Ein Beitrag zur Bewußtseinsgeschichte der Nachkriegszeit
»Ich habe schon gesagt, daß ich geglaubt hatte, ich habe das alles ja selber erlebt und sah überhaupt keinen Grund dafür, mich mit der Zeit nochmal zu beschäftigen, weil ich dachte, ich habe das ja alles selbst erlebt, war immer dabei. Daß ich diese Zeit aber als Kind erlebt habe und meine Mutter diese Zeit mit völlig anderen Augen gesehen haben muß, das ist mir durch das Seminar erst klar geworden.«
(Seminarteilnehmerin)
1. Was heißt Aufarbeitung der Vergangenheit für die Kriegsgeneration von Frauen?
Die Frage nach der Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit wurde bisher vor allem deshalb gestellt, um zu klären, inwieweit die Deutschen besonders anfällig für das nationalsozialistische Gewaltregime waren, inwieweit sie daran beteiligt waren und ob sich ein faschistisches System in Deutschland wiederholen könnte.[1] Prinzipiell wurde die Frage einer unterschiedlichen Beteiligung von Frauen und Männern am Nationalsozialismus wenig reflektiert, ebenso die unterschiedliche Betroffenheit von Frauen und Männern im Krieg und in der Nachkriegszeit.
Wie können sich Frauen mit ihrer eigenen Geschichte unter diesen Tradierungsmustern in ihrer Kontinuität und ihren Brüchen identifizieren?
Wir meinen, dieses Aneignen der eigenen Biographie im Kontext der Zeitgeschichte ergibt sich für Frauen nicht in der normalen alltäglichen Kommunikation, auch nicht durch die Lektüre dessen, was die herrschende Geschichtsschreibung überliefert hat. »Denn wie nahe kommen wir den Leistungen und Verletzungen, den Anpassungen und Widerständen von Frauen im Beruf und im Familienleben durch die Lektüre dessen, was Männer über sie schrieben, oder durch die Auswertung von Pfarrbüchern und Standesamtsregistern?«[2]
Außer in der neuen Frauengeschichtsforschung blieb diese Frage in der vorliegenden Historiographie über die Nachkriegszeit unbearbeitet.[3] Es gibt eine Vielzahl von Untersuchungen über die politische, ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung Deutschlands nach 1945, ohne daß die Überlebensleistungen der Frauen - mit Ausnahme der (fast schon legendären) Trümmerfrauen - erwähnt werden.[4] Woran liegt das?
- Die Zusammenhänge zwischen der großen Politik und der wirtschaftlichen Lage Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg werden oberhalb, außerhalb der diese Zusammenhänge stiftenden, sie alltäglich aufbauenden Menschen analysiert. (Ost-West-Konflikt, Politik der Besatzungsmächte, Aufbau einer politischen Infrastruktur und von Führungseliten in den Westzonen und Westberlin). Wir machten die Beobachtung, daß mit zunehmender zeitlicher Distanz die Veröffentlichungen immer abstrakter wurden. Enthalten die Texte aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren noch detaillierte Beschreibungen der Lebensnot,[5] so werden die späteren Texte in ihrer Analyse immer genereller, theorielastiger und verwissenschaftlicher, je mehr sie sich von den lebendigen Erfahrungen entfernen. Das, was wir im folgenden als Überlebensarbeit von Frauen begreifen und aufgreifen, wird in diesen Texten abstrakt vorausgesetzt, bleibt unanalysiert und unsichtbar.
- Damit setzt sich ein Verständnis von Geschichte durch, bei dem der Kampf um die Macht im Staat und die Führungseliten als die Haupt-Staats-Aktionäre im Mittelpunkt stehen. Geschlechtsneutralität wird selbstverständlich vorausgesetzt. Die Ausschaltung von breiten Lebensbereichen wird dabei nachträglich erneut hergestellt.
- Die Legitimationsmuster (weibliche Schwäche, Opferhaltung der Frauen), mit denen die Unterdrückung der Frau z. B. in der NS-Zeit als naturgegeben gerechtfertigt wurde, erwiesen sich historisch funktional für eine Ideologie, die patriarchalische Herrschaft stabilisieren sollte. Diese Legitimationsmuster wurden auch nach 1945 aufrechterhalten, obwohl die tatsächliche (Überlebensarbeit der Frauen ihnen offensichtlich widersprach. Diese Überlebensarbeit wurde definiert als »natürliche« Arbeit, beruhend auf der »Natur« der Frau und losgelöst von der ökonomisch-politischen Sphäre.[6]
Politik- und Geschichtsschreibung vollziehen damit die Abtrennung des Privaten, Alltäglichen und Trivialen aus der Öffentlichkeit nach, und dies bedeutet nicht nur eine bloße Parallelität zweier Bereiche, sondern beinhaltet gleichzeitig eine Bewertung und eine Unter- und Überordnung bei gleichzeitiger Tendenz zur Isolierung der beiden Sphären voneinander. Daraus folgt dann, daß die Bedingungen und Prozesse des Über-Lebens nicht mehr registriert zu werden brauchen.
- Wir gehen im folgenden davon aus, daß in den unmittelbaren Nachkriegsjahren das Überleben vorwiegend von Frauen organisiert wurde. Diese Überlebensarbeit der Frauen geschah unter chaotischen gesellschaftlichen Bedingungen und unter Rückgriff auf eine latent tradierte Frauenkultur, die allerdings bereits von den Nationalsozialisten während des Krieges funktionalisiert worden war, als Lebensmittel und Konsumgüter zugunsten der Rüstungsproduktion immer knapper wurden. Der Zwang und die Fähigkeit, aus Nichts etwas zu machen, eine Familie zu erhalten und Menschlichkeit (bei allen Brüchen und Versagen) zu praktizieren, ist bisher - mit Ausnahme der Frauenforschung - in der Kritik oder im Schweigen untergegangen.
Wir vermuten, daß diese unterdrückte Frauengeschichte von den Frauen selbst verinnerlicht wurde, daß diese Geschichtslosigkeit und gesellschaftliche Ohnmacht aber bearbeitet und bewußt gemacht werden kann. Wir fragten uns: Wenn die patriarchalische Geschichtsschreibung die Leistungen der Frauen verschweigt, sind diese dann auch aus dem kollektiven Bewußtsein der Frauen verschwunden?
Und wie kann dieses kollektive Bewußtsein der eigenen Geschichte von Frauen (wieder) angeeignet werden? Ist es mehr als das individuelle Erinnern biographisch erlebter Zeitumstände? Welche drängenden Fragen leiten die historische Spurensuche? Benjamin macht darauf aufmerksam, daß die Besinnung auf die Vergangenheit mit Krisen- oder Umbruchsituationen der Gegenwart verknüpft ist. Die Bedrohung des kollektiven Erbes unterdrückter oder schwacher Gruppen wird in solchen historischen Momenten bewußt, in denen Möglichkeiten erneuter Unterdrückung, aber auch des Fortschritts sich zeigen.
- »Vergangenes historisch artikulieren, heißt nicht, es erkennen wie es denn eigentlich gewesen ist. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.(...)«[7]
Die Aufarbeitung der Frauengeschichte im Nachkriegsdeutschland taucht jetzt im Kontext der neuen Frauenbewegung und feministischen Literatur auf. Es geht dabei nicht nur darum, den Forschungs-»gegenstand« auszutauschen - Frauen statt Männern - sondern auch die Perspektive auf Geschichte allgemein und die Methoden der Erarbeitung zu verändern.
Wir wollten dazu beitragen, indem wir in zwei aufeinanderfolgenden Seminaren zur (Frauen)Geschichte der Nachkriegszeit zu klären suchten, wie sich diese Zeit im Bewußtsein von Frauen niedergeschlagen hat und was davon auf die Gegenwart nachwirkt. Wir wollten Augenzeugen und Zeitgenossen dieser Zeit erzählen lassen und diese Berichte mit >Dokumenten< konfrontieren. Wir wollten Spuren sichern und uns auf die Suche nach lebendiger Geschichte machen, die uns von unserer Eltern- und Großelterngeneration als erlebte Geschichte erzählt werden kann. Wir wollten damit einmal ein Lernen zwischen und von den Generationen ermöglichen und gleichzeitig die Bedingungen, unter denen unsere Mütter/Väter, Großmütter/Großväter, Freundinnen und Freunde und Bekannte das Überleben der nachfolgenden Generation gesichert haben, genauer kennenlernen. Der Stärke, dem Mut und den widersprüchlichen Erfahrungen dieser »Frauengeneration« wollten wir mit Sympathie für ihre Leistungen und ihre Versagungen nachgehen.
Galt unser Interesse zuerst der Aufarbeitung einer Epoche verdrängter Frauengeschichte, so kristallisierte sich im Verlauf der Seminare und bis heute - Sept. 1983 - immer mehr die Frage nach der Bedeutung der Aufarbeitung von Frauengeschichte für die individuelle und kollektive Identitätsfindung von Frauen in der Gegenwart heraus. Sowohl unser methodisches Vorgehen als auch unsere inhaltlichen Ausgangshypothesen, aus dem historischen Material von Wochenschaumitschnitten, wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Lebensberichten von Zeitgenossen unterschiedlicher politischer Auffassung entwickelt (s. u.), waren zu Beginn vage und erhielten erst im Verlauf der Diskussion mit den Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern eine theoretische Struktur. Dieser Prozeß der Theoriebildung ist bis heute nicht abgeschlossen. In diesem Aufsatz können nur erste tastende Ergebnisse dargestellt werden, wobei der praktische Seminardiskurs gegenüber unseren methodologischen und geschichtstheoretischen Fragen hier den sehr viel größeren Raum einnimmt.
Unser theoretischer Rahmen bezieht sich auf die Geschichtsschreibung des Alltags,[8] auf den Zusammenhang von weiblicher Biographie und Zeitgeschichte,[9] auf die Dialektik von autobiographischem Gedächtnis und kollektiven Bewußtsein[10] sowie methodisch auf Oral History[1] und die methodischen Postulate der Frauenforschung.[12]
Was unser Projekt von anderen Forschungsprojekten unterscheidet, ist seine Personenbezogenheit - oder anders ausgedrückt: Es handelt sich weniger um Forschung in dem Sinne, daß ausschließlich objektiv neue Erkenntnisse oder neue Strukturen für die Geschichtswissenschaft oder die historische Erziehungswissenschaft gewonnen werden sollen, es geht vielmehr um die Aneignung und Interpretation erlebter Geschichte der Frauen und ihre Veröffentlichung. Es ist eine forschende Bildungsarbeit, wie wir es an anderer Stelle genannt haben, oder eine - methodisch gesprochen - mündliche Geschichtsschreibung als Weiterbildung.[13]
Wenn die Erforschung der Geschichte zur Identitätsfindung der Frauen beitragen soll, müssen Frauen ihre eigene Geschichte für sich entdecken, nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch. Dabei kommt uns ein Paradigmenwechsel innerhalb der Geschichtswissenschaft zur Hilfe, der darauf abzielt, die Subjekte der Geschichte, die im Alltag Tätigen, jedoch nicht aus ihm heraustretenden Menschen in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen.[14]
Damit können auch Frauen ins Zentrum der Analyse rücken und sichtbar werden. Oral history wird eine demokratische Form historischer Praxis. Sie stellt eine Lösung des Forminhalts- und des Methodenproblems dar, zu der es viele Einwände bezüglich ihrer Objektivität und Zuverlässigkeit gibt. Zugestanden wird hier, daß die Verwendung von ,Oral history oder erinnerten (Lebens)Geschichten kein wahrheitsgetreues Bild der Lebensgeschichte des mündlichen Autors ergibt. Zwar arbeitet das Gedächtnis selektiv, und die Lebensgeschichte wird auch immer wieder aufgrund von neuen Erfahrungen umgeschrieben. Aber damit wird ein Prozeß der Geschichts- oder Biographieaneignung möglich, in dem die Erzähler auch noch im Nachhinein ihr Leben gestalten, damit auch begreifen und Beziehungen neu hergestellt werden können auch zur Gegenwart. Und wir fragen zurück: Ist die bisherige Geschichtsschreibung und Sozialwissenschaft der Nachkriegsperiode objektiver?
