Man hat vertrennt, vertrennt und wieder vertrennt

Erinnerungen an den Nachkriegsalltag

Ich habe einerseits versucht, in einer bestimmten historischen Phase dem nachzuspüren, was den weiblichen Alltag gekennzeichnet hat. Andererseits geht es nicht nur um die objektive Geschichte, sondern auch um die Funktion von Erinnerung, um die mehrfachen Spiegelungen der Realität - sowohl in der aktuellen Verarbeitung als in der Retrospektive.
Die Wahl des Untersuchungszeitraums (etwa 1945-1955) schließt in den biographischen, narrativen Interviews die Erinnerung an die Zeit zuvor als auch danach mit ein. In der Interpretation allerdings lege ich aus zwei Gründen den Schwerpunkt auf die Nachkriegszeit: Die Unsicherheit der gesellschaftlichen Situation barg die Chance der Veränderung, auch der Geschlechterbeziehungen,[1] zweitens, fällt in der Nachkriegszeit die Ideologisierung und Legitimation der Männerabwesenheit weg, wie sie durch den nationalsozialistischen Propagandaapparat gestützt wurde.
Mich interessierte, wie die Frauen die historischen Bedingungen individuell verarbeitet haben, wie ihr Selbstverständnis geprägt wurde. Die neuen gesellschaftlichen Funktionen, die die Frauen durch die Männerabwesenheit erfüllten, mündeten, oberflächlich gesehen, nicht in ein neues Selbstbewußtsein.[2] Wie ändert sich das Rollenverständnis der Frauen durch die Abwesenheit der Männer bzw. deren Rückkehr?
Der Versuch, die subjektive Ebene transparent zu machen, bestimmte die Methode meiner Untersuchung. Ich wollte Frauen finden, die ihrerseits ein Interesse daran hatten, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Ich bot einen Volkshochschulkurs an, unter dem Motto: >Die eigene Geschichte erforschen<. Doch dazu meldeten sich nicht genug Frauen an, der Kurs fiel aus.
Durch eine Freundin bekam ich Kontakt zu einem Kreis von Frauen, die sich mit dem Problem alleine leben [3] beschäftigen. Hier lernte ich drei meiner späteren Gesprächspartnerinnen kennen: Maria Schenk, Ruth Gleichner und Eva Mack.[4] Nach einem ausführlichen Vorgespräch mit diesen Frauen erarbeitete ich einen groben Interviewleitfaden und führte im April 1981 die ersten Interviews durch. Weitere Gesprächspartnerinnen lernte ich durch Hinweise im Interview kennen (»ich habe eine Freundin, die kann Ihnen viel dazu sagen«, Frau Mack) und durch die Vermittlung von Freunden. Einziges Auswahlkriterium war das Alter: die Frauen sollten um 1920 geboren sein.[5]
Nach den Interviews, die im Durchschnitt drei Stunden dauerten, fertigte ich Gesprächsprotokolle an, um situative und non-verbale Elemente bei der Interpretation berücksichtigen zu können. Ziel meines interpretativen Vorgehens war einerseits eine Rekonstruktion der Situation aus der Perspektive der handelnden Frauen, andererseits ging dies einher mit der Analyse von dahinterliegenden lebensgeschichtlichen Deutungsmustern. Qualitative Forschung trägt so zur Erweiterung und Korrektur der herrschenden Geschichtsschreibung bei. Gerade Frauenforschung, deren Quellenlage mehr als dürftig ist, sollte nicht auf andere, zusätzliche Formen der methodischen Herangehensweise verzichten. Die Erweiterung der historischen Dimension um die subjektive Perspektive kann manche Nische ausleuchten und verhindert, Frauen in der Geschichte nur als Reagierende zu betrachten.

1. Weibliches Erleben und Erinnern

Kulturelle Definitionen von Frau-Sein, die gesellschaftlich und familial sozialisiert werden, kanalisieren die Wahrnehmungsvielfalt [6] und bestimmen damit auch die Erinnerung. Fragte ich die Frauen nach historischen Ereignissen (was machten Sie mit dem Geld der Währungsreform?), nach Berufstätigkeit etc., so leitete häufig das Erzählen von Familienereignissen die Erinnerung ein. Frau Scherer erzählte, wie sie nach Kriegsende immer wieder auch bei Bauern ausgeholfen habe:

  • »Aushilfsweise hat man halt, damit man halt das und jenes mal kriegt. Aber das ist dann auch alles weggefallen. Man hat dann ja immer mehr kaufen können, und die Männer haben immer besser verdient.«
    G. K.: »Ab wann war das für sie so?«
    »Ja, das war - also der Willi (dritter Sohn) ist 1955 auf die Welt gekommen, da wars dann schon. Da hat man sich schon vieles leisten können.«

Sind diese familiären Vorkommnisse Erinnerungsvehikel und strukturieren Zeit, so müssen ihnen beim Erleben besondere Bedeutung [7] beigemessen worden sein. In bezug auf das zitierte Beispiel leuchtet dies ein, die Geburtserfahrung, die neue Arbeit mit Kindern sind wesentliche und weittragende Einschnitte im Frauenleben. Frauengeschichte muß sich daher auf andere Schnitte einlassen. Leitlinien einer Frauengeschichte müssen frauengerechte Markierungen in der (Lebens-)Geschichte aufnehmen.
»Es wäre vielleicht manches noch bemerkenswert, aber es fällt einem nicht immer alles ein«, bemerkte Frau Scherer am Ende des Interviews. Es fällt einem nicht immer alles ein, weil manches sich im Erleben nicht festsetzt, nämlich die Ereignisse und Erlebnisse, die subjektiv als unwichtig erfahren werden. Die subjektive Wichtigkeit steht aber in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Normen und Werten. Anders ausgedrückt: Zwischen individueller Wahrnehmungsfähigkeit und gesellschaftlichen (Frauen-)Rolleninhalten besteht ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis. »Denn sie (die Frau) hat wie in einer >masochistischen Prostitution< die patriarchalischen Ideologeme selbst übernommen.«[8]
So sortiert die Frau in ihrem Tätigsein, in ihrem Erleben quasi vor, mit einem >männlichen< Blick auf Erinnerungswertes.
Das Erzählen von Erinnerung braucht aber auch einen Adressaten und kann dementsprechend unterschiedlich ausfallen. Der Produktcharakter [9] jedes Interviews wird besonders deutlich, wenn von den Frauen geschlechtliche Erfahrungen thematisiert werden. Das Ausbleiben der >Regel<, die Angst vor einer Vergewaltigung, die erlebte Vergewaltigung, das sind Erlebnisse, die ohne Zögern verbalisiert werden. Das Erinnerungsvermögen wird schwach, wenn es keine Gelegenheit gibt, das Gedächtnis zu üben: niemand hat sie (die alten Leute) je darum gebeten, sich zu erinnern, niemand hat sich je für ihre Erlebnisse interessiert.«[10] Was hier geschlechtsneutral' formuliert wird, gilt in besonderem Maße für Frauen, denn wer befragt sie nach ihrem (Hausfrauen)Alltag? Männer erzählen vom Krieg, bei Frauen gibt es nichts vergleichbar Akzeptiertes. Frau Schenk: »Mein Mann hat vom Krieg erzählt, stundenlang und immer wieder. Da bin ich oft bei eingeschlafen. Aber ich durfte nicht erzählen, da hieß es: >Ach, das ist doch vorbei<.«

