Alleine war's schwieriger und einfacher zugleich

Veränderung gesellschaftlicher Bewertung und individueller Erfahrung alleinstehender Frauen in Berlin 1943-1955

Krieg Krieg
Krieg Krieg
Krieg Mal
Ja krieg mal 44/45 ne Frauengemeinschaft
Krieg Krieg
Ja krieg mal in den 50ern nen Mann
Krieg Krieg
Krieg Mal

W A S
(Thea Schwarz)

Einleitung

»Die Frau der Nachkriegszeit« hat es nicht gegeben. Zwar waren alle Frauen gleichermaßen den Auswirkungen des Krieges ausgeliefert, davon betroffen waren sie jedoch in unterschiedlicher Art und Weise.
Mit einer spezifischen Gruppe, den »alleinstehenden Frauen«, wollen wir uns im folgenden näher befassen und versuchen, das kollektive Schicksal dieser Gruppe herauszuarbeiten.
Der Begriff »alleinstehend« kennzeichnet heute Frauen, die ohne Mann leben, d. h. entweder ihren Mann verloren haben, keinen Partner fanden oder nicht heiraten wollen.
Sowohl die gesellschaftliche Bewertung der »Alleinstehenden« als auch die gesellschaftliche Norm von Ehe und Familie bringt der Begriff »alleinstehend« zum Ausdruck: Wenn Frauen nicht verheiratet sind, suggeriert die Definition »alleinstehend«, sie seien alleine. Auch die soziologische Begriffsbildung, die eher auf die Familienform abhebt, spiegelt das normative Gefüge der Gesellschaft. Hier werden die alleinstehenden Frauen als unvollständige Familien gefaßt, während die Vollständigkeit der Familie durch die Zusammensetzung von Mann, Frau und Kindern definiert wird. Alleinstehende, respektive »unvollständige Familien« erscheinen auch hier eher als Abweichung von der Norm.
Schon in den 20er und 30er Jahren war gerade Berlin eine Stadt, in der viele alleinstehende Frauen lebten. 1939 zum Beispiel kamen auf 1000 Männer 1189 Frauen, weit mehr als im Reichsdurchschnitt. Der »Männermangel« erreichte seinen Höhepunkt jedoch erst in den Nachkriegsjahren. 4 Millionen deutscher Soldaten waren im Zweiten Weltkrieg gefallen, 6-7 Millionen befanden sich bei Kriegsende in Gefangenschaft.
Auf 1000 Männer wurden 1945 in der Berliner Bevölkerungsfortschreibung 1717 Frauen registriert. Noch 1950 waren die Frauen weit in der Überzahl: auf 1000 Männer trafen dann 1353 Frauen. 1950 hatten über ein Drittel aller West-Berliner Haushalte einen weiblichen Haushaltsvorstand. Dieses Verhältnis blieb während der 50er Jahre konstant.[1]
Gerade in der Altersgruppe ab 30 Jahren war die Frauenmehrheit bzw. der »Männermangel« besonders gravierend. Noch 1959 wurden in West-Berlin in der Altersgruppe der 30- bis 40-jährigen auf 1000 Männer 1474 Frauen gezählt. Mit zunehmendem Alter vergrößerte sich diese Differenz noch. Bei den 65-jährigen und älteren waren es 1872 Frauen gegenüber 1000 Männern (im Vergleich dazu kamen in der BRD auf 1000 Männer 1124 Frauen). Auch heute noch leben in West-Berlin viele »alleinstehende« Frauen: von der halben Million Menschen, die älter als 60 Jahre sind, sind zwei Drittel Frauen.
Im folgenden wollen wir versuchen nachzuweisen, daß der soziale Status der Alleinstehenden im Verlauf der 40er und 50er Jahre einem Wechsel unterworfen war, der den gesellschaftlichen und sozialen Wandel dieser Jahre beispielhaft widerspiegelt. Als die Männer überwiegend an der Front waren und die Frauen dadurch zwangsläufig »alleinstehend« die Arbeit bewältigen mußten, wurde dieser Status nicht negativ belegt. Erst mit der allmählichen Rückkehr der Männer aus der Gefangenschaft und der endgültigen Wiederherstellung der familiären und gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen wurden die »Alleinstehenden« zu einer devianten Gruppe mit all den negativen Implikationen, die ein Randgruppendasein ausmachen. Die damit verknüpfte gesellschaftliche Bewertung orientiert sich an dem - im historischen Kontext wandelbaren gesellschaftlichen Leitbild von Ehe und Familie und definiert »alleinstehend« als normale Lebensform oder als Abweichung von der Norm.
Dabei interessiert uns einerseits die Veränderung der gesellschaftlichen Bewertung des Status der Alleinstehenden im Verlauf der 40er und 50er Jahre, andererseits fragen wir nach den Zwängen, unter denen die Frauen standen, den Handlungsspielräumen und den Lernprozessen der Frauen selbst. Brachte die durch die damaligen Verhältnisse erzwungene Selbständigkeit für die Frauen positive Erfahrungen, oder wurde sie eher als negative Ausnahmesituation erlebt? Wie hat die primär von Frauen geleistete Organisation des Überlebens in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, die Erfahrung des Auf-sich-allein-gestellt-Seins das weitere Leben der Frauen beeinflußt? Wie entwickelte sich für Frauen objektiv und subjektiv die »Normalisierung« der Lebensbedingungen, und an welchen Veränderungen des Alltagslebens wurde dies festgemacht? Es geht also darum, das dialektische Verhältnis gesellschaftlicher Bedingungen und subjektiver Erfahrungen deutlich zu machen.
In unserer Vorgehensweise haben wir schriftliches und mündliches Material als Quelle benutzt und miteinander konfrontiert. Einerseits konnte dadurch das Spannungsverhältnis von gesamtgeschichtlicher Entwicklung, also »großer Geschichte«, und individuell erlebter Geschichte herausgearbeitet und andererseits die Ergänzungsbedürftigkeit von erlebter Geschichte und offizieller Geschichte deutlich werden.
Was die schriftlichen Quellen angeht, wurden statistische und demographische Daten Berlins zusammengestellt und zeitgenössische empirische Untersuchungen aus der Familiensoziologie hinzugezogen. Außerdem haben wir fünf Frauenzeitschriften analysiert, um auf der Ebene publizistischen Materials einen Eindruck von der Widerspiegelung der damals relevanten Themen und Probleme zu bekommen. Wir haben für diesen Untersuchungsschritt Zeitschriften unterschiedlicher politischer Couleur vom Zeitpunkt ihres Erscheinens an, 1945/46, bis 1955 analysiert. Es sind dies »die Stimme der Frau«, »Regenbogen«, »Silberstreifen ... .. Frauenwelt«, »Welt der Frau«, »Sie« und »Constanze«. Für die hier interessierende Analyse wurde untersucht, welche inhaltlichen Bereiche, Vorstellungen und Zeitfragen thematisiert wurden, ob eine qualitative und quantitative Veränderung dieser Themen über die Jahrgänge hinweg ablesbar ist, und - wenn ja - welche Veränderungen sich abzeichneten. In welchem Umfang wurden spezifische Themen dargestellt, wie war die Verteilung von politischen Artikeln im Verhältnis zu Unterhaltung und praktischen Tips für Haushaltsführung, Schönheitspflege, Mode, Kindererziehung sowie Artikeln und Themen der Reklame? Wie wurden die Themen inhaltlich behandelt? Gab es eine veränderte Darstellungsweise von Problemen?
Neben der Analyse dieser schriftlichen Quellengattungen wurden von uns 25 biographische Interviews mit Frauen aus verschiedenen Stadtteilen Berlins (West) durchgeführt. In einem ersten, von uns kaum vorstrukturierten Gespräch erzählten die Interviewpartnerinnen ihre Lebensgeschichte. Danach besprachen wir mit den Befragten genauer die Bedingungen und Spezifika unseres Untersuchungszeitraums und unsere spezifischen Fragestellungen. Wir beleuchteten also einerseits die gesamte Biographie und untersuchten dann schwerpunktmäßig den Zeitabschnitt 1943-1955, um herauszufinden, wie die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen das weitere Leben dieser Frauen geprägt und das Geschlechterverhältnis bestimmt haben. Die Interviews wurden auf Tonband aufgenommen und für die Auswertung vollständig transkribiert.
Für unsere Untersuchung haben wir Frauen ausgewählt, die 1945 alleinstehend waren und in der Folgezeit auch nicht heirateten. Die Frauen wohnten 1945 in verschiedenen Bezirken Berlins und gehörten unterschiedlichen sozialen Schichten an. Das Sample wurde so zusammengesetzt, daß sich vier Gruppen ergaben, die sich an der Altersgliederung und den Lebensbedingungen 1945 orientierten. Die erste Gruppe der Frauen betraf die Jahrgänge 1898-1910. Ihre Kindheitseindrücke lagen vor dem Ersten Weltkrieg, sie erinnern sich bewußt an den Ersten Weltkrieg. Sie waren 1945 zwischen 35 und 47 Jahre alt, waren damals zumeist verheiratet und sind inzwischen verwitwet oder geschieden.
Die zweite Gruppe der Frauen ist zwischen 1911 und 1920 geboren. Sie erinnern sich bewußt an die Zeit der Weimarer Republik. Diese Frauen waren 1945 zwischen 25 und 34 Jahre alt, haben teilweise Kinder. Die dritte Gruppe war 1945 zwischen 15 und 24 Jahre alt, alle waren ledig und hatten noch keine Kinder. Einige heirateten erst in den 50er Jahren, ließen sich aber nach kurzer Zeit wieder scheiden und fast alle bekamen Kinder. Die Frauen aus dieser Gruppe sind 1921-1931 geboren, ihre Kindheitseindrücke stammen aus der Zeit des Faschismus, die schulische bzw. berufliche Sozialisation erfolgte im Faschismus. Die vierte Gruppe war 1945 zwischen 11 und 15 Jahre alt, sie lebten alle bei ihren Eltern. Sie wuchsen in einer männer-, sprich vaterlosen Familie auf, alleinstehend war eigentlich die Mutter. Diese Gruppe ist quasi die Kindergeneration zur ersten Gruppe. Sie ist zwischen 1931 und 1935 geboren, ihre Kindheitseindrücke sind durch den Faschismus, die Kriegs- und Nachkriegszeit geprägt.
Im folgenden soll die Veränderung der Realität und der gesellschaftlichen Bewertung der Alleinstehenden im Zeitraum 1943 bis ca. 1955 aufgezeigt werden. Die ersten drei Abschnitte beschäftigen sich mit den subjektiven Erfahrungen der Frauen und ihrer objektiven Realität. Der vierte Teil untersucht die Spiegelung des gesellschaftlichen Prozesses in zeitgenössischen Frauen- und Familienzeitschriften.
Die Form der Darstellung wurde von uns so gewählt, daß die Lebensumstände der Frauen in den verschiedenen Zeiträumen, so wie sie von ihnen dargestellt wurden und wir sie aufgrund unserer Kenntnisse der historischen Fakten einordnen können, ausführlich beschrieben werden, um auf dieser Grundlage verdeutlichen zu können, warum sich Frauengemeinschaften entwickelt haben, wie und warum diese so lange Zeit überdauern konnten und schließlich, welche Konsequenzen die Wiederherstellung traditioneller Familien und der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung für sie hatte.

1. Frauengemeinschaften konstituieren sich

Da in den letzten Kriegsjahren immer mehr Männer an die Front geschickt und gleichzeitig aufgrund der Luftangriffe zunehmend Frauen ausgebombt wurden, gab es einen ständig steigenden Prozentsatz von Frauen, die alleinstehend waren und obendrein über keine eigene Wohnung mehr verfügten. Sie waren darauf angewiesen, zu Verwandten zu ziehen, unter Umständen auch zu Freunden.
Da in diesen Familien die Männer oft ebenfalls an der Front oder aber außerhalb Berlins im Arbeitseinsatz waren, stellten diese umstrukturierten Haushalte überwiegend reine Frauengemeinschaften dar. Wir wollen im folgenden die allgemeine Situation der letzten Kriegsjahre so, wie diese sich aus der Sicht der von uns interviewten Frauen darstellte, schildern,[2] um die Rahmenbedingungen zu verdeutlichen, unter denen Frauen alleinstehend wurden und sich zu Gemeinschaften zusammenfanden, zusammenfinden mußten. Danach wird über die Frauengemeinschaften selbst berichtet, wobei auch die von uns befragten Frauen wieder zu Wort kommen.
Die Erinnerungen unserer Interviewpartnerinnen an die letzten Kriegsjahre waren geprägt durch die Bombenangriffe auf Berlin. Für alle Frauen, mit denen wir sprachen, bedeutete das Jahr 1943 einen deutlichen Einschnitt im Verlauf des Zweiten Weltkrieges. Während für viele die Kriegshandlungen vorher nur mittelbar durch Radio, Wochenschauen, Feldpostbriefe oder Erzählungen von Fronturlaubern oder unmittelbarer - durch die Lebensmittelrationierungen erfahrbar waren, wurden durch Beginn der alliierten Luftangriffe auf deutsche Großstädte die Gefahren des Krieges am eigenen Leibe direkt spürbar.
Ab Januar 1943 verstärkten die Alliierten Luftwaffen ihre Luftangriffe auf Berlin, die im November 1943 ihren ersten Höhepunkt erreichten. Alle Interviewten erinnerten sich an die Bombardements vom 22., 23. und 24. November, durch die mehrere Wohnviertel, das Regierungs(Diplomaten-)Viertel, wichtige Industrieanlagen und Verkehrsknotenpunkte zerstört wurden. Große Teile von Kreuzberg, Prenzlauerberg, Friedrichshain, Wedding usw. wurden getroffen, 400 000 Menschen wurden obdachlos und mußten in Notunterkünften wie Turnhallen, Schulen und U-Bahnschächten untergebracht werden.[3]
Wegen der zunehmenden Bedrohung der Bevölkerung durch die Bombardierungen wurden ab 1943 - forciert durch den schweren Angriff auf Hamburg im Juli 1943 - die Evakuierungsmaßnahmen auch in Berlin verstärkt. Von Januar 1943 bis Dezember 1944 sank die Zahl der in Berlin registrierten »Versorgungsbevölkerung«, d. h. der Lebensmittelkartenempfänger, von 4,07 Millionen auf 2,82 Millionen. Unter den Evakuierten machten Jugendliche und Kinder etwa die Hälfte aus.[4]
Die drohenden Gefahren des Luftkrieges traf alle Frauen gleichermaßen. Die Mehrheit der Frauen war auf sich selbst gestellt, denn je weiter der Krieg fortschritt und je mehr sich die Lage für die deutschen Truppen zuspitzte, desto mehr Männer wurden an die Front eingezogen. In den letzten Kriegsjahren war es für Frauen deshalb weder ungewöhnlich noch ein soziales Problem, »alleinstehend« zu sein. Allerdings hatten es alleinstehende Frauen besonders schwer. Jeder Angriff bedeutete seelische und körperliche Belastung zugleich. Frau Fischer, Jahrgang 1910, hatte zu diesem Zeitpunkt drei Kinder. Ihr Mann war sofort bei Kriegsausbruch eingezogen worden. Sie berichtete:

