Frauen zwischen asketischem Ideal und weltlichem Leben

Zur Darstellung des christlichen Handelns der merowingischen Königinnen
Radegunde und Balthilde in hagiographischen Lebensbeschreibungen des 6. und 7. Jahrhunderts

Durch die vergleichende Untersuchung von zwei Frauenviten möchte ich im folgenden eine erste Annäherung an frauenspezifische Aspekte der Heiligkeitsvorstellungen im Frankenreich des 6. und 7. Jahrhunderts versuchen.[1]
Die Lebensbeschreibungen der Königinnen Radegunde (f587) und Balthilde (f 680/81)[2], die ich dazu ausgewählt habe, sind stilisierte Darstellungen, die verfaßt wurden, um die christliche Vollkommenheit der Frauen vor Augen zu führen und so ihre Verehrung als Heilige zu begründen.[3] Als hagiographische Lebensbeschreibungen sind diese Texte in erster Linie mentalitätsgeschichtliche Zeugnisse, die einen Zugang zum Wandel des Heiligenideals ermöglichen.[4] Wie neuere Forschungen zeigen, können hagiographische Quellen jedoch auch für sozialgeschichtliche Fragestellungen ausgewertet werden, wenn der Kontext ihrer Entstehung und das Publikum, für das sie geschrieben wurden, erschließbar sind.[5]
Da die hier vorliegenden Heiligenviten kurz nach dem Tod der Frauen von Personen verfaßt wurden, die diese noch gekannt hatten,[6] sind sie für die Lebensgeschichten der Königinnen und für die gesellschaftlichen Bedingungen, die die Grundlage ihres Handelns bildeten, im wesentlichen zuverlässige Quellen. Das liegt daran, daß der zeitgenössische Entstehungskontext der hagiographischen Stilisierung dort Grenzen setzte, wo es sich um bekannte Persönlichkeiten handelte oder für die Zeitgenossen selbstverständliche gesellschaftliche Lebensbedingungen angesprochen wurden.***434.16.6a*** Das in den Viten stilisiert dargestellte christliche Handeln der Königinnen verweist somit auf Handlungsmöglichkeiten, die Frauen in merowingischer Zeit als Ehefrauen der Könige und Mütter der Thronfolger hatten. Sie konnten das politische Geschehen beeinflussen und nicht unbedeutende Machtstellungen am Königshof einnehmen.[7]
Als Bekehrerinnen ihrer Ehemänner und Gründerinnen von Klöstern, in die sie auch selbst eintraten, zeigten merowingische Königinnen größeres Interesse am Christentum und an christlichen Lebensformen als ihre Ehemänner,[8] von denen auch keiner kurz nach seinem Tod eine Heiligenvita erhielt.[9] Die Bedingung für die Möglichkeit, das Leben der Königinnen Radegunde und Balthilde in einer Heiligenvita zu würdigen, bildete die Tatsache, daß beide Frauen ihre Stellung als Königinnen aufgaben und in Klöster eintraten.[10]
Radegunde, eine thüringische Königstochter, war 531 nach der Eroberung ihres Vaterlandes als Kriegsgefangene ins Frankenreich gebracht worden. Sie wurde Chlothar I., König des Teilreichs von Soissons (t 561), zugesprochen, der sie einige Zeit später heiratete. Nachdem er ihren Bruder, den einzigen ihr verbliebenen Verwandten, hatte umbringen lassen, trennte sie sich von ihm, ließ sich weihen und gründete ein Kloster, in das sie auch selbst eintrat.[11] Balthilde lebte hundert Jahre später. Sie kam in den 630er Jahren als Sklavin aus dem angelsächsischen Raum ins Frankenreich und stieg durch ihre Heirat mit Chlodwig II, König von Neustrien (t 657), zur Königin auf. Nach seinem Tod führte sie als Regentin eine Zeitlang die Herrschaft, da sie die Mutter der Thronfolger war, der noch unmündigen Söhne Chlodwigs. Danach trat sie in ein Kloster ein.[12] Die Viten der Königinnen Radegunde und Balthilde sollen hier jedoch nicht als Quellen für das Leben dieser »großen Frauen« ausgewertet werden. Ausgangspunkt des Vergleichs bildet vielmehr die Intention der Texte, die ideale christliche Verhaltensweisen propagieren wollen, indem sie die Vorbildlichkeit dieser Frauen darstellen. Wie stellt sich in diesen Lebensbeschreibungen das Verhältnis zwischen den weltlichen Handlungsmöglichkeiten der Königinnen und den christlichen Idealvorstellungen dar, die die hagiographische Stilisierung bestimmen? Welche Normen werden für das christliche Handeln von Frauen formuliert?