2. Erinnerungsloser Alltag?

In den Interviews fragte ich die Frauen nach einem >Tagesablauf< sowohl Ende der vierziger, als auch Mitte der fünfziger Jahre.« Schnell stellte sich heraus, daß ich nicht von ein und derselben Frau zwei Tagesabläufe mit nur fünf Jahren Differenz erfragen konnte, weil in der Erinnerung die jeweiligen »Lebensabschnitte« anders liegen: vor/nach der Währungsreform, Flucht, Heirat, Geburt der Kinder, Berufswechsel etc. Einige Frauen waren irritiert, andere zögerten, bei keiner Frau gelang es, weiter als zum »Mittagessen« zu kommen, denn nach wenigen Sätzen waren sie bei konkreten Einzelheiten, die ihnen wichtiger erschienen. Bei diesen Einzelbegebenheiten verweilten die Frauen im Gespräch. Sie waren für die Frauen so bedeutsam, daß sie sich faktisch weigerten, einen idealtypischen Tagesablauf zu schildern. Sie waren viel interessierter daran zu erzählen, wie sie Nahrungsmittel organisierten, wie sie Wäsche wuschen und nicht, daß sie dies taten. So behielt ich zwar die Fragen bei, erwartete aber keinen minuziösen Bericht mehr, sondern nutzte diese Frage als »Katalysator«, als Erinnerungsanstoß.

  • G. K.: »Frau Bickert, wenn Sie nochmal an den Beginn der fünfziger Jahre zurückdenken, können Sie erzählen, wie Ihr Tagesablauf ausgesehen hat?«
    Frau Bickert: »ja damals, 1950, hab ich dann schon zwei Kinder gehabt. Ja, morgens ist man halt auch aufgestanden, Kaffee gekocht, Kinder gerichtet und selber auch. Eine Butter und ein Gsälzbrot haben wir gehabt morgens zu unserem Kaffee oder Tee oder Milch auch anno 1950, ja (lange Pause).
    G. K.: »Marmelade haben Sie selber eingekocht?«
    Frau B.: »Ja, die haben wir selber eingekocht, weil wir ja auch Beeren eigen gehabt haben. Und Zucker hat man da dann auch vereinzelt wieder gekriegt. Da hat man da ein Pfund gekauft und dort ein Pfund und ich weiß noch so gut, ich habe Taufe gehabt anno 50 und ich bin immer nur in ein Laden gekommen, und man mir weiter wie ein Pfund gar nicht gegeben. Ich hab gewiß gewußt, die haben schon Zucker, also ganze Säcke zugeteilt und dann ist unsere Oma durch die Stadt und ist da in ein Laden, wo sie selten mal reingekommen ist und hat zu dem Inhaber gesagt, wir hätten eine Taufe, ob er nicht ein paar Pfund Zucker geben wird. Da hab ich auf ein Schlag fünf Zucker gekriegt (Schmunzeln) und das hab ich dem Mann hoch angerechnet und bin natürlich dann vom anderen Laden weggeblieben.«

Die Frage zum Tagesablauf hat sie irritiert, »ja, man ist halt auch aufgestanden«, was soll da schon gewesen sein, könnte man meinen. Entschlüssele ich das Zitat von Frau Eickert, so lassen sich mehrere Tätigkeiten herausfiltern: Sie hat einen Garten versorgt, Marmelade gekocht, Kuchen gebacken, Kinder versorgt, Frühstück bereitet. Der Zuckereinkauf ist der zentrale Punkt in der Tagesschilderung, die schwierigen Umstände werden ausführlich erzählt. Es ist die Arbeit in ihrer zeittypischen Erscheinung, die hervorgehoben wird.
Ein weiteres Beispiel von Frau Scherer:

  • G. K.: »Frau Scherer, können Sie ungefähr für die Zeit als Sie ihrem Bruder den Haushalt geführt haben, also etwa 1948, Ihren Tagesablauf schildern?«
    Frau Scherer: »Also, man ist darauf bedacht gewesen, daß man irgendwo geholfen hat. Also man hat den Haushalt gemacht, hat sauber gemacht, hat gekocht, hat gewaschen, viel vertrennt hat man immer, wenn man jung ist, will man doch auch chic sein. Also ich weiß, ich war auch ewig am Vertrennen, aus alt hat man wieder etwas Neues gemacht und dann hat man gewaschen und gebügelt, und dann hat man einen alten Mantel vertrennt und dann hat es eine Jacke gegeben und so. Also man ist immer beschäftigt gewesen und nebenher halt Handarbeiten. Gestickt hat man damals nicht, also ich nicht, das war aus der Mode gegen heut, oder Teppich knüpfen hat man nicht gekannt ( ... ). Man war halt immer darauf bedacht, daß man etwas zum Essen und zum Anziehen gehabt hat, das war das Hauptproblem damals.«

Frau Scherer hat zwei Erinnerungszugänge: zum einen ihre Arbeit außer Haus, zum anderen eine Addition jeglicher Hausfrauenarbeit. Wichtig für sie war aber auch, chic zu sein und wie das damals möglich war, erzählt sie ausführlich. Da wechselte sie auch die Erzählebene von »man« zu »ich«, was eine Betonung, Verstärkung des Arguments bewirken sollte. Auch beim zweiten Wechsel läßt es sich so interpretieren, »also ich nicht«, denn Frau Scherer betont die Aktivität im Gegensatz zur vorherrschenden Alltagsroutine. Der Wechsel von »man« zu »ich« ist zum Teil auch umgangssprachlich bedingt, da es im Schwäbischen einen gängigen Tausch der beiden Ebenen gibt. Aber mit Isabelle Bertaux-Wiame kann man noch weiter gehen. »( ... ) Frauen hingegen berichten über Situationen und Szenen. Anstelle des Ich (der männlichen Erzählung) tritt zumeist das wir oder eine unpersönliche Erzählform wie: >Dann konnte man eben<. ...[12]
Frauen haben also eine andere Sprache, die ihnen jahrzehntelang mit dem Rollenbild der Passivität vermittelt wurde; sie wählen auch eine passive Sprache: das unpersönliche Man, das wir.
Frau Zschokke erzählte mir »ungefragt« einen Tagesablauf. Wir sprachen darüber, wie sie mit Trägerband gute Tauschgeschäfte tätigen konnte. Ich fragte nach, ob sie denn viel Zeit und Mühe investiert habe, um Eßbares zu organisieren.

  • »Ich kann Ihnen so ungefähr den Tagesablauf schildern. Es gab dann die doppelte Sommerzeit, jetzt geh ich schon ein Stück weiter. Es waren sehr heiße Sommer, das war schon 1945, aber 1946 wars gleich - man ist morgens um sechs Uhr schon aufgestanden. Normal hat man sich um sieben Uhr beim Gärtner angestellt, falls es da Spinat oder Setzlinge gab, oder mal 'nen Salat oder so. Und da hat man ja nur eine bestimmte Menge bekommen, und wenn ich vorne fertig war, hab ich mich gleich wieder angestellt, weil die Familie ja wirklich groß war. Also ein Pfund Spinat hat niemand gereicht, also mußte ich hinten wieder anfangen, um nochmal ein Pfund Spinat zu bekommen. Das hat halt manchmal nicht mehr gereicht, bis man dran kam wars alle, net. Dann habe ich Brennesseln dazu gesucht und habe dann Spinat gekocht. Wir sind Ähren lesen gegangen, das war ein hartes Brot, aber es hat mehr gegeben.«