  • »Es war so schlimm, die vielen Nächte, in denen es Angriffe gab. Und zu der Zeit war ja mein Mann auch schon gar nicht mehr da, und ich hatte niemanden mehr, der mir hätte beistehen können. Die Kinder hatten solche Angst, die haben nur gezittert. Also, die aus dem Bett zu kriegen, war schlimm. Mein kleiner Sohn stand immer da und zitterte. Er kriegte keine Hosen an, er kriegte keinen Strumpf an. Ich konnte die ja nicht alle drei anziehen. Ich mußte ja sehen, daß wir auch ein bißchen was an Lebensmitteln mit runter nahmen. Wir hatten dann schon jeder so'n Köfferchen. Aber jedesmal mit den drei Kindern runter, das war furchtbar.«[5]

Nach den Angriffen versuchten die Frauen zu löschen, Verwundete zu betreuen, ausgebombte Angehörige unterzubringen und auch noch irgendwie den Haushalt zu organisieren. Zu der Angst kam der zähe Kampf um das tägliche Weiterleben. Der Tod von Angehörigen, die Zerstörung der Wohnung und damit des Hausrats mußten durchgestanden werden. Die Luftangriffe mit ihren Konsequenzen - permanente Verdunkelung, Zerstörung, Lebensgefahr wurden zu Teilen des Alltags. Einige unserer Interviewpartnerinnen schilderten, wie sie sich allmählich an die Bedrohung zu gewöhnen versuchten, um zwischen Fliegeralarm, Entwarnung und Ausgangsverboten ihrer Arbeit nachzugehen. Einige berichteten, daß sie nicht mehr bei jedem Alarm in den Keller gegangen waren. Sie lernten, die unterschiedlichen Gefahren der Phosphorbomben, Luftminen und Stabbomben einzuschätzen und verloren somit auch ein wenig die Angst vor der Gefahr.
Ab 1943 wurden in zunehmendem Maße Wohnhäuser zerstört, der Wohnraum in Berlin wurde immer knapper. Frau Weber, Jahrgang 1909, die mit ihren drei Kindern in der Frankfurter Allee, im jetzigen Ostteil der Stadt wohnte, erzählte:

  • »Im November '43 kamen die großen schweren Angriffe. Zuerst ist der hintere Teil unserer Wohnung zerstört worden, beim nächsten Angriff war die Wand vom Flur weg. Nur eine Stube blieb uns erhalten. Schräg rüber von uns, in dieser Bierfirma, sind über 60 Pferde in den Stallungen bei lebendigem Leib verbrannt. Dann kamen am 23. die ganz großen Angriffe. Wir wohnten in Nummer 39 im Eckhaus, und die ganze Straße runter, Nummer 41 und 43 und so weiter, war alles weg. Leute lagen verschüttet im Keller. Da ist keiner mehr lebend rausgekommen. Nachdem ich ausgebombt war, sind wir dann zu meiner Schwägerin in den Wedding gezogen. Das war ganz schön eng, denn die hatte zwei Kinder, und ihre Mutter lebte auch noch da.«[6]

Auch Frau Neubauer, Jahrgang 1913, berichtete über das Zusammenziehen von Frauen, jedoch in ihre eigene Wohnung:

  • »Mitte '44 zog dann die Hannelore mit ihrer Tochter zu uns, das ist eine alte Schulfreundin von mir. Ihre Eltern lebten in Schlesien, und sie konnte hier - sie war zwangsverpflichtet nicht weg. Ne Zeitlang war noch meine Schwester da, bevor sie sich hat evakuieren lassen. Irgendwie sind wir alle so über die Runden gekommen.«[7]

Viele unserer Gesprächspartnerinnen erzählten, daß sie und auch andere alleine wohnende junge Frauen zu Verwandten zogen. Bestand kein direkter Familienzusammenhang, versuchten ausgebombte Frauen zunächst bei Freundinnen unterzukommen, bevor sie bei Fremden einquartiert wurden. Nur gegenseitige Hilfe konnte den Alltag erleichtern. Frauen unseres Samples berichteten, daß sie sich beim Anstehen nach Lebensmitteln mit Schwestern, Müttern oder Freundinnen abwechselten und Hausgemeinschaften sich gegenseitig informierten, wo es gerade noch etwas zu kaufen gab. Dazu Frau Schmidt, Jahrgang 1929:

  • »Wir waren ja fast nur noch Frauen in dem Haus. Da mußte man sich ja irgendwie unterstützen. Die, die konnten, sind dann losgezogen mit einem Leiterwagen und wollten gucken, ob es irgend etwas zu holen gab. Wenn es irgendwo etwas gab, sprach sich das in Windeseile rum. Und dann kamen sie wieder an mit Tabak oder ein bißchen Mehl oder was sie halt ergattert hatten. Die ganze Hausgemeinschaft war beteiligt. Dann wurde das genau aufgeteilt, jede Familie kriegte soundsoviel. Und, das muß ich sagen, da wurde aufgepaßt, daß auch genau geteilt wurde. Das war aber auch nur so, weil die Mieter zum Teil 20, 30 Jahre in dem Haus wohnten und sich genau kannten.«[8]

Trotz Lebensmittelkarten und Bezugsscheinen wurde die Ernährungssituation von Angriff zu Angriff angespannter: Viele Geschäfte waren zerstört oder von den Besitzern geschlossen worden. Um sich und Angehörige zu versorgen, mußten die Einkaufenden, stundenlang anstehen. Auch Nahrungsmittelzubereitung oder Waschen wurden zu einem komplizierten Vorgang, da Wasser, Gas oder Strom zeitweise ausfielen bzw. - rationiert - nur zur stundenweisen Nutzung verbraucht werden konnten. Dies hieß z. B., daß man nachts aufstehen mußte, um etwas zu kochen, weil gerade da etwas Strom oder Gas verbraucht werden durften. Wenn Leitungen zerstört waren, mußte Wasser oft weit transportiert werden.
Trotzdem zeichnete sich zwischen den Angriffen eine Stabilisierung des Alltags ab, das Leben ging weiter. Unsere Befragten erinnerten sich, daß trotz ständiger Bedrohung mehr Feste denn je gefeiert wurden. Nach der Entwarnung suchte man Verwandte oder Freunde, um zu sehen, wie es ihnen ergangen war, und falls sie überlebt hatten, war dies Grund genug zum Feiern.
Ende April 1945 erreichte die Gefährdung der Berliner Zivilbevölkerung ihren Höhepunkt in der Schlacht um Berlin. Die Rote Armee rückte kämpfend Straße um Straße auf die Innenstadt zu. Durch den Befehl Hitlers waren alle noch verfügbaren Männer, ob 14- oder 65-jährige, zur bedingungslosen Verteidigung der Stadt in den Volkssturm verpflichtet worden. Zum Teil versuchten Frauen Soldaten davon abzuhalten, noch zu kämpfen, verhinderten, daß diese ihre Geschütze vor den Häusern aufstellten, Schützengräben und Barrikaden errichteten. Trotzdem kostete diese sinnlose Verteidigung vielen Tausenden noch das Leben, bevor am 2. Mai Berlin endlich vor den sowjetischen Truppen kapitulierte.
Das Kriegsende bedeutete Aufatmen und Angst zugleich. Die unmittelbare Gefahr durch Luftangriffe und Gefechte war nach der Kapitulation zwar gebannt, doch die Furcht vor Hunger, Bedrohung durch Seuchengefahr und nicht zuletzt durch die Sieger stellte eine neuerliche Belastung dar.
In den Luftschutzkellern warteten Frauen, Kinder und Greise auf den »Feind«. Es gab kaum noch Männer, die sie hätten schützen können. Frauen waren auf sich selbst angewiesen und setzten - so gut es ging alles daran, sich gegenseitig zu schützen und zu unterstützen.
Die Solidargemeinschaften der Frauen waren überlebensnotwendig. Fast alle Interviewpartnerinnen berichteten von diesen Bunker- und Kellergemeinschaften, in denen oft gar kein Mann oder nur einzelne, alte Männer ausharrten.
Frau Döbler, Jahrgang 1910, erzählte:

  • »Wir waren ja nur noch Frauen, junge Mädels, Kinder und Alte im Luftschutzkeller. Wir hatten die Tür, die war aus Eisen, verrammelt, weil wir dachten, daß sie nicht reinkommen. Aber sie haben die Tür aufbekommen. Wir hatten die jungen Mädels, die beiden Töchter von Frau R., so hingelegt, die Mäntel drüber, und dann haben wir uns draufgesetzt. Uns selbst hatten wir gegenseitig Dreck ins Gesicht geschmiert, einfach vom Fußboden, um möglichst verkommen und alt auszusehen, die Kopftücher tief ins Gesicht gezogen und die Kinder auf dem Schoß. Als die ersten reinkamen, haben die Kinder geschrien, auch weil wir sie gekniffen haben, damit sie schreien, aber wir hatten ja alle solche Angst. Was sollten wir tun?«[9]

Die ersten Wochen des Friedens verbrachten Frauen und Kinder in den Kellern. Sie wagten sich in der Regel nur kurz auf die Straße oder in ihre Wohnung und kehrten aus Angst vor russischen Soldaten sofort in die Luftschutzkeller zurück. Für die Mehrzahl der von uns interviewten Frauen waren die ersten Wochen des Friedens bestimmt von der Angst vor Vergewaltigung.
Frauen und Mädchen versteckten sich unter Kohlenbergen und auf Dachböden oder versuchten sich alt und häßlich zu machen. Trotzdem konnte jede von Vergewaltigung betroffen werden. Ihre berechtigte Furcht wurde durch die nationalsozialistische Propaganda, die die »roten Horden aus dem Osten« als brutale Untermenschen beschrieben hatte, verstärkt. Jungen Mädchen und Frauen war zum Suizid geraten worden, wenn es zur Niederlage käme. Für unsere Interviewpartnerinnen stellte Vergewaltigung in diesen Monaten jedoch »nur« eine Bedrohung unter vielen dar. Keine Wohnung zu haben, Hunger, Durst und Seuchengefahr wurden von ihnen als ähnlich furchtbar beschrieben. Unsere Gesprächspartnerinnen betonten, daß es zu den Überlebensstrategien von Frauen gehörte, Vergewaltigungen möglichst undramatisiert hinzunehmen. Sie mußten versuchen, damit genauso fertig zu werden wie mit anderen Problemen auch.
Hinzu kam, daß die Grenzen zwischen Vergewaltigung und Prostitution nach dem Einzug der Westalliierten am 4. Juli 1945 fließend wurden. Diese Einschätzung unserer Interviewpartnerinnen wird durch zeitgenössische Berichte, Tagebüchern und Autobiographien bekräftigt, die berichten, daß Soldaten der Siegermächte Vergewaltigung einerseits mit Brot, Zigaretten, Corned Beef und Schokolade »bezahlten«, und andererseits die katastrophale Ernährungslage Frauen zur Prostitution mit den Siegern zwang, um an Essen und ähnlich wichtige »Überlebensmittel« zu kommen. Außerdem gab es ja auch Soldaten, die den Frauen und Kindern freundlich gesonnen waren.
Berlin gehörte mit zu den am meisten zerstörten Städten. Die Trümmer lagen meterhoch, Gas, Strom- und oft auch die Wasserversorgung waren überwiegend zusammengebrochen, die Kanalisation war zerstört. Das gesamte Verkehrs- und Transportsystem war lahmgelegt. Straßen, Brücken und Eisenbahnlinien waren weitgehend unbenutzbar. Krankenhäuser waren zerbombt, die medizinische Versorgung war größtenteils ausgefallen. Besonders in jenen Stadtteilen, in denen Trinkwasserversorgung und Kanalisation nicht mehr funktionierten, drohte die Ausbreitung von Seuchen wie Typhus, Paratyphus oder Ruhr. Das Bewirtschaftungssystem mit Lebensmitteln war außer Funktion. Es gab kaum noch etwas zu essen in der Stadt. Viele plünderten verlassene Geschäfte oder Vorratskeller, um überhaupt etwas Eßbares zu bekommen.
Bei Kriegsende hatte Berlin nur noch 2,8 Millionen Einwohner. Davon war der überwiegende Teil Frauen. Auf 1000 Männer wurden in der Bevölkerungsfortschreibung 1717 Frauen registriert.[10]
Ein großer Teil der Bevölkerung war teilweise oder auch völlig ausgebombt. Von den nahezu 250000 Gebäuden, die Groß-Berlin 1939 hatte, galten bei Kriegsende 30% als total zerstört und 25% der Häuser als vorerst nicht mehr bewohnbar. 1945 wurde der Wohnraumverlust auf insgesamt 55% geschätzt. Während 1943 15,7 qm pro Einwohner zur Verfügung standen, waren es im Herbst 1945 nur noch 9,8 qm pro Person, wobei Flüchtlinge bei dieser Berechnung nicht mitgezählt wurden.[11]
Viele hatten kein Dach mehr über dem Kopf, waren in andere Wohnungen einquartiert worden oder hausten in Kellern oder Ruinen. Die Wohnraumnot zwang viele, auf engstem Raum zusammenzurücken. Waren schon während der letzten Kriegsjahre viele Frauen zusammengezogen, verstärkte sich diese Tendenz in den ersten Wochen des Friedens nochmals, weil Frauen mit ihren Kindern aus der Evakuierung in die Stadt zurückkehrten. So berichtete Frau Ostrowski, Jahrgang 1921, die nach Kriegsende mit ihrer kleinen Tochter wieder nach Berlin kam:

  • »Und dann bin ich hier nach Berlin gekommen. Die Wohnung war fast völlig zerstört. Die Tür hing aus den Angeln und dahinter riesige Schutthaufen. Die ganze Decke im Flur war heruntergebrochen. In den Zimmern sah es ähnlich schlimm aus. Die Fensterscheiben waren natürlich alle völlig zerstört. Im Wohnzimmer fehlte eine ganze Ecke. Da bin ich dann erst mal zu meiner Schwester nach Neukölln. Sie hatte eine Einzimmerwohnung, eine Einzimmerwohnung mit Außentoilette. In dem Zimmer schliefen in dem einen Bett meine Schwester und mein Schwager und in dem anderen Bett meine Tochter und ich. Und in der Küche stand auch ein Bett, und da schlief die Mutter von meinem Schwager. Ja, so haben wir gewohnt, aber wir waren froh, daß wir ein Dach überm Kopf hatten.«[12]

Frauenhaushalte stellten also eine zwangsläufige Konsequenz der Kriegs- und Nachkriegssituation dar, die nicht gewünscht oder geplant waren, sondern aus der Not der Stunde resultierten. Frauenhaushalte waren in den letzten Kriegsjahren und in der unmittelbaren Nachkriegszeit keine Ausnahme, sondern die Regel. Sie blieben es auch in den ersten Jahren der Nachkriegszeit. Vor allen Dingen bedeutete das Zusammenleben, daß sie , obwohl alleinstehend - entgegen den Erwartungen, die der Begriff weckt -, nicht allein waren, Sie hatten zwar keinen Ehemann, lebten aber mit Kindern, Müttern, Schwestern, Schwägerinnen, Großeltern oder auch Freundinnen zusammen.

