrung zu strecken usw.[29]
Schon im Mai 1945 rief der Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung für Ernährung, hauswirtschaftliche Beratungsstellen und Lehrkurse für Berliner Hausfrauen ins Leben, um die Frauen auf die - milde ausgedrückt - »veränderten Ernährungsverhältnisse« vorzubereiten. Folgende Ziele sollten in den Kursen erreicht werden, für die die öffentlichen Berliner Betriebe BEWAG und GASAG großzügig Räume zur Verfügung stellten.
- Wie aus den wenigen zur Verteilung gelangen(den) Grundnahrungsmitteln abwechslungsreiche, sättigende und schmackhafte Kost bereitet werden kann.
- Die Einführung der Berliner Hausfrauen in die allgemeinverständlichen und allgemein wichtigen Fragen der Ernährungswissenschaft und Nahrungsmittellehre.
- Die Erziehung der Hausfrau zum Mitdenken und zur Mitverantwortung bei der Überwindung gewisser Versorgungsschwierigkeiten und Ernährungsnöte.[30]
Andere Städte folgten diesem Beispiel. Hausarbeit war politisches Handeln in den Hungerjahren, denn wurde diese Arbeit nicht geleistet, oder konnte, weil die schlechte Versorgung auch mit unkonventionellen Methoden der Nahrungsbeschaffung nicht mehr ausgeglichen werden konnte, nicht geleistet werden, so waren die Folgen für die anders gelagerten politischen Ziele der Siegermächte und der deutschen Behörden gravierend.
Berichte gelangten in die Öffentlichkeit, daß Arbeiter aus Schwäche und Hunger an den Maschinen ohnmächtig wurden. Danach schätzte man die durchschnittliche Abnahme der Leistungsfähigkeit der Industriearbeiter trotz zusätzlicher Rationen zur allgemeinen Lebensmittelkarte auf 40 Prozent![31]
Die Hoffnung auf eine Besserung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland gründete sich in erster Linie auf einen Anstieg der Produktion in wichtigen Grundstoffbereichen und im Kohlebergbau, damit zumindest der im ersten Industrieplan von den Alliierten festgesetzte Produktionsrahmen ausgeschöpft werden konnte. Hier zeigte sich allerdings ein verhängnisvoller Zirkel, der mehr als alliierte Produktionssperren, Demontagen, Transportschwierigkeiten, Witterungseinflüsse, verhinderte, daß die fürs Überleben wichtigsten Industriezweige wenigstens bis zum zugelassenen Produktionsniveau produzieren konnten: Keine Produktion ohne Nahrung, keine Nahrung ohne Produktion; das heißt: die deutsche Wirtschaft, die stärker als vor dem Zweiten Weltkrieg gerade im landwirtschaftlichen Bereich importabhängig war, konnte ihre eigene Produktion nicht erhöhen ohne zusätzliche Nahrung für die Arbeiter zu verteilen, jedoch konnte keine zusätzliche Nahrung verteilt werden, bis exportierte deutsche Produktionsüberschüsse im industriellen Bereich Devisen bereitstellten, um Nahrungsmittel im Ausland einzukaufen.
Nicht nur die Tatsache, daß Arbeiter und Arbeiterinnen langsam verhungerten, wirkte sich produktionsmindernd aus. Für den einzelnen brauchte es nicht den ernährungswissenschaftlichen Nachweis über die chemische Zusammensetzung der Nahrung und das peinlich genaue Auszählen der Kalorien, um zu spüren, daß es sich allemal um Hungerrationen handelte, bei denen kein Mensch überleben, geschweige denn stundenlang arbeiten konnte.
Die Fehlschichten stiegen z. B. im Ruhrbergbau, dem eine Schlüsselposition für den allgemeinen Produktionsanstieg und insbesondere für die landwirtschaftliche Erzeugung zukam, auf ein beträchtliches Ausmaß, oftmals bis zu 25 Prozent, da es bedeutend einträglicher war zu hamstern oder ein Stück Boden zu bestellen, Kleintiere für den Nahrungsbedarf zu züchten oder Tauschgeschäften nachzugehen.[32] Untersuchungen des Kölner Gesundheitsamtes zufolge stiegen in einem größeren Werk der Eisen- und Metallindustrie die Zahl der Krankmeldungen von Anfang April 1946 bis Anfang Mai 1946 bei den Männern von acht auf 14 Prozent, bei den Frauen sogar von 12 auf 38 Prozent. Andere Betriebe berichteten etwa zu diesem Zeitpunkt, daß Arbeiter täglich zu Hunderten das Werk vor Arbeitsschluß verließen, weil sie zu schwach zur Arbeit waren.[33] Erinnern wir uns, vorausgegangen war einen Monat zuvor eine drastische Kürzung der Lebensmittelrationen in allen drei westlichen Besatzungszonen.
Bei Umfragen, die im Auftrag der amerikanischen Militärbehörde in den ersten Nachkriegsjahren in ihrer Zone durchgeführt wurden, rangierte bei den Bewohnern des süddeutschen Zonengebiets »Nahrung« im Zeitraum von Februar/März 1946 bis zur Währungsreform in der Nennung der schlimmsten Nöte des Alltags an erster Stelle. Dieser traurige Rekord wurde gefolgt von der Sorge um ausreichende Kleidung und Schuhe. Geldsorgen maß man einen sehr viel geringeren Stellenwert bei, denn Geld war in diesen Jahren nichts wert.[34]
Tabelle 3: Major Cares and Worries of AMZON Germans Question: »What are your greatest cares and worries at the present time?« Source: OMGUS Report
175, June 1949, p. 3.