Auch Frau Zschokkes Schilderung des »Tagesablaufs« erschöpft sich in der Beschreibung des Einkaufens, wobei sie das damals Typische betonte, das heute als Besonderes erscheint.
Der (Haus-)Alltag, hier in der Konkretion als Arbeitsplatz der Frauen, ist nicht erinnerungslos, aber er ist in seiner Reihung von hausfraulichen Arbeitsvorgängen für die Frauen nicht »erinnerungswürdig«. Die tagtägliche Gleichförmigkeit dieser Arbeiten, die sich bis heute durchzieht, ist nicht Erinnerung, sondern Realität. Erinnert wird nicht das Einkaufen, Kochen usw., sondern die Art und Weise wie dies ausgeführt wurde. Die Art und Weise ist das Vergangene und wird darum gern erzählt. Im Erzählen können sich die Frauen auf diese Weise von der Gegenwart entlasten, in der sie andere, aber eben diese Probleme nicht mehr haben.
Bei eindeutig außergewöhnlichen Erlebnissen »arbeitet« die Erinnerung schneller. Nach Flucht, Hunger muß ich nicht fragen, die jeweils einschneidenden Erfahrungen werden breit und ausführlich berichtet. Da ist die Vergangenheit lebendig, die Geschichten aus der Geschichte sind schon oft erzählt worden. Die Rekonstruktionen sind perfekt und in ihrer Eloquenz bestechend. Erinnerungen sind immer auch Rekonstruktionen, denn »Sinn wird den Erlebnissen nachträglich, vom augenblicklichen Bewußtseinsstand verliehen«.[13] Diese nachträgliche Interpretation kann dazu führen, daß eigenes Fehlverhalten ausgespart oder umgedeutet wird,[14] oder aber, daß schlechte Erinnerungen vergessen und nur die guten im Gedächtnis behalten werden.« »Schlechte Erinnerungen« können auf eigenem Fehlverhalten, aber auch auf Fremdeinwirkung basieren, und diese Art der Erinnerung, die »individuelle Lebenstragik«, ist nicht auszuschließen aus dem Sich-Erinnern. Gleichgültig zu welchem lebensgeschichtlichen Zeitpunkt sie kulminiert, im biographischen Interview wird sie mehr oder weniger thematisiert. Frau Scherer erzählte voller Trauer vorn Selbstmord ihres Sohnes, während Frau Bickert den Tod ihres Mannes kaum erwähnte. Beide Situationen machten mich betroffen, denn auch durch das Aussparen fühlte ich mich beklommen, besonders da ich wußte, daß Frau Bickert sehr gelitten hatte nach dem Tod ihres Mannes. Nun wich sie den Fragen nach ihm immer aus. Über das Schweigen aber, ist das Verdrängte dennoch präsent im Gespräch.

3. Die Nöte der Nachkriegszeit

Waren Rottenburg und Tübingen kaum bzw. gar nicht zerstört worden, so war dennoch auch hier der insgesamt knapper gewordene Wohnraum spürbar. Angehörige der Besatzungstruppe oder Flüchtlingsfamilien wurden einquartiert. Wer in Rottweil oder Rottenburg wieder ins elterliche Haus zurückkehren kann, hat schon große Schwierigkeiten gemeistert. Anders geht es Frau Kanzke. Die elterliche Wohnung in Stuttgart wurde ausgebombt. Als der Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, lebt die vierköpfige Familie mit einer Tante in einer eineinhalb-Zimmer-Wohnung.
Gegen Ende des Krieges treffen sich die weiblichen Mitglieder der Familie Schenk bei der Stiefmutter. Als sie flüchten, suchen sie zuerst Unterkunft bei einer Schwägerin. Frau Mack, ausgebombt, kehrt ins Elternhaus zurück, ebenso Frau Zschokke als sie aus der Gefangenschaft entlassen wird. So ist in gewissem Sinn die Familie der Ort, an dem man sich trifft und die erste Zeit nach Kriegsende auch zusammen verbringt. Sobald die finanziellen Möglichkeiten es erlauben, versuchen sie allerdings diese »Einheit« wieder aufzulösen.
Geflüchtet zu sein, bedeutet 1947 als Frau Schenk aus der SBZ >rüberkommt<, zu dritt in einem kleinen Zimmer zu wohnen, nur ein Bett zu haben und fast keinen Hausrat mehr zu besitzen:

  • »Für mich gabs keine Arbeit und mein Mann hatte auch keine Arbeit. Der war Maurerpolier und ist dann nach L., da gabs Arbeit. Da ging das getrennte Leben wieder los, er kam alle vier bis fünf Wochen nach Hause (...). Ich habe in einem Einfamilienhaus gewohnt, die mußten Flüchtlinge aufnehmen. Da waren zwei Damen aus Breslau und ich und das Kind. Mein Mann wohnte da bei dem Bauherrn in Baracken ( ... ). Alles was ich hatte, hatte in dem kleinen Zimmer Platz. Mein Mann mußte ja auch gehen, wir hatten nur ein Bett.«

Aber auch eine kleine Wohnung zu haben (vgl. Abb. 1), heißt nicht, daß jeder einen Bereich für sich haben kann. Heizmaterial ist schwierig zu bekommen, und die Winter sind hart. In dem Dorf H. und in Rottenburg kann man im Gemeindewald Holz sammeln; aber nur mit Holz allein geht es auch schlecht:

  • »Wir haben die Kohlen aus dem Kohlenstaub rausgepult. Den Kohlenstaub hat man dann im Einer mit Wasser angerührt und dann ein kräftiges Holzfeuer gemacht und den Kohlenstaub draufgetan. Das war die Heizung und dann hat man im kleinsten Raum Feuer gemacht« (Frau Zschokke).

Hier im »Ländlichen« ist die Versorgungslage nicht ganz so katastrophal, wie in den großen Städten. Zwar liegt die Kalorienzahl der Lebensmittelkarten in der französischen Zone mit 900-1000 Kalorien für den Normalverbraucher weit unter dem Existenzminimum,[16] aber mit immensem Kräfteeinsatz und Improvisationsvermögen, können die Frauen zumindest die größte Not verringern. Frau Scherer kümmert sich um ein kleines Stück Acker, Hühner und Stallhasen. Zusammen mit ihrem Mann gelingt es, ein Schwein heimlich durchzufüttern und schwarz zu schlachten.
Frau Bickerts Vater wird als Schmiedemeister mit Naturalien bezahlt. Für sie ist das eine große Erleichterung. Frau Zschokke bewirtschaftet ein Stück Garten und hat aus Italien Trägerband mitgebracht, mit dem sie gute Tauschgeschäfte tätigen kann. Nicht geflüchtet zu sein heißt, Freunde und Bekannte zu haben, man kennt Bauern aus der Umgebung oder versucht zumindest, sich weitgehend selbst zu versorgen. Das heißt nicht, daß die Versorgung problemlos ist. Frau Bickert: »Die Not war so groß, da hat man immer geguckt, wo man was erhaschen kann.« Wenn man etwas geschenkt bekommt oder es eine Sonderzuteilung gibt, dann geht man vorsichtig mit den Lebensmitteln um, denn sie sind »kostbar« und werden »eingeteilt«.

Die Freude ist groß, wenn man sich wenige Tage keine Sorgen zu machen braucht. Die Ernährung zu sichern wird zur Hauptarbeit. Es wird eingekocht und gebacken, der Garten muß versorgt werden und bei den Läden muß man anstehen, und die »Routinearbeiten« müssen ebenfalls erledigt werden: Kinder versorgen, putzen, waschen und kochen und unter Umständen hat man irgendwo eine Aushilfstätigkeit angenommen und versucht, »aus allem was zu machen«:

  • »Wir haben grüne Erbsen geröstet und die gemahlen und das war Kaffee, und dann mußte man natürlich erst mal Erbsen haben, und dann - der Glaube macht selig« (Frau Zschokke).