2. Frauengemeinschaften sichern das Überleben

Auch in den ersten Nachkriegsjahren blieben Frauenhaushalte bestehen. Dies lag daran, daß sich für die Zivilbevölkerung, insbesondere für die Frauen, die Situation in mancher Hinsicht nicht viel anders darstellte als in den letzten Kriegsjahren. Männer waren nach wie vor nicht da, der Wohnraum in Berlin war zum großen Teil zerstört. Darüber hinaus erwies es sich wegen der sich noch verschlechternden Versorgungslage als notwendig, in Solidargemeinschaften zu leben, denn ohne Hamstern, Subsistenzwirtschaft oder Schwarzmarktgeschäfte war das Überleben kaum möglich. Bis zum Ende der Blockade im Mai 1949 blieb die Ernährungs- und Versorgungslage Berlins das größte Problem für die Bevölkerung. Das Lebensmittelbewirtschaftungssystem aus den Kriegstagen wurde von den Alliierten beibehalten, lediglich die Modalitäten der Zuteilung wurden im Mai 1945 geändert und fünf Berechtigungsgruppen eingeführt: Gruppe 1 umfaßte Schwerarbeiter (das bedeutete eine Zuteilung von 900 g Fett für einen Monat), Gruppe 11 Arbeiter (450 g Fett), Gruppe 111 Angestellte (300 g Fett), Gruppe IV Kinder (600 g Fett) und Gruppe V die »sonstige Bevölkerung« (210 g Fett).[13] Zu dieser »sonstigen Bevölkerung« zählten Rentner, Hausfrauen und Hausangestellte, die die geringsten Rationen bekamen.
Für die Frauen bedeutete die Beibehaltung des Bewirtschaftungssystems im Grunde genommen nur die Fortsetzung ihrer schon im Krieg praktizierten Arbeitsabläufe: Sie standen weiterhin an und versuchten zusätzlich, Nahrungsmittel herbeizuschaffen. Stundenlanges Warten vor Lebensmittelläden gehört zu den Erinnerungen all unserer Interviewpartnerinnen. Schlange stand man aber auch vor Behörden und Ämtern, um Ausweise, Atteste, Erlaubnisscheine und vor allem Bezugsscheine und Lebensmittelkarten zu bekommen. Der Arbeitsalltag der Frauen der Nachkriegszeit unterschied sich von dem der Kriegstage nur graduell: Während des Krieges gab es eine einigermaßen gesicherte Versorgung, aber Bombenangriffe; nach Kriegsende gab es zwar keine Bombenangriffe mehr, dafür aber eine schlechtere Versorgung. Für die Bezugsscheine bekam man - im Unterschied zur »noch gesicherten« Versorgungslage während des Krieges - oft nichts zu kaufen. Die Lebensmittel - und notwendigste Konsumgüterversorgung hatte sich im Frieden bedeutend verschlechtert. Die spezifische Situation Berlins - erst durch den Einmarsch der Russen, dann durch die Politik der vier Besatzungsmächte bestimmt zu werden - prägte die Lage der Bevölker-ung entscheidend. Die Versorgung in den vier Besatzungszonen entwikkelte sich unterschiedlich: Im amerikanischen Sektor war sie etwas besser als im russischen oder französischen, die Bevölkerung war jedoch auch hier unterernährt. Plünderungen durch die Sieger, Demontage, Sperrung der Konten, Beschlagnahme von Wohnraum und Hausrat hatten große Teile der Bevölkerung noch zusätzlich materiell geschwächt. Gerade in den kalten Wintern spitzte sich die Lage empfindlich zu. Viele Berliner verhungerten oder erfroren in unbeheizbaren Wohnungen. In den Wintermonaten 1945/46 und 1946/47 starben weit mehr Menschen als in den Sommermonaten.[14]
Die Sicherung des Überlebens war fast ausschließlich Frauenarbeit, nicht geplant oder gewollt, sondern zwangsläufig, denn viele Männer befanden sich in Gefangenschaft. Darüber hinaus übernahmen es Frauen, den Wiederaufbau einzuleiten - sei es, daß sie als Trümmerfrauen an die Beseitigung der Kriegsschäden gingen, sei es, daß sie an der Wiederherstellung der zerstörten Infrastruktur arbeiteten. Was die Existenzsicherung ihrer Familien betrifft, entwickelten und praktizierten Frauen unterschiedlichste Überlebensstrategien. Sie stellten die Versorgung durch Schwarzmarktgeschäfte, Gemüseanbau, Kleintierhaltung, Hamstern oder auch durch Lohnarbeit sicher.
Die Zuteilung von Lebensmittelkarten wurde davon abhängig gemacht, daß man über Wohnraum verfügte und ständig in einem Bezirk lebte. Ab 29. Mai 1945 regelte zusätzlich eine Verordnung, daß sich Männer und Frauen im erwerbsfähigen Alter bei den Bezirksämtern zu melden hätten. Bei Umgehen der Meldepflicht drohte der Entzug von Lebensmittelkarten.[15] Durchgesetzt wurde der Erlaß mit entsprechenden Razzien der Polizei. Sie griff »Arbeitslose« beim Anstehen auf den Straßen auf und brachte sie zum Arbeitsamt oder gleich zu entsprechenden Arbeitsplätzen.
Die Verknüpfung von Meldepflicht und Lebensmittelkarten zwang Frauen zur Erwerbsarbeit. Denn sie wurden, waren sie Hausfrauen und Mütter, als nicht erwerbstätige Frauen eingestuft und bekamen somit die sogenannte Hunger- oder Himmelfahrtskarte.[16] So mußten viele Mütter erwerbstätig werden, um in eine bessere Versorgungsgruppe zu gelangen.[17] Der Lohn war dabei nicht das Entscheidende, denn das Geld verlor ständig an Wert. Oft konnten von den geringen Monatslöhnen ein Berliner Durchschnittseinkommen lag in den ersten Nachkriegsjahren zwischen 200 und 300 Mark - nicht einmal die behördlich garantierten Lebensmittelrationen bezahlt werden, ganz zu schweigen von den zusätzlich benötigten Lebensmitteln, Kleidung, Möbeln und Hausrat usw. Gerade erwerbstätige Frauen hatten kaum Zeit zum Hamstern, Sammeln oder Tauschen. »Alleinstehende« Frauen konnten nur dann berufstätig werden, wenn ihnen andere Frauen einen Teil der Hausarbeit, insbesondere die Versorgung und das Großziehen der Kinder, abnahmen. Gerade jene Frauen, die keinen Einfluß auf ihre Arbeits- und Zeiteinteilung hatten, waren auf die Arbeitsteilung mit ihren Müttern, Schwestern oder Tanten angewiesen. Oft übernahmen die Jüngeren den nach außen orientierten Teil des Erwerbs (Schwarzhandel, Lohnarbeit, Hamsterfahrten), während die Älteren die eher hauswirtschaftlichen Arbeiten, Sammeln, Ausbessern etc. erledigten. Besonders wenn kleine Kinder vorhanden waren und die Mutter außerhäusig lohnarbeitete, war eine Arbeitsteilung innerhalb der Gemeinschaften zwingend. Dies zeichnete sich als durchgängige Tendenz bei allen von uns befragten Frauen ab. Als sehr typisches Beispiel hierfür kann Frau Ostmeier, Jahrgang 1920, gelten:

  • »In der Zeit, in der wir zusammen arbeiteten, hat meine Schwester den Verkauf gemacht, und ich hab die handwerklichen Sachen gemacht. Und meine Mutter, die war eben im Haushalt und hat sich auch so für die wirtschaftlichen Dinge interessiert, aber die Aufteilung der Geschäftssache war so. Und als meine Schwester dann einen Mann kennenlernte, hat sie sich eben etwas gelöst aus unserer Gemeinschaft. Zu dieser Zeit habe ich dann aber schon ein Geschäft, ein größeres Geschäft, aufgemacht und habe noch Waren dazugenommen.«[18]

Daneben gab es jedoch auch viele Tätigkeiten, die gemeinsam durchgeführt werden mußten, wie z. B. Stubben* (*Baumstumpf) roden, Gartenarbeit, Instandsetzungsarbeiten in den Wohnungen usw.
Eine Reihe von Frauengemeinschaften befaßte sich auch mit der für die damaligen Zeiten lukrativsten Form der Erwerbstätigkeit, nämlich selbständig Güter oder Waren herzustellen, um sie zu verkaufen oder als Tauschobjekte zu nutzen. Viele Frauen, die durch konkrete Umstände Gelegenheit dazu hatten, produzierten selbstständig. Wir haben Frauen in unserem Sample, die begannen, Schuhe herzustellen und gegen Naturalien oder andere Artikel einzutauschen. Die fabrizierten Gegenstände wurden gar nicht erst in Geld bemessen, sondern schon vorher in Lebensmittel oder Zigaretten umgerechnet. Unsere Interviewpartnerinnen bewerten dies auch heute noch rückblickend als sinnvoller als reinen Lohnerwerb und auch als gewinnbringender als Waren gegen Geld zu tauschen, da die Kaufkraft des Geldes bis zur Währungsreform sehr beschränkt war.
Die Möglichkeiten selbstständig zu produzieren, schienen unbegrenzt, da es fast an allem mangelte. Wir sprachen mit Frauen, die aus Abfallstoffen Puppen für die Alliierten nähten, aus aufgeribbelter Wolle Strümpfe strickten und tauschten, Schuhe herstellten oder aus alten Kleidern und Militärstoffen neue Kleidungsstücke nähten. Frau Schmidt, Jahrgang 1929, z. B. erzählte, wie sie mit ihrer Schwester zusammen Puppen herstellte:

  • »Mein Vater war gelernter Sattler, der konnte nichts liegen sehen und hatte so'n Autositz. Das Werg, das da drin war, das hatten wir auf dem Boden. Und dann hat sich meine Schwester Reste zusammengesucht, man war ja da so erfinderisch. Sie hat dann aus Lappen wunderhübsche Puppen genäht für Spielwarengeschäfte. Da haben sich die Geschäftsleute drum gerissen, weil sie das wirklich sehr schön gemacht hat. Aus Trikotstoff, früher waren ja die Seidenstrümpfe aus Trikot, so helle, fleischfarbene, für die Arme und die Fingerchen. Und ich bin dann immer noch mit auf den Boden gegangen, dann haben wir die Puppen ausgestopft mit diesem Werg. Also, da wurde jeder Schnipsel für die Puppen gebraucht. Auch Tiere hat sie gemacht, wirklich allerliebst. Ich hab ihr eben geholfen. Und meine Mutter auch. Zu zweit oder zu dritt haben wir mehr geschafft. Also, wenn wir dann zehn Puppen in der Woche genäht haben, war das viel, aber wir mußten dann praktisch Tag und Nacht dafür arbeiten. Na, was sollte man machen, wenn Kinder Hunger haben. Da war der Sohn meiner Schwester gerade mal zwei oder drei Jahre. Der rannte mit seinem Teller durch die Wohnung: Mutti, kocht Mittag!, sagte der morgens schon. Mit dem Puppennähen konnten wir uns über Wasser halten. Die Puppen haben wir auch gleich gegen Nahrungsmittel eingetauscht. Abends haben wir dann immer gerechnet, jetzt haben wir soundsoviel Puppen, das gibt soundsoviel Brot oder Butter oder Süßstoff oder so. Die Puppen wurden gleich umgerechnet, das ging dann so Tag und Nacht.«[19]

Viele der produzierten Güter wurden direkt auf dem Schwarzmarkt eingetauscht. Zu den berühmten Schwarzmarktzentren in Berlin gehörten der Tiergarten oder der St.-Georg Kirchplatz am Alex. 1948 erbrachte ein Paar Lederschuhe auf dem Schwarzen Markt ca. 1500 Reichsmark oder zwei Pfund Butter (560 RM), zwei Pfund Zucker (170 RM), eine Flasche Speiseöl (300 RM) und ein Pfund Kaffee (500 RM)[20] ein Vermögen für damalige Verhältnisse. Wer also Gegenstände produzierte oder Sachen gerettet hatte, konnte Stück für Stück auf dem Schwarzmarkt in Lebensmittel »verwandeln« und so dem Hunger eher entgehen als z. B. Flüchtlinge oder Ausgebombte. Schwarzhandeln erwies sich als mühsam und gefährlich, oft aber stellte es die einzige Möglichkeit dar, die Familie über Wasser zu halten. 1947 betätigten sich nach Schätzungen nahezu 85% der Berliner Bevölkerung auf dem Schwarzmarkt. Der illegale Handel jener Jahre wirkte sich negativ auf die Versorgung der Bevölkerung aus; es kam zu Engpässen, da die Waren aus den offiziellen Verteilungswegen abgezweigt wurden. Deshalb versuchten Militär und Polizei das Handeln auf dem Schwarzmarkt zu unterbinden, allerdings trotz riesiger Polizeiaufgebote und Razzien mit wenig Erfolg. Die Not war zu groß, als daß man sich durch polizeiliche Sanktionen davon abhalten ließ, auf diese Weise etwas für den Lebensunterhalt zu »organisieren«. Die großen Schieber wurden nur selten gefaßt, da sie die tatsächliche Arbeit Mittelsleuten überließen. Auf diesen unteren Ebenen des Schwarzhandels traten oft Frauen in Erscheinung. Für alles und jedes gab es eine sogenannte »schwarze« Frau mit einer Spezialisierung, z. B. für Rasierklingen, Haferflocken oder Seife. Diese »kleinen Fische« wurden eher ertappt als die »großen« und wegen irgendwelcher Kleindelikte empfindlich bestraft. Frau Hildebrandt, Jahrgang 1912, z. B. zählte zu den besonders »geschäftstüchtigen": sie wickelte auch überregionale Geschäfte ab. Nach 1945 lebte sie zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter in Spandau, Vater und Großvater waren gefallen:

  • »Es wurde ja damals in Berlin mehr geschoben, als es öffentlich zu kaufen gab. Und so allmählich kriegte ich dann auch Verbindungen. Ich hatte da eine nach Leipzig mit Süßstoff. Da konnte man dann tauschen. Wenn man Süßstoff hier hatte, hatte man wieder einen anderen Artikel gekriegt. Allmählich sprach sich das rum: der macht da mit, der macht da mit. Dann gab es ja verschlüsselte Anrufe. Wir hatten ja verhältnismäßig zeitig Telefon. Und wenn einer Leberwurst anzubieten hatte, dann war es Bindfaden und so. Sie konnten ja die Sachen auch nicht offiziell machen. Und etwas hat man dann nachher immer gekriegt. Ich hatte meine Mutter noch mit eingeschaltet. Die ist für mich auch einmal nach Leipzig gefahren, nach Süßstoff. Und dann landete der Bus auf dem Polizeipräsidium von Leipzig. Meine Mutter hatte aber den Süßstoff im Ärmel, über'm Arm den Mantel. Sie hatte kein Gepäck, und sie hat uns erzählt, daß es plötzlich nur noch herrenlose Koffer im Bus gab. Kein Mensch hat sich zu seinem Gepäck bekannt, weil ja überall Schieberware drin war. Aber deshalb war man kein Gangster oder Verbrecher. Das war Selbsterhaltungstrieb. Man durfte nirgends hingehen. Wenn Sie was zu liefern haben, müssen Sie es abholen lassen. Die Hauptzentrale der Süßstoffverkäufer war in der Linienstraße, da unten am Schiffbauerdamm. Die kamen dann hierher und haben den Süßstoff hier abgeholt. Meine Mutter hat dann gesagt: Unterlaß das bitte.' Denn denen hat man die Schieber von weitem angesehen. Die Frauen, die damit gehandelt haben, die sind hier aufgekreuzt in 'ner Schürze, wie heute ne Raumpflegerin unterwegs ist. Die haben den Süßstoff nur so in die Taschen getan, da konnte ihnen ja nichts passieren. Es war natürlich immer gefährlich. Sie waren immer froh, wenn sie die Sachen wieder los waren. Aber erstens hat man ja Zeit gehabt, und wenn man nun dasaß, da kam wieder einer dazu, der hatte nen anderen Artikel, da hat der gesagt: Was kriegen Sie denn manchmal, na, was kriegst du denn manchmal?' Und so hatten Sie nachher einen Bekanntenkreis. Ich hatte zum Beispiel bei Schwarzkopf die Telefonistin. Die hatte ne Schwester, die war in 'ner Zigarettenfabrik. Diese Telefonistin, die war mir schon immer gut gesonnen. Und die hatte nun Zigaretten, und ich hatte nun andere Sachen. Da ging das natürlich bei uns beiden schwunghaft hin und her. Hier, zwei Häuser weiter, der Herr Müller, der hat mir gleich die Zigaretten abgenommen. Der hatte nun wieder andere Sachen. Und so ergab sich das alles. Ich möchte sagen, es war interessant.«[21]
    Zu einer weiteren Form der Sicherstellung des Überlebens entwickelte sich die Subsistenzwirtschaft. Deshalb wurde vom Magistrat zur Verbesserung der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung städtisches Gelände zur privaten Nutzung freigegeben.[22] In den öffentlichen Parks, wie z. B. im Tiergarten, wurden Kartoffeläcker angelegt oder Gemüse, Salat und Kohl gezogen. In Höfen, auf den schmalen Grünflächen zwischen den Häusern und Straßen, auf öffentlichen Plätzen, in den Parks, überall baute man Gemüse an. Zwar waren in Berlin die Möglichkeiten, zwischen den Trümmern Kartoffeln oder Gemüse zu ziehen, wesentlich begrenzter als in den West- oder Ostzonen, aber die wenigen angelegten Gärten verbesserten die Lage spürbar. Auch auf Balkonen wurde in jedem verfügbaren Topf Gemüse oder Tabak gezogen. Viele Berliner züchteten Kaninchen, Hühner und Schweine sogar in Wohnungen. Im April 1946 wurden in über 97000 Berliner Haushalten Hühner, Schweine, Enten, Kaninchen, Schafe, Ziegen und Bienen gehalten.[23]

Als zusätzlich wichtig erwies sich das Sammeln von Eßbarem in Wäldern und auf Wiesen. Junge Farntriebe oder wilder Hopfen konnten zu spargelähnlichen Gerichten verarbeitet werden, aus verschiedensten Wurzeln wurde Gemüse und aus Brennesseln oder Sauerampfer mit hauswirtschaftlichem Geschick schmackhafte Suppen. Neben Kartoffelgerichten in allen Variationen bestimmten die Worte »falsch« und »Ersatz« den täglichen Speisezettel: Kaffee-Ersatz, falsche Butter, falscher Hase, Mehlersatz, falscher Schokoladenkuchen. Frau Krause, Jahrgang 1934, erzählte von dem hauswirtschaftlichen Einfallsreichtum ihrer Mutter, mit der sie in Mariendorf zusammenlebte:

  • »Meine Mutter konnte buchstäblich aus Nichts etwas machen. Die hat uns Leberwurst gemacht aus Mehl und Majoran und Brotaufstrich aus Hefe und Basilikum. Das wurde so etwas mit Wasser angedickt. Das war zwar nichts Kräftiges, aber schmeckte gut wegen dem Gewürz, das sie dazu gesammelt hat. Und aus Kartoffeln hat sie alles mögliche gemacht: Puffer, sogar Brot und Kuchen wurden mit Kartoffeln gebacken. Und dann gab es manchmal Kürbissuppe und sogar die Kartoffelschalen mit ein bißchen Mehl zu 'ner ganz guten Soße. Wenn meine Mutter nicht so erfinderisch gewesen wäre, hätten wir die Jahre bestimmt nicht überstanden. Sie hat für uns Kinder nur gesammelt und gekocht, selber hat sie meist verzichtet. Am Schluß war sie so unterernährt. Sie hat immer verzichtet zugunsten der Kinder. Die Mütter haben sich immer geplagt und haben gehungert.«[24]

Der Rückgriff auf hauswirtschaftliche Kniffe vorindustrieller Zeiten wurde notwendig: Solange es kaum Lebensmittel zu kaufen gab, wurden traditionelle Konservierungstechniken für das wenig Vorhandene Einkochen, Einlegen, Einmachen, Einlagern - überlebenswichtig. Wenn Seife und Waschpulver als Luxus galten, mußte mit Kartoffelschalen, Holzasche, Ochsengalle, Efeublättern oder zerstoßenen Kastanien gewaschen werden.[25] Dies half, die 1945/46 in Berlin verbreiteten Seuchen einzudämmen. »Seifen« stellten die Frauen nach den alten Methoden ihrer Mütter und Großmütter her. Der Zeitaufwand war enorm: Zunächst mußten die entsprechenden »Zutaten« gesammelt und bearbeitet werden. Dies nahm mehrere Stunden in Anspruch. Dann erst konnte mit der eigentlichen Wäsche begonnen werden. Der ständige Kampf gegen den Schmutz schien fast aussichtslos. Weil man ja wenig zum Anziehen hatte, mußte die Sauberkeitserziehung der Kinder noch strenger gehandhabt werden, denn die Einhaltung eines Mindestmaßes an Hygiene mußte angesichts der sich rapide verbreitenden »Schmutzkrankheiten« unbedingt beachtet werden. Das bißchen Kleidung und Wäsche mußte dauernd geflickt und gestopft oder umgeändert werden. Angesichts der Schwierigkeiten, Nähgarn, Stopfgarn oder Wolle zu besorgen, war dies für die Frauen mühsam und erforderte viele Tricks und Kniffe. Frau Maurer, Jahrgang 1913, erinnerte sich noch gut an das Kleidungsproblem. Sie lebte zusammen mit ihrer Mutter in Spandau, ihr Vater war 1948 an den Kriegsfolgen gestorben:

  • »Das Wichtigste war, daß ich diese Militärhosen ergattert habe. Sie konnten Geld haben wie sonst noch was, es gab ja nichts zu kaufen, es gab ja keine Textilien. Da wurden die Schlafdecken eingefärbt, mein Sonntagsmantel war eine schwarz gefärbte Schlafdecke, so ne braune Pferdedecke. Der Mantel war damals ein Vermögen wert. Und ich habe mir Röcke genäht, immer wenn ich mal ein Stück Stoff ergattert habe. Und Röcke, die nicht mehr in Ordnung waren, wurden gewendet und Strümpfe gestopft. Gestopft haben wir eigentlich immer, es war ja ständig etwas kaputt. Und dauernd stehen und waschen und bügeln, es gab ja noch keine Synthetik-Kleidung. Und dann hat man doch auch kein Stopfzeug gekriegt und kein Nähgarn. Das mußte erst wieder organisiert werden. Damals hat man aus allem etwas zu machen gewußt. Nichts wurde weggeschmissen. Ich muß ehrlich sagen, wenn heutzutage die Leute die schönen Stoffe wegschmeißen, das tut mir in der Seele weh. Das ist wahr. Ich will nicht sagen, das machen andere auch. Bloß, wie gesagt, ich schmeiß nichts weg. Es wird alles verarbeitet. Das hab ich noch von damals.«[26]

Als eine weitere Möglichkeit der Nahrungsmittelbeschaffung galt das Hamstern, das jedoch für die Berliner schwieriger war als für die Bewohner der Westzonen. Einerseits fehlten den Berlinern in besonderem Maße die zum Hamstern notwendigen Mittel: Besitz von Tauschwaren, Geld etc., andererseits war das Hamstern in der ländlichen Umgebung Berlins weniger ergiebig als in den Westzonen, da sich die Truppen der sowjetischen Besatzungsmacht - im Unterschied zu den Amerikanern, Franzosen und Engländern - in überwiegendem Maße von den Erzeugnissen der deutschen Landwirtschaft ernährten.[27] Besonders schwierig gestaltete sich das Hamstern in der Zeit der Berliner Blockade. Die Berlin-Blockade brachte der Stadt eine nochmalige Verschärfung der Lebenssituation und bedeutete einen massiven Einschnitt in die politische Entwicklung und vor allem in die Versorgung der Bevölkerung in den Westsektoren. Bereits Ende Juni 1948 begannen die Schwierigkeiten der offiziellen Lebensmittelzufuhren. Ab 1. August brach jeder Verkehr zwischen dem Westen und den Berliner Westsektoren ab. Die amtlichen Lebensmittelzuteilungen konnten nur noch mit Hilfe der Luftbrücke gewährleistet werden. Frauen, die einen Teil ihrer Lebensmittel durch Hamsterfahrten aus dem Berliner Umland »organisiert« hatten, sahen in der Blockade eine einschneidende und massive Verschlechterung ihrer Situation. Sie konnten ihre Hamsterware kaum mehr über die noch schärfer kontrollierten Sektorengrenzen schaffen. Überall mußte man mit Kontrollen rechnen. In der Stadtbahn, an den Ausfallstraßen und sogar auf Nebenstraßen und Feldwegen wurden Razzien durchgeführt. Dadurch stiegen die Preise für Gemüse, Kartoffeln und Obst rapide an. Dies hatte zur Folge, daß sich kaum noch jemand Hamster- oder Schwarzmarktware leisten konnte. Über ihre Erlebnisse beim Hamstern berichtete z, B. Frau Schuhmacher, Jahrgang 1922. Sie wohnte damals mit ihrem dreijährigen Sohn in Charlottenburg. Ihr Mann befand sich noch in Gefangenschaft:

  • »Ja, Geld interessierte die Bauern gar nicht. Ich bin einmal mit meinem Schwager zusammen gefahren. Da haben wir uns abgeschleppt mit Nägeln. Fragen Sie mich nicht, wie wir die hier besorgt haben, es war ja eigentlich alles knapp. Aber die Bauern brauchten Nägel, soundsoviel Zoll lang. Und dann sind wir beide los und haben nach Warnemünde geschleppt. Und dafür kriegten wir dann Mehl oder Kartoffeln. Ich habe einmal 'ne Woche dort auf dem Feld gearbeitet, und für diese Woche bekam ich einen Zentner Kartoffeln. Und den mußte ich ja nun schleppen, den Zentner Kartoffeln, Dann war hier bei Bernau eine Sperre, und da wurden einem die Sachen dann wieder abgenommen. Wir haben es meistens so gemacht: Wir sind durch die Sperre durch und haben irgendwas, meinetwegen Kartoffeln oder Äpfel, was so minderwertiger war, das haben wir oben hingelegt, und unten haben wir die guten Sachen durchgeschoben, mit dem Fuß weitergeschoben. Es war sehr eng und voll, da ging das. Oder viele haben es so gemacht, die haben kurz vor Bernau Leute gehabt, und denen haben sie die Sachen aus dem Fenster zugeworfen. Dann haben die das durch irgendwelche Schleichwege durchgeschleust, und wir sind so durch die Sperre gegangen, hatten nichts. Also daß wir damals nicht verhungert sind ...«[28]

Die genannten Beispiele der Existenzsicherung zeigen, daß die Überlebensarbeit ein komplexes Geflecht verschiedenster Tätigkeiten war. Es erforderte in hohem Maße Einfallsreichtum, Durchsetzungsvermögen, Flexibilität im Einsatz der Mittel und geschickte Arbeitsteilung in der »Familie«, sei es in einer sogenannten »vollständigen« oder in einer Frauengemeinschaft. Die genannten Überlebensstrategien - für sich genommen - konnten in der Regel nicht ausreichen; vielmehr erforderten sie eine Verteilung der Aufgaben in der Gemeinschaft. Dieses »Aufeinander-angewiesen-Sein« stabilisierte die Frauen-Solidargemeinschaften, in denen sich das gemeinsame Schicksal auch zu engen emotionalen Bindungen entwickelte. Besonders für alleinstehende Frauen stellte der Zusammenhalt der Frauen auch über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus einen ganz entscheidenden emotionalen und materiellen Faktor dar. Während Frauengemeinschaften oft gerade dann brüchig wurden, wenn zugehörige Ehemänner oder Väter zurückkehrten (da sich Entscheidungsstrukturen und Machtverhältnisse innerhalb der Gruppen bzw. Restfamilien oder Müttergemeinschaften veränderten), bestanden Frauengemeinschaften bei sogenannten alleinstehenden Frauen längerfristiger. Einige der von uns befragten Frauen haben heute noch engen Kontakt zu ihren damaligen Schicksalsgenossinnen.