- »Eine demokratische Zukunft bedarf einer Vergangenheit, in der nicht nur die Oberen hörbar sind. Viele Bemühungen der neueren Sozialgeschichte sind deshalb darauf gerichtet, auch und gerade diejenigen ins Geschichtsbild zu holen, die nicht im Rampenlicht gestanden haben.«[15]
Und dazu bedarf es anderer Vorgehensweisen. »Oral History« wird von uns als eine angemessene Methode der Frauengeschichtsforschung verwendet, da sie den Postulaten der Frauenforschung nach einer Sicht von unten und nach einer Parteilichkeit für Frauen sehr nahe kommt.[16] Das impliziert jedoch keineswegs, daß andere Methoden, z. B. die Erhebung quantitativer statistischer Daten zur Situation der Frau, historisches Quellenstudium oder empirische Untersuchungen zur geschlechtsspezifischen Sozialisation u. a. überflüssig wären.
Das französische Wissenschaftler-Paar BERTAUX und BERTAUX-WIAME hat wesentliche Implikationen von Oral History für die Erforschung von Arbeiterkultur formuliert, die wir hier für die Frauenforschung zu präzisieren versuchen.[7] Wir haben die Literatur zur Oral History und über autobiographisches und kollektives Gedächtnis im Seminar diskutiert, um die theoretischen Postulate nicht nur gleichsam auszuprobieren, sondern für alle Seminarteilnehmerinnen durchschaubar zu machen. Die Texte, wie später noch ausgeführt wird, hatten für die Seminarteilnehmerinnen jedoch nur die Funktion, die Eigenproduktion von Erinnerungen anzuregen, sie führten nicht zur Auseinandersetzung mit den Theorien über autobiographisches und kollektives Gedächtnis selbst.
Nach BERTAUX und BERTAUX-WIAME funktioniert das autobiographische Gedächtnis nicht wie ein Tonband, eine Kamera oder irgendein anderer Registrierapparat. Es selektiert z. B. nach dem Grad aktiver oder emotionaler Teilnahme am Leben bzw. an den Ereignissen. Lebensabschnitte, die ohne große gefühlsmäßige Regungen erlebt wurden, hinterlassen keine Spuren. Erinnerungen, die ein positives Selbstbild beschädigen, haben einen anderen Stellenwert als gute. Wenn alte Leute ihr Gedächtnis verlieren, liegt das evtl. auch daran, daß sie nie Gelegenheit hatten, es zu üben, daß keiner sich ernsthaft für ihre (alltäglichen) Erfahrungen interessiert hat oder ihre Erinnerungen zu schlimm, zu belastend sind.
Das Rückerinnern ist auch Arbeit, suchende Anstrengung, nicht einfach ein Abspulen von Gespeichertem. Wenn Sich-Erinnern eine aktive Tätigkeit ist, dann gehen Gegenwartsbezüge zum Teil automatisch und mehr oder weniger reflektiert mit ein. Die Erinnerung erfolgt gefärbt. Und die Bedeutung, die eine Zeit in der Vergangenheit erhält, ist auch abhängig von der Nachfolgezeit: Daß die Frauengeschichte nach 45 wieder in den 80er Jahren entdeckt wird, könnte damit zusammenhängen, daß die zeitliche Distanz, die Überwindung der Not und die immer deutlicher werdende Möglichkeit einer neuen Not das Anknüpfen an die Zeit jetzt erst erlaubt.
Eine Handlung, ein Ereignis läßt sich nicht erzählen, ohne einen Standpunkt zu wählen. Es ist die Perspektive (oder das Interesse), die dem Erzählen und dem Erzählenden seine Bedeutung gibt.
- Wenn wir aber die Zeitgeschichte - von der Frauen keineswegs nur als Opfer, sondern auch als Täterinnen, als Komplizinnen oder als Widerstandskämpferinnen betroffen sind - in ihre Biographieforschung einbeziehen, besteht die Chance, daß wir mit der Frauenfrage aus den ewigen Zyklen herauskommen. Wir werden dann nicht nur ein vollständiges Bild der Einzelbiographie bekommen, sondern werden dazu beitragen, die fatale Trennung zwischen dem Politischen und dem Privaten (Hervorhebung von E. N. u. S. M.-G) aufzuheben und die Frauen wieder in den historischen, den öffentlichen Raum einzuführen. Das wird dann allerdings auch eine Veränderung dieses Raumes bewirken.«[18]
Wie wir diese Trennung von individueller Biographie und zeitgeschichtlichen Ereignissen, die sich in lebensgeschichtlich erinnerten Erzählungen und in historischen Dokumenten zur Nachkriegszeit eigenartig wiederfindet, in unserer Seminararbeit aufzuheben versuchten, soll im folgenden dargestellt werden.
Die Seminare fanden statt an der Universität Dortmund im SS 1982 und WS 1982/83 unter dem Titel »Das erzwungene Matriarchat. Ökonomische und gesellschaftliche Aufgaben und Erziehungssituationen in der unmittelbaren Nachkriegszeit« und »Sozialisation, Biographie und Gesellschaft«.
Beide Seminare stellten eine spezifische Lehr- und Lernsituation dar: Ungefähr die Hälfte der Seminarteilnehmer (es waren nur einige wenige männliche Studenten dabei) waren Frauen im Alter von ca. 30 bis ca. 75 Jahren, die an einem Kontakt- und Aufbaustudium im Schwerpunkt Frauenstudien an der Universität Dortmund eingeschrieben sind (Kurzform: »Frauenstudienfrauen«). Sie sind alle mehrere Jahre oder jahrzehntelang Familienfrauen gewesen. Nach der Geburt ihrer Kinder haben sie ihre Berufstätigkeit aufgegeben und suchen jetzt aufbauende Weiterbildungsmöglichkeiten und einen Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit.[19]
Diese Frauen sind bereits vor der Beteiligung an den Frauenstudien aus ihrer privaten Hausfrauenrolle ausgebrochen. Meist haben sie vorher Frauengesprächskreise an der Volkshochschule besucht und/oder einen Gesprächskreis geleitet und/oder sich im Elternbeirat von Schulen oder Kindergärten oder in einer Bürgerinitiative engagiert.
Die Zusammenarbeit im Projekt Frauenstudien eröffnet einen dritten Bildungsweg. Das Bildungsangebot der Frauenstudien geht konzeptionell von den Kompetenzen aus, die Frauen in Familie, Haushalt und Leben im Stadtteil erworben haben. Es versucht, neue Berufsperspektiven für die Frauen zu erschließen. Nach formalen Bildungsvoraussetzungen wird nicht gefragt. Die Frauen nehmen als Gasthörerinnen an speziell ausgewählten und z. T. für diese Zielgruppe vorbereiteten Seminaren teil. Dazu gehörten auch unsere beiden Seminare. Unklar ist bisher, welche genauen Selektionskriterien die Gruppenzusammensetzung unserer Seminare bestimmten.
Die Arbeit im Projekt Frauenstudien ist bestimmt durch die Begeisterung und Motivation, Neues zu lernen und als Frauen mit Lebenserfahrung ernstgenommen zu werden. Wir können eine andernorts gemachte Erfahrung bestätigen:
- »Die Annahme, daß die Frauen selbst ein starkes Bedürfnis nach einer Art von Ausbildung entwickeln, in der ihr bisheriges Leben ernstgenommen und ihr künftiges Leben, also nicht nur der Teilaspekt beruflicher Arbeit, von ihnen selbst durch den Erwerb neuen Wissens und Könnens gestaltet werden kann, ist durch die bisherige Bildungsarbeit mit Frauen zu bestätigen. Dieses Bedürfnis ist auch zu charakterisieren als eine qualitative Veränderung des nur orientierten Denkens von Frauen in der Bewältigung ihrer Alltagspraxis nach einem begreifenden Denken, das die Struktur dieser Praxis erfaßt und die Frage nach dem Sinn ermöglicht.«[20]
Aus unseren theoretischen Vorüberlegungen und aus der spezifischen Seminarsituation - der Gruppensituation von Frauen unterschiedlichen Alters - ergab sich als Konsequenz, daß es uns weniger darum ging, neue Fakten über die Nachkriegszeit zu erforschen, sondern eine neue Sicht auf eine Periode verdrängter Frauengeschichte und eine tätige Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie zu ermöglichen. Wir wollten
- das Lernen zwischen den Generationen ermöglichen und den Studentinnen über die Erfahrungen der Frauenstudienfrauen die Stärke, den Mut, aber auch die Begrenzungen und Enttäuschungen ihrer Mütter- und Großmüttergeneration distanzierter als in der eigenen Familie vermitteln;
- erlebte Geschichte und Erinnerungen diskutieren und mit Zeitdokumenten und theoretischen Analysen konfrontieren, um das Verwobensein von Zeitgeschichte und individueller Biographie aufzuspüren;
- die reflexive Aneignung des Seminarprozesses und der zeitgeschichtlichen Erfahrungen durch die Teilnehmerinnen gewährleisten, um zu erfahren, ob bzw. inwiefern die Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte und der eigenen Biographie das Selbstbewußtsein von Frauen in der Gegenwart modifiziert.
Diese Konsequenzen aus den theoretischen Postulaten der Frauenforschung, der Dialektik von individueller Biographie und Zeitgeschichte, der Differenzierung in individuelles und kollektives Bewußtsein für die Aufarbeitung von Frauengeschichte als Identitätsfindung in der Gegenwart strukturierten zwar einerseits unsere Nachkriegsforschungen, andererseits entwickelten sie sich erst im Prozeß unserer spezifischen Aufarbeitung, d. h. in der Diskussion mit den Frauen und Studentinnen. Sie sind bis heute weder theoretisch noch praktisch vollends eingelöst. Unklar ist ebenfalls, wieweit sich unsere Erfahrungen und Ergebnisse verallgemeinern lassen. Die Aneignung von Frauengeschichte durch Frauen ist auch weitergeführt worden durch die Diskussion über diesen Bericht. Einige Frauen haben ihn gelesen, ihn an einigen Stellen modifiziert und kritisch weiterentwickelt.
Wir beschreiben im folgenden
- die Seminarsituation in ihrer Bedeutung für die unterschiedliche Aufarbeitung der Nachkriegszeit.
- die Konfrontation zwischen den Generationen anläßlich der Diskussion über zeitgenössisches Material (Wochenschauen und Filme),
- einen Vergleich theoretischer Analysen der Nachkriegszeit mit den Lebenserinnerungen der Frauen zur Familie und Überlebensarbeit nach '45.