Als hagiographische Darstellungen stehen die beiden Königinnenviten in einem gattungsspezifischen Traditionszusammenhang, der bei ihrer Auswertung zu berücksichtigen ist. Sie wurden Ende des 6. bzw. 7. Jahrhunderts verfaßt und spiegeln einen Wandel der Heiligkeitsvorstellungen, der in der merowingischen Hagiographie zwischen dem 6. und 7. Jahrhundert zu beobachten ist.
In einer Untersuchung der Heiligenleben als Quellen zur Kulturgeschichte der Merowingerzeit wurde dieser Wandel von K. Weber beschrieben. Die Ideale der individuellen Askese und Weltverachtung, welche die Heiligkeitsvorstellungen des 6. Jahrhunderts geprägt hatten, verloren im 7. Jahrhundert zugunsten einer stärkeren Betonung des Handelns in der Welt an Bedeutung.[13] Weber interpretiert diesen Wandel, der auch in den Mönchsviten wahrnehmbar ist, als Ausdruck der gesellschaftlichen Rolle und kulturgeschichtlichen Bedeutung des Mönchtums im 7. Jahrhundert.[14]
F. Prinz, der die monastische Entwicklung im Frankenreich zwischen dem 4. und 8. Jahrhundert untersuchte, zog dabei auch hagiographische Quellen heran und machte die Beobachtung, daß sich die Viten des 7. Jahrhunderts durch eine Würdigung von Herkunft und weltlicher Stellung auszeichnen, die die spätantike Hagiographie in dieser Form nicht kannte.[15] Für diese veränderte Auffassung von Heiligkeit schlägt er den Begriff »Adelsheiligkeit« vor, da er sie als Einfluß der (laikalen) fränkischen Adelsgesellschaft auf die Hagiographie deutet. Als eine »implizite Sanktionierung der Adelsherrschaft«[16] ersetzte dieser »Heiligentypus« seiner Ansicht nach eine durch die Christianisierung verloren gegangene heidnisch-sakrale Legitimationsbasis des Adels.[17] Diesen Begriff der »Adelsheiligkeit« kritisierte F. Graus, und zwar nicht nur, weil er die für die Prinzsche These konstitutive Annahme eines germanischen Uradels ablehnt,[18] sondern auch, weil ein »Adelscharisma« seines Erachtens in den fränkischen Quellen nicht feststellbar ist.[19] Die weltlichen Karrieren würden zwar in der merowingischen Hagiographie oft in die Viten einbezogen, aber auf widersprüchliche Weise verarbeitet.[20]
Da die beiden Königinnenviten die Merkmale, die in der Forschung als Kennzeichen des Wandels der Heiligkeitsvorstellungen zwischen dem 6. und 7. Jahrhundert diskutiert werden, aufweisen und zudem in ihren Entstehungsbedingungen relativ gut erschlossen sind, ermöglichen sie eine Überprüfung der Prinzschen These und eine exemplarische Untersuchung von Charakter und sozialgeschichtlichem Hintergrund dieses Wandels:
Die Vita Radegundis, die der aus Italien stammende Dichter Venantius Fortunatus verfaßte,[21] steht formal und inhaltlich in der Tradition der spätantiken Hagiographie [22] und weist mit ihrer Betonung der individuellen Askese und Weltverachtung für die fränkische Hagiographie des 6. Jahrhunderts typische Züge auf. Demgegenüber stellt die Vita Balthildis, die etwa ein Jahrhundert später von einer unbekannten Nonne oder einem Mönch in sprachlich und stilistisch weit weniger anspruchsvoller Form geschrieben wurde, klösterliche Vorbildlichkeit und christliches Handeln der Königin in der Welt dar. Sie entstand wohl in einem Kloster, das dem irofränkischen Mönchtum zuzurechnen ist.[23]
Im Mittelpunkt des Vergleichs dieser beiden Viten soll die Frage stehen, wie die weltliche Stellung in diesen hagiographischen Lebensbeschreibungen verarbeitet wird. Hatte bereits die Überlegung, daß die Handlungsmöglichkeiten als Königin für das christliche Engagement der Frauen bedeutsam waren, auf diese Fragestellung hingeführt, so ist ein Vergleich unter diesem Gesichtspunkt auch für die Untersuchung des Wandels der Heiligkeitsvorstellungen in diesen Viten sinnvoll. Um das Verhältnis zwischen weltlicher Karriere und Heiligkeitsvorstellung zu untersuchen, genügt es jedoch nicht, nur die weltlichen Lebensabschnitte in den Viten zu vergleichen. Eine solche isolierte Betrachtung ermöglicht keinen Zugang zum Wandel des Heiligenideals, denn dieser Lebensabschnitt ist in den hagiographischen Beschreibungen nur ein Durchgangsstadium, die Vorstufe zur eigentlich wichtigen Lebensphase nach der Aufgabe der weltlichen Stellung. Um den Wandel des Heiligenideals zu erfassen, muß auch die Situierung des weltlichen Lebensabschnittes in den Viten beachtet werden.