Frau Kanzke erzählte, man habe Unmengen gegessen, einen aufgedunsenen Bauch gehabt und sei doch immer hungrig gewesen.
Ohne die Hilfe von Freunden oder Bekannten, ohne die Möglichkeit, einen Garten oder Acker zu bearbeiten, bleibt den Flüchtlingsfrauen nur »das Stoppeln« oder die Hamsterfahrten. So wendete Frau Freund im Gespräch mit Frau Bickert ein:

  • »Es gab doch nichts, die Frau Bickert ist ja noch golden dran gewesen. Wir haben ausgemahlene Kleie gekriegt, da haben wir Suppe gekocht, die hat überhaupt nicht mehr gebunden. Von den gestoppelten Zuckerrüben haben wir die ausgekochten Schnitzel reingetan, die wurden so mit der Raspel kleingemacht. Und dann haben wir ein bißchen Gerste gehabt, und die haben wir durch die Kaffeemühle gedreht und rein. Das war unser Essen. Und da haben sich die Männer noch drum gerissen. Der Vater und mein Mann: Wer darf heute mal unten das Angelegte am Topf ausessen? Wir waren fast verhungert.«

Die Zeit der schweren Not endet nach der Erinnerung der Frauen mit der Währungsreform 1948: »Nach der Währung gings besser, schlagartig« hats alles wieder gegeben« (Frau Bickert). Frau Freund, Frau Schenk und Frau Gleichner, die zwischen 1953 und 1956 aus der DDR kommen, empfinden diesen Ortswechsel als Wendepunkt zur Besserung. Frau Gleichner bildet aber insoweit eine Ausnahme, als sie keine Familie mehr zu versorgen hat und seit 1949 in Dresden in einer noch privaten Klinik arbeitet. Alle anderen Frauen (außer Frau Kanzke, die noch zu jung ist) sind mitverantwortlich für Kinder und/oder Ehemann und/ oder Eltern, Onkel, Tanten, Schwiegereltern. Das bedeutet durchgängig, egal ob die Männer anwesend sind oder nicht, daß es allein den Frauen obliegt, sich um die Haushaltsdinge zu kümmern. Der Mann/Vater geht zwar mal mit zum Hamstern oder zum Holzschlagen, insgesamt ist er für den ganzen Haushaltsbereich nicht zuständig.
Frauen in der Geschichte V Ähnlich schwierig wie mit der Nahrungsmittelversorgung ist es auch mit Kleidung und Schuhen. Ohne Bezugsscheine ist die Reichsmark nutzlos, und diese Scheine sind schwer zu bekommen. Sie habe ihren alten, zerlöcherten Unterrock vorzeigen müssen, um die Notwendigkeit der Neuanschaffung zu beweisen, erzählte Frau Frey aufgebracht. Aber auch mit Bezugsschein gibt es unter Umständen nur Holzpantinen und »damit habe ich mir die Füße kaputt gemacht« (Frau Frey). Den Improvisationen sind keine Grenzen gesetzt. Mit Kreativität und enormen Kräfteeinsatz versuchen die Frauen »aus allem was zu machen« (Frau Muhl). Aus Tarnstoff und Schlüsselringen als Henkel werden Einkaufstaschen genäht. Schaumlöffel entpuppen sich als Gasmaskenfilter. Aus Anzugshosen werden Knabenhosen, aus Vorhängen und Bettlaken werden Kleider und Windeln geschneidert. Alte Pullover werden aufgezogen, die Wolle über ein Holzbrett gespannt, überbrüht, um die Fäden zu entkräuseln und aus vielerlei Resten neue kunterbunte Pullover gestrickt. »Man hat vertrennt, vertrennt und wieder vertrennt« (Frau Scherer).
Ohne Seife wird das Wäschewaschen zur unendlichen Plackerei und die wenigen Stücke können, wie bei Frau Scherer, dazu führen, daß die Sauberkeitserziehung der Kinder noch rigider gehandhabt wird.

  • »Und immer sind sie dreckig heimgekommen und dann habe ich sie manchmal verprischt. Ich war auch nicht immer gleich aufgelegt und hinterher hats mi manchmal gereut. Aber heut hat man doch fünf, sechs Hosen. Meine Enkelkinder kriegen von mir kein Plätschle, das gibts heute nicht mehr.«

Zuweilen erfüllt es sie zumindest in der Erinnerung mit Stolz, was sie alles geleistet haben. Die schwierige Lage ändert sich für die Mehrzahl meiner Interviewpartnerinnen 1948 mit der Währungsreform und dann geht es relativ schnell aufwärts: »1954/1955 haben wir das gehabt, was man so gebraucht hat« (Frau Zschokke). Das Ende der Notzeit ist aber immer ein subjektives Empfinden. Frau Zschokke konnte 1953 den ersten Urlaub am Bodensee machen, wenn auch nur für fünf Tage. Sie hatte das Glück weder die Wohnung noch Möbel im Krieg zu verlieren. Der Mann fand schnell wieder Arbeit und, nachdem die Rationierungen für Gas und Wasser wegfielen, ordnete sich das häusliche Leben für sie. Die Frauen, die geflüchtet waren, erlebten das Ende der Not einige Zeit später, entsprechend ihrer Ankunft im Westen. Frau Scherer und Frau Muhl, die beide mit vielen Kindern ans Haus gebunden waren, deren Ehemänner wenig verdienten, spürten Knappheit und Not bis in die 60er Jahre.