- Auswirkungen, welche die Auseinandersetzung mit der Überlebensarbeit der Frauen nach 1945 auf die Identität der Frauen in der Gegenwart hat.
2. Die Seminarsituation als Forschungsrahmen
Die älteren Teilnehmerinnen der Seminare haben die unmittelbare Zeit nach 1945 als Kind, als Jugendliche oder Frau im besten Alter erlebt. Sie sind heute fast alle in einem Alter, in dem sie für die Studentinnen Mutter oder Großmutter sein könnten. Damit kamen in die Seminarsituation verschiedene biographische Lebensphasen hinein und somit auch unterschiedliche Erinnerungsqualitäten und Verarbeitungsformen. Es lassen sich mehrere Gruppen von Frauen (in Abhängigkeit von biographischen Phasen) unterscheiden:
- Frauen, die damals junge Mütter oder alleinstehende Frauen im mittleren Lebensalter waren. Diese Frauen berichteten von der Autorität, die sie damals hatten, von dem Vertrauen, das in sie gesetzt wurde. »Auf mich hörten die 10 Parteien im Mietshaus, wenn es darum ging, in den Luftschutzkeller zu gehen oder nicht.« (Frauenstudienfrau, über 70 Jahre)
- Frauen, die damals heranwachsende Jugendliche waren, eine Lehre machten oder die Schule besuchten. Sie berichteten von dem Wunsch nach einem freudvollen Leben, von dem Wunsch nach qualifizierterer Ausbildung und ihren Behinderungen; aber auch von der »Leere« der Zeit. »Die Zeit ist an mir vorübergerauscht, eigentlich in Arbeit, gucken, daß du das Pensum schaffst. Meine Mutter war zu Hause und hat stundenlang angestanden, da mit ihren Brotkarten, Fleischkarten und was. Ja, wenn ich da nach Hause gekommen bin, da kam sie oft mit dem, was sie gerade so ergattert hatte.« (Frauenstudienfrau, 60 Jahre)
- Frauen, die die Nachkriegszeit als Kind am Schürzenbändel ihrer Mutter erlebt haben. Sie berichteten einerseits von dem Vertrauen, das sie gegenüber ihrer Mutter/Eltern hatten, andererseits von den Aufgaben, die sie als Kind übernehmen mußten und die sie an der Erwachsenenrolle teilnehmen ließen: einkaufen, organisieren, Behördengänge erledigen, für die jüngeren Geschwister sorgen.
- Die jüngeren Studentinnen und Studenten kannten die Zeit nach 1945 aus den Schilderungen ihrer Eltern/Verwandten und/oder aus der wissenschaftlichen und populären Literatur. Sie hatten leichte Skepsis und eine größere Distanz gegenüber zeitgeschichtlichen Erinnerungen, die ihnen insbesondere durch Elterngespräche moralisierend, legitimatorisch und episodenhaft vorkamen (wenn sie überhaupt stattfanden und die Eltern der Diskussion nicht auswichen).
- Wir Dozentinnen hatten an die Zeit nach 1945 (allenfalls) frühe Kindheitserinnerungen und angelesenes Wissen.
Die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener »Generationen« von Frauen mit ihren biographisch unterschiedlich erinnerten Lebensphasen brachte in der gemeinsamen Seminarsituation eine der selbstverständlichsten Hierarchien zu Fall: die Hierarchie zwischen objektivem Wissen und bloß subjektivem Meinen oder Erleben, die gleichzeitig eine des wissenschaftlichen und lebensweltlichen Wissens zu sein scheint.
Die Frauen waren mündliche Autorinnen in der Seminarsituation. Sie hatten ein Publikum, das einerseits aus Experten und Zeitgenossen und andererseits aus Unerfahrenen, die diese Zeit nicht miterlebt hatten, bestand. Diese unterschiedlichen Wissensquellen machten auch die Lehrenden zu Lernenden.
Während die Studenten die Verhältnisse der Nachkriegszeit eher mit den allgemeinen Kategorien der Politischen Ökonomie (Wiedererstarken des Kapitalismus, amerikanischer Imperialismus, Ost-West-Konflikt, Antikommunismus usw.) analysierten, schilderten die Frauenstudienfrauen ihre jeweils konkreten Erfahrungen und Erinnerungen.
Die spontanen Berichte der Frauen wurden weniger strukturiert als selbst kommentiert: »Es war eine schlimme, eine schöne oder auch eine lange Zeit, die kurz empfunden wurde.«
Zeit war auch in einem sehr tiefen Sinn Lebenszeit, weil die Allgegenwart des Todes damals vorüber und die Lebensfreude bei aller Überlebensnot sich regte. Die Tageszeit als Wachzeit und Nachtzeit als Schlafzeit mußten wieder gelernt werden. Diese gewöhnlichen Zeitrhythmen wurden nun genossen: in Ruhe nachts schlafen können, nicht immer wieder in den Bunker, in den Keller u. a. gehen müssen. Die Ängste als Kind, die Mutter, die Familie zu verlieren, ihr nicht ganz nah sein zu dürfen, wurden nachträglich im Seminar formuliert.
Die lineare Zeit (Periodisierung) wurde von den Frauenstudienfrauen nicht als Rahmen benutzt. Erst auf Nachfragen wurden Jahreszahlen/Daten genannt. Die Erinnerungen blieben zunächst episodenhaft und nicht chronologisch strukturiert. Es blieb in den Berichten eine qualitative Zeit des intensiven Erlebens vorherrschend.
Während also die Studierenden eher zum Allgemeinen die besonderen Konkretionen suchten, zusammenfügten oder vermißten (dies eine Kritik der Studentinnen), versuchten die Frauenstudienfrauen ihre Erfahrungen in der kollektiven Situation zu begreifen. Dafür war die öffentliche Gruppensituation wichtig:
Die Frauen waren nicht vereinzelt, sondern in einer Gruppe mit leicht wechselnder Zusammensetzung, aber immer ca. 20 bis 25 Frauen und etwa gleich viele Studenten. Die Älteren produzierten ihre Erinnerungsinhalte, ihre Lebensgeschichte also in einer Situation, in der Verschiedenes gleichzeitig oder unmittelbar hintereinander zur Sprache kam. Die Berichte konnten sich ergänzen, korrigieren, kontrastieren, z. B.: »Bei uns war es aber gerade ganz anders.« Eine Distanz zum erinnerten Zeitgeschehen kam durch die Generationsdifferenzen zwischen den Frauenstudienfrauen und durch die Studierenden zustande, die kritisch nachfragten.
Neben den Kategorien Betroffenheit und Parteilichkeit ergaben sich Abstand und Distanz bei der Aufarbeitung der Nachkriegszeit aus der spezifischen Seminarsituation quasi von selbst. Erlebte Geschichte der Frauen ist erst in einem öffentlichen Kontext mehr als nur persönliches Erinnern.
Im Laufe der beiden Seminare kam die Unterschiedlichkeit der Lebenssituationen der damaligen Zeit immer klarer heraus: Evakuierung, Flüchtlingssituationen, Leben in der Stadt oder auf dem Land, in einer Elternfamilie oder einer Mutterfamilie.
3. Lernen zwischen den Generationen
Um die Zeit nach 1945 auch visuell wieder ins Gedächtnis zu rufen, hatten wir die Fernsehserie »Jahre unseres Lebens 1945/1946 und 1947/1948«, die 1981 im Fernsehen gezeigt worden war, auf 45 Minuten zusammengeschnitten. Die Serie ist ein Zusammenschnitt von Wochenschauen, amerikanischen und englischen Filmen und Amateurfilmen der damaligen Zeit. Gezeigt haben wir Ausschnitte über Trümmerfrauen, die Wiedereingliederungsversuche von verwundeten Soldaten, die ersten Anfänge der Produktion, die Situation in Schulen und Hochschulen, die zerbombten Städte, Schlange stehen, Kinder, die ihre Eltern suchten, unterernährte Kinder, Kohlenklau, Mütter, alte Menschen, Kinder auf der Flucht, aber auch Berichte über die »große« Politik: über den Nürnberger Prozeß, die Auseinandersetzung zwischen Arabern und Juden, den Befreiungskampf in Griechenland, die Auseinandersetzung zwischen den Besatzungsmächten. Für uns auffallend war an den Wochenschauen, daß jede auch einen Bericht über Modenschauen, Mißwahlen u. ä. enthielt.
Wir wollten ein Stück offizieller Geschichtsschreibung, wie sie Wochenschauen und Dokumentarfilme darstellen, konfrontieren mit den Erlebnissen, mit den Erfahrungen, die Frauen damals gehabt und gemacht haben. Wir erwarteten eine Korrektur der offiziellen Dokumente durch die Erinnerungen der älteren Frauen.