Der Vergleich der beiden Königinnenviten soll im folgenden als eine Gegenüberstellung der einzelnen Abschnitte dieser schematisierten Lebensbeschreibungen durchgeführt werden. Dabei soll der Wandel des Heiligenideals, der sich in ihnen abbildet, herausgearbeitet und sozialgeschichtlich eingeordnet werden, um vor diesem Hintergrund die Aussagekraft dieser Quellen für die Geschichte der Lebensformen von Frauen und ihrer christlichen Normierung zu erschließen.

I.
Die beiden Königinnenviten unterscheiden sich bereits in der Jugendschilderung.
Fortunatus beschreibt Radegundes Jugendzeit auf einem Landgut König Chlothars. Wenn er dabei ihr Interesse an christlichen Idealen und am christlichen Kult hervorhebt,[24] so ist dies ein für hagiographische Kindheits- und Jugendschilderungen übliches Motiv.[25] In der Vita Balthildis kommt dieses Motiv jedoch nicht vor. Hier wird lediglich ein vorbildliches Verhalten der Sklavin gerühmt. Als persönliche Dienerin ihres Herrn, eines hohen Würdenträgers am neustrischen Königshof, nahm Balthilde eine gehobene Stellung innerhalb der Dienerschaft ein. Daß sie dennoch frei von Hochmut war und ihre älteren Mitsklavinnen bediente, wird als christliche Tugend in die Vita eingebracht.[26] Eine Teilnahme am christlichen Kult wird dagegen nicht erwähnt, möglicherweise, weil dies für die Zeitgenossen bei einer Sklavin nicht vorstellbar war.[27] Auch das Motiv der Bildung, das Fortunatus noch aufgriff, kommt in dieser Vita nicht vor.[28]
Die Heirat mit merowingischen Königen ist für beide Frauen, die als Gefangene ins Frankenreich kamen, das ihre weltliche Stellung konstituierende Moment. In den Viten wird dieses Ergebnis unterschiedlich dargestellt.
In der Vita Radegundis wird die Eheschließung zum Anlaß genommen, Radegundes Distanz zu ihrer Stellung als Königin zu betonen und die Priorität ihrer Beziehung zu Gott vor derjenigen zum Ehemann hervorzuheben.[29] Auch in der Vita Balthildis kommt dieses Thema vor, wird aber hier vor der Eheschließung behandelt. Dem Bericht über die Heirat mit König Chlodwig wird ein Keuschheitsmotiv vorangestellt. Balthildes Ablehnung der Ehe und weltlicher Ehren wird dargestellt, indem berichtet wird, wie sie einen Eheantrag ihres Herrn ablehnte.[30] Die Eheschließung mit dem König wird dann als göttliche Belohnung für die Bescheidenheit der Sklavin legitimiert, wobei als Bescheidenheit gerühmt wird, daß Balthilde eine erste Aufstiegschance ausschlug, als sie den Eheantrag ihres Herrn ablehnte.[31]
Ebenso unterschiedlich wie die Heirat wird in den beiden Viten auch das Leben der Frauen als Königinnen geschildert. Radegundes christliche Frömmigkeit als Königin knüpft an ihr christliches Engagement als Jugendliche an. Sie verteilt Almosen, unterstützt kirchliche Institutionen und christliche Einsiedler [32] und errichtet ein Haus für arme Frauen, wo sie, ungeachtet ihrer Stellung als »Herrin des Palastes« Kranke und Bedürftige bedient und pflegt.[33] Ihre Lebensweise richtet sie entsprechend dem asketischen Ideal ein, so weit ihre Position am Königshof dies zuläßt. Fortunatus erwähnt beipielsweise, wie sie zur