3. Frauengemeinschaften im Abseits

Die 50er Jahre brachten für alleinstehende Frauen zwei wesentliche Veränderungen. Durch die Rückkehr der Männer reetablierten sich vollständige Familien, wodurch der Begriff »alleinstehend« überhaupt erst seine spezifische Bedeutung erhielt. Die zweite Veränderung betraf die zunehmende Stabilisierung der Wirtschaft, wodurch Lohnarbeit wieder zur dominierenden Erwerbsquelle wurde. Andere Formen der Existenzsicherung wie Subsistenzwirtschaft, Schwarzmarkt, Hamstern und selbständige Gebrauchswarenproduktion verloren an Bedeutung.
Die Wiederherstellung der Kaufkraft des Geldes durch die Währungsreform verstärkte den Zwang zur Lohnarbeit. Während es in der Zeit des informellen Marktes, auf dem die Zigarettenwährung die Kaufkraft bestimmte, oft lukrativer war, zu hamstern, Gebrauchswarenproduktion oder Gemüseanbau zu betreiben oder aber für den Schwarzmarkt zu produzieren, verloren mit dem beginnenden Wirtschaftsaufschwung diese Erwerbsformen rasch ihre Wichtigkeit. Diese veränderten Bedingungen hatten für viele unserer Gesprächspartnerinnen eine materielle Schlechterstellung gegenüber vollständigen Familien zur Folge, denn weibliche Arbeitskräfte wurden auf dem Stellen- und Arbeitsmarkt der beginnenden 50er Jahre, verglichen mit den Männern, empfindlich benachteiligt. Bei der Vergabe der knappen freien Stellen wurden Kriegsheimkehrer bevorzugt und Frauen entweder nicht eingestellt, oder aber in schlechter bezahlte Tätigkeiten abgedrängt. Hinzu kam, daß Anfang der 50er Jahre die nach dem Krieg ausgesetzten Arbeitsschutzbestimmungen für Frauen wieder eingeführt wurden und diese aus vielen Berufen wieder ausschloß.[29] Die zwischen Männern und Frauen bestehende beträchtliche Lohnungleichheit traf gerade die alleinstehenden Frauen, d. h. oftmals weiblichen Haushaltsvorstände, besonders hart. Frauen verdienten höchstens zwei Drittel dessen, was Männer für die gleiche Arbeit bekamen.[30] Darüber hinaus gab es für sie wesentlich weniger qualifizierte Stellen als für Männer: 1950 gab es nur 1481 weibliche gegenüber 32 447 männlichen Facharbeitern.[31] Verschärfte schon die allmähliche Rückkehr qualifizierter männlicher Arbeitskräfte die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, spitzte sich diese während der Wirtschaftskrise 1950/51 nochmals zu. Die steigende Arbeitslosigkeit 1950 waren es, bezogen auf die Westzonen, über zwei Millionen Arbeitslose - traf besonders alleinstehende Frauen und ihre Angehörigen.
Die Wirtschaftskrise betraf Berlin besonders, da schon während der Blockade und der drohenden endgültigen Teilung zwischen Ost und West eine Reihe von Betrieben die »Insel« West-Berlin verlassen hatte. Mehr als 50 Großbetriebe, darunter Wintershall, Lorenz AG und eine Reihe von Versicherungskonzernen, verließen die ehemalige Reichshauptstadt.[32] Der damit verbundene Verlust von Arbeitsplätzen ließ die Arbeitslosenzahlen in Berlin noch schneller wachsen als in den Westzonen: Im Dezember 1951 waren laut Statistik des Landesarbeitsamts Berlin 260 126 Personen in West-Berlin arbeitslos gemeldet 110 207 Männer und 149 919 Frauen.[33] Die Kombination der Faktoren einer Bevorzugung von Männern bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, deutlich niedrigeres Lohnniveau für Frauen bei gleicher Arbeit, weniger Chancen zu qualifizierter Ausbildung und höhere Arbeitslosigkeit während der Wirtschaftskrise 1951/52, führte dazu, daß für »alleinstehende« Frauen das Wirtschaftswunder nicht in den »goldenen« 50er Jahren stattfand, sondern - wenn überhaupt erst in den 60er, bei einigen gar erst in den 70er Jahren. Für Alleinstehende und ihre Familien bedeutete dies, daß sie wesentlich länger mit äußerst knappen Ressourcen auskommen mußten als sogenannte vollständige Familien mit einem männlichen Haushaltsvorstand. Auch die Witwen- und Waisenrenten, konnten die materielle Schlechterstellung kaum auffangen. Erst 1957 verbesserte sich die Lage der Hinterbliebenen durch die Rentenreform, die rückwirkend zum 1. Januar 1957 eine Erhöhung der Witwen- und Waisenrenten um 80% bewirkte.[34]
In den Schilderungen der von uns befragten Frauen werden die aufgezeigten gesellschaftlichen Tatbestände nur in ihren unmittelbaren Konsequenzen für den eigenen Lebensalltag deutlich. Frau Schuhmacher, Jahrgang 1922, die mit Mutter und ihrem kleinen Sohn zusammenlebte, berichtete, wann für sie das Leben besser wurde:

  • »Das war sehr schwer. Erst einmal habe ich nicht viel verdient, und sonst hatte ich ja nichts. Und das war damals sehr schwierig für mich alleine. Ich habe ein hartes Leben hinter mir, wobei ich sagen muß, seit 1970 geht es mir besser. Es hat so lange gedauert, weil ich ja alleine nur verdient hab. Und der Junge hat ja auch sehr viel Geld gekostet. Solange der zur Schule ging, hat er alle Nase lang etwas gebraucht. Ich war ja nicht zu Hause. Ich habe 1950 wieder angefangen zu arbeiten, und da kam er gerade zur Schule. Das hat alles viel Geld gekostet, und so viel habe ich auch nicht verdient. Und Möbel wollte ich mir auch anschaffen, wir hatten ja nichts mehr, war alles verhamstert. Und mal ein bißchen was Hübsches zum Anziehen, ich war ja eine junge Frau, ich wollte schon ab und zu etwas zum Anziehen haben. Ich kann mich noch gut an meine ersten Nylonstrümpfe erinnern. Die hab ich nur am Sonntag angezogen. Und wenn mal eine Masche gefallen ist, hat man sie selber wieder hochgezogen. Und eh ich mich dann so etabliert habe wie jetzt, brauchte ich noch einige Jahre, Als der Junge dann aus dem Haus war, 1965, ging es besser. Und 1970, das kam hinzu, war mein kleiner Sparvertrag fällig. Doch, das hat mir natürlich sehr geholfen. Ich habe zu einer Zeit gespart, wo ich mir eigentlich nicht die fünfzig Mark mal leisten konnte im Monat. Aber es reizte mich doch zu sehr, das Geld, das ich dann später ausgezahlt bekommen habe. Und dann habe ich gespart und gespart und gespart. Ich bin eben noch aus der Generation, die Darben und Hungern gewöhnt war und den Groschen hat dreimal umdrehen müssen. Das war in den 50er Jahren auch so. Man war ja daran gewöhnt. Das Wirtschaftswunder kam bei mir viel später. Seit 1970 kann ich sagen, bin ich eigentlich aus dem Schneider. Und das ist, Gott behüte, 13 Jahre her.«[35]

Auch für Frau Friedrich, Jahrgang 1923, die mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder zusammenwohnte, wurde das Leben erst ab Mitte der 60er Jahre leichter:

  • »Besser geworden ist es für mich eigentlich erst ab 1965. Mein kleiner Bruder war dann schon aus dem Haus, und meine Mutter lebte nicht mehr. Vorher mußte ich alleine für die beiden sorgen, und so viel verdient habe ich auch nicht. Und dann konnte ich mir auch ab und zu 'mal etwas von meinem Lohn leisten. Aber ich sehe es heute so, um so mehr habe ich mein Leben dann genossen. Also, genießen konnte ich auch nur in einem gewissen Rahmen, aber ich wußte es zu schätzen, absolut zu schätzen. Ab 1970 bin ich dann auch die ersten Male in Urlaub gefahren, das war dann schön. Na, und dadurch, daß ich immer gearbeitet habe, hab' ich natürlich auch heute 'ne ganze gute Rente.«[36]

Teilweise wurde den Frauen aber auch - über den Tatbestand hinaus, daß es ihnen materiell schlechter ging - deutlich, wo die Ursachen für ihre persönlichen Probleme lagen. Frau Wagner, Jahrgang 1922, die ihren Sohn und ihre Mutter versorgte, berichtete über die Diskriminierung bei der Entlohnung in den 50er Jahren:

  • »Ich habe es nicht zu den großen Größen da gebracht, aber ganz gut bis zum Ingenieur. Schwierig fand ich, und darüber habe ich mich ganz mächtig aufgeregt, daß wir Frauen immer weniger Geld verdient haben als die Männer. Ich habe dieselbe Arbeit gemacht wie ein Kollege - nein, nicht dieselbe, sogar 'ne bessere Arbeit. Aber er hat mehr verdient. Er war ein Mann. Das fand ich eine derartige Ungerechtigkeit, und das habe ich meinem Chef dann auch gesagt. Ich hatte ein Kind zu ernähren und hatte noch meine alte Mutter zu versorgen. Und da bin ich dann doch auf die Barrikaden gegangen, weil es so ungerecht war. Und daraufhin, das hat lange gedauert, also, ich habe mindestens zwei oder drei Jahre dazu gebraucht, bin ich dann in die höhere Instanz gegangen, und dann endlich hat es geklappt. Dann war ich ungefähr mit dem Kollegen gleichgestellt.«[37]

Ein anderes Problem, unter dem alleinstehende Frauen und ihre Angehörigen zu leiden hatten, war die auch in den 50er Jahren andauernde Wohnraumnot. Der 1949 einsetzende Bauboom verbesserte die Wohnungslage nur allmählich. Noch 1950 lebte die Hälfte aller Haushalte in Berlin (West) in Untermietverhältnissen, und auch 1955 gab es noch immer Notunterkünfte.[38] Alleinstehende Frauen, die nicht mit anderen Familienangehörigen oder mit einer Freundin zusammenwohnten, hatten es besonders schwer, denn die neu gebauten Wohnungen waren nur für Familien konzipiert. Einer alleinstehenden Frau stand nach Ansicht der Behörden nur ein Zimmer mit Kochnische zu, und diese »Kleinstwohnungen« gab es selten. Der Umzug in einen Neubau blieb für viele alleinstehende Frauen ein Traum. Wie schwierig es sich gestaltete, als alleinstehende Frau zu einer Wohnung zu kommen, beschrieb Frau Ostrowski, Jahrgang 1921. Sie lebte lange Zeit in Untermiete bei einer älteren Witwe, bevor sie endlich eine Wohnung bekam:

  • »So ungefähr 1953 bin ich aus dem möblierten Zimmer raus und hab 'ne Wohnung gekriegt in der Karl-Marx-Straße. Eine Einzimmerwohnung ohne Strom, ohne Gas, mit Außentoilette. Aber ich konnte zuschließen, und es war meins. Ich hab mir dann Strom legen lassen und hab elektrisch gekocht. Die Außentoilette, die konnte ich natürlich nicht ersetzen. Das war so: vorn Hof 'ne Doppeltür, und dann waren Sie in der Küche, und von dort aus mußten Sie drei Stufen hoch, dann waren Sie im Zimmer. Und das Zimmer war unterkellert. Und dann bin ich mal runtergegangen nach dem Keller, und da hab ich gesehen, daß von unten alles abgestützt ist. Das hatte ich vorher nicht gewußt. Das war nämlich eine dieser Notwohnungen, die es damals gab. Aber ich war ja heilfroh, daß ich überhaupt eine Wohnung hatte. Und dann hab ich die Küche, alles neu machen lassen. Aber eines Tages denke ich, Mensch, was ist denn da in der Küche unter dem Bett?' Meine Tochter hat in der Küche geschlafen, und ich habe im Zimmer geschlafen, damit wir beide uns nicht stören. Und da war unter ihrem Bett so ein Pilz. Ich habe mir den ganz sachte abgemacht und in Zeitungspapier gewickelt, und damit bin ich zum Wohnungsamt gegangen. Wie ich da reinkomme, lege ich das Paket mit dem Pilz auf den Tisch. Die Herren haben gleich daran geschnuppert. Das riecht ja so nach Pilz Ja', sag ich, ich hab 'ne Champignon-Züchtung zu Hause.' Und dann habe ich das ausgepackt, und die sind mit dem Ding durch das ganze Wohnungsamt gelaufen. Sage ich: Das will ich aber wieder zurück haben.' Na ja, und dann haben sie mir den Prüfer geschickt. Dann hat der gesagt: Also, wissen Sie, tausende würden Sie beneiden.' Weil ich nun alles hab schön machen lassen. Und dann kam mal so ein Älterer, mit dem habe ich Kaffee getrunken, und wir haben uns unterhalten. Der hat gesagt, er würde versuchen, irgend was für mich zu tun. Das war 1954. Da kriegte ich dann die Wohnung hier zugewiesen. Und seitdem wohne ich hier in der Wohnung. Normalerweise stand mir bloß 'ne Kochstube zu. Eine Frau mit Kind bekam nur eine Kochstube, mit Kochgelegenheit im Zimmer, und dann meistenteils die Toilette auf der Treppe. Und hier hatte ich nun Stube und Küche. Als ich hier die Wohnung kriegte, 1954, das war eine richtige Erlösung. Da hatten noch viele Frauen keine richtige Bleibe. Ich war ganz glücklich. Im September 1954 bin ich hier eingezogen. Ich war die erste Mieterin in dem Haus. Jetzt wohne ich fast dreißig Jahre hier drin. Und langsam konnte ich mir dann Stück für Stück kaufen, als ich mir meine Wohnung eingerichtet habe. Wahrscheinlich hänge ich deswegen so an jedem einzelnen Stück, weil das so zusammengewürfelt ist.«[39]