Die Diskussion über den Mitschnitt verlief anders, als wir erwartet hatten. Wir haben sie aufgenommen und anschließend transkribiert. Hier einige Auszüge, die gleichzeitig die Widersprüchlichkeit der zeitgeschichtlichen Interpretationen zeigen:
- »Die ganze Seite der kleinen und großen Gauner, die es in dieser Zeit gab, die fehlt vollständig. Die hat aber auch den Alltag bestimmt, also ob da jetzt jemand erzählt, daß seine Tante Vollmilch gepanscht hat, also mit Wasser verrührt hat, und dann als Vollmilch verkauft hat und damit sich 'ne goldene Nase verdient hat oder was sonst. Es gibt unendlich viel von solchen Sachen, wo wirklich unheimlich brutal auch die Not anderer ausgenutzt worden ist und darauf eben auch die Leute sich recht oder schlecht dann was aufgebaut haben. Das find ich auch sehr schlecht an dem Film, daß wirklich sozusagen diese kameradschaftliche Seite penetrant im Vordergrund steht und das andere überhaupt nicht mehr, so daß dann irgendwie so 'ne knappe Kulturkritik dabei herauskommt. In der Not halten alle zusammen und wir sind halt vollgefressen und satt und wir halten nicht mehr zusammen. Also das, so' ne Tendenz jedenfalls, find ich nicht gut an dem Film.« (Frauenstudienfrau, die die Nachkriegszeit nicht miterlebt hat)
»Es war ein großer Teil der Wirklichkeit, die ich am eigenen Leibe so und ähnlich erlebt habe. Ich kann nur sagen, daß das, was sie eben anführten, die Auswüchse des Schwarzmarktes, überall in diesen schrecklichen Notzeiten lebt und daß überall dort, wo es um die Existenz geht, um das nackte Überleben, immer diejenigen, die rücksichtslos genug sind, das auszunutzen und auch die Not der anderen, das werden sie überall erleben Keiner der Schwarzhändler ist in Not gewesen oder hat jemals einen Stein in die Hand genommen, also die haben trotzdem damals gelebt, aus der Not der anderen, so wie vorhin gesagt wurde, eine goldene Nasenspitze bekommen. Die Menge die Bevölkerung, der Mann auf der Straße, die haben ne echte, eine ganz tolle Not gehabt.« (Frauenstudienfrau, über 70 Jahre)
»Aber es muß auch so gewesen sein, vor der Währungsreform, daß die Geschäfte die Sachen gehamstert haben, zurückgehalten haben der Bevölkerung, und als dann der Währungsschnitt da war, plötzlich am nächsten Tag waren die Waren dann alle da« (Studentin)
»Selbstverständlich. Sachen, die haltbar waren, die wurden unterdrückt, zurückgehalten, das stimmt schon.« (Frauenstudienfrau, über 70 Jahre)
»Erstmal bin ich erst 25 Jahre alt und mir kommt es schon fast vermessen vor, überhaupt etwas dazu zu sagen, aber aus diesen ganzen Filmausschnitten sprach für mich heraus, wie bitter notwendig es war, überhaupt so etwas wie Hoffnung zu kriegen, also durch das Bild suggeriert zu kriegen, und deshalb find ich es auch so schwer, an dieses Thema überhaupt so ranzukommen, weil wahrscheinlich auch bei den Frauen, die das miterlebt haben und die sich das heute angucken, auch so was wie Verklärung hinzukommt. Genauso, wie man heute sagt, die Goldenen Zwanziger Jahre.« (Studentin)
»Es war doch keine Schau, was da im Film gezeigt wurde. Es waren doch die Ausschnitte nackter Wirklichkeit. Das, was da gezeigt wurde, könnte ich Ihnen nur bestätigen und noch viel mehr dazu sagen. Es war doch eine Notwendigkeit, was damals gemacht wurde. Die Leute haben das doch nicht zum Vergnügen gemacht, sondern die bitterste Not stand dahinter Ich denke jetzt an das Steineklopfen, das Häuserbauen, oder, wie ich selbst erlebt habe, als ich 1947 vor meiner Schulklasse stand, wir hatten nichts zu schreiben und zu lesen, ich mußte mir die Fibeln für meine Kinder selber machen, ich mußte alles selbst machen, da gab's doch nichts zu kaufen. Um auf die Geschäfte zurückzukommen, das war ja die schlimmste Zeit in der Ernährung, das hab ich miterlebt, daß meine Kommilitonen ohnmächtig geworden sind, zusammengebrochen sind vor Hunger, die haben keine Möglichkeit gehabt, irgendwas zu bekommen. Und das bißchen, was sie hatten, das waren meist die Flüchtlinge, die konnten mit nichts antreten und sich etwas beschaffen. Das bißchen, was sie hatten, das reichte so kaum zum nackten Leben. Ich wollte damit nur sagen, daß diese Ausschnitte, die hier gezeigt wurden, wirklich nur das widerspiegeln, wie es damals echt gewesen ist.« (Frauenstudienfrau, über 60 Jahre)
»Ich hab auch beim Zusehen eine Gänsehaut nach der anderen gekriegt, weil ich das so bei mir nacherlebt hab, die Zeit damals. Die Zeit damals, als wir keine Schuhe hatten und mit Lappen um die Füße und in so offenen Holzschuhen, die von Holland wohl irgendwo herkamen, in die Schule gehen mußten, die Zeit der Schulspeisung, die komische Erbsensuppe, die wir kriegten. Ich habe in der Nachkriegszeit, weil nichts zu brennen da war, und wir was in die Schule mitbringen mußten, aus den Trümmern Brennbares herausgesucht, dauernd die Angst im Nacken, auf Leichenteile zu stoßen. Wir haben Bucheckern gesammelt, wir haben die abgeernteten Felder abgesammelt, haben die Ähren in unseren Händen so zerrieben, dann ganz vorsichtig das, was nicht zu brauchen war, weggepustet, damit nur ja kein Korn verloren ging. Für mich war das also Realität und da war nun wirklich nichts Verherrlichtes bei. Ich hab also wirklich nur Angst gehabt, als ich das gesehen hab. Da ist also die alte Angst wiedergekommen. Ich hab nichts von Verherrlichung gespürt.« (Frauenstudienfrau, Jahrgang 1933)
Glorifizierung des Mangels und der Solidarität, also Einseitigkeit und unpolitisches Verhalten lautet die Kritik der Studentinnen an dem Material, das wir zeigten bzw. ausgewählt hatten und an den Berichten der »erlebten Zeit". Die Sicht auf die Zeit nach 45, die in den Wochenschauen und Dokumentarfilmen enthalten ist, wird von den älteren Frauen nachvollzogen und bestätigt, ja heftig verteidigt, wie sich an den häufigen Zwischenrufen »Das war doch keine Verherrlichung« zeigte. Die Studentinnen analysierten das gezeigte Material und die Erinnerungen der Frauen vorrangig aus dem Blickwinkel der Gegenwart. Die Botschaft der Sendung sei, - so die Vermutung -, den Zuschauern, denen es heute auch wieder schlechter geht, zu vermitteln, wir schaffen es schon. Die Tüchtigkeit der Menschen, die die Filmausschnitte vermitteln, wird von den Jüngeren kritisiert, während die Frauenstudienfrauen diese Kritik selbstbewußt abweisen.
- »Uns blieb ja damals gar nichts anderes übrig.« (Frauenstudienfrau, Jahrgang 1933)
»Ja, die waren ganz einfach tüchtig.« (Frauenstudienfrau, Jahrgang 1932)
Die älteren Frauen erinnerten sich - angeregt durch das Bildmaterial ihrer Überlebensarbeit, ihrer Phantasie, ihrer Kreativität und der ihrer Mütter. Sie machten eine Ausstellung mit Produkten aus der Zeit nach 1945 - Pullovern aus Fallschirmseilen, Tischdecken, Kleidern, Entnazifizierungsscheinen u. a. - und sie kochten nach Back- und Kochrezepten der Notzeit für ein abschließendes Seminaressen. Das Interesse an diesen Alltagsprodukten sollen einige Bilder veranschaulichen (vgl. Abb. 1 und 2).
Die Nachgeborenen, so scheint es, können die Geschichte des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit als Unbeteiligte leichtfertiger kritisieren, aber auch distanzierter aufarbeiten als die darin verwickelten Generationen. Sie erfuhren in der Diskussion aber auch glaubwürdige Neu-Interpretationen, eine Sicht von unten und eine »ehrliche« Betroffenheit.
Die Kategorien der politischen Ökonomie und Soziologie füllten sich für sie mit historischem Leben. Im Verlaufe des 1. Seminars gelang es, die Skepsis der Studentinnen über die Verherrlichung der Zeit nach 1945 ein Stück abzubauen.
4. Familienzentrismus und Überlebensarbeit nach 1945 und wie Frauen heute darüber denken
Während bei der Diskussion über die Wochenschau- und Filmausschnitte weniger das Verhältnis Zeitgeschichte/individuelle Biographie, sondern eher die Auseinandersetzung zwischen den Generationen im Vordergrund stand, wollten wir bei der Analyse und Diskussion zeitgenössischer und späterer Literatur über die Nachkriegszeit und den Erzählungen der Frauen den Versuch machen, den Zusammenhang zwischen Zeitgeschichte und individueller Biographie zu begreifen oder herauszustellen, um - mit den Worten von MARIA MIES »die fatale Trennung zwischen dem Politischen und dem Privaten aufzuheben und die Frauen wieder in den historischen, den öffentlichen Raum einzuführen.«[21]
In dieser Gegenüberstellung wissenschaftlicher Analysen und erzählter historischer Lebenserfahrung sehen wir eine Möglichkeit, einen ersten Schritt zu machen zur Aufhebung einer bloßen Verdoppelung von real erlebten Erfahrungen und ihrem Nachvollzug im Bewußtsein.
Wir gehen in unserer Darstellung dabei so vor, daß wir zunächst
- Aussagen der zeitgenössischen Wissenschaft zur Überlebensarbeit und Familie nach 1945 exemplarisch an den Untersuchungen von HILDE THURNWALD und GERHARD BAUMERT darstellen;[22]
- Deutungen/Ergebnisse familiensoziologischer Studien späterer Jahre analysieren;
- und statistische Ergebnisse referieren, um daran die Aussagen der Frauen zur Überlebensarbeit ihrer Mütter und zur eigenen Berufstätigkeit, die ebenfalls als Stück Überlebensarbeit interpretiert werden kann, anzuschließen.
Bleibende oder vorübergehende Unvollständigkeit und Zerrüttung sind die äußerlichen objektiven Erscheinungsbilder für einen großen Teil der Nachkriegsfamilien.
Am deutlichsten wird das in der beschreibenden, den Alltag detailliert nachzeichnenden Studie aus den Jahren 1946/47, die HILDE THURNWALD in Berlin mit mehreren Interviewerinnen (Hortleiterin, Kindergärtnerinnen) durchgeführt hat. Mehr als andere Familienforscher rückt sie die Frauen/Mütter in den Mittelpunkt und macht deutlich, daß es zwar zu einer innerfamilialen Machtverschiebung zugunsten der Frauen kommt,[23] aber auch, daß die Institution Familie von allen gesellschaftlichen Institutionen gestützt, ja besonders gestützt wurde.
Dennoch stehen im Mittelpunkt der familiensoziologischen Interpretationen und Studien der Nachkriegszeit, die zum damaligen Zeitpunkt vergleichsweise alltagsnah und deskriptiv waren, Konflikte, Spannungen und Trennendes zwischen den Geschlechtern. GERHARD BAUMERT - orientiert am patriarchalen Modell - folgert daraus, daß die Bedingungen für eine Partnerschaft gegenüber der Vorkriegszeit sich verschlechtert haben.[24] Zurückgeführt wird dies:
- auf die räumlichen Trennungen der Väter von ihren Familien während des Krieges und der Gefangenschaft,
- auf die neue - nicht traditionelle - Arbeit der Frau als Ernährerin der Familie, 0 auf die sozialpsychologische Entfremdung der Männer von der »Heimat ... und ihrer »Familie« und auf ihre Rückkehr als Fremde,
- auf die sexuellen Erfahrungen und Freiheiten von Männern und Frauen in der Endphase des Krieges und der Besatzungszeit.Der Darmstädter-Familienstudie von GERHARD BAUMERT zufolge hatte jedes 5. zehnjährige und jedes 4. vierzehnjährige Kind nur ein Elternteil, die Mutter. 3% der Grundschulkinder waren außerehelich geboren, etwa 15% der Darmstädter Geburten waren zu dieser Zeit unehelich. Die Scheidungsziffern lagen 1948 bei 187 je 100 000 Einwohnern in den westlichen Besatzungszonen (1914 = 26, 1939 = 89, 1952 = 105).[25]
Diese Mütterfamilien (Witwen, geschiedene Frauen [steigende Scheidungsziffern bis 1948]), alleinstehende Frauen, die Eltern versorgten, Mütter, deren Ehemänner arbeitslos, politisch disqualifiziert, krank, mutlos und/oder unfähig zur Integration in die »chaotische« Nachkriegsgesellschaft waren, gab es in Millionenhöhe. Die »nichttraditionellen« Familien machten mindestens ein Viertel aller Familien aus. In der Familiensoziologie wird dieses Phänomen nicht-patriarchaler Familien als Desorganisation bezeichnet, ein Begriff, der diskriminierend die implizite Norm der Familiensoziologen offenbart.[26] Zwar waren die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in einem gewissen Sinn desorganisiert, aber die Unvollständigkeit der Familien führte auch zu einer unbewußten Selbständigkeit der Frauen in einem vor dem Krieg nicht geübten und gekannten Ausmaß und zu einer Intensivierung der Mutter-Kinder-Beziehung. Daran zeigt sich das Hineindringen der Zeitgeschichte in die individuelle Biographie und die Veränderung des Individuums. Diese »Selbständigkeit« von Frauen war nicht klassisch politisch, sie war zentriert auf das Überleben der Kinder, das der Familie und das eigene. Daher spiegelt die Nachkriegssoziologie nicht einfach eine ideologische Frauen-Sicht wider, sondern nimmt den Familienzentrismus der Frauen in generalisierter Form auf, so als ob Frau und Familie identisch wären.[27]
Üblicherweise wird der Bedeutungszuwachs der Frauenarbeit dieser Zeit als eine Notlage, als vorübergehende Ausnahmeerscheinung verstanden, bedingt durch die Abwesenheit der Männer und den »Frauenüberschuß". Wenn dies alles gewesen wäre, dann wäre eben auch diese existentielle »Zeit für die Frauengeschichte« und Frauenforschung relativ bedeutungslos. Dies muß aber nicht als bloße »Übergangshaltung« endgültig zu den Akten gelegt werden (wie unsere Rekonstruktion vielleicht zeigen kann).