3. Die Jahre »ohne Geschichte« -
Über das Auseinanderfallen von Politik und Alltag in den Nachkriegsjahren
Als »Jahre ohne Geschichte« bezeichnet eine wissenschaftliche Veröffentlichung die schlimmsten Notjahre nach dem Zweiten Weltkrieg.[35] Geschichtslos, weil sich alles um die Beschaffung von Nahrung drehte, weil die Voraussetzung einer traditionellen Politik, das Leben einer Nation, bedroht war. Der alltägliche Oberlebenskampf war nicht als unmittelbarer gesellschaftlich-historischer Zusammenhang erfahrbar, wohl eher als atomistische, gegen einen organisierten gesellschaftlichen Zusammenhang gerichtete Handlung. »Geschichtslos« waren die Jahre in dem Sinne, daß Geschichte der politischen Institutionen, die alliierten Nachkriegskonferenzen, geschlossene Verträge und Abkommen, etc. vor dem Hintergrund der physischen Existenzbedrohung irrelevant waren und eher in einer traditionell verankerten »Macht der Öffentlichkeit« als definierter nach bestimmten Regeln existierender kommunikativer Zusammenhang einen Resonanzboden fanden.
Not und Entbehrung, die Beschaffung von Nahrungsmitteln auf allen nur denkbaren legalen und illegalen Wegen waren die Ereignisse, die in der Erinnerung der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen die tiefsten Spuren hinterlassen haben. Arbeiten über die Nachkriegszeit, deren Autoren die Menschen nach ihrem Leben in den ersten Jahren nach 1945 30 Jahre später befragten, kommen zu diesem Ergebnis. Was die Menschen damals unmittelbar bewegte war der Kampf ums tägliche Überleben und zwar die meisten von ihnen! Nicht etwa Fragen der politischen Neugestaltung Deutschlands, Fragen nach dem Wirtschaftssystem, internationale Repräsentanz der Deutschen. Damit beschäftigten sich die wenigsten, prozentual gesehen vermutlich ein verschwindend geringer Anteil. Und doch ist über das Handeln dieser kleinen Gruppe der Hohen Kommissare, Gouverneure, Ministerpräsidenten, Minister, Oberpräsidenten, Leiter der Ämter, Wirtschaftsdirektoren, Parteiführer, soviel geforscht und publiziert worden, daß die Flut der Veröffentlichungen kaum noch zu überschauen ist. Was für diese Gruppe mit welch unterschiedlichen Hintergründen, Machtbefugnissen und Zielsetzungen auch immer »Politik« war, interessierte die meisten Menschen in den Nachkriegsjahren nicht, ging völlig an deren Leben vorbei. »Politische Ereignisse, weltpolitische so gut wie nationale oder lokale, haben im Gedächtnis des Normalbürgers kaum eine Spur hinterlassen. Wollte man eine Sozialgeschichte der Nachkriegszeit aus der Sicht der einfachen Menschen schreiben, so könnte man auf die Politik ganz verzichten.«[36] Zumindest auf das, was herkömmlicherweise unter Politik verstanden wird.
Mit dem Schritt zur Wahlurne dürfte für die meisten das so verstandene politische Engagement schon erschöpft gewesen sein. Umfragen eines deutschen Instituts einige Monate vor Entstehung der Bundesrepublik legen selbst da noch die Überlegung nahe, daß es sich bei den meisten um einen resignativen, möglicherweise auch um einen gutwilligen Akt handelte, einem deutschen Staat so seine Loyalität zu zeigen, für dessen Grundgesetz sich allerdings im März 1949 73 Prozent der befragten Deutschen kaum interessierten, die Hälfte der männlichen Befragten aus einer späteren Umfrage die Verfassung überhaupt nicht kannten, Frauen sogar zu zwei Dritteln angaben, die Verfassung sei ihnen unbekannt.[37] Die geschlechtsspezifische Differenz in den Antworten überrascht nicht.