4. Das Beziehungsgefüge

Meine Gesprächspartnerinnen betonten alle, daß Heirat und »Familie gründen« eine ganz zentrale Rolle für sie gespielt habe. Heiraten ist für die Mehrzahl von ihnen erklärtes Lebensziel und Lebensinhalt. »Ich habe immer gedacht, wenn ich heirate, habe ich ein schönes Leben« (Frau Schenk). Sie mußte diese Vorstellung zwar im Laufe ihres Lebens revidieren, aber als junges Mädchen schien ihr das Leben ihrer Mutter, die nicht berufstätig war, durchaus erstrebenswert.
Verheiratet zu sein, ist von außerordentlicher Wichtigkeit, ein »spätes Mädchen«, »altjüngferlich« - das möchte keine sein, damit steigt die Heirat als Akt in der Wertschätzung: »Meine Hochzeit war so schön. Das sagen heut noch alle meine Schulkameradinnen . . . Man hat das Ziel gehabt zu heiraten und es ist damals schnell gegangen, da hat man nicht so lange gefaxt.« Frau Scherer meint dies im Gegensatz zu heute, wo man einfach so zusammenlebt und sich »prüft«. Das erregt gleichermaßen Faszination und Befremdung.
Hinzu kommt, daß bei einer Heirat keine Berufsausbildung notwendig erscheint. Im Haushalt mitzuhelfen ist die »richtige« Vorbereitung für die spätere Aufgabe als Hausfrau und Mutter. Daß also die vier Frauen (Schenk, Scherer, Bickert und Mack), die keine Berufsausbildung erhalten konnten, Heirat als Lebensziel angaben, kennzeichnet die fehlende Berufsausbildung sowohl als Ursache, als auch als Folge eben dieses Sachverhaltes. So ist es auch kein Wunder, daß etwa die Hälfte der Frauen heiratete, weil sie schwanger waren. »Damals wars noch nicht so mit der Pille« (Frau Schenk) oder »das zweite Kind war dann geplant« (Frau Zschokke). Auf diesem Spektrum bewegten sich die Antworten und insgesamt ist es nicht tragisch: man will ja sowieso heiraten; so bestimmt die Schwangerschaft den Heiratstermin und vielleicht den Mann. Die ungebrochene Bewertung der Heirat als etwas Erstrebenswertes stabilisiert die traditionellen Geschlechterrollen. Nicht zuletzt mag auch die nationalsozialistische Ideologie, die Erziehung der »Mädchen zu Müttern«, hier ihre Folgen zeitigen, auch wenn das von den Frauen selbst nicht reflektiert wird.
Unabhängig von der Herkunft erleben die Frauen in der Nachkriegszeit Angst und Schrecken vor einer Vergewaltigung. Relativ offen wird dies bis heute Tabuisierte von ihnen erzählt.***417.12.***
Die Angst vor einer Vergewaltigung ist nicht begrenzt auf die Flüchtlingsfrauen oder die Frauen in der Großstadt oder Frauen mit kürzerer oder längerer Schulausbildung, sie betrifft Frau Scherer genauso wie Frau Muhl. Vergewaltigt wurden Frau Schenk und Frau Gleichner. Frau Schenk äußert sich heute noch sehr betroffen, Frau Gleichner erzählte gelassen: »Ein Unglück mehr in der Not.« Ob betroffene oder resignative Erinnerungen bleiben, die Frauen haben eine gewalttätige Verletzung ihres Körpers erfahren müssen. Ungeschützt durch Konventionen, die dem Sieger, dem Soldaten die Vergewaltigerrolle zugestehen, sind sie wehrlos. Es ist denkbar, daß sie die Ehe auch als einen Ausweg sehen, dieser offenen männlichen Gewalt zu entgehen (auch wenn sie sie oftmals durch eine rechtlich legitimierte eintauschen).
Renate Wiggershaus führt aus, daß über Vergewaltigungen nach dem Zweiten Weltkrieg nie öffentlich diskutiert wurde: einerseits schwiegen die Frauen aus Angst sozial geächtet zu werden, andererseits konnte dadurch auch zu den Greueltaten der deutschen Männer in den besetzten Gebieten geschwiegen werden.[19]
Weder Frau Schenk noch Frau Gleichner hatten jemanden, mit dem sie über ihre bittere Erfahrung sprechen konnten. Sie versuchen mit der Schmach und dem Zorn allein fertig zu werden.
Die Angst vor einer Vergewaltigung bestimmte für die Frauen die ersten Wochen nach der Kapitulation, die Ankunft der französischen Besatzungssoldaten wurde mit Schrecken erwartet. Frau Scherer und die anderen jüngeren Frauen aus ihrem Dorf versteckten sich tagelang im Wald. Als nichts passierte, kehrten sie wieder zurück. Frau Muhl hörte nachts die Hilferufe von Frauen aus der Nachbarschaft, hilflos saß sie in ihrer Wohnung. Die Geschichten, wie sie einer Vergewaltigung gerade noch entgehen, sind zahlreich: Gemehlte Gesichter, um eine Krankheit vorzugaukeln, ältere Frauen, die sie bei der Durchsuchung des Hauses unter Decken verstecken und sich daraufsetzen, der Offizier, der in letzter Minute den Soldaten »davon« abhält ...
Doch so »hart« (Frau Muhl) waren nur die ersten Wochen der Besatzungszeit, die Zeit der »elenden Angst« (Frau Scherer) ging vorbei. Keine Angst gehabt zu haben, betonten sie alle, wenn es darum ging, Essen zu organisieren, schwarz in die SBZ zu fahren, um noch weniges an Hausrat nachzuholen; der Kinder wegen sich auf Tauschgeschäfte mit den Besatzungssoldaten einzulassen. Selbstbewußt und stolz erzählten sie, wie und was sie gerettet haben, wo sie trotz aller Not beweisen konnten, eine »gute Hausfrau und Mutter« zu sein. Für das Jahrzehnt nach Kriegsende zeichneten sich im Leben und Erleben meiner Gesprächspartnerinnen keine Veränderungen im Geschlechterverhältnis ab. Meine Frage, ob sie denn Auswirkungen des Frauenüberschusses gespürt hätten, ob darüber gesprochen wurde, verneinten sie. Nur Frau Scherer bemerkte: »Die Hübschen waren zuerst weg (verheiratet G. K.)«. Die Vermutung liegt dennoch nahe, daß der große Frauenüberschuß auch Experimente im Alltagsverhalten bremste. Denn welche Frau wollte damals riskieren, eventuell keinen (Ehe-)Mann zu bekommen bzw. ihren Mann zu verlieren?
Gleichwohl bestanden auch viele schwierige Momente in den Partnerbeziehungen. Lange Abwesenheit des Ehemannes durch Kriegseinsatz und Gefangenschaft, psychische Belastungen im »Chaos« der Nachkriegszeit führten zur Entfremdung der Ehepartner, und Frustrationen häuften sich. »Die langjährige erzwungene Selbständigkeit der Frauen war unzweifelhaft das Grab mancher Ehe.«[20] Interessant ist hier an Hirschfelds Argumentation, daß er implizit den Frauen die Schuld an den gescheiterten Ehen gibt. Ansteigende Scheidungszahlen,[21] die ab 1950 langsam wieder abnehmen, sind sicher auch Ausdruck der durch Kriegs- und Nachkriegszeit belasteten Beziehungen, bekunden dann andererseits aber auch ein Arrangement mit der Ehe.
Frau Kanzke erzählte von ihren Eltern: der Vater kehrte sehr bald nach Kriegsende nach Hause zurück, dann war er allerdings arbeitslos. Nach Meinung ihrer Mutter kümmerte er sich nicht energisch genug um neue Arbeit, es kam zu vielen Streitereien. Zusätzlich belastend wirkte sich aus, daß die Eheleute seit der Heirat im Krieg noch nicht länger zusammengelebt hatten. Nachdem sich dann allerdings die äußeren Verhältnisse wieder gebessert hatten, hörten auch die Streitereien auf.
Sprachen die anderen Frauen wenig über diese kriegsbedingten Folgen im Eheleben, so erzählte Frau Schenk Probleme, die ihr weiteres Leben bestimmten. Sie hätte ihren Mann zweimal vierzehn Tage erlebt, als er Urlaub hatte, und dann heirateten sie während des Krieges. Sie bekam ein Kind, das dann fast 2 Jahre alt war, als der Vater es das erste Mal sah. Konflikte in der Kindererziehung entstanden, weil der Vater zu streng war. Auch nach dem Krieg lebten sie weiter einige Jahre getrennt bis auf vierwöchige Wochenendbesuche, da der Ehemann am Wohnort keine Arbeit fand. Frau Schenk fühlte sich bevormundet durch ihren Mann und durfte »nichts alleine machen«. Letztendlich dauerte es viele Jahre bis sie sich entschloß diese Ehe zu lösen. Die beiden Kinder waren längst außer Haus und die letzten Jahre wollte sie sich selber schön machen; dies waren unter anderm die Argumente für eine Scheidung. Doch auch die langjährigen Auseinandersetzungen um ihre Selbständigkeit schlugen in Widersprüche um. Frau Schenk möchte nicht mehr in einer Zweierbeziehung leben, dazu müsse sie jetzt zu viel von sich aufgeben, aber einen Freund hätte sie schon gerne. Sie würde ihm den Haushalt führen, weil ein Mann das nicht könne.
Berichtet also die Mehrzahl meiner Interviewpartnerinnen weder von Unsicherheiten noch von Problemen in der Geschlechterbeziehung, so stellt sich die Frage, wie die Frauen den Widerspruch zwischen Selbständigkeit und Unterordnung für sich auflösen.[22]