Alleinstehende Frauen waren in den 50er Jahren nicht nur materiell schlechter gestellt, sondern auch in bezug auf sozialen Status. Die Rückkehr der Männer aus der Kriegsgefangenschaft teilte die Frauen in verheiratete und alleinstehende. Jetzt erst erlangte der Begriff »alleinstehend« seine heutige Bedeutung. In dem Maße, wie sich die Verhältnisse normalisierten, konnte wieder definiert und festgeschrieben werden, was »nicht normal« war. Für Alleinstehende wurde dies zu einer bitteren Erfahrung, denn im Zuge der Wiederherstellung von Ehe und Familie als gesellschaftliche Norm wurden alleinstehende Frauen und ihre Lebensform zunehmend diskriminiert. Frauenhaushalte galten von da an nur noch als Notlösungen für »alte Jungfern« und die, die »keinen Mann abbekamen«. Frauengemeinschaften wurden als »minderwertige« und »wenig erstrebenswerte« Lebensform hingestellt und zur »Notgemeinschaft« deklassiert, obwohl sie von den Frauen selbst, auch ohne das Vorhandensein eines männlichen Haushaltsvorstands, als intakte Familienverbände erlebt wurden. Was vorher kollektives Schicksal einer überwiegenden Mehrheit von Frauen war, wurde nun zum Anlaß der Ausgrenzung und später zunehmenden Diskriminierung derer, die allein, d. h. Witwe oder unverheiratet, waren und blieben.
Diese Veränderung der gesellschaftlichen Bewertung der »Alleinstehenden« scheint uns der Schlüssel zum Verständnis der besonderen Lebensbedingungen der alleinstehenden Frauen zu sein. Trotz ihrer emotionalen Absicherung in ihren »Familien« haben unsere Interviewpartnerinnen unter den spezifischen Diskriminierungen ihrer Lebensform, die oft »nur« in kleinen Unachtsamkeiten ihren Ausdruck fanden, gelitten. Meist waren es »nur« kleine »Nadelstiche«, mangelndes Einfühlungsvermögen und Taktlosigkeiten, die verletzend wirkten.
Teilweise mußten sie allerdings auch massive Einschränkungen ihrer Lebensfreude hinnehmen; oft wurde alleinstehenden Frauen ohne männliche Begleiter das Betreten von Restaurants untersagt. Diese sexistische Ausgrenzung war noch bis weit in die 60er Jahre hinein üblich. Frau Hildebrandt, Jahrgang 1912, erzählte ein anderes diskriminierendes Erlebnis, das sie zusammen mit ihrer Schwester hatte:

  • »Sie werden ja nie bei verheirateten Leuten eingeladen, als Alleinstehender, auch nicht zusammen, nich'. Wir haben da 'mal ein sehr nettes Erlebnis gehabt. Wir fahren ja immer nach Kleinkirchheim in Urlaub, und da war auch ein großer Kreis, der wurde immer größer. Und wir waren natürlich, wie das meistens so ist, mit Längen die Ältesten und trotzdem die Vergnügtesten. Und da hat ein Herr für alle Damen Rosen gekauft, ich weiß nicht, wo der plötzlich die Rosen her hatte, für alle Damen eine Rose, für uns beide zusammen eine. Da habe ich gesagt: Wer kriegt den Stiel, und wer kriegt die Blüte? Der hat das nicht zur Kenntnis genommen. Aber es war auch, weil seine Frau dabei war. Die anderen waren alle verheiratete Frauen, die er mit einer Rose beglückt hat. Aber ich fand das furchtbar, daß wir zusammen eine Rose gekriegt haben. Und immer wieder, wenn die Leute mit Ehefrau sind, dann haben Sie es als Alleinstehende wahnsinnig schwer, nich'. Wenn Sie natürlich in der Runde sind, ist es was anderes. Aber wenn Verabredungen getroffen werden, dann tun sich nur die Ehepaare zusammen. Und übriggeblieben waren dann wir.«[40]

Die Frauen legten sehr wohl Wert auf männliche Gesellschaft. Liebesbeziehungen zu Männern waren ihnen durchaus wichtig. Die Männer erlangten jedoch nur zeitweise einen höheren Stellenwert als die familiären Beziehungen zu anderen Frauen oder den Kindern. Für viele Frauen waren die Beziehungen zu ihren Müttern, Schwestern und/oder Kindern so eng, daß eine Integration von Männern in diese Haushalte schwierig wurde. Die jahre-, oft jahrzehntelang gewachsenen Beziehungen zu den Angehörigen erwiesen sich häufig als der Grund, daß Frauen später nicht mehr heiraten wollten oder konnten. Frau Ostmeier, Jahrgang 1920, die einen kleinen Milchladen hatte und mit Mutter und Sohn zusammenlebte, sah das im nachhinein so:

  • »Na ja, und dann ist es so gewesen, daß ich also dieses Geschäft hatte. Ich hab' mich da ganz wohl gefühlt. Also, mein Sohn war zwei Jahre, als mein Mann starb. Sicherlich hätte eine Frau in anderer Stellung, Mutter mit einem Kleinkind, wieder geheiratet. Aber dadurch, daß ich das Geschäft hatte, also einen finanziellen Hintergrund, habe ich nicht nochmal geheiratet. Ich habe dann noch meine Mutter bei mir gehabt, und für drei Menschen den genau Passenden zu finden, ist eben sehr schwierig. Und wenn man es nicht nötig hat. . .[41]

Die Möglichkeit, einen Partner zu finden, wurde durch den Männermangel zusätzlich erschwert. Frau Friedrich, Jahrgang 1923, die mit Mutter und jüngerem Bruder lebte, sagte dazu:

  • »Der Männermangel war natürlich vorhanden, aber ich hab so viele Sorgen gehabt, daß ich mich da gar nicht drum kümmern konnte. Sicher, man hat mal einen Freund hier und da gehabt, aber wenn sie mit Mutter und kleinem Bruder zusammenleben, dann können Sie keinen Freund nach Hause bringen, in eine Zweizimmerwohnung. Dadurch hat sich das schon sehr, zum größten Teil, verboten. Ich hab zwar 52 geheiratet, aber das war ein absoluter Reinfall, das ging auch sehr schnell zu Ende. Ich habe aber aus der Ehe eine Tochter und jetzt zwei süße Enkelkinder. Damit ist der Zweck erfüllt. Ich bin vielleicht auch, wollen mal sagen, zu selbstbewußt gewesen, um nun unbedingt drauf versessen zu sein, von einem Mann umhegt und gepflegt zu werden. Und wenn man mal einen Mann braucht, muß man ja nicht gleich heiraten. Man muß sich ja auch nicht gleich 'ne Kuh kaufen, wenn man mal ein bißchen Milch trinken Will.«[42]

In der Nachkriegszeit hatten die alleinstehenden Frauen gelernt, Verantwortung für ihre Angehörigen und ihre Kinder zu tragen, deren Überleben zu sichern und wichtige Entscheidungen ohne Absprache mit Männern zu treffen. Viele unserer Gesprächspartnerinnen konnten oder wollten deshalb nicht mehr die traditionelle Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen akzeptieren. Frau Ostrowski, Jahrgang 1921, lebte, nachdem ihre Tochter aus dem Haus war, allein. Sie erzählte über ihre Beziehung zu ihrem Freund in den 60er/70er Jahren:

  • "Mein Lebensgefährte und ich, wir haben uns prächtig verstanden. Der eine hat morgens angerufen, der andere abends. Und wenn wir uns sehen wollten, dann ist er gekommen. Und wenn wir in Urlaub fahren wollten oder zu Besuch gehen wollten, dann ist er gekommen. Aber es ist so, wenn man nicht so in Stimmung war, jemand zu sehen, wenn man lieber allein sein wollte, dann hat man eben miteinander telefoniert. Ich wollte auf keinen Fall mehr heiraten. Ab einem gewissen Alter ist man auch zu alt dazu.«[43]

Alle befragten Frauen berichteten von intensiven Freundschaften zu anderen, die oft schon seit der unmittelbaren Nachkriegszeit bestanden, in der die Freundinnen zusammen den Alltag organisierten. Auch außerhalb ihrer familiären Beziehungen hatten sie ein dichtes soziales Netz von Beziehungen, das seit Kriegszeit bestand und wechselseitige Unterstützung und Hilfe bot. Kontakte waren zunächst entlang familiärer Verbindungen hergestellt worden und erweiterten sich dann durch die Einbeziehung von Freundinnen, Kolleginnen und Nachbarinnen. Frau Ostrowski, Jahrgang 1921, die alleinstehend eine Tochter großgezogen hat, erzählte von ihren Freundschaften

  • »Ich habe das Glück gehabt, daß ich immer wunderbare Freundschaften hatte. Die haben mich nie untergehen lassen. Die haben mir immer das Gefühl gegeben, du brauchst nie Not zu leiden, und die haben mir immer geholfen. Wenn damals Freundschaften geschlossen Norden sind, dann waren es wirklich echte Freundschaften. Wir sind durch dick und dünn gegangen, hier nach dem Kriege. Die Not, die Not hat zusammengeschweißt. Hat der eine dies gehabt, hat der andere jenes gehabt. Da hat man nicht gesagt: »Du kriegst nichts.« Sondern man hat gesagt: Ich hab' bloß noch ein Kästchen, aber die Hälfte davon kriegst du.«[44]

Der überwiegende Teil der von uns interviewten Frauen schien in der Rückschau mit den damaligen Lebensweisen nicht unzufrieden: Sie hatten einerseits langjährige Freundschaften zu Frauen und andererseits auch Liebesbeziehungen zu Männern, d. h. die sogenannten alleinstehenden Frauen waren gar nicht allein und von daher auch nicht unglücklich darüber, nicht verheiratet zu sein.
Die Schwierigkeiten mit ihrer Lebensweise wurden vielmehr von außen an sie herangetragen, indem in den 50er und 60er Jahren Ehe und »vollständige« Familien wieder zur Norm wurden. In diesem angespannten sozialen Klima war eine wichtige Unterstützung durch die emotionale Absicherung in familiären Beziehungen und Freundschaften mit anderen Frauen gegeben. Sie boten ihnen wichtige soziale Zusammenhänge und stellten Nischen dar, innerhalb derer sie trotz gesellschaftlicher Diskrimierung sozial überleben konnten.

4. Frauengemeinschaften im Spiegel der Zeitschriften

Wir haben zu verdeutlichen versucht, daß der Begriff »alleinstehend« erst in den 50er Jahren relevant wurde, als auf der Grundlage wieder vollständiger traditioneller Familien das, was vorher kollektives Schicksal von Frauen war, nun zu einem Problem von wenigen wurde. Daß es wieder »vollständige« Familien gab, hatte einen Wandel des sozialen Klimas zur Folge, den alleinstehende Frauen als diskriminierend erlebten. Diese Entwicklung war weder ein geplanter Prozeß, noch vollzog er sich von einem Tag auf den anderen. Aus der Kombination der Rückkehr der Männer und der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung wurde Familie in dem traditionellen Sinn der physischen und psychischen Rekreation des aushäusig erwerbstätigen Mannes wieder notwendig. Die Frage, der wir uns im folgenden widmen wollen, ist, wie sich dieser gesellschaftliche Wandel, den wir bisher aus der Sicht der betroffenen Frauen dargestellt haben, in der Berichterstattung von Zeitungen und Zeitschriften widerspiegelt.
Einleitend ist zu konstatieren, daß der »Frauenüberschuß« als Synonym für die Problematik der alleinstehenden Frauen in allen von uns analysierten Zeitschriften [45] thematisiert wird. Über den untersuchten Zeitraum (1945 - 1955) wird ebenfalls die Veränderung der gesellschaftlichen Bewertung des Alleinstehend-Seins deutlich. Dabei lassen sich drei Phasen der Diskussion unterscheiden: eine erste, in der objektiv viele Frauen alleinstehend, die zentralen Probleme jedoch die Anforderungen des unmittelbaren Überlebens sind, eine zweite, in der Männer zurückkehren, Differenzen zwischen vollständigen und unvollständigen Familien deutlich werden und das Geschlechterverhältnis mit seinen geschlechtsspezifischen Anforderungen wieder zur Diskussion steht, und eine dritte, in der die Wiederherstellung der traditionellen Familienverhältnisse in den Vordergrund rückt.
In den unmittelbaren Nachkriegsjahren 1945-1947 stehen in der Berichterstattung der Zeitungen die Leistungen der Frauen, die diese in Abwesenheit eines noch großen Teils der Männer vollbringen mußten, an erster Stelle. Ihre Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten werden als unabdingbar notwendig für das Überleben der Menschen und den Wiederaufstieg Deutschlands dargestellt. Auf der rein quantitativen Ebene wird den Leistungen der Frauen viel Platz eingeräumt und dadurch ins öffentliche Bewußtsein gerückt. Die Form der Darstellung unterscheidet nicht zwischen Verheirateten, Verwitweten oder Ledigen. Die Arbeiten aller Frauen werden gleichermaßen thematisiert - unabhängig von ihrem Familienstand bzw. ihrer »Zugehörigkeit« zu einem Mann, d. h. Frauen werden nicht, wie traditionell üblich, über ihr Wesen, sondern über ihre Arbeit definiert. Dazu zwei typische Artikel aus jener Zeit:

  • »Die alleinstehende Frau trägt, ebenso wie nach dem 1. Weltkrieg, auch heute wieder die Hauptlast des Wiederaufbaus. Sie trägt sie nicht nur durch ihre Berufsarbeit, sie trägt sie auch durch ihre vielen anderen Funktionen und nicht zuletzt durch ihre Steuern.«[46]
    »Derzeit gibt es eine ganze Armee von alleinstehenden Frauen, die warten, auf Rückkehr des Mannes, auf Einsetzung von Pensionszahlungen (. . . ). Diese Frauen schippen, Frauen putzen Ziegelsteine, tragen Balken, kurzum Frauen beseitigen Kriegstrümmer. Im Straßenbild unserer Städte tritt das einst schwache Geschlecht sichtbarer als je Beweise seiner Stärke, seines Arbeitsmutes und auch eines Humors des Trotzdem' an. Erfreuliche Bilder deutschen Neuaufbaus.«[47]

Fast mit Hochachtung wird hier über die »Alleinstehenden« berichtet, die sich und ihre Verwandten ohne die Unterstützung durch einen Ehemann versorgen. Gerade das schwere Los der Flüchtlingsfrauen wird oft zum Anlaß, die Opferbereitschaft, Umsicht und Sorge der Mütter zu betonen, die ihre Kinder ohne Ehemann großzogen. Artikelüberschriften wie »Da Gott nicht alles alleine machen wollte, schuf er Mutter«[48] geben beredtes Zeugnis davon. Die Verantwortung der »Alleinstehenden« für andere Menschen und die Gesellschaft wurden in vielen Artikeln der von uns durchgesehenen Zeitschriften betont; so zum Beispiel in einer Berichterstattung über eine Kundgebung von 2000 Frauen 1946 im Berliner Admiralspalast:

  • »Das Schicksal Deutschlands liegt in der Hand seiner Frauen. Sie haben die Mehrheit (... ). Das Kontingent der Männer reicht nicht aus. Wir werden fordern, daß alle Arbeiten, die Frauen leisten können, ihnen auch übertragen werden.«[49]

Da gerade in den unmittelbaren Nachkriegsjahren die Mehrzahl der Frauen alleine dastand, war es für die Frauenzeitschriften naheliegend, die Notwendigkeit der Existenzsicherung der Frauen durch eigene Berufstätigkeit zu diskutieren. Gerade in den Jahren 1945 und 1947 wird in den analysierten Zeitschriften auf die Notwendigkeit für Frauen verwiesen, erwerbstätig zu sein. Viele Artikel betonen den Zwang für die Frauen selbst und die Notwendigkeit für die Volkswirtschaft insgesamt, in vormals reinen Männerberufen zu arbeiten. Am deutlichsten wird diese Tendenz in der Zeitschrift »Stimme der Frau«. In den ersten Jahrgängen werden Berufe vorgestellt, die für Frauen untypisch sind, von ihnen aber in Zukunft ausgefüllt werden sollten und könnten, da es so viele junge Mädchen und Frauen gebe, die wegen des Männermangels ihr Leben lang alleinstehend bleiben würden und keine Versorgungsehe eingehen könnten. Titel wie »Schiff ahoi. Die Seefahrt wird weiblich«[50] sind plakativ und deutlich. In der Regel sind es jedoch Berufe wie Uhrmacherin, Bauberaterin, Optikerin, Feinmechanikerin und Gebrauchswerberin, die während des Krieges teilweise schon von Frauen ausgeübt worden waren. Immer wieder erscheinen Artikel wie »Frauen müssen arbeiten«,[51] in denen die Verantwortung des Wiederaufbaus den Frauen nahegelegt wird. So heißt es: »Es ist nicht übertrieben zu sagen: Von der deutschen Frau hängt das Schicksal unseres Aufstiegs ab.« Viele Artikel betonen, Frauen sollten sich neue Berufsmöglichkeiten schaffen und sich nicht von Männern davon abhalten lassen. In diesem Zusammenhang werden die »Alleinstehenden« immer wieder als besonders durchsetzungsstarke Personen angesprochen.[52] Neben vielen Einzelartikeln zu diesem Thema erscheint in der »Stimme der Frau« 1947 eine spezielle Serie über Frauen im Beruf-. »Sie packten zu und haben es geschafft.« Es werden Berichte abgedruckt über Frauen, die es geschafft haben, sich eine eigene berufliche Existenz zu sichern. Die Redaktion forderte die Leserinnen auf, ihre eigenen Erfahrungen zu berichten. Daraufhin erschienen Artikel: ... Wir haben es geschafft' - Leserinnen schreiben.«[53] Die Palette der Einfälle und des Unternehmungsgeistes ist groß. Frauen schreiben, wie sie Gärtnerin, Gepäckträgerin, Lampenproduzentin, Steinsetzerin, Schusterin, Lastwagenfuhrunternehmerin, Kranführerin, Taxifahrerin, Kapellmeisterin, Tagesmutter, Büglerin, Spediteurin, Zeitungskioskbesitzerin, Eisverkäuferin mit eigenem Eiswagen, Leiterin einer Bäckereifiliale, Unterhalterin und Strickwarenproduzentin wurden.
Auffallend oft wird in diesen Jahren von Frauen berichtet, die selbständige Berufe ergriffen, d. h. ein eigenes Geschäft aufmachten oder selbständig produzierten. Nur exemplarisch seien hierfür zwei weitere Beispiele genannt:

  • »Mutter von 6 Kindern - Prinzessin C. heiratete einen bürgerlichen Mann, der im Krieg gefallen ist. Die Heirat hatte zu einer Entfremdung mit ihrer Familie geführt. In Coburg eröffnete sie eine Schusterwerkstatt und lebt dort mit ihren Kindern, drei Jungen und drei Mädeln. Einer ihrer Jungens arbeitet bei einem Bauern, einer wird Möbeltischler. Die anderen besuchen noch die Schule.«[54]
    »In einem einsamen Dorf - Als Frau S.'s Mann, aktiver Offizier, noch in Kriegsgefangenschaft war, saß sie mit ihrem Kind auf einem einsamen Dorf und besann sich auf ihre Fähigkeit. Sie nähte Lampenschirme. Aus diesen bescheidenen Anfängen ist inzwischen der größte Betrieb Westdeutschlands geworden. Vom Dorf ging es in die nahe Kleinstadt, Es fand sich ein ehemaliges großes Hotel, in dem man nun eine eigene Gestellmacherei und sämtliche anderen Arbeitsräume untergebracht hat.
    Es geht ja nicht um das Nähen. Frau S. kümmert sich heute weniger um diese Kleinarbeit, wenn sie auch neben den beiden Vorarbeiterinnen manchmal noch die dreißig Näherinnen anweist. Sie sitzt und entwirft neue Muster. Nicht nur die Formen müssen dem Kundengeschmack angepaßt werden. Neue Kombinationen müssen gefunden werden. Ständig müssen neuartige Papiertönungen und Bearbeitungsmethoden erprobt werden. Neuartige Kordeln, Litzen und Stickereifäden werden verwendet und auf jeweils andere Weise getönt und präpariert. Niemals hätte Frau S. gedacht, daß sie, zurückgezogen lebend und mit einer scheinbar bescheidenen Fähigkeit ausgestattet, ein solches Werk entwickeln würde. Auch die meisten ihrer heutigen Näherinnen stammen aus anderen Berufen und haben umgelernt.«[55]

Parallel zur Wertschätzung der alleinstehenden Frauen als Arbeitskräfte berichtet die Mehrzahl der Artikel in den von uns durchgesehenen Zeitschriften ohne negative Bewertung über die Lebenssituation der Alleinstehenden. Im Vordergrund steht die Organisation des Überlebens ohne männlichen Haushaltsvorstand. In anderen Berichten wird die Notwendigkeit der Kinderbetreuung durch die Großmutter hervorgehoben, während der weibliche Familienvorstand erwerbstätig oder auf Hamsterfahrt ist. Artikel wie »Das Haus ohne Männer«[56] können als typische Beispiele einer Berichterstattung gelten, die vorurteilslos beschreibt, wie viele Frauenhaushalte es schafften, über die Runden zu kommen. Die Probleme der Frauen und ihre Arrangements mit ihrer schwierigen Situation werden thematisiert, es erfolgt jedoch keine spürbare ideologische Abwertung der »männerlosen« Haushalte gegenüber den vollständigen Familien. So berichtet ein Artikel in »Sie« mit dem Titel »Die Stunde der Töchter«:

  • »Bleiben wir bei einem vorherrschenden, jedenfalls sehr häufigen Beispiel: bei dem männerlosen Haushalt, Mutter mit einer oder mehr Töchtern. Väter und Brüder sind gefallen, vermißt, gefangen, in einer anderen Zone tätig, ohne Möglichkeit sofort zurückzukehren. Jedenfalls muß der männerlose Haushalt sich so einrichten, als ob man ganz alleine auf sich gestellt bliebe. ( ... ) Die Tochter wird in vielen Fällen leichter Arbeit finden. Die Mutter muß sich daran gewöhnen, daß sie jetzt die Hausfrau oder gröber: die Wirtschafterin des Haushaltsvorstands Tochter ist . . .«[57]

In einigen Artikeln wird darüber hinaus klar gemacht, daß der »Frauenüberschuß« sich nicht nur aus Witwen, Waisen und Frauen zusammensetzt, »die keinen mehr abbekamen«. Die Autoren thematisieren die unmittelbar nach dem Krieg sehr hohen Scheidungsraten, die sich zumeist aus der Trennung der Kriegsehen ergeben. In vielen Fällen reichen Frauen die Scheidung ein, teilweise noch bevor der Ehemann aus dem Krieg bzw. aus der Gefangenschaft zurückkommt.[58]
Außerdem wird von vielen Fällen berichtet, in denen der Ehemann sich in den Westen absetzt, wegen angeblich besserer Jobs, und die Frau in Berlin zurück läßt. Vielfach sind die Männer damit spurlos verschwunden, zurück bleiben verlassene - »alleinstehende« Frauen. Auch die Frauen selbst äußern sich in den Zeitschriften. Ihre Leserbriefe haben geraden in den Jahren 1946 bis 1948 einen durchaus selbstbewußten Ton. Die sich zu Wort meldenden Frauen fühlen sich nicht als »Überflüssige«. Sie beschreiben ihre Lebensform als selbstgewählte oder machen zumindest die Ambivalenzen des »Alleinstehend-Seins« deutlich. Der Tenor ihrer Beiträge zeugt davon, daß sie sich, verglichen mit Ehefrauen, durchaus nicht als minderwertig oder unglücklich fühlen. Zwei typische Beispiele dafür finden sich im »Silberstreifen« und in »Sie«. So schreibt eine unverheiratete Frau 1946:

  • »Wer in den letzten Jahren über etwas Einsicht in die Lage der Zeit verfügte, der konnte den Schritt in eine Ehe nicht verantworten. Ein solches Mädchen blieb lieber alleine, auch wenn es sich sagen mußte, ich werde nachher nicht mehr dazu kommen. Jetzt, da die meisten Ehen eigentlich erst beginnen können, laufen bereits massenhaft Ehescheidungen. Das war vorauszusehen. Und das, meine lieben unverheirateten Mitschwestern, haben wir uns gut ersparen können.«[59]

Eine andere schreibt, ebenfalls in einem Leserbrief, kommentierend zum Männermangel:

  • »( ... ) Im Zeitalter der gleichberechtigten, berufstätigen Frau hat (die Versorgungsehe, S. M.) an Gewicht für sie verloren. Heute ist es eher der Mann, der in die Ehe flüchtet, um versorgt' zu sein, aus Gründen, die allgemein bekannt sind. Bedeutet heute die Ehe noch dasselbe für die Frau, was sie einstmals war? Ist sie nicht eher eine verstärkte Belastung? Es gibt eine ganze Reihe von Frauen, die die Dinge kühl und sachlich betrachten und die unter den gegebenen Voraussetzungen keine Bange vor der Beantwortung der Frage haben, ob sie eine Ehe und Familie haben wollen oder nicht. Sie sagen aus Überzeugung Nein und fühlen sich trotzdem glücklich...«[60]

In dem Maße, in dem Männer aus der Gefangenschaft zurückkehren und damit wieder in zunehmendem Maße »vollständige« Familien vorhanden sind, werden die Differenzen zwischen »Alleinstehenden«, d. h. unvollständigen Familien, und Ehepaaren thematisiert. Zwar bleibt die Arbeit der Frauen noch überlebensnotwendig und öffentlich sichtbar, sie wird jedoch zunehmend kritisch diskutiert. Was die Beziehungsform betrifft, werden ausführlich die verschiedenen Konzepte dargestellt. So werden »Frauenfamilien ... .. Müttergemeinschaften«, eheähnlich strukturierte Beziehungen zwischen Frauen, Wohngruppen von mehreren alleinstehenden Frauen mit einer Haushälterin, Wohnheime für alleinstehende erwerbstätige Frauen zum Thema.[61] Auch die Beziehung zwischen Ehefrauen und Alleinstehenden wird angesprochen: »Sollen sich mehrere Frauen einen Mann teilen?« »Ist die Ehe zu dritt möglich?« »Sollte man die Monogamie ganz abschaffen?« Wichtig für die Analyse der Darstellung dieser Vorstellungen von möglichen Lebensformen ist dabei, daß »alleinstehend« nicht als Deklassierung der Frau erscheint und Ehe und Ehefrauen nicht das Maß aller Dinge sind. In vielen Fällen fühlen sich sogar umgekehrt Ehefrauen, verglichen mit Alleinstehenden, minderbewertet und pochen auf ihre Gleichwertigkeit mit berufstätigen Frauen, sprich »Alleinstehenden«. Bestätigt wird diese eher liberale Haltung gegenüber Alleinstehenden in einer repräsentativen Umfrage von »Constanze« aus dem Jahr 1949, die fragt »Ist die freie Liebe unmoralisch?«[62] Mit Ja antworteten lediglich 29%, mit Nein jedoch 61%, und 10% haben dazu keine Meinung. Kommentierend meint »Constanze« dazu:

  • »Es haben besonders Frauen aus allen Bevölkerungsschichten positiv geantwortet. Haben nicht auch unverheiratete Frauen ein Anrecht auf Liebe?' war eine immer wiederkehrende Bemerkung der verheirateten Frauen.«[63]