Sie ist nicht Ausdruck des vielzitierten mangelnden politischen Bewußtseins von Frauen sondern Indiz dafür, daß in den Nachkriegsjahren die politische Frauenfrage die Überlebensfrage schlechthin war, mit der das Grundgesetz eines separaten Weststaates als praktische Lebensfrage oder politischer Ausdruck der alltäglichen Überlebenssicherung nicht das geringste zu tun hatte. Politik war in diesen Hungerjahren zur »Magenfrage« geworden. Politisches Bewußtsein zynisch formuliert ein »Kalorienbewußtsein«, Ernährung das Politikum Nummer Eins. So sahen es auch die Verantwortlichen und Hauptentscheidungsträger, als das Ausmaß der Hungerkatastrophe deutlich wurde. Hungernden und frierenden Menschen könne man keine Demokratie beibringen, griff der Kieler Oberbürgermeister Andreas Gayk die Ernährungspolitik der Militärregierung an, Politik in Deutschland hänge weitgehend vom Zustand des Magens ab, argumentierte Allen Dulles, ein amerikanischer Kenner der deutschen Verhältnisse, wobei ihn nicht in erster Linie humanitäre Ziele zu dieser Aussage motivierten, sondern die Angst, die Bevölkerung könne sich unvermeidlich denen zuwenden, die ihnen Brot und Arbeit gäben, schlimmstenfalls den Kommunisten.[38]
Diese Angst war unbegründet. Die Deutschen wählten die Demokratie, wählten ein marktwirtschaftliches System. Konfrontiert mit Umfrageergebnissen, die besser als Parteienpräferenzen Momente gesellschaftlichen Bewußtseins aufdecken, gerät diese staatspolitische Entscheidung in ein merkwürdiges Licht. In den fünfziger Jahren, die Entscheidung für eine westliche Demokratie war gefallen, wußten die meisten einer repräsentativen Umfrage nicht die begriffliche Bedeutung der Essentials dieser Demokratie wie »Föderalismus«, »Regierungskoalition«, »nationale Souveränität« etc. In nur einem Fünftel der Antworten konnte im Juni 1954 die Bedeutung der Abkürzung »NATO« erklärt werden.[39] 85 Prozent einer im Oktober 1951 befragten Gruppe glaubte, es sei ihnen im Kaiserreich bzw. im Nationalsozialismus und zwar in den Jahren 1933 bis 1938 am besten gegangen und hatten kaum Hoffnung in die Zukunft. Die Mehrzahl war noch im April 1952 der Überzeugung, das Leben würde für die Menschen immer schwerer. Im Jahr 1955 war der Prozentsatz der pessimistischen Ausblicke sogar um zwei Punkte gewachsen.[40] Politisches Vertrauen und politisches Interesse waren um so geringer, je weniger die politischen Nachkriegsinstanzen in der Lage und willens waren, menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen. Politisches Handeln autorisierter Exponenten mußte sich notwendigerweise stärker in Alltagsbereiche erstrecken und stieß hier auf die substantielle Frage der Selbsterhaltung von über 70 Millionen Menschen, der Voraussetzung für jegliches Staatshandeln.
Auf diese Situation, in der sich Überleben, Nahrung, Kleidung, Heizung als die entscheidenden politischen Fragen erwiesen, war das traditionelle Politikverständnis in keiner Weise vorbereitet. Versuche von Parteien, sich zu rekonstruieren, Grundsatzprogramme für ein zukünftiges Deutschland in haarspalterischen Debatten zu verabschieden, das Wiederentstehen einer engmaschigen, innerparteilichen Hierarchie, der Parteienstreit, der bald wieder aufflammte über Grundsatzfragen ohne deren definitive Klärung gemeinsames Handeln erschwert wurde, wirkten vor dem Hintergrund der essentiellen Not völlig losgelöst, groteske Gebilde, die mehr aus der Tradition als aus aktueller Notwendigkeit heraus lebten, die weder den Beifall der Masse der Bevölkerung ernteten, die sie glaubten nach Weimarer Muster oligarchisch vertreten zu müssen, noch bei den Besatzungsmächten auf ungeteilte Begeisterung stießen.
Hauptkritik der Alliierten in den lokalen Kommandostellen war gerade die Tatsache, daß die »Weimarer Parteihengste« kaum Verbindung mit der Bevölkerung hatten.[41] Reorientierungsversuche, die nahtlos an Weimarer Traditionen anzuknüpfen versuchten, blieben zunächst periphere Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Lebens. Eine Verschiebung hatte faktisch stattgefunden, die die Ereignisse, die unter wirtschaftlich »normalen« Bedingungen politische Schlaglichter darstellten, in den Hintergrund treten ließen und die Überlebenssicherung in die Schlagzeilen der Öffentlichkeit rückten.
Ernährung, Kleidung, Wohnung waren schon während des Krieges keine individuell zu befriedigenden Grundbedürfnisse mehr gewesen, denen ein jeder auf seine Weise entsprach. Die Bewirtschaftung der lebenswichtigen Verbrauchsgüter, deren Scheitern zwar im Frühjahr '47 offenkundig wurde, machte die Erweiterung des öffentlichen Verwaltungsapparates notwendig. Nach Schätzungen betrug der Personalzuwachs bei Verwaltungsstellen gegenüber 1938 26 Prozent, in Bayern sogar 35 Prozent.[42] Der Verwaltungsapparat wurde mehrfach umorganisiert, besonders in den mit Wirtschafts- und Ernährungsfragen betrauten Ressorts, Kompetenzen zwischen Länder- und zonalen Verwaltungen geändert,[43] um die Arbeit der Bürokratie zu effektivieren, der juristische Apparat sicherte die Zwangsbewirtschaftung, Vorrathaltung und Ernährungspläne gegen Übertritte der Privatindividuen ab.