5. Selbständigkeit oder Unterordnung

Ein durchgängiges Argumentationsmuster der Frauen bei meinen Fragen nach Selbständigkeit, nach Diskussionen über den Gleichberechtigungsartikel im Grundgesetz, war der Hinweis auf die Unmöglichkeit, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen, weil die Not zu groß gewesen sei. Der äußere Druck durch die Verhältnisse habe verhindert, sich über die Situation als Frau Gedanken zu machen. Die Frauen erwähnen, daß sie zwar selbständig gehandelt hätten, aber dies sei selbstverständlich und nicht selbstbewußt geschehen. Frau Kanzke: »Selbständig waren die Frauen unter dem Druck der Verhältnisse. Ich erinnere nicht, daß sich die Frauen besonders großartig vorgekommen waren. Das Selbstbewußtsein war nicht ausgeprägt.«
Frau Mack nahm dazu Stellung: »Ich bin erst selbständig geworden, als mein Mann nicht mehr lebte.« (Der Mann von Frau Mack starb 1959.)
In diesem Satz stellte sie in Aussicht, daß sie später Veränderungen durchmachen wird; in der Nachkriegszeit - sie hatte ihren Mann zwei Jahre nicht mehr gesehen - bemerkte sie keine einschneidenden Folgen für sich selbst.
Solange die Frauen verheiratet waren, lebten sie, auch bei Abwesenheit der Männer, in dem Bewußtsein verheiratet zu sein. Ein Moment der Verstärkung, das eine neue Einschätzung erschwerte, lag einerseits in der Antizipation des gesellschaftlichen Rollen- und Normengefüges. Die Nachbarn, die Eltern, der Sohn von Frau Mack, jeder für sich und alle zusammen, bestätigten ihr täglich, eine verheiratete Frau zu sein und dementsprechend leben zu müssen. Andererseits zeigte sich hier ein Indiz für die dahinter liegende Problematik gesellschaftlicher Sozialisation von Weiblichkeit. Frauen haben es schwer mit der »sicheren Gewißheit vom Vorhandensein eines eigenständigen Ichs.[23] So ist es nicht verwunderlich, wenn die Rückkehr der Männer als Erleichterung empfunden wurde [24] unter dem Eindruck, daß man sich die Not, die Arbeit, die Sorgen »teilen« kann.
Frau Gleichner ging 1956 eine »Vernunftehe« ein. Sie heiratete den Mann ihrer verstorbenen Schwester, um durch ihn in den Westen zu gelangen. Die Ehe endete nach wenigen Jahren durch den Tod des Mannes.

  • »Ich habe Ihnen ja gleich gesagt, daß ich also so frauenspezifisch, da kann ich gar nichts zu sagen. Wie die Frauen zum Beispiel reagiert haben, als die Männer zurückkamen. Das war einfach ganz praktisch, daß die Frauen enorm froh waren, daß sie den ganzen Kram nicht mehr alleine machen mußten. Wenn ich daran denke, wie ich die Frau über mir beneidet habe, als sie dann nachts Bäume fällen konnte mit ihrem Mann. Ich konnte sehen, wie ich mit Mutter alleine das Zeug ran bekam. Und auch sonst, lieber Gott, da war jeder froh, wenn er die Not zu zweit tragen konnte.«

Frau Scherer:

  • »Also, so wie heut, daß man auf die Barrikaden geht, wenn was nicht durchgeht oder so. Also man war halt Frau und das war für einen gelaufen sozusagen. Man hat sich also gegen nix aufgelehnt (...). Die Männer waren immer Herr und Gebieter, was die gesagt haben, das hat man gemacht. So blöd war man eigentlich, also heute ärgere ich mich manchmal darüber. Ich lehn mich oft auf, heute noch und sage: Es geht nicht immer nach deinem Kopf. Es ist jetzt lang genug nach deinem Kopf gegangen. Jetzt gehts mal nach meinem Kopf.«

Die Rollenverteilungen werden auch bei extremsten Belastungen nicht von ihr in Frage gestellt; dennoch kündigt sich im nachhinein Kritik an. Frau Scherer erzählte aus dem Jahr, in dem ihr Mann »ohne Bezüge« krank war und sie zum Arbeiten ging.
Der Ehemann habe sich zwar um die Kinder gekümmert, »aber gespült hat er nicht. Ich war vielmals wütig. Da hats viel Krach gegeben. Die Rollen waren damals nicht gerecht verteilt. Also die Frau hat immer für den Haushalt da sein müssen, ob sie was gemacht hat (Lohnarbeit G. K.) oder ob sie nichts gemacht hat.«
Übereinstimmend bei meinen Gesprächspartnerinnen (mit Ausnahme von Frau Zschokke) kommt zum Ausdruck, daß seit 10 bzw. 15 Jahren Änderungen in ihrem Verhältnis zur Frauenrolle aufgetreten sind.
Ausschlaggebend für diesen Einstellungswandel sind, vergleiche ich die Lebensläufe und die Zeitpunkte, für die eine Veränderung angegeben wird, vor allem zwei Punkte. Die altersbedingte Entlastung der Frauen von Kinderarbeit führt dazu, daß eigene Wünsche eher wahr- und ernstgenommen werden. Die Möglichkeit für manche Frauen, wenn die Kinder das Elternhaus verlassen haben, verstärkt eigenes Geld zu verdienen, reduziert die ökonomische Abhängigkeit vom Ehemann.
Hinzu kommt, daß sich seit den 1960er Jahren ein »Rollen-Wandel« auf breiterer Ebene realisiert, ohne das Wesen der Diskriminierung zu berühren.[25] Gleichwohl beeinflußt auch diese Entwicklung das individuelle Rollenverständnis.
Die Nöte der Nachkriegszeit, das betonen sie immer wieder, hätten eine Auseinandersetzung mit der Frauenrolle verhindert. »Wir waren mit unserem nackten Überleben beschäftigt«, faßt Frau Zschokke am Ende des Interviews nochmals zusammen. Sie sieht keine Probleme in der Frauenrolle, denn sie sei immer selbständig gewesen und habe mit Diplomatie viel mehr erreichen können:

  • »Ich war nie der Typ der unselbständig war. Ich habe mich immer durchgewurstelt, (...) das hängt sicher vom einzelnen ab. Es gibt Frauen, die sind gut in ihrer Rolle als zweite.«

Das ist die Devise nach der Frau Zschokke auch lebt. Sie fällt alle Entscheidungen, die die Familie betreffen und ist eine stete Ratgeberin ihres Mannes. Im Gespräch fiel mir auf, mit welcher Intensität und Ausgiebigkeit sie die Karriere ihres Mannes schilderte. In diesem Zusammenhang drängte sich mir der Gedanke auf, daß Frau Zschokke die Karriere ihres Mannes mit Recht auch als ihr Produkt empfindet.