Es gibt eine vereinzelte Äußerung der letzten Jahre, daß die Zerstörung der patriarchalen Familie die überragende Leistung der Frauen sei.[28] Im allgemeinen verflüchtigen sich aber in der späteren Familiensoziologie die Subjekte des Prozesses in einer abstrakt strukturfunktionalen Analyse, die keine identifikatorischen oder engagiert kritischen Auseinandersetzungen mehr erlaubt. (Erst durch die Studentenbewegung und die neue Frauenbewegung werden innerfamiliale Unterdrückungsstrukturen und Familienkritik wieder Gegenstand einer praktischen Kritik und Politik (vgl. Kinderladenbewegung, Frauenhausbewegung).
Unser sympathisierendes Interesse an der konkreten Lebenssituation von Frauen in der Nachkriegszeit mag die Erinnerungen der Seminarteilnehmerinnen an die Familie einseitig begünstigt haben. Wir haben z. B. den Film »Deutschland bleiche Mutter« von HELMA SANDERS gezeigt, den viele bereits kannten oder später wiedersahen. Insofern waren wir Lehrenden an der Produktion unserer Informationsquellen beteiligt. Diese Fokussierung wollen wir aber von einer bloßen Wunschproduktion bezüglich der Bestätigung unserer Hypothesen unterscheiden. Es hieße einmal, unsere erwachsenen Zeitgenossen in ihren Erfahrungsberichten nicht ernst nehmen, es hieße auch, sie als unsere willfährigen Instrumente zu definieren.[29]
Tatsächlich äußerten sich die Frauen aller biographischen Phasen vorwiegend über ihre Mutter, erst in zweiter Linie auch über ihren Vater. Die Gewichtung erfolgte zugunsten der Mutter, allerdings nicht widerspruchsfrei und keineswegs idealisierend, wie die folgenden Konflikte in der Auseinandersetzung mit der Mutter zeigen.
- »Ja, für mich selber hat es eigentlich zunächst einmal gebracht, daß mir klar geworden ist, daß ich während des Krieges und auch in der ersten Zeit nach dem Krieg meine Mutter als sehr starke, sehr aktive und sehr tätige Mutter erlebt habe. Daß mir dadurch auch klar geworden ist, wie sehr meine Mutter sich nach Rückkehr meines Vaters verändert hat« (Frauenstudienfrau, Jahrgang 1933).
Während der Evakuierung hat die Mutter immer versucht, eine eigene kleine Wohnung zu bekommen, um nicht in fremden Haushalten leben zu müssen und um mit den Kindern alleine sein zu können.
- »Und das kann ich dann auf dem Hintergrund, den sie dann später, auch jetzt kürzlich erzählt hat, daß mein Vater dann, als er nach Hause gekommen ist, als erstes gefragt hat, ob sie vergewaltigt worden wäre, und sie konnte also dann mit nein antworten. Und wenn das dann gewesen wäre, hätte er sie als Frau nicht mehr akzeptieren oder nicht mehr anerkennen können, dann wäre sie für ihn also erledigt gewesen« (Frauenstudienfrau, Jahrgang 1933).
»Das (die Stärke der Mutter und ihr eigenes Denken irgendwie wird es schon klappen) ist mir jetzt erst bewußt geworden, weil ich nach der Rückkehr meines Vaters, dann wurde sie also ziemlich bald in diese Rolle zurückgedrängt, nicht, der passiven Frau. Das Geld war sehr knapp, mein Vater war vor dem Krieg selbständig gewesen, der Betrieb war weg und mein Vater hat sich dann so durchgeschlagen, war aber so alte deutsche Tradition, der Mann verdient das Geld, die Frau hat es nicht nötig zu arbeiten« (Frauenstudienfrau, Jahrgang 1933).
Die Mutter hat weiter (heimlich) in und für die Nachbarschaft genäht, zunächst gegen Lebensmittel und später dann auch gegen Geld. Bei der besser gestellten Tante hat die Mutter dann angeblich die Buchführung gemacht, in Wirklichkeit hat sie aber geputzt. Der Vater durfte das alles nicht wissen.
Die Erinnerung an die Mutter, die mit den beiden Töchtern aus der Stadt in verschiedenen ländlichen Gegenden evakuiert wurde und dort mit Gartenarbeit und Nähen für das Überleben sorgte, macht erst im nachhinein die Widersprüchlichkeit deutlich: Die Stärke und der Schutz, den die Mutter den Kindern bot, war gleichzeitig bald nach der Rückkehr des Vaters eine Unterordnung und ein heimliches Ertragen einer Ehe mit trügerischer Familienernährer-Rolle des Vaters.
Ein Aufbäumen und Ducken der Mutter, zugleich zeit- und phasenverschoben, berichtet auch eine andere Seminarteilnehmerin.
- »Jetzt durch ihre (der Mutter) Erzählung hab ich erst mal rausgekriegt, daß sie früher gar nicht so dieser ängstliche Mensch gewesen sein kann« (Frauenstudienfrau).
Die Tochter nennt zwei Beispiele: Die Mutter hat sich politisch sehr mit ihrer Herrschaft, die Nazis waren, auseinandergesetzt. Während der Bombenangriffe beobachtete die Mutter, daß Fremdarbeiter nicht in den Bunker durften. Sie hat sich darüber aufgeregt und den Aufseher angeschnauzt. Der Stiefvater hält sie zurück und weist sie darauf hin, was passieren könnte, wenn der Aufseher das melden würde. »Dann landest Du auch im KZ.«
Nach den Schilderungen der Frauen in den Seminaren und anschließenden Diskussionen waren die Bezugspersonen für die Kinder Mütter und Tanten. Diese sorgten nicht nur für das materielle Überleben, teilweise die Kinder dafür miteinspannend, sondern breiteten auch einen Schutzmantel von Vertrauen auf ihre Stärke und Kompetenz aus, die sich auf die Töchter irgendwie übertrug.
Die Familienstudien der Nachkriegssoziologie haben dagegen eine implizite Vaterorientierung, so z. B. wenn von einer Kontrollücke der Nachkriegsfamilie gesprochen wird.[30] Dennoch konnten diese Studien einige Machtverschiebungen zugunsten der Mutter festhalten. Aber sie sahen die Frauen nur als Mutter. An der sich aufopfernden Mutter, an der interessenlosen Frau mußten alle wieder erstarkenden gesellschaftlichen und politischen Institutionen wiederum ein Interesse haben. Dieses Frauenbild stand daher mitnichten im Kontrast zur traditionellen Auffassung und Funktion von Familie und Frauenleben.
Innerhalb der Familiensoziologie (und nicht nur dieser) der Nachkriegszeit bleibt die Frau ausschließlich auf die Familie bezogen, eine Patriarchatskritik gerät nur aus politisch legitimatorischen Gründen vorübergehend ins Blickfeld.[31]
Die Stärken und Leistungen der Frauen konnten daher weder von ihnen selbstbewußt in einem größeren Ausmaß widerspenstig angeeignet werden, noch den Töchtern als Identifikationsrahmen dienen. Konzipiert als vorübergehend, aus der Not geboren und scheinbar bereitwillig wieder aufgegeben - konnte ihre Diskontinuität und Widerständigkeit in die theoretischen Analysen nicht eingehen. Blieb die Ideologie der Familie stärker als die zerrütteten Verhältnisse?
5. Bedingungen der Überlebensarbeit
Kommen in den familiensoziologischen Studien (G. BAUMERT/E. HÜHNERT 1952, H. THURNWALD, 1948) die Frauen vermittelt wenigstens noch vor, so verschwinden in den allermeisten soziologischen und politologischen Abhandlungen, Dokumentationen und Geschichtsquellen über die Nachkriegszeit die Frauen als Subjekte von Geschichte und Politik fast vollends unter der großen Politik der Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland 1945-1949.[32]
Nur unter dem Gesichtspunkt von Überalterung und Frauenüberschuß wird auf die geschlechtliche und altersmäßige Zusammensetzung der Bevölkerung eingegangen.
- »Durch den Krieg wurde vor allem der Anteil der Männer im leistungsfähigen Alter (20-35 Jahre) verringert; er sank vorn 12,1% im Jahre 1939 auf 7,4% 1946. Gleichzeitig erhöhte sich der Anteil der Kinder und der älteren, nicht mehr voll arbeitsfähigen Menschen. Das führte dazu, daß sich das Schwergewicht der männlichen Arbeiter auf die Altersgruppen über 40 Jahre verlagerte.«[33]
»Der Frauenüberschuß ... war 1946 in der Gruppe der 25 -30-jährigen wegen der hohen Kriegsverluste der Männer in diesem Alter extrem stark; in den drei Westzonen kamen in dieser Altersgruppe 1676 Frauen auf 1000 Männer.«[34]
Was dies für den Alltag und das konkrete Überleben bedeutet hat, bleibt unsichtbar, weil subjektive und personenzentrierte Auseinandersetzungen in der wissenschaftlichen Literatur fehlen.
Aus der Retrospektive der 80er Jahre, aber auch in der zeitgenössischen Literatur wird der große Frauenüberschuß als gleichsam objektive Bedingung der Integration von Frauen in die Erwerbswelt herausgestellt. Mit dieser Argumentation bleiben die Frauen implizit, wenn auch defizitär, auf einen Ehemann als Ernährer bezogen. Da wegen der ungünstigen Geschlechter-Relation in der Nachkriegszeit für Millionen von Frauen ein traditionelles »normales« Leben in der Familie/Ehe nicht möglich war, mußten sie selbst für ihren Unterhalt sorgen. MARTHA MOERS (1948) weist aber - unabhängig von der jeweiligen Größe des Frauenüberschusses - einen kontinuierlichen Anstieg der Erwerbsarbeit von Frauen nach. Nicht der Frauenüberschuß (allein) zwinge die Frauen zur Erwerbsarbeit, sondern die Kapitalinteressen, besonders die Maschinisierung der Arbeitsprozesse, förderten den Anstieg der Frauenerwerbsarbeit.[35]
M. MOEHRS weist entschieden das Argument zurück, der Mann sei der Ernährer der Familie und das rechtfertige den höheren Arbeitslohn des Mannes. Diese Begründung sei problematisch, wenn alle Männer mehr verdienten, gleichgültig, ob sie eine Familie zu ernähren haben oder nicht und alle Frauen weniger verdienen, gleichgültig, ob sie nur für sich selbst zu sorgen haben oder nicht.