Die Gesetzesübersicht der Verwaltung für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des Vereinigten Wirtschaftsgebietes wurde ab Dezember 1947 vervielfältigt, das heißt, die Öffentlichkeit, die es betraf, erhielt leichter Zugang.[44] Auf Entwendung zwangsbewirtschafteter Nahrungsmittel standen Höchststrafen. Das Strafmaß reichte laut Kontrollratsgesetz Nr. 50 von Gefängnis nicht unter sechs Monaten bis zu lebenslänglich Zuchthaus und in jedem Falle von einer Geldstrafe von 5 000 RM bis fünf Millionen RM.[45] Änderungen in der Kalorienzuteilung, Ernteinformationen, Lebensmittellieferungen aus dem Ausland, Informationen über Massenspeisungen, gingen ohnehin regelmäßig mit entsprechenden Kommentaren versehen durch die Presse. Öffentliche Gremien, die in Fühlung mit der jeweiligen Besatzungsmacht Ansätze einer deutschen Repräsentation darstellten, widmeten der Ernährungslage breiten Raum. So entschloß sich der am 15. Februar 1946 gegründete Zonenbeirat der britischen Zone, der deutschen Vertretung mit zwar nur beratender Funktion aber öffentlicher Brisanz bei der britischen Militärbehörde, auf seiner ersten Sitzung im März 1946, anläßlich der drastischen Kalorienkürzungen zu einem Aufruf zur Ernährungslage, der an die Kontrollkommission wie an die deutsche Bevölkerung gleichermaßen gerichtet war:
- »Die deutsche Bevölkerung in der britischen Zone befindet sich nach dem Zusammenbruch des verbrecherischen Systems des Nationalsozialismus vor Problemen, die es ohne Hilfe und durch eigene Anstrengungen nicht lösen kann. Dicht zusammengedrängt, frierend, mit Millionen Flüchtlingen übervölkert, zum größten Teil in Trümmern lebend und vor der Notwendigkeit, mit schwerster Arbeit in Kohlenschächten und zertrümmerten Industrieanlagen sein Leben neu zu gestalten, steht das deutsche Volk vor einer Katastrophe seiner Ernährung. Um in dieser Notzeit Hilfe zu beschaffen, muß alles Menschenmögliche von der deutschen Bevölkerung getan werden. Hierzu gehört:
- Die Landbevölkerung muß aus freien Stücken und über das festgesetzte Kontingent hinaus alle möglichen Vorräte von Getreide, Hülsenfrüchten und Kartoffeln, jeden Liter Milch und jedes andere Nahrungsmittel abgeben, das sie irgendwie entbehren kann.
- Nahrungsmittelerzeuger müssen ihren eigenen Verbrauch, ohne Rücksicht auf die unter günstigeren Umständen festgesetzte Ration für ihre Gruppe auf ein Minimum begrenzen, damit die vorhandenen Nahrungsmittel auf einer gerechten Grundlage in der ganzen Zone verteilt werden können.
- Die Lieferung und Verteilung der Nahrungsmittel muß unter einem äußerst strengen Überwachungsverfahren erfolgen durch die amtlichen Organe.
Der Zonenbeirat appelliert an die Landbevölkerung, den Ernst der gegenwärtigen Lage zu erkennen; wenn der Landmann seine Pflicht nicht erfüllt, wird ihn niemand vor den schweren Folgen bewahren können. Nur indem wir uns aufs äußerste anstrengen, sind wir berechtigt, die Welt um Hilfe anzurufen. Auch wenn jeder Deutsche in der Zone seine Pflicht nicht vernachlässigt, wird es nicht möglich sein, den Anschluß an die neue Ernte ohne Einfuhren in allernächster Zeit zu erreichen.Mit 1000 Kalorien täglich ist niemand fähig zu arbeiten; Schwerstarbeiter und insbesondere Bergarbeiter müssen weiterhin ihre gegenwärtigen Rationen erhalten. Nur wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, werden wir in der Lage sein, die Kohlenerzeugung auf einer Ebene zu halten, die die Grundlage für den Wiederaufbau Deutschlands sein wird.«[46]
In den für die britische und amerikanische Zone von den jeweiligen Militärgouverneuren herausgegebenen Monatsberichten erscheint »Ernährung« als umfangreiche Rubrik. Berichte über »Governmental Matters« beginnen im Krisenwinter 1946/47 mit Sätzen wie »In Hamburg the topic of potatoes has tended to overshadow all others«, oder »The continued failure to meet the basic food ration has been the predonunant factor in the public mind in Land Niedersachsen during the month of January.«[47]
Erst danach folgen Zusammenfassungen der wichtigsten - meist parteipolitischen Ereignisse. Gesetze, die im Herbst erlassen, die Kartoffelversorgung im darauffolgenden Winter sicherstellen sollten, in denen sich drastische Formulierungen finden wie: »Die Kartoffeln der Ernte 1947 sind beschlagnahmt«, aufeinanderfolgende, dringliche Aufrufe des Direktors der Verwaltung für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Hans Schlange-Schöningen an die Privatverbraucher im Herbst 1948, den Ernst der Lage zu erkennen, Kartoffeln jetzt zu kaufen, mit der Einkellerung nicht mehr zu warten, da es unsicher sei, wie lange die Witterung in diesem Jahr die Kartoffelbeförderung zulasse,[48] ließen in dem individuellen, scheinbar zusammenhanglosen Handeln der einzelnen Produzenten und Verbraucher ein gesellschaftliches Band entdecken, einen öffentlich sichtbaren Kreislauf, Abhängigkeiten, Bedingungen und schafften gerade im Bereich der Reproduktion ein öffentliches Bewußtsein dafür, daß tagtägliche Erneuerung menschlicher Lebenskraft ihre Voraussetzung in den ernährungswirtschaftlichen Entscheidungen der Machtträger der Nachkriegsgesellschaft hatte.