6. Politische (Ent-)Haltungen

Bei der Interpretation der Interviews wurde mir klar, daß die Bewältigung bzw. das Verdrängen des Faschismus eine Frage ist, die nicht an den Rand geschoben werden darf. Einerseits beeinflußt dieser Punkt mit am stärksten das Heute und damit die Interviewsituation, andererseits bedeutet eine Nichtauseinandersetzung mit dem Faschismus auch die Unmöglichkeit, mit Distanz dem Ideal »nationalsozialistischer Mütterlichkeit« entgegenzutreten. Parallelen sehe ich hier zu der Vergewaltigungsproblematik. Der gesellschaftliche Nicht-Umgang mit den Vergewaltigungen verhinderte für die Frauen eine geschlechtliche Solidarisierung auf breiterer Ebene, die Verdrängung des Faschismus nahm den Frauen die Möglichkeit einer differenzierten Kritik am Frauenbild der Nachkriegszeit.
In den Erinnerungen meiner Interviewpartnerinnen steht die Kriegszeit in keiner Beziehung zum deutschen Faschismus. Es scheinen zwei ganz verschiedene Sachen zu sein, der Krieg, den sie erlitten haben und der Faschismus, den sie verdrängen. In meinem Gesprächsleitfaden habe ich keine Frage zum Faschismus aufgenommen, denn ich wollte erfahren, wie und wann die Frauen ihn von sich aus thematisieren. Keine der Frauen machte eine Bemerkung über die Judenverfolgung oder Konzentrationslager. Wenn sie erwähnten, daß sie etwas gegen »die Braunen« hatten (Frau Gleichner) oder daß die Juden »verfemte Menschen« gewesen seien (Frau Kanzke) und damit andeuteten, daß sie diese Meinung nicht geteilt haben, so sind dies kritische Äußerungen. Bewußt »dagegen« gehandelt hat Frau Muhl, die verfolgten Freunden Unterschlupf gewährte und Frau Gleichner, der im letzten Kriegsjahr der »Wahnsinn« deutlich wurde und die ab dem Zeitpunkt Propagandanachrichten, die sie in Säuglingspflegekursen verbreiten sollte, nicht mehr weitergab.

  • »Katastrophal wirkte sich aus, daß eine ganze ältere Generation so lebte, als habe sie ihre Vergangenheit kraft bloßer Einbildung ungeschehen gemacht. Das Ganze der Vergangenheit wurde derealisiert und mit Tabu belegt.«[26]

Allerdings wurde nicht das Ganze der Vergangenheit derealisiert, sondern nur der Bereich, in dem man im weitesten Sinne Täter war. Gleichwohl gilt vor allem für Frauen als Mehrheit der Zivilbevölkerung, daß sie auch Opfer waren, und dieser Aspekt wird von ihnen um so mehr betont. Die Erfahrungen von Flucht und Not scheinen jedweden politischen Zusammenhang zu überdecken.
Frau Bickert:

  • »Man hat eigentlich alles so relativ schnell vergessen, dadurch, daß so viel Angebote da waren, die man besuchen und mitmachen konnte.«
    G. K.: »Was hat man vergessen?«
    B.: »Die Not. Wo man wieder genügend zum Essen gehabt hat, als die Marken wegfielen, hat es sich wieder normalisiert.«
    G. K.: »Haben Sie darüber nachgedacht, warum es Ihnen so schlecht ging?«
    B.: »Nur durch den Krieg, weil ja die ganze Welt gegen uns war. Das Schlimmste waren die zerbombten Städte.«

Die Not, und damit ist, wie Frau Bickert sagte, vor allem die Not an Lebensmitteln gemeint, hat im subjektiven Erleben die einschneidendste Auswirkung gehabt. Dies mag mit ein Grund sein, daß das Ende des Krieges als Befreiung bzw. die Freude darüber relativ wenig betont wird. Frau Schenk und Frau Kanzke betonten, daß sie froh waren, daß die Zeit der elenden Angst vorbei war. Auch Frau Muhl bestätigte eine Erleichterung darüber, daß das Kriegsende das Ende der Nationalsozialisten bedeutete. Ansonsten ist das Kriegsende mehr der Zeitpunkt, an dem das Essen noch schlechter, alles erst mal noch schwerer wurde.
Ich habe versucht, die politischen Aussagen in bezug auf den Faschismus herauszufiltern und zu betrachten, wie die Frauen mit ihrer Vergangenheit umgehen. Zusammenfassend kann ich sagen, daß die politische Haltung nicht eindeutig ist; keine der Frauen war z. B. aktiv und bewußt im Widerstand. Wer allerdings stolz war auf eine Karriere im Nationalsozialismus, die äußerte sich unmißverständlich (Frau Zschokke). Auf der anderen Seite blieben die Äußerungen notgedrungen vage. Da gab es alltägliche Weigerungen und Fluchtecken, da schien das Reden über Juden oder den Faschismus als solchen zu kennzeichnen schon viel zu sein.
Ist die politische Haltung zum Faschismus für die meisten eine politische Enthaltung in bezug auf Widerstand, so gilt in der Nachkriegszeit für die Frauen, außer Frau Muhl, daß sie sich gänzlich zurückziehen von politischen Aktivitäten, ja sich sogar keine Meinungen mehr gestatten zu diesem Bereich. »Wir kamen nicht zum Überlegen, weil man so beschäftigt war und sich dachte, wo krieg ich das nächste her.« (Frau Mack). An anderer Stelle versuchte sie nochmal zu erklären, warum sie sich nicht um Politik gekümmert hätte: »Aber wie gesagt, vielleicht war ich innerlich auch noch nicht so reif, aber ich war auch so erschüttert von all dem, was hinter uns lag, daß ich mich wirklich nicht dafür interessierte. Es war schon so viel, überhaupt durchzukommen, das kann man sich heute nicht vorstellen, aber es war so.«
Für das erste Jahrfünft nach Kriegsende gilt die Notsituation als Erklärungsmodell. Ab der Währungsreform ist es dann nicht mehr die Not, es herrschte vielmehr eine fatalistische Anschauung, verbunden mit erneuter Kriegsangst.
Frau Bickert:

  • »Anfang '50 hat man gedacht, es gibt bald wieder Krieg. Es war eine ganz unruhige Zeit nachher, und jedes hat sich geduckt und Angst gehabt. ( ... ) Und ich habe mich dermaßen reingesteigert, weil ich da das zweite Kind erwartet habe. (...) Aber mein Mann hat mich dann ganz aufgerichtet und hat gesagt, da darfst du überhaupt nicht daran denken. Es kommt doch was will. Aber dann ist alles gnädig vorbeigegangen. Wir haben damals dann den Adenauer gehabt und das war ja ein ganz schlauer Fuchs. Der hat mit viel Diplomatie viel verhindert, also politisch. Und damals hab ich mir gesagt, jetzt lasse ich mich auf gar nichts mehr ein, sonst ist man mit den Nerven total am Ende, und habe mich auch ganz umstellen müssen. Man hat die Angst und den Schrecken in sich gehabt, noch lange.«
    G. K.: »Was heißt das, Sie lassen sich auf nichts mehr ein?«
    B.: »Ich habe mich da halt gefestigt und habe gedacht, ich darf das nicht an mich ranlassen, wenn die Leute unken und Unheil verkünden und bis jetzt ist es immer gnädig weitergegangen.«