Die Wohnungs- und Ernährungslage der Nachkriegszeit wird wie folgt überliefert:
- »Im Gebiet der drei Westzonen waren 45% des Wohnraumbestandes der Vorkriegszeit total zerstört bzw. schwer beschädigt, aber auch vom verbliebenen Bestand befand sich ein Großteil in einem schlechten Zustand. Darüber hinaus entzogen die Besatzungsmächte durch Beschlagnahme für eigene Zwecke der deutschen Bevölkerung intakten Wohnraum.
Die Unterbringung der Flüchtlinge sowie der aus den Lagern und Gefängnissen entlassenen Opfer des Nationalsozialismus verschärfte die Wohnungsnot in den Städten. Die Folge war eine starke Überbelegung des zur Verfügung stehenden Wohnraums und die Ausnutzung von Kellern, Bunkern, Lauben, die als Unterkünfte eigentlich nur bedingt nutzbar waren... Amtlichen Statistiken zufolge standen jedem Deutschen 1946 an Wohnraum zur Verfügung: in der britischen Zone 6,2 qm in der amerikanischen Zone 7,6 qM in der französischen Zone 9,4 qm[36]
Die deutschen Familien mußten zusammenrücken, ihre Wohnungen mit Fremden teilen und diese erzwungenen Wohngemeinschaften vermittelten neben gegenseitiger Hilfe in der Not, auch Erfahrungen schlechter, mißlungener Kollektivität, so daß der Individualisierungsprozeß jede Familie ihre eigene Küche/Wohnung) geradezu ein Wirtschaftsfaktor wurde.
Zur Ernährungslage werden in der wissenschaftlichen Literatur, falls sie so konkret wird, Zuteilungsrationen und Kalorienwerte je nach Besatzungszone) überliefert.
- »Durch den Krieg und seine Folgen reichte die Nahrungsmittelproduktion der westlichen Zonen bei Annahme dieser Versorgungshöhe (Durchschnittsversorgung von 3000 Kalorien pro Kopf und Tag in der Vorkriegszeit) jedoch nur für 35% des Bedarfs. Selbst wenn man eine Ration von lediglich 1800 Kalorien pro Kopf und Tag zugrunde legte und dabei berücksichtigte, daß auf die Produktion von tierischem Eiweiß weitgehend verzichtet wurde, erhöhte sich der Anteil der Versorgung durch Eigenproduktion nur auf 501.. Der Rest mußte von den Besatzungsmächten importiert werden.«[37]
Unvollständige oder desorganisierte Familien, räumliche Trennungen und Massenverschiebungen von Menschen, erzwungenes Zusammenwohnen, schlechte Wohnungsausstattungen, insgesamt äußerst minimale Versorgungsbedingungen, dies erforderte massenhaft übermenschlichen Einsatz. Es war die Not, die Frauen über sich hinauswachsen und traditionelle Schranken einreißen ließ. Allen Zahlen zum Trotz bleibt die Frage, wie Frauen und Männer gemäß der zitierten Angaben über Wohnraum- und Kalorienzuweisung das Leben für sich und ihre Familien/Alte/Kinder/Kranke gemeistert haben.
Sicherlich waren sie nicht alle Heldinnen des Mutes, der Phantasie und der Autonomie. Millionen von Frauen - und um deren Geschichte ging es in unserem Projekt - konnten aber :zumindest phasenweise und größtenteils unbewußt den Töchtern eine Kompetenz vermitteln, auf die sie sich als Frauen positiv und kritisch beziehen können.[38] Die Frage, wie sich die Frauenideologie der 50er Jahre auf diesen Prozeß auswirkte, haben wir allerdings bisher nicht gestellt.
Die Frauen/Mütter blieben als »mütterliche Hausfrauen« nicht nur Hausfrauen: verschämte Lohnarbeit in Form von Nähen für die Bauern, Zeitungen austragen, Hamsterzüge organisieren, um Nahrung kämpfen, so sah die alltägliche, sorgenvolle Arbeit der Frauen/Mütter aus. In einer Diskussionsrunde unseres Seminars wurde das so geschildert:
- »In Thüringen hat die Mutter sehr viel für die Bauern genäht, sie hatte einen Schnitt für Pantoffeln, die von den Bewohnern sehr geschätzt wurden. Sie konnte aus allen Resten noch Pantoffeln schneiden und bestickte diese mit Blümchen. Meine Mutter hatte natürlich früher - als in der Großstadt aufgewachsen - nicht viel Ahnung von Gartenbau, wir hatten also so einen kleinen Garten dahinter, also der gehörte natürlich meiner Großmutter, aber teilweise durften wir ihn mitbebauen. Wir haben alles mögliche an Pflanzen angebaut mit mehr oder weniger Erfolg. Und was wir eben auch wie alle in der damaligen Zeit gemacht haben, war eben Stoppeln, Ähren nachlesen, und dann natürlich alles, was eben auch nur annährend zum Essen zu gebrauchen war.« (Frauenstudienfrau)
Kaninchen und Hühner wurden auf dem Balkon gehalten als spätere Braten.
Eine Frau berichtet:
- »Die Mutter war von den Kaninchen geklaut. Meine Mutter zog die kleinen Kaninchen mit Hilfe von Flaschennahrung auf. Aromafläschchen mit Plastikschnuller hat die Mutter dazu gebraucht« (Frauenstudienfrau).
Über die Entfremdung zwischen Familienmitgliedern denken die Frauen heute als »Erwachsene« nach. So hat die jüngste Schwester den heimkehrenden Vater nicht freudig, sondern eifersüchtig begrüßt.
- »Mein Vater kam ja magenkrank aus dem Krieg zurück und meine Mutter hat ihm natürlich alles zugeschustert wie nur was. (...) Meine Schwester ist im Juli 1939 geboren und mein Vater ist sofort zu Kriegsbeginn eingezogen worden und dann haben sie sich im Grunde gar nicht gekannt. Mein Vater kam während des Krieges ein paar Mal kurz zu Besuch und war dann sofort wieder weg und als er dann nach Hause kam 1945, da war die M. dann also sechs, da war das für sie ein irgendwo fremder Mann« (Frauenstudienfrau, Jahrgang 1933).
Die Frauen verweisen auch auf die Auswirkungen für das spätere Vater-Kinder-Verhältnis.
- »Und der fremde Mann hat sie dann aus Muttis Bett vertrieben und er kriegte dann immer die besseren Sachen und der wurde bevorzugt und meine Schwester war sehr widerborstig und gehorchte auch absolut nicht bei den Dingen, die mein Vater sagte und die hat heute ein sehr gestörtes Verhältnis zu meinem Vater« (Frauenstudienfrau).
Die vergleichsweise schwierige Rolle der Väter hat bei unseren Seminarteilnehmerinnen verschiedene Hintergründe. Bei der einen ist der Vater sehr viel älter als die Mutter und kränklich, bei der anderen orientiert sich der Vater bald nach seiner Rückkehr an anderen Frauen, ein anderer investiert alle Zeit und Energie in den Beruf. Bei einer anderen bleibt er deshalb im Hintergrund, weil die politische Auseinandersetzung der Tochter insbesondere auf das Verhalten der Mutter im Dritten Reich zentriert war. Bei einer anderen tritt der Vater mehr in der Familie hervor. Die Tochter bewundert noch heute seine große Anständigkeit. Kaum aus dem Krieg zurück, wurde er Leiter des Ernährungsamtes, er führte seine Aufgaben korrekt durch und bevorzugte seine eigene Familie nicht bei den Zuteilungen.
Insgesamt ist jedoch festzustellen, daß die Rolle der Väter für die Töchter bisher nicht aufgearbeitet worden ist. Dahingehend finden wir die aufopfernde Haltung der Mütter belegt in der Studie von H. THURNWALD. Ober Selbstverzicht wurden andere Familienmitglieder, die es nötiger hatten, versorgt. Aber nicht nur das wurde berichtet.
- »Was ich sehr schön fand, ist, wie sehr die Frauen Phantasien entwickelt hatten, um durchzukommen, beispielsweise das Nachthemd, das wir vorhin auf die Leine gehängt haben. Da hab ich mir vorgestellt, was dieses Nachthemd so praktisch erlebt hat. Die Frau, die Stadtfrau, hat ein Bettuch gehabt, hat das verhamstert an die Frau auf dem Land. Da war jetzt eine Flüchtlingsfrau, Evakuierte, die hat daraus ein Nachthemd genäht, so daß drei Frauen von diesem einen Teil profitiert haben. Das war doch praktisch schon solche Produktionsoder Erwerbskette. Und das haben andere aus dem Kursus auch erzählt, die Einsätze gehäkelt haben oder selber genäht haben und dann wieder weiter verhamstert haben. Eine Tante meines Mannes, die eigentlich so 'nen recht hausbackenen Eindruck macht, aber man wird es nicht in ihr vermuten, die hat ganze Hamsterzüge organisiert. Die hat einen Zug gemietet, also so 'n Wagen, Güterwagen, und hat von den Bergleuten die Scheine eingesammelt und hat dann diesen ganzen Zug verhamstert und hat das hinterher auch wieder verteilt an die Leute. Sie hat regelrecht 'nen Großhandel damit gemacht.« (Frauenstudienfrau)
6. Selbständigkeit von Frauen und die »Stellvertretung« der Männer
Wir wollen diese Phase an einem ausführlichen Beispiel und einer typischen Frauenberufsbiographie weiter veranschaulichen. Die Frau, die hier zu Worte kommt, ist 1923 geboren und berichtet in einer Diskussionsrunde mit anderen Frauenstudienfrauen (einige Passagen haben wir zusammengefaßt).
Dezember 1944 bei einem Großangriff auf die Stadt wurde auch die Apotheke, in der X. arbeitete, zerstört. Es war furchtbar kalt, das Wasser war gefroren, die Balken flogen.
- »Und es war keiner da außer mir, d. h. ich hab auch schon immer in der Nacht übernachten müssen dort, damit jemand überhaupt in der Apotheke ist.« Aus der Nachbarschaft haben Leute geholfen, das Wichtigste aus der Apotheke rauszuholen.
»D. h. ich als Praktikantin hab praktisch Anweisungen gegeben, was unbedingt rausgeholt werden muß, damit man nachher noch weiterarbeiten kann.«
Die Frau des Apothekers, deren Mann an der russischen Front war, hat dann alles organisiert, um die Apotheke wieder zu öffnen. Obwohl diese Frau dafür nicht ausgebildet war und es vorher ungern gesehen wurde, wenn die Frauen von Apothekern mithalfen, hat sie mit X. als Praktikantin und 2 Helferinnen innerhalb von 6 Wochen eine Notapotheke aufgebaut.
»Ich hab als Praktikantin, obwohl ich keine Prüfung gemacht habe - denn 1945, als ich die hätte machen sollen, da gab es keine Prüfungskommission mehr - und ich habe dann den ganzen Nachtdienst machen müssen, d. h. also tagsüber arbeiten und, bei uns ging das immer wochenweise - es waren 5 Apotheken, die im Wechsel das immer eine Woche machen mußten, d. h. also, wir haben tagsüber gearbeitet und waren nachts...«
»Also Bereitschaftsdienst?« (Andere Diskussionsteilnehmerin) »Ja, aber, da war was los. Da war nicht nur, daß man saß; denn da gab' s ja kaum mehr was. Für alle Rezepte mußte man alles selber anfertigen, d. h. wenn da Aspirintabletten aufgeschrieben waren z. B., dann mußte man aus dieser Chemikalie, die das Pulver enthält, mußte man soviel Pulver abwiegen, Pülverchen machen, daß die also statt einer Tablette Pülverchen nahmen. Oder wenn die dann eine andere Sorte Tabletten aufgeschrieben hatten, die aus mehreren Bestandteilen existierten, dann mußte ich gucken, was ha 'm wir denn noch da und wie ist das im Verhältnis und wieviel muß ich da nehmen, das mußte dann umgerechnet werden, daß der dann so Pülverchen kriegte und man hat die Pillen davon gedreht.« Frage: »War das schon im Krieg oder danach?"