Ernährung, Kohleerzeugung und Transportmöglichkeiten, wie es im Tätigkeitsbericht des Verwaltungsamtes für Wirtschaft vom Mai 1947 heißt,[49] waren in diesen ersten Jahren die Grundpfeiler der ökonomischen Wiederaufbaubedingungen. Gegenüber dem Politikum mikroökonomischer Vorgänge, wie dem Vorrat an eingekochtem Obst, Gemüse- und Fleischkonserven in den Kellern, der Größe des Gartens, um durch Eigenanbau den amtlichen Rationen etwas zuzusetzen, erschienen jahrzehntelang gewachsene politische Gruppenaktivitäten als zweitrangig, erlangten zu Anfang bestenfalls gleichrangige Bedeutung. Zusätzlich zu Angaben über landwirtschaftliche Eigenerträge, Mengenangaben von nach Deutschland importierten Lebensmitteln ging eine neue Größe in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein und bestimmte die Höhe der zu verteilenden Lebensmittelrationen. Daß die von ihnen ausgegebenen Rationssätze über längere Dauer zum Leben nicht ausreichen würden, war den Besatzungsmächten von Anfang an bewußt. Sie vertrauten folgerichtig darauf, daß die Bevölkerung alle Anstrengungen aufbieten würde, um sich die fehlende Nahrung auf andere Art zu beschaffen. Direkt zu Beginn der Besatzungsära unternahmen amerikanische Wirtschaftsexperten Reisen nach Deutschland um festzustellen, daß beispielsweise im Rhein-Ruhr-Gebiet eine 1000 Kalorien-Pro-Kopf Zuteilung zur Aufrechterhaltung des Lebens ausreichend sei, da der tatsächliche Verbrauch etwa 1600 Kalorien betrage. Die Differenz werde durch eingekellerte Kartoffeln, Eingemachtes und Konserven bestritten, über die die meisten Familien verfügten.[50]
Zu Beginn des ersten Nachkriegswinters mußten in einigen Gebieten der US-Zone größere Zuckerrationen ausgegeben werden, um die Möglichkeit zu schaffen, Obst für den Winter einzukochen. In diesem Jahr war laut Monatsbericht der amerikanischen Militärregierung weniger Obst und Gemüse auf kommerziellem Weg konserviert worden. Schätzungen zufolge belief sich in Deutschland ohnehin der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch der fabrikmäßig hergestellten Lebensmittelkonserven im Durchschnitt auf zwei ein-Kilo-Konserven. Demgegenüber konsumierten die Amerikaner zwischen 50 und 60 Dosenkonserven übers Jahr verteilt. Die Amerikaner trafen in Deutschland auf traditionelle Strukturen, in denen ein Großteil der mit Nahrungsbeschaffung und Nahrungskonservierung befaßten Arbeit nicht gegen Lohn, sondern in den einzelnen Familien durch häusliche Arbeit abgewickelt wurde. Die Beschaffung von Krügen, Einmachgläsern, Gummiringen und Verschlüssen wurde in den Jahren, als es an diesen Gebrauchsgegenständen insbesondere mangelte, zum ernsten Problem, dem die Amerikaner durch die Bereitstellung von acht Millionen Einmachgläsern für die Einmachperiode des Jahres 1946 abzuhelfen gedachten.[51]
Spezielle Home-Gardening-Programme wurden in der US-Zone entworfen, die sich auch an Flüchtlinge richteten mit dem Ziel, die benötigten Nahrungsmengen zum Teil für das Jahr 1946 im eigenen Garten selbst zu produzieren, damit sollte die eigene Nahrungsproduktion besonders in und um die Städte von 25 Prozent, was sie ohnehin schon betrug, auf 50 Prozent gesteigert werden. Als Agitationsfeld für den Gartenbau bot sich der schon unter dem Nationalsozialismus existierende »Reichsbund Deutscher Kleingärtner und Siedler« an, der 1939 etwa 1500 000 Schrebergärten von je knapp 5 Ar bearbeitete. Zusätzlich führten die Amerikaner in Württemberg-Baden eine Art »kleine Landreform« durch, bei der ausgewählte Familien, insbesondere die, die zu den amtlichen Rationen keinerlei eigene Ressourcen zusetzen konnten, etwa 4 Ar Gartenland erhielten, mit der dahinterstehenden Überlegung, daß es sich bei Gartenarbeit um eine Tätigkeit handele, die ohne weiteres von Frauen durchgeführt werden könne, oder von Personen, deren physische Kraft geschwächt sei. Dies sei insbesondere bei Flüchtlingsfamilien der Fall. Ländliche Gemeinden stellten den Familien Ackerland zur Verfügung, damit sie fortan ihre Nahrung selbst anbauen konnten und nicht mehr ausschließlich auf die offiziellen Lebensmittelrationen angewiesen waren.[52]