Weitere Indikatoren für eine liberale Haltung gegenüber den Alleinstehenden sind sehr progressive Stellungnahmen zur Gleichstellung unehelicher Kinder, zur Abschaffung des Kuppelei-Paragraphen,[64] zu Probeehen oder zur Frage »Muß Liebe amtlich beglaubigt sein?«[5]
1949 verdichtet sich diese offene Diskussion im Vorschlag der Definition einer »Mutterfamilie«, der in fast allen von uns durchgesehenen Illustrierten aufgegriffen wird. Dieser radikale Reformvorschlag wurde dem Parlamentarischen Rat 1949 unterbreitet. Demgemäß soll die Mutter Familienvorstand werden, und die Kinder sollen den Mädchennamen der Mutter tragen. Der Unterhalt der Kinder soll durch Besteuerung der Männer und kinderloser Frauen bestritten werden. Das Konzept der »Mutterfamilie« stellt den radikalsten Vorschlag bis zu diesem Zeitpunkt dar, um Ehefrauen und »alleinstehende« Frauen gleichzustellen. Der Anlaß dazu seien, wie »Sie« 1949 berichtet, die sieben Millionen Alleinstehenden, der eigentliche Grund jedoch sei die Entartung des Vaterrechts seit 1944. Die Umstellung vom Vater- zum Mutterrecht könne als einziges den Frieden sichern.[66]
Die Antworten und Leserbriefe, die der Vorschlag »Mutterfamilie« auslöst, beteuern zwar, so etwas sei nicht durchführbar und reiche weit über das Ziel hinaus, aber zumindest die Frauen unter den Briefschreibern finden das Anliegen berechtigt. Männliche Schreiber finden den Vorschlag überwiegend absurd, die Gegenvorschläge, die von ihnen formuliert werden, laufen auf Bigamie hinaus. Frauen machen in ihren Antworten eher Modifikationsvorschläge, z. B. nach der Gleichstellung unehelicher Kinder bzw. nicht verheirateter Mütter, nach der Modifikation des Sorgerechts, nach Scheidungen etc. Frauengruppen fordern sogar eine Volksabstimmung zur Legalisierung der unehelichen Mutterschaft.[67]
Eine weitere Veränderung des gesellschaftlichen Status' der alleinstehenden Frauen setzte ein, als sich die politischen und sozialökonomischen Verhältnisse wieder etablierten, der Wirtschaftsaufschwung seinen Anfang nahm, die Männer überwiegend zurückgekehrt und berufstätig waren und die tradierte Form der bürgerlichen Ehe mit ihrer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und Machtstruktur wieder zur gesellschaftlichen Norm wurde. In den Zeitschriften spiegelt sich dies in der Form wider, daß Ehe und Hausarbeit als »natürliche Wesensbestimmung« der Frau propagiert und unverheiratete Frauen deklassiert werden. Dies läßt sich schon also quantitatives Ergebnis der Zeitschriftenanalyse beobachten. Artikel über Alleinstehende gehen zahlenmäßig etwa von 1950/51 an zurück, demgegenüber ist ein Anwachsen der Artikel über Ehe und Familie zu konstatieren. Ehe wird nun als einzig legitime, natürliche und anzustrebende Beziehungsform dargestellt. Eine Flut von Anweisungen und Tips, wie das eheliche Leben zu gestalten sei, geht damit einher. In »Stimme der Frau« erscheint z. B. 1952/53/54 eine neue Serie: »Das ABC der Ehe«; Tips, wie man eine Ehe glücklich gestaltet, »Der Partner fürs Leben«,[68] »Ein Glück ohne Krise«[69], »Trotzdem glücklich«[70] Vertrauen haben«,[71] Regenbogenumfragen zum Thema Es gibt auch glückliche Ehen«, [72] »7 Gebote zum Glücklichsein, Knigge für Ehefrauen«[73], »Eheglück auch für ältere Frauen«[74]. Auch Art und Weise der Problematisierung von Schwierigkeiten in der Ehe verschieben sich über die durchgesehen Jahrgänge. In den ersten Nachkriegsjahren wird vor allem die weibliche Selbständigkeit bzw. das Unvermögen der Männer thematisiert, sich mit der Rückkehr aus dem Krieg in die Ehe zurechtzufinden. Die überwiegende Mehrheit (über 80%) der Artikel zu Eheproblemen verteilt sich auf die Jahre 1951-1954 und hat einen gänzlich anderen Tenor. Hier geht es um Treue, Standesunterschiede und um Eheprobleme mit Männern, die »Arbeitsfanatiker« oder »managerkrank« sind, oder um Ehemänner, die völlig in ihrer Arbeit aufgehen und keine Zeit mehr für die Familie haben.
Während sich die Artikel über Eheglück und Eheleid, Tips für die Ehe ab 1951/52 häufen, verändert sich im selben Zeitraum die Darstellung der »Alleinstehenden«. Von den 50er Jahren an werden eher ihre Einsamkeit, ihr Leid oder ihre »Schrulligkeit« beschrieben, auf die man Rücksicht nehmen müsse. Ihre Stärke, wie sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit bewundert herausgestellt wurde, findet keine Erwähnung mehr. Die Darstellung der alleinstehenden Frau kreist immer wieder um den Punkt ihrer Mannlosigkeit und der daran geknüpften Minderwertigkeit. Vorrangig wird in allen analysierten Zeitschriften diskutiert, welche besondere Aufgabe sich im Leben der Alleinstehenden stellen könnte, wenn sich schon keine Gelegenheit findet, eine Ehe zu führen und Familie zu haben. Das Spektrum der besonderen Aufgaben für sie reicht - je nach Couleur der Zeitung - von tätiger Nächstenliebe über geistige Mütterlichkeit bis hin zur Erfüllung im Beruf. Zur selben Zeit gibt es mehrere Leserbriefe von Frauen, die sich gegen diese Form der Berichterstattung bzw. Meinungsmanipulation wehren: »Kein Mitleid bitte,«[75] und die die Redaktion bitten, sich um die tatsächlichen Probleme der Alleinstehenden zu kümmern, nämlich Berufsprobleme, Arbeitslosigkeit, Rente, steuerliche Benachteiligungen, Wohnungsnot etc.[76] Parallel zur Diskussion über Probleme des Alleinseins ändert sich auch jene über die Erwerbsarbeit. Es wird eine Beschränkung der Berufsdiskussion auf die Propagierung typisch »weiblicher« Berufe deutlich.[77] Erklärtes Ziel ist es, Frauen, die unbedingt erwerbstätig sein müssen, auf ihre vermeintlichen weiblichen Fähigkeiten und Eigenschaften hinzuweisen und diese zuallererst beruflich einzusetzen. Der Vormarsch der Frauen in männliche Berufsbereiche scheint, jedenfalls durch den Spiegel der Medien betrachtet, gestoppt. So wird z. B. der Beruf der Fürsorgerin als besonders »Weiblichkeit erfüllend« in der »Frauenwelt« geschildert:

  • »Einer der schönsten Frauenberufe ist der Beruf der Fürsorgerin. Gerade in der heutigen Zeit, wo so viele Frauen auf die Ausübung ihres natürlichen Berufes als Frau und Mutter verzichten müssen, wird manche Frau Trost darin finden, anderen Menschen zu helfen und in Kontakt mit Kindern zu kommen. Wir wollen das Wort Ersatz' vermeiden, aber ein Trost sind fremde Kinder immer, wenn eigene versagt bleiben.«[78]

Noch ideologischer wird die Berufspraxis der Büglerin und Wäscherin dargestellt. Da heißt es:

  • »Je eher unsere Frauen einsehen, daß Haus und Familie wieder zum Mittelpunkt unseres Schaffens und Denkens werden müssen, desto stärker werden die fraulichen Berufe bevorzugt werden und so auch Büglerinnen und Wäscherinnen wieder zu Ehren kommen.«[79]

Andere Berufsvorschläge für Mädchen und Frauen orientieren sich daran, die Rolle der Mitarbeiterin des Mannes zu übernehmen. Artikel wie »Ich möchte meinem Mann so gern Gefährtin werden«[80] weisen eindringlich auf diesen Tatbestand hin. Mädchen wird eindeutig eine untergeordnete Berufsposition zugewiesen, aber immerhin sollen die Töchter noch einen Beruf erlernen, da man ja nicht weiß, ob sie später heiraten oder »keinen Mann abbekommen«. Im Vordergrund soll jedoch für alle Mädchen stehen, die weiblichen Eigenschaften für eine spätere Ehe - ob nun für eine »Betriebsehe« oder eine »normale Ehe« auszubilden. Von daher wird propagiert, daß Mädchen zwar eine Berufsausbildung bekommen, aber zusätzlich auch eine Hauswirtschaftslehre absolvieren sollen, um für Ehe und Beruf gleichermaßen ausgebildet zu sein.[81] Auch wird die Diskussion über Haushaltsberufe aktualisiert.[82] Dabei klingt durch, daß das junge Mädchen - vom Wesen her mütterlich und fraulich - durchaus seine Befriedigung in hauswirtschaftlichen Berufen finden kann, wenn eine eigene Ehe nicht in Sicht ist.[83]
Die kritische Diskussion über Frauenerwerbstätigkeit trifft Alleinstehende besonders, da sie ohne die Absicherung durch eine »Versorgungsehe« auf eigene Berufstätigkeit angewiesen sind. Zu einem ausführlichen Thema wird auch die Konkurrenz zwischen Ehefrauen und alleinstehenden Frauen. Erste Hinweise auf Schwierigkeiten des Umgangs zwischen Ledigen und Verheirateten tauchen bereits in Artikeln ab 1949 auf. In den Jahren 1951/52 wird der Tenor der Aussagen noch schärfer. Wir wollen hier nur exemplarisch einen Leserbrief aus dem Jahr 1949 wiedergeben:

  • »... verheiratete Frauen sind gewissermaßen Kapitalisten. Da steckt ein Körn eben Wahrheit drin. Zumindest fühlen sie sich als solche. Sie besitzen den Mann. Waren Sie einmal auf einer Kaffeegesellschaft unter lauter verheirateten Frauen? Als Ledige kommen Sie sich da ausgesprochen mangelhaft vor. Die Ehefrauen provozieren. Mein Mann' und nochmals mein Mann', auch wenn die Besitzverhältnisse durchaus nicht hundertprozentig geklärt sind. Sie wiegen sich in der Sicherheit ihres Trauscheines, sie pochen auf ihr verbrieftes Recht, sie moralisieren, selbst wenn sie vor der Heirat nicht prüde waren.
    Wissen Sie, wie schwer es ist, die Freundschaft mit einem Ehepaar aufrechtzuhalten? Es erfordert Takt, viel Takt, aber immer nur von der Ledigen. Sie darf weder gut aussehen noch schick angezogen sein, sie darf auf keinen Fall in irgendeiner Weise die Bewunderung des Mannes erregen. Dann gibt's kleine Seitenhiebe. Die Ehefrau wittert auch bei den harmlosesten Huldigungen Gefahr für ihren Besitz'. Sie beginnt ihr gutes Einvernehmen mit ihrem Mann herauszustellen, und die Unterhaltung wird dadurch nicht gerade geistvoller.«[84]

Diese kurze Analyse der Darstellung des Themas »Frauenüberschuß« in den einschlägigen Zeitschriften der Nachkriegsjahre bestätigt die von uns durch die Interviews gewonnenen Einschätzungen: Solange aktive, selbstbewußte Frauen gefragt waren, die mit beiden Beinen in Beruf und Öffentlichkeit stehen und für den wirtschaftlichen Aufbau notwendige Arbeit leisten, hatten sie auch als Alleinstehende einen hohen Status. In dem Maße, in dem sich wirtschaftliche Verhältnisse etablierten, wurden Ehe und Familie wieder zum Leitbild mit der Konsequenz einer Abwertung der alleinstehenden Frauen. Dieser Prozeß der Ausgrenzung erfolgt, wie wir gezeigt haben, schrittweise. Er findet de facto dadurch statt, daß Einladungsrituale, Wohlanständigkeit und Abschottung der Kleinfamilien wieder einsetzen, und wird in der veröffentlichten Meinung zusätzlich ideologisiert durch Reetablierung von Ehe- und Familiennormen, geschlechtsspezifischen Sozialcharakteren, Problematisierung von Frauenerwerbstätigkeit und letztendlich Diffamierung alleinstehender Frauen als bemitleidenswerte Sozialfälle.

5. Schlußbetrachtung

Unsere Untersuchung über alleinstehende Frauen hat als zentrales Ergebnis erbracht, daß die Assoziationen zum Begriff »alleinstehend« irreführend sind. Zwar waren die von uns befragten Frauen allein in dem Sinne, daß sie nicht verheiratet waren, allein im Sinne sozialer Isolation waren sie jedoch nicht. Vielmehr lebten sie seit den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges in sozialen Zusammenhängen, die teilweise auf verwandtschaftlichen Bindungen basierten und/oder teilweise Frauengemeinschaften darstellten, in denen mehrere Frauen sich aufgrund der äußeren Ergebnisse zusammengefunden hatten. Frauen waren gezwungen, sich zusammenzutun, weil die Männer zuerst im Krieg, später in der Gefangenschaft waren und durch die Kriegseinwirkungen ein Großteil der Wohnungen zerstört war. Obwohl als Notgemeinschaften unter dem Zwang der Ereignisse entstanden, entwickelten sich diese Frauengemeinschaften zu echten Solidargemeinschaften, die bis in die 50er Jahre Bestand hatten, manchmal sogar länger. Eine differenzierte Arbeitsteilung und Kooperation ermöglichten es ihnen, den Anforderungen des Überlebenskampfes gerecht zu werden. Während einige Frauen außerhäusig erwerbstätig waren, organisierten andere den Haushalt, betreuten die Kinder, beschafften durch Hamstern und Schwarzmarktgeschäfte Nahrungsmittel oder produzierten Gebrauchsgüter zum Tausch. Die aus dem solidarischen Zusammenleben resultierenden emotionalen Bindungen boten den Frauen Rückhalt und gaben ihnen Stärke. Diese Bindungen waren oft so intensiv, daß in der Zeit, als Beziehungen zu Männern wieder möglich waren, diese für sie mit Schwierigkeiten verknüpft waren, weil es ihnen schwerfiel, sich aus dem emotionalen Kontext ihrer Solidargemeinschaft zu lösen und Männer in der Regel nicht bereit waren, sich in diese einzufügen. Auch dort, wo Frauen nicht in solchen Gemeinschaften zusammenlebten, verfügten sie über ein dichtes Netz freundschaftlicher Beziehungen, durch das sie Hilfe und Unterstützung fanden. Durch ihre Leistungen für den Wiederaufbau, die auch das »Organisieren« des Überlebens einschlossen, waren sie allgemein anerkannt, wie sich an der veröffentlichten Meinung - z. B. in den Zeitschriften der damaligen Zeit - deutlich ablesen läßt. In dem Maße, in dem Männer aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrten, ihren Anteil am Wiederaufbau einzubringen begannen, in dem auch zunehmend »vollständige« Familien wieder zur gesellschaftlichen Norm wurden, verschlechterte sich der soziale Status der »Alleinstehenden«. Die Zeit war wieder geprägt von der traditionellen Kleinfamilie mit ihren geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen, worüber Zeitschriften aus jener Zeit besonderes Zeugnis ablegen. Für »alleinstehende« Frauen bedeutet dies, daß ihr sozialer Status als »alleinstehend« zum ersten Mal definiert wurde. Die von uns interviewten Frauen berichteten, sie haben dies als Diskriminierung erlebt und darunter gelitten. Auch ökonomisch zahlte sich für die »Alleinstehenden« die Rückkehr der Männer wenig aus, da Männer einerseits bei der Vergabe vc)n Arbeitsplätzen bevorzugt wurden, andererseits alleinstehende Frauen in zunehmendem Maße auf Erwerbstätigkeit angewiesen waren, da durch den wirtschaftlichen Aufschwung die durch Frauen in den 40er Jahren entwickelten Möglichkeiten des informellen Marktes an Bedeutung verloren. Die von uns befragten Frauen haben dennoch nicht resigniert, sondern es geschafft, aufgrund der erworbenen Selbständigkeit und der gewonnenen Erfahrung mit schwierigen Situationen fertig zu werden.

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