»Das war erst nach dem Krieg.«
Frage: »Wann hat das aufgehört?"
»Ja, mit der Währungsreform. Das hab ich auch miterlebt, daß alles, was man noch hatte, es gab Spritzen oder so oder was so reinkam, wurde also am nächsten Tag mit DM verkauft. Das ist wahr, das hab ich gesehen. Die Nächte waren ganz schön anstrengend, die Tage auch. Unser Tisch, der lag immer voller Rezepte, ein Rezept neben dem anderen. Da konnte man also, es war Wahnsinn.«
Frage: »Woher gab' s nach 45 die Chemikalien für Tabletten und Pulver?«
»Das waren Chemikalien. Das hat diese Frau (des Apothekers) organisiert, die reiste da überall in der Weltgeschichte und da brachte sie, so irgendwas, was weiß ich, Zinkoxyd mit. Da waren allerdings auch die Apotheken miteinander sehr hilfsbereit. Wenn irgend etwas gefehlt hat, da rief man da überall an: Habt ihr noch 10 Gramm von dem und dem, und könnt ihr uns damit aushelfen? Das hat ganz gut funktioniert.«
Sie war bis auf einen älteren Apotheker eine längere Zeit die einzige, die Tabletten und Pulver zusammenmischen konnte. Die Apothekersfrau hat die Grundstoffe zusammengebracht, die Organisation und die Geschäftsführung gemacht.
- »Ja, da (beim Zusammenmischen der Arzneien) muß man ja fürchterlich aufpassen. Wir haben dauernd gerechnet (...) da gab' s Höchstmengen, die man nicht überschreiten durfte oder so, auch wegen des Risikos, das war wahnsinnig viel. Da mußte dauernd gerechnet werden Es war soviel zu tun, nun ja, und ich hatte ja meine Prüfung nicht, aber das ist kein Vergleich mit, ich hab sie ja nachgeholt, 1946 kam dann wieder die Kommission zusammen, dann wurd' ich angeschrieben.«
X hat dann zwar noch die Prüfung nachgeholt, zum Pharmaziestudium ist sie aber nicht mehr gekommen. Sie hat geheiratet und zwei Kinder aufgezogen. Sie hat während der Ehe immer wieder als Aushilfe in der Apotheke gearbeitet und einen Verein zur Organisation der Interessen von altgeprüften Apothekerpraktikanten mitgegründet. Sie sieht heute vieles mit anderen Augen und würde ihre Interessen als Frau selbstbewußter vertreten, wenn sie wieder in der Situation wäre. Sie sucht heute einen 3. Bildungsweg, um ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Sie hat, wie andere ältere Frauen auch, die Seminare zunächst bloß aus Interesse besucht. Es wurde für sie dann eine Aufarbeitung eines Stücks Lebensgeschichte.
7. Überleben ist nicht genug[39]
Die Stabilisierung der Institution Familie ist der Auflösung ihrer patriarchalen Form in der Endphase des Krieges und der Nachkriegszeit geschuldet. Dieses Fazit kann man aus den familiensoziologischen Studien der frühen 50er Jahre aufstellen.[40] Die Zentrierung der Frauen auf das Überleben und ihre Familie hat das Überleben gesichert, aber die Frauen bezahlten einen hohen Preis. Sie verpaßten eine Chance, heißt es heute vorwurfsvoll. War es das wirklich?
Die übermäßige Anspannung ist die immer wieder geäußerte Erklärung dafür, daß sich zugunsten der Frauen nach '45 doch sehr wenig änderte. Frauen forderten nicht radikal, spektakulär oder demonstrativ ihre politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Ansprüche/Rechte ein. Wie die oben angeführte Arbeit einer relativ unbekannten Frau, M. MOERS zeigt,[41] beharren (vor allem alleinstehende?) Frauen auf ihrem Recht zur Erwerbsarbeit (weil es dazu in der kapitalistischen Gesellschaft keine Alternativen gibt). Sie fordern gleichen Lohn für gleiche Arbeit, leise zwar, aber nachdrücklich. Uns scheint es, daß diese Lohnpolitik das wesentliche Thema der Frauen in der Nachkriegszeit gewesen ist, nicht die freiwillige Zurückdrängung von (verheirateten) Frauen aus der Erwerbswelt. Leistungsbewußt war diese Frauengeneration wohl, aber kurzsichtig, so könnten wir heute formulieren, gleichsam naiv darauf vertrauend, daß sich durch ihr Verständnis für die Probleme der Männer, ihre Nachsicht und Traditionsverbundenheit der Wiederaufbau zum Besseren wenden könne.
Unsere Frauenstudienfrauen können sich an die Ereignisse und die atmosphärische Stimmung der Nachkriegszeit lebhaft erinnern. Sie sehen sich (inzwischen) als die Zukurzgekommenen. Insbesondere ihre Ausbildungs- und Berufsinteressen sind durchweg beschnitten worden zugunsten von Brüdern oder aufgrund der einfachen Verhältnisse. (Daß sie jetzt an der Universität sind, sehen sie aber geradezu als ihr Recht, nicht als Geschenk an. Haben sie insofern doch von ihren Müttern gelernt, nicht nur imitativ, sondern produktiv?)
- »Und dann hatte ich noch eine andere Klassenkameradin, die auch Lehrerin geworden ist. Die hatte damals heiraten müssen, also noch im Krieg, auch einen angehenden Lehrer, der dann eingezogen wurde. Und die ist dann mit dem Kind auf so ein Dorf bei Ulm gekommen und hat da auch nach '45 mit dem Kind weitergelebt als Dorfschullehrerin und wir wollten sie damals besuchen als junge Frauen. Das war abgesperrt von den Amerikanern und wir mußten da über so' ne Brücke gehen und die haben uns da nicht rübergelassen, haben uns also weggejagt, haben das Gewehr auf uns gerichtet, daß wir uns schnell verzogen haben. Und die hat nachher, wie der Mann dann zurückkam, auf ihre Stelle verzichtet. Und er ist dann Lehrer gewesen und sie hat dann ein zweites Kind gekriegt, so üblich, dann war sie wieder zu Hause« (Frauenstudienfrau).
Frage: »War es selbstverständlich, daß die Frauen, als die Männer zurückkamen, ihren Platz räumten?«
»Ich kann mich erinnern, wenn die Männer dann nach Hause kamen, waren alle möglichen Erleichterungen da, weil die ja aus der Gefangenschaft kamen oder im Krieg gewesen waren und Schlimmes ertragen hatten, da wurden wirklich alle möglichen Erleichterungen gemacht, damit die wieder entsprechend reinkamen und die wurden wirklich gefördert und jedes, was man machen konnte von Seiten der Frauen, das hab ich teilweise so miterlebt, da wurde ihnen jeder Stein aus dem Weg geräumt. Die Frauen hatten zwar vorher alles hochgehalten, aber jetzt war der Mann wieder da und der hatte ja zu sagen, und der sagte jetzt, und wenn die längst entschieden hatten und das besser beurteilen konnten, aber er hatte das letzte Wort« (Frauenstudienfrau).
»Also, z. B. wenn man die Geschichte Dortmunds sich anguckt, dann sind die Elemente, daß hier z. B. nicht die Unternehmer, sondern die Betriebsräte in Gang gebracht haben bei Hoesch, daß nicht die großen Bonzen angefangen haben in den Schulen, sondern sozusagen die kleinen verfemten Lehrerinnen versucht haben, über einen demokratischen Unterricht nachzudenken, diese ganze Seite fehlt. Meine Mutter hat mir darüber viel erzählt, und man kann das auch in bestimmten Büchern nachlesen. Aber in diesem Film fehlt das ganz. Irgendwie ist nur noch: Deutschland war dabei, Steine zu klopfen und sich Essen zu beschaffen. So war es doch nicht. Es war doch zumindest so ein Funke von Gedanken der Stunde Null und des Neuanfangs, was nicht nur hieß, eine neue Wohnung, sondern eine neue Gesellschaft« (Frauenstudienfrau).
8. Auseinandersetzung mit der Geschichte nach 1945 und Identitätsfindung in der Gegenwart
Was hat sich für die Frauenstudienfrauen durch die Teilnahme an den Seminaren geändert? Wir haben zu dieser Frage im Anschluß an die Seminare eine Diskussion geführt und aufgenommen.
Am deutlichsten lassen sich Veränderungen im Mutter-Tochter-Verhältnis verzeichnen.
»Was damals (im Zug bei einem Bombenangriff) eigentlich wirklich passieren konnte oder hätte passieren können, hab ich mir damals überhaupt nicht klarmachen können, aber ich kann heute so in etwa nachempfinden, welche Angst meine Mutter damals gehabt haben muß.« (Frauenstudienfrau)
- »Also ich hab unheimlich viel für mich selber gewonnen, ganz persönlich, also jetzt nicht an Faktenwissen, da ist natürlich auch einiges zugekommen, aber das fand ich eigentlich gar nicht mal so gravierend, sondern für mich persönlich jetzt als Entwicklung und Klarstellung im Verhältnis zu meiner Mutter und zu mir selber.« (Frauenstudienfrau, Jahrgang 1933)
»Mir ist es genauso gegangen wie dir, daß ich an meiner Mutter sehr verurteilte, daß sie so obrigkeitsgläubig ist und so ängstlich und sich nie irgendwo so durchsetzt bei etwas höher gestellten Personen (...), das hat mich immer fürchterlich geärgert, aber (...) jetzt durch ihre Erzählungen hab ich erst mal rausgekriegt, daß sie früher gar nicht so dieser ängstliche Mensch gewesen sein kann.« (Frauenstudienfrau)
Die Tochter berichtete weiter von alltäglichen, kleinen Widerstandsaktionen der Mutter gegen die Nationalsozialisten, »irgendwie wird mir das jetzt erst alles bewußt«, daß nämlich die Mutter, die in der Weimarer Zeit geschieden wurde und erst 10 Jahre später wieder heiratete, sich bereits gegen patriarchalische Verhältnisse durchsetzen mußte. (Frauenstudienfrau) Sie berichtete von der gemeinsamen Aufarbeitung eines bisher verdrängten Kapitels der Familiengeschichte mit ihrer Mutter in einem veränderten politischen Kontext. Exemplarisch zeigt sich daran auch die zerstörerische Auswirkung, die eine verfälschte Geschichtsbeschreibung über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus auf die Überlebenden hat. Die Tochter liest der Mutter aus dem Katalog zur Ausstellung »Widerstand in Dortmund 1933-1945« vor, in dem ihr Bruder/Sohn als Edelweißpirat erwähnt wird. Die für die Tochter erschütternde Reaktion der Mutter: »Um Gottes willen, wissen das andere auch?"
Die Tochter erkennt an dieser Reaktion heute, wie schrecklich die Verhaftung des Bruders (als Edelweißpirat) damals für die Mutter gewesen war. Die Edelweißpiraten wurden von den nationalsozialistischen Behörden als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung verurteilt; die spätere Geschichtsschreibung folgte der faschistischen Definition. Die Edelweißpiraten wurden auch noch in den siebziger Jahren nicht als Widerstandskämpfer anerkannt.