Von der Militärregierung nicht unmittelbar gefördert doch begrüßt wurden andere Arbeiten: Massen von Menschen zogen in die Wälder, sammelten Bucheckern, aus denen Öl in mühseligen Verfahren gewonnen wurde, im Herbst Nüsse um so die zu knapp ausgegebenen Fettrationen aufzustocken,[53] hauptsächlich Städter packten wertvollen und weniger wertvollen Hausrat, Wäsche usw. in Rucksäcke, zogen aufs Land und tauschten bei den Bauern gegen Speck, Kartoffeln und was sie sonst in den Zuteilungen der Lebensmittelkarte entbehrten. Mußten dabei illegal Zonengrenzen überquert werden, drückten die Grenzposten oft beide Augen zu, da offensichtlich war, daß nur durch zusätzliche Nahrungsbeschaffung Überleben gesichert werden konnte.[54] Gegenüber dem Hunger hatte die Besatzungsmacht ihre Autorität eingebüßt. Berichte der Militärregierung über lokale Vorkommnisse erwähnen immer wieder die durch den Hunger herbeigeführte Einbuße an Moral, die die Menschen dazu zwang, in verzweifelten Versuchen, aus Angst vor kommenden Kälteperioden, Nahrungsvorräte und Brennholz zu sichern.[55]
Das Herstellen der vielen »Ersatz«nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände, wie Spinat aus Brennesseln, Seife aus Farnkraut, das Ährenlesen auf den Feldern, Sammeln von Beeren, Pilzen, Fallobst, die Konservierung, die Jagd, die auf die Nahrung einsetzte, dies alles war zeitaufreibend, anstrengend und wurde in vielen Fällen gezwungenermaßen zusätzlich zu einer ausgedehnten Lohnarbeit geleistet, deren Verdienst kaum ausreichte um die Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände der Zuteilungskarte zu kaufen, mußte zusätzlich geleistet werden, wenn jemand unter die Pflichtarbeitsbestimmungen fiel.[56] Eine Umfrage, die im Berliner Osten vermutlich im Jahr 1947 durchgeführt wurde, verdeutlicht die Dimensionen, in denen sich die zusätzlichen Arbeiten im Verhältnis zur Lohnarbeit bewegten. Bei einzelnen Berufsgrupppen reichte die Spanne dessen, was zum Lohn durch diverse Nebenarbeiten hinzu »verdient« wurde von etwa 50 Prozent bis 500 Prozent des Lohneinkommens. Am schlechtesten waren dabei Arbeiter, kleine Angestellte und Rentner gestellt, denen die Zeit oder die Kraft fehlte, zu anderen Methoden der Existenzsicherung zu greifen.[57]
Möglich, daß die Angaben zu den zusätzlichen Einnahmen nicht immer den Tatsachen entsprachen, bewegte man sich schließlich häufig am Rande der Legalität. Tatsache bleibt, daß die Masse der Bevölkerung nur durch übermäßige Arbeit und Kraftanstrengung verhindern konnte, daß die Katastrophe, die 1947 hereinbrach, nicht noch verheerendere Ausmaße annahm. Das Leben der meisten war durch harte Arbeit geprägt, sei es bezahlte oder unbezahlte.
Das schlug sich folgerichtig als eine entscheidende Erlebnisdimension in der alltäglichen Erfahrung der einzelnen nieder und prägte das Verständnis dessen, was als Hauptkomponente des Wiederaufbaus galt. Das bestätigt eine Umfrage, die in der ersten Aprilhälfte 1946 in der amerikanischen Zone im Auftrag des Survey Branch des Office of the Military Governor US-Zone (OMGUS) durchgeführt wurde. Auf die Frage, wodurch der deutsche Wiederaufbau am besten vorangetrieben werden könne, antworteten 72 Prozent der Frauen und 68 Prozent der Männer: durch harte Arbeit. Nur 16 Prozent der Frauen und 35 Prozent der Männer maßen einer neuen politischen Richtung eine Bedeutung für Wiederaufbauziele bei.[58]
Für Menschen, die täglich erlebten, daß in erster Linie ihre eigenen Anstrengungen dazu beitrugen, daß sie und ihre Angehörigen am Leben blieben, daß auf Politik kein Verlaß war, da politische Statements, die Ernährung würde garantiert, nicht eingehalten wurden, war diese Antwort die einzig konsequente. Wieviel unmittelbarer Frauen diesen Zusammenhang zwischen Existenzsicherung durch eigene Arbeit und gesellschaftlicher Rekonstruktion erlebten, belegt die geschlechtsspezifische Differenz in den Antworten. Ob sie diesen Zusammenhang auch bewußt reflektierten, ob ihnen die Arbeit überhaupt Zeit ließ, den politischen Stellenwert dieser Reproduktionsleistungen zu begreifen, ist fraglich.
4. Frauenarbeit in der Nachkriegszeit,
die Garantie des politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus
Es dürfte inzwischen deutlich geworden sein, daß die zusätzliche Arbeit, Nahrung zu beschaffen, derjenige gesellschaftliche Akt eines Volkes war, das sonst verhungert wäre. Die Frage aber ist, ob deutlich wurde, daß es sich dabei in erster Linie um Frauenarbeit gehandelt hat.
Wenn nicht, zeigt eine Rezeption, die hinter den geschilderten Anstrengungen ein Abstraktum »Bevölkerung« vermutet, einmal mehr, wie eigene Wahrnehmung durch traditionelle Denkstrukturen überlagert wird. Nicht allein die Tatsache, daß in Deutschland 1946 sieben Millionen mehr Frauen als Männer lebten, daß Männer durch Krieg und Gefangenschaft geschwächt, oft entkräftet und krank waren, sondern bereits die besondere Art der Arbeit, »zusätzliche Rationen« zu beschaffen, verweist auf Frauenarbeit. Gartenarbeit, Nahrung sammeln, durch Trocknen, Einkochen etc. konservieren, beim Kochen Ersatzlebensmittel verwenden, stundenlanges Schlangestehen vor Läden, Hamstern, Tauschaktionen auf dem Schwarzmarkt, der lebensnotwendig geworden war, dies alles wurde in erster Linie von Frauen geleistet, war traditionelle Frauenarbeit der Reproduktion der Kinder, des Mannes und nahestehender Angehöriger, die hier in den Nachkriegsjahren ihre zeitgemäße Ausformung erfuhr. Dies heißt allerdings nicht, daß Männer nicht genauso ihre Anstrengungen verdreifachten, um das Überleben ihrer Angehörigen zu sichern, als politische und wirtschaftliche Gesellschaftsinstanzen versagten. Es waren Reproduktionsaufgaben, die in den Nachkriegsjahren in extenso ausgebeutet wurden, die tatsächlich besonders von Frauen erbracht wurden. In der sicheren Gewißheit, daß der menschliche Selbsterhaltungstrieb zu unmenschlicher Arbeit anspornt, konnte die Politik der Besatzungsmächte, der gegeneinander um Lebensmittelim- und -exporte konkurrierenden Länder der einzelnen Zonen und der zonalen Instanzen betrieben werden. Dieses Leistungsvermögen wurde von politischen Stellen bewußt und in vollem Wissen um die Folgen für Leben und Gesundheit angezapft und einkalkuliert. Darin unterschied sich die Nachkriegspolitik in keiner Weise von der nationalsozialistischen Strategie des »wehrhaften Haushalts«, die auf die unentgeltlich geleistete Arbeitskraft der Frauen rekurrierte, um vorgeschaltete politische Interessen der Finanzierung deutscher Weltherrschaftspläne nach innen zur Reproduktionssphäre hin abzusichern. Auch unter nationalsozialistischer Herrschaft dehnte sich der Arbeitsbereich der Frauen in den nicht unmittelbar gesellschaftlichen Raum der Überlebensarbeit aus mit einem entscheidenden Unterschied.
Besonders während des Krieges wurde der Bereich des Hauses und die darin geleistete Arbeit in ihrer Supplementärfunktion für NS-Kriegspolitik hochstilisiert, während sich die Nachkriegspolitik seiner stillschweigend bediente. Obwohl für die Masse der Bevölkerung praktisch erfahrbar war, daß sie nur durch ihre zusätzliche »Gratis«-Arbeit am Leben bleiben konnte, blieb ihre Leistung im öffentlichen Niederschlag weitgehend unsichtbar. Die Hauptträger dieser Überlebensarbeit, die Frauen, hat es buchstäblich in den amtlichen Dokumenten nicht gegeben, obwohl permanent implizit von ihnen die Rede war, wenn es sich um den Punkt der Überlebenssicherung drehte.
Wer benötigte schließlich die zitierten acht Millionen Einmachgläser, die Gummiringe und den zusätzlichen Zucker? Wer bestellte den von den Städten und Gemeinden zur Verfügung gestellten Boden? Wer konnte sich an die von Müttern und Großmüttern überlieferten teils vergessenen Methoden der Nahrungskonservierung erinnern?
Bildmaterial, das den Alltag der Nachkriegszeit illustriert, spricht da Bände! Die in den letzten Jahren verstärkt erschienenen Bild/Text-Editionen zeigen, wenn sie Alltag dokumentieren, in erster Linie Frauen beim täglichen Überlebenskampf für sich und die, die sie zu versorgen hatten. Frauen, die Nahrung in Blechbüchsen an ihre Kinder verteilten, die in langen Menschenschlangen vor Bäckereien und Lebensmittelläden anstanden, auf menschenüberfüllten Eisenbahnwaggons auf Trittbrettern zum Hamstern auf Land fuhren, scharenweise mit Holzbündeln bepackt aus dem Wald kamen, vollbeladene Handkarren zogen, Teile von verendeten Pferden auf dem Fahrrad nach Hause transportierten und die Trümmer in den Städten beiseite räumten - Frauen, die Sklaven der Nation.[1]
Gerade in dieser Aufbereitung zeitgenössischer Quellen in vorliegenden Bildbänden, die in Kommentaren durchaus auf Frauen zu sprechen kommen, wird das »Unsichtbare« der Reproduktionsleistungen verstärkt. Es erscheint im nachhinein als historische Pittoreske, die »berühmt-berüchtigte braune Soße«, die aus schrumpeligen Kartoffeln hergestellt wurde, der »Kohlwinter«, als es in Deutschland im Winter 1946/47 überall nach Kohl roch, weil es sonst nichts gab [60] - eine Ausnahmesituation mit einem Schuß Exotik. Frauenarbeit wird in historischen Darstellungen über die Nachkriegszeit zwar als Phänomen gesehen es war nicht zu übersehen -, jedoch in seiner gesellschaftlichen Bedeutung nicht reflektiert. Daß Frauenarbeit in Bereichen außerhalb der entlohnten Arbeit in den Nachkriegsjahren quantitativ verstärkt für eine Gesellschaft verzweifelte, freiwillige