Diese Gleichgültigkeit, die sich Frau Bickert hier gegen ihre Angst selbst verordnet, ist Teil eines Phänomens, das Schelsky[27] das »gesamtgesellschaftliche Desinteressement« nennt. Hier wird deutlich, daß die Rechtfertigungen, zur Identitätssicherung nicht gleich nach dem Krieg eingesetzt haben, sondern daß man sich zunächst der politischen Apathie hingibt. Frau Mack sagte: »Ich war auch so erschüttert von all dem, was hinter uns lag, daß ich mich wirklich nicht dafür interessierte.« Frau Bickert bemerkte: »Ich laß mich auf gar nichts mehr ein.«
Von heute aus gesehen werden die Bruchstellen mit dem Kitt der Rechtfertigungen zugeschmiert, aber für die Nachkriegszeit gilt erstmal, daß die Apathie die Unfähigkeit ist, sich der Kontinuität seines Lebens bewußt zu sein. Hinzu kommt in der Nachkriegszeit, daß Identität nicht mehr oder nicht mehr so einfach durch das kultural Vorgegebene vermittelt werden kann. Verschiedene Objektivationsbereiche, wie Wohnen, Kleidung, Essen sind durch die Notsituation ja gerade problematisch geworden. Für sich und für den anderen die soziale Herkunft als ein konstitutives Moment von Identität zu signalisieren, ist schwieriger geworden. Sind die gegenständlichen Attribute dezimiert, verlegt man sich auf die ideellen: »Wenn schon die bessere Herkunft nicht mehr durch Vermögen, Eigentum und gesellschaftliche Stellung auszuweisen war, dann wenigstens durch Bildung und kultivierte Umgangsformen.«[28] Ich fragte Frau Zschokke, ob sie Frauenzeitschriften gelesen habe. »Mit sowas« habe sie sich nicht abgegeben, war die Antwort. Mitte der fünfziger Jahre hätten sie sich einen Brockhaus gekauft. Da habe man zwar immer noch sparen müssen, aber das wäre ihnen doch wichtig gewesen.
Die Frauen führen die Not als Erklärung für ihre politische Ent-Haltung, ihre politische Apathie an. Die Notsituation ist auch das Argumentationsmuster für die sich nicht bewußtgemachte Selbständigkeit. Es wäre zu überlegen, ob nicht die »gekonnte Nicht-Identität«[29] dazu führt, daß die Frauen sich in der Familie eine Ersatz-Identität aufbauen, um sich so quasi von außen zu stabilisieren. Der Preis dafür ist die Aufgabe der Selbständigkeit und das Sich-Fügen in die traditionelle Frauenrolle.

7. Gesellschaftliche Normen oder »natürliche« Wünsche

Der Alltag meiner Interviewpartnerinnen ist gekennzeichnet durch eine sinnlich erlebte Verzahnung von Produktions-/Reproduktionsbereich. In der Nachkriegszeit stieg die Gratisarbeit der Frauen, ihre unbezahlte Reproduktionsarbeit enorm an. Standen die Frauen zusätzlich in einem Lohnverhältnis, so waren sie von den häuslichen Pflichten nicht entbunden. Diese Lohnarbeit stand immer in direkter Abhängigkeit zu den familiären Erfordernissen, sie war ausgerichtet auf die Familie. Waren Kleinkinder im Haus, so »wählten« die Frauen Heimarbeit, erlaubte der Ehemann keine außerhäusliche Beschäftigung, so scheuten sie mögliche Konflikte. Es wäre aber falsch, die Frauen als passiv, uneigenständig, nur reagierend zu betrachten, sie waren auch aktiv, trafen Entscheidungen, die die Familie betrafen. Frau Scherer kaufte heimlich auf Raten und zog die Raten vom ohnehin spärlichen Haushaltsgeld ab; Frau Zschokke bestimmte, daß sie lieber arbeitete, als einen Kredit für den gemeinsamen Urlaub aufzunehmen. Dieses Sich-Wehren, die Widerstände im kleinen, lassen sich nicht erfragen mit abstrakten Begriffen. Hier wird das Sich-darauf-Einlassen wichtig, die Antizipation des subjektiven Blicks sowie der Zugang mittels der Innenperspektive.
Sozialisierte schichtspezifische Verhaltensanforderungen und individuelles Wahrnehmen bedingen sich gegenseitig. Heirat als Lebensziel läßt andere Wünsche der Lebensgestaltung als zweitrangig erscheinen. Keinen Beruf zu erlernen ist Ursache und Folge dieser Problematik. Schichtspezifische Normen und Bedingungen verstärken die grundlegenderen »weiblichen« Verhaltensmuster. In der Bergarbeitersiedlung in Oberschlesien gab es keine Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen. Zudem ist die Notwendigkeit nicht einsehbar, Strapazen auf sich zu nehmen, wenn doch geheiratet wird. Frau Muhl, die gegen die Eltern ihren Berufswunsch durchsetzte, auch durchsetzen kann, hatte es da einfacher; aber auch für sie war klar, daß sie immer Kinder wollte. Gesellschaftliche Normen werden zu »natürlichen« Wünschen.
Die Art der hausfraulichen Tätigkeiten, das Eingebundensein der Frauen in die Familie, beeinflußte ihre Erinnerung. Wichtige Familienereignisse, Schwangerschaften und Geburt strukturieren den Erinnerungszyklus, die Erinnerungszeiten. Weibliche Verhaltensnormen, wie für andere zu sorgen, verantwortlich zu sein für die Gefühlsbereiche, die Immanenz der Hausfrauenarbeit prägen die Erinnerung. Die permanente Unabgeschlossenheit der Hausfrauenarbeit läßt diese nicht zur Erinnerung werden, erinnert wird von den Frauen die zeittypische Erscheinungsweise dieser Arbeiten. Das Selbstwertgefühl der Frauen ist ein abgeleitetes, das sich in der Beziehungsarbeit zu anderen kristallisiert. So ist in den weiblichen Rolleninhalten schon die Negation des eigenen und eigenständigen Ichs angelegt. Ihr Selbstwert, ihre Identität ist in ihren emotionalen Leistungen für andere begründet. Sinn und Legitimation des eigenen Selbst versuchen sie im (Ehe-)Mann und nicht in sich selbst zu finden.
Die Argumentation der Frauen, daß die Not verhindert habe, daß sie sich über ihre Rolle Gedanken gemacht hätten, ist sicher ernst zu nehmen. Aber auch als die Zeit der akuten Not vorbei ist, scheint eine Auseinandersetzung nicht einzusetzen; oberflächlich gesehen wurde ihnen die Frauenrolle nicht zum Problem. Dennoch wurden Verweigerungen der Frauen deutlich, die als solche von ihnen nicht gesehen werden. Heimlich Dinge zu kaufen, die einem wichtig sind, wäre ein Beispiel. Hier könnte genauer verfolgt werden, was die Frauen in der Erziehung an ihre Töchter weitergeben, wie dominant die Ehepartner jeweils in der Erziehung sind, welche Rolle etwa Krankheiten, Empfängnisverhütung und Sexualität spielen.
Zum Faschismus verhalten sich die Frauen relativ indifferent. Das Ende des Faschismus, als Bruchstelle im Leben jeder einzelnen, wird durch zwei Argumentationsstränge überdeckt, um sich der Kontinuität ihres Lebens bewußt zu bleiben. Einerseits betonen sie die Not, das Leiden, wodurch sie selbst zum Opfer werden, andererseits wird der Faschismus, als mörderisches System, verdrängt. Dieses Verhalten ist nur möglich auf dem Hintergrund von gesellschaftlichen Voraussetzungen, die durch die Ignoranz der politisch-ökonomischen Wurzeln des deutschen Faschismus geprägt sind.
Betrachte ich die Frauen, so läßt sich ihre politische Haltung nicht in einen eindeutigen Rahmen pressen, mehrere Wahrheiten existieren gleichzeitig. Die Verdrängung des Faschismus führte zur politischen Apathie (Enthaltung) in den 50er Jahren. Anstelle der aktiven Auseinandersetzung mit der politischen Vergangenheit setzte die Konsumorientierung ein. In der Familie suchten sie ihre brüchige Identität zu kitten, die Beziehungsarbeit, sich selbst über andere zu definieren, wurde zum Hauptinhalt. Die soziale Erschütterung und die Erfahrung der körperlichen Verletzbarkeit des eigenen Selbst verstärkten den Rückzug ins Private.