Die Mutter glaubte, einen kriminellen Sohn (gehabt) zu haben. Der frühe Tod des Sohnes im Jahre 1946 verhinderte die Aufklärung zusätzlich und tabuisierte das Ganze. Die Aufarbeitung dieses Vorfalles hat erst heute über und mit der Tochter stattgefunden. Mutter und Tochter haben dann gemeinsam die Ausstellung über den Widerstand in Dortmund besucht. Die Äußerung der Mutter dazu: »Das habe ich ja alles gar nicht gewußt.« »Das war (bei der Mutter) so eine ganz eigenartige Mischung aus Betroffensein und Stolz und Freude.« (Frauenstudienfrau)
Eine andere Diskussionsteilnehmerin führt aus:
- »Ja für mich selber hat es eigentlich zunächst einmal gebracht, daß mir klargeworden ist, daß ich während des Krieges und auch in der ersten Zeit nach dem Krieg meine Mutter als sehr starke, sehr aktive und sehr tätige Mutter erlebt habe. Daß mir dadurch auch klargeworden ist, wie sehr meine Mutter sich nach der Rückkehr meines Vaters auch verändert hat (Parallele zu HELMA SANDERS Film). Ich habe während des Krieges immer eine singende Mutter gehabt.« (Frauenstudienfrau, Jg. 1933)
»Was ich an den Anfang stellen möchte, ist, daß ich nach dem Seminar meine Mutter auch mit einem anderen Blickwinkel sehe. Was ich nicht gewußt, gemerkt habe, daß sie eigentlich für sich alleine, ganz alleine so Widerstand betrieben hat gegen den Nationalsozialismus, d. h. sie hat mich beeinflußt.« (Frauenstudienfrau, Jg. 1923)
Die Tochter berichtet, daß ihre Mutter sie - schon in BDM-Uniform an der Tür, die Freundin wartete bereits - beschworen habe, den Eid beim Eintritt in den BDM (Bund Deutscher Mädel, Zwangsmitgliedschaft für jedes Mädchen ab 1936) nicht mitzusprechen. Die Tochter hält sich daran, obwohl sie den Arm zum Schwur schon ausgestreckt hatte. Über die Bitte der Mutter, den Eid beim BDM nicht zu schwören, wird zwischen Tochter und Mutter nie mehr gesprochen.
- »Ich erklär mir das jetzt nachträglich so, daß sie mich einfach bewahren wollte von dem Gewissenskonflikt. Sie war dagegen...« Nachträglich bin ich natürlich unendlich dankbar dafür, daß sie das erstens mal gemacht, daß sie mich also als Kind davor bewahrt hat, obwohl ich natürlich nach außen hin, das ist auch ein Zwiespalt, auf der einen Seite die Uniform getragen hab, auf der anderen Seite aber nicht meinen Eid geleistet hab. Das ist irre, wenn ich mir das heute vorstelle. Obwohl ich es wahrscheinlich vergessen hab, damals. Ich weiß es nicht, vielleicht auch nicht.« (Frauenstudienfrau, Jg. 1923)
Als der BDM in die NSDAP überführt werden sollte, hat die Mutter dann dieses Mal der Tochter - wiederum in Gegenwart der Freundin regelrecht verboten, an dem feierlichen Akt teilzunehmen, was ein erhebliches Risiko bedeutete. »So bin ich durch das Eingreifen meiner Mutter damals nicht in die Partei gekommen.« (Frauenstudienfrau, Jg. 1923)
Identitätsfindung in der Gegenwart durch Aufarbeitung von Frauengeschichte bedeutet in diesen Fällen eine Re-Interpretation des Mutter-Tochter- Verhältnisses über den persönlichen Rahmen hinaus.
Viele widerständige Handlungen der Mütter werden nun mit Sympathie von den Töchtern entdeckt und nachgezeichnet. Es kommt zu einer partiellen Versöhnung und Anerkennung der Mutter.
Daß dieses jetzt in dieser Phase der Tochterbiographie geschieht, ist einem Perspektivenwechsel auf die Zeit zu verdanken. Die Töchter schlüpfen in einen »role-taking«-Prozeß in die Lebenssituation der Mutter damals.
Sie sind ja nun in der gleichen oder noch älteren Lebensphase als ihre Mutter damals. Jetzt verstehen sie ihr blindes Vertrauen auf sie als ein kindliches, sehen gleichzeitig das Angst-Verheimlichen ihrer Mutter und können neue Deutungen finden, z. B. über die private Distanz der Mutter gegenüber dem Nationalsozialismus.
Uns ist bewußt, daß es einer weiteren theoretischen Klärung der Frage bedarf, was die Re-Interpretation des Mutter-Tochter-Verhältnisses für die individuelle und kollektive Identität der Frauen bedeutet. Uns ist auch bewußt, daß an dieser Stelle eine Vielzahl von problematischen Fragen auftaucht, die wir bisher nicht diskutiert haben, z. B.:
- Was bedeuten solche biographischen und zeitgeschichtlichen Rekonstruktionen für diejenigen Frauen, die ihre Mütter im Krieg und in der Nachkriegszeit als schwach erlebt haben, die sich nicht auf sie verlassen konnten?
- Was bedeutet sie für die Frauen, deren Mütter den Nationalsozialismus (aktiv) unterstützt haben?
- Was bedeuten sie für die Frauen/Töchter, die unter der bedingungslosen Anpassung der Mütter an die Väter gelitten haben?
Prinzipieller sind noch die folgenden Fragen:
- Wie müßte eine Auseinandesetzung mit den Vätern begonnen werden?
- Wie kann eine Diskussion entstehen, wenn die Mütter/Väter sich ihr beharrlich entziehen, weil sie nicht an die Kriegs- und Nachkriegszeit erinnert werden wollen, weil sie Schuldgefühle haben?
- Wie kann Frauen die Bedeutung der Erforschung der eigenen Biographie und des Zeitgeschehens verdeutlicht werden, die die Vergangenheit - aus welchen Gründen auch immer und sei es zum Schutz - verdrängt haben. »Ach, laßt doch die alten Kamellen.« Auf einer mehr methodischen Ebene liegt die folgende Frage:
- Welche Modifizierungen und Weiterentwicklungen der theoretischen Postulate ergeben sich aus unserem und ähnlichen Projekten?
9. Schluß-Folgerungen
Wir versuchten in diesem Bericht wie auch in unserer Seminararbeit zu signalisieren, daß es uns um die selbstbewußte Geschichte von Frauen geht.Ergibt aber eine Fülle von biographisch erlebten Details ein Frauengeschichtsbild, das begriffen und vorgezeigt werden kann als Dokumentation von alltäglichem Frauenleben und von Frauengeschichte? Gibt es ein kollektives Gedächtnis der Frauen, das mehr oder anderes ist als die Summe individueller Erinnerungen? Ein kollektives Gedächtnis der Frauen als Tradition von Frauenkämpfen der Frauenbewegung gibt es in den verschriftlichten Dokumenten und in den Gestalten der herausragenden Frauen. Insofern ist es leicht abrufbar.
Soweit ist es auch strukturell vergleichbar mit der Geschichte der Arbeiterbewegung.
Aber es gibt unserer Auffassung nach nicht nur diese geronnene Form von Texten, Namen, dokumentierten Ereignissen und Organisationen, die ein kollektives Gedächtnis abbilden, sondern dieses alles basiert auch auf informellen Einstellungen, Handlungen und Bewußtseinsprozessen, die eine gelebte Frauenkultur repräsentieren, in der einzelne Frauen nicht heraustreten, sondern eingebunden bleiben, selbstverständlich handeln, gestalten, bewerten, weitergeben. Unsere gruppen- und prozeßorientierte Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte von Frauen kann zu dieser gelebten Frauenkultur vielleicht etwas beitragen.
Ungeachtet der problematischen und unbeantworteten Fragen lassen sich einige Auswirkungen der Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte für die Frauen nennen, die über den privaten Rahmen der Aufarbeitung der Mutter-Tochter-Beziehung hinausgehen.
Die Distanz zur eigenen Kindheit schafft Nähe und Verständnis zur heutigen Jugend.
- »Für mich hat das ganze aber noch eine andere Auswirkung, nicht nur im Verhältnis zu meiner Mutter. (...) weil ich mir sage, wenn junge Menschen, die ich als liebenswert und gut in Erinnerung habe, wenn sie so kriminalisiert wurden, wie sieht das dann mit der heutigen Jugendbewegung aus? Unsere Stellung zu Punks ..., Hausbesetzern, ist das wirklich so, wie man es in der allgemeinen Öffentlichkeit darstellt, daß man sie kriminalisiert, z. T. doch, oder zumindest ins Abseits drängt, oder haben die uns auch, sagen wir es mal ein bißchen pathetisch, eine Botschaft zu sagen, so wie es die Edelweißpiraten ja auch wohl hatten? Und die wir vielleicht gar nicht verstehen, genauso wie die Menschen es damals nicht verstanden haben.« (Frauenstudienfrau)
Die reflektierte Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte und der persönlichen Biographie erzeugt den Wunsch, diese Erfahrung weiterzugeben und mit und von anderen Frauen mehr über die eigene Geschichte zu erfahren. In diesem Sinn ist Aufarbeiten der Geschichte für die Frauen und uns ein unabgeschlossener Prozeß.
- »Zu diesem kollektiven Erinnern, wenn man sich so gemeinsam erinnert und darüber unterhält, so wie wir jetzt und wie wir es auch im Seminar gemacht haben und wie ich das auch im Seminar in Düsseldorf Ausflug zur Geschichtsbeschreibung bei der G.S. gemacht habe, durch Stichworte von irgend jemand, kommen so ganze Bildserien wieder hoch.« (Frauenstudienfrau)
»Mein Ziel ist aber, daß diese Frauen mehr Verständnis kriegen für das Leben ihrer eigenen Mutter, bessere Beziehungen zu ihrer Mutter kriegen und auch ein Stück ihrer eigenen Geschichte besser verstehen können. Das ist also Ziel des Ganzen, das, was im Grunde auch bei mir herausgekommen ist, das ich also auch weitergeben will an die anderen.« (Frauenstudienfrau)
»Ich hab ja inzwischen auch das Tagesseminar mit dem Frauengesprächskreis gemacht, um das, was ich jetzt hier bei euch gelernt habe, weiterzugeben und von deren Erfahrungen wieder zu hören. Und das war unheimlich interessant. Was ich sehr schön fand, ist, wie sehr die Frauen Phantasien entwickelt hatten, um durchzukommen.« (Frauenstudienfrau)*(*Im WS 1983/84 werden wir ein weiteres Seminar zur Nachkriegszeit durchführen. Titel »Berufstätigkeit und Frauenrolle, unter besonderer Berücksichtigung der Lehrerin.«)
Aus der Vergangenheit lernen, heißt auch, die Zukunft aktiv mitzugestalten. Die reaktivierten Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit und an alle damit verbundenen Ängste führten bei den meisten Frauen zu einem intensiven Engagement für den Frieden. Insofern ist das Private auch politisch geworden, und die Erkenntnis, daß Geschichte nicht nur erlitten wird und nicht naturwüchsig passiert, geht über in den Prozeß, Geschichte zu machen.