Zuarbeit leistete, in der sich moderne Staatstopoi wie Subsidiarität, Freiheit des Einzelnen, Gemeinwohl als Ideologie, als nicht »machbar« erwiesen, und deshalb Beachtung fand, je weiter sich sowohl zeitgenössische als auch historische Darstellungen Alltagsbereichen nähern, verstellt den Blick auf die Tatsache, daß Reproduktionsarbeit immer als gesellschaftlich unverzichtbare Arbeit geleistet werden muß. In Zeiten wirtschaftlicher Prosperität kann darauf ebensowenig verzichtet werden wie in ökonomischen Krisenperioden. Der Unterschied liegt in der gesellschaftlichen »Sichtbarkeit«. Die Reproduktion der Bevölkerung avancierte in den Nachkriegsjahren zum öffentlichen Problem. Unbezahlte Frauenarbeit fand buchstäblich auf der Straße statt. Frauen, die im Freien auf Spiritusflamme kochten, weil die Wohnung zerbombt war, deren Küchenwände durch Granaten eingerissen waren, so daß der Blick nach draußen und nach drinnen möglich war, verschwanden mit dem Wiedererstarken der deutschen Wirtschaft von der öffentlichen Bildfläche, doch wurde weitergeleistet, was notwendig für die Existenzsicherung war, wobei sich lediglich die äußerlich erkennbaren Formen geändert haben. Die Aufgabe blieb: In »normalen« Zeiten den »normalen« Reproduktionsbeitrag freiwillig, gratis zu leisten, bei Nichtfunktionieren des gesellschaftlichen Rahmens, bei Versagen in den Machtzentren dem Schrumpfen der gesellschaftlich organisierten Versorgungsleistungen in Produktion, Verwaltung, Gesundheitswesen, die individuelle Reproduktion und Produktion zu verdoppeln und zu verdreifachen. Auch die Wahrnehmung kritischer Historiker, die den Stellenwert der »Wiederaufbauarbeit« in ihrer Funktionalität für den deutschen Kapitalismus reflektieren, ist unscharf. Wenn Wiederaufbauarbeit als in erster Linie von den »Arbeitnehmern« geleistet definiert wird,[61] geraten mehrere Dinge aus dem Blick:
- die demographische Verschiebung zu einer großen weiblichen Bevölkerungsmehrheit hin,
- die Tatsache, daß sich die Bedeutung von Lohnarbeit und anderen Formen der Existenzsicherung zumindest bis zur Währungsreform im Juni 1948 verkehrt hatte,
- daß es gerade diese andere Arbeit war, die die Monate des wirtschaftlichen Chaos im Frühjahr 1947 überbrückte,
- daß sich die Struktur der Nachkriegsgesellschaft in der Masse der Produzierenden nicht durch »Lohnarbeitnehmer« auszeichnete,
- daß die Leistungen außerhalb des gesellschaftlichen Produktionsbereiches die Voraussetzung dafür schufen, daß gesellschaftlicher Wiederaufbau nicht aus Mangel an halbwegs leistungsfähigen Arbeitskräften kollabierte.
Es war bei weitem die Masse der Menschen, dabei besonders der Frauen, die einer menschenverachtenden Nachkriegspolitik diesen hochpolitischen »Liebesdienst« erwiesen, der sich als Frage des eigenen Überlebens und des der Angehörigen darstellte. Demgegenüber war die Anzahl der Frauen, deren Handeln sich zusätzlich zur Überlebensarbeit, die sie ebenso leisteten, in einem politisch vorstrukturierten Rahmen bewegte, der eingangs charakterisiert wurde, vergleichsweise gering.
Der Prozentsatz der Frauen, die sich in Parteien und Gewerkschaften oder in der wiederentstehenden bürgerlichen Frauenbewegung, in konfessionellen und Wohlfahrtsverbänden mehr oder weniger in Trägerschaften traditioneller Öffentlichkeitsarbeit, mit welch unterschiedlichen, widersprüchlichen und illusorischen Zielen auch immer, engagierten und damit eine Chance hatten, überhaupt als handelnde Individuen, als Exponentinnen einer »grauen Frauenmasse« wahrgenommen zu werden, wurde von Elizabeth Holt, einer innerhalb des Stabes der »Education and Cultural Relations Division« bei der amerikanischen Militärbehörde für »Frauenfragen« abgestellten Mitarbeiterin in Bayern, um 1948 auf acht bis neun Prozent geschätzt. Von drei Millionen Frauen in Bayern waren laut Bericht, den Frau Holt für ausländische Besucher bei OMGUS erstellte, etwa 256 000 »politisch« organisiert, inklusive der Frauen, die konfessionelle Arbeit leisteten.[62]
Das Handeln der »anderen Frauen« war politisch von größerer Relevanz, in einer Zeit, in der Ernährung eine hochpolitische Angelegenheit war, ihre Agentinnen waren jedoch auf der politischen Bühne nicht vertreten. Ihr Handeln, das für sie selbst und das Leben anderer unerläßlich war, ermöglichte eine Politik, die sich im Kern in den ersten Nachkriegsjahren auf den Balanceakt der Siegermächte USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion reduzieren läßt, in dem besiegten Deutschland ihre Einflußsphären abzustecken und in Zukunft abzusichern. Solange diese Frage nicht definitiv als Teilung Deutschlands und Blockbildung in Ost und West entschieden war, stellten Überlebensfragen, Ernährung der Deutschen ein vergleichsweise unwichtiges politisches Kalkül dar, dessen Absicherung ökonomisch machbar gewesen wäre, doch politisch zunächst nicht unbedingt wünschenswert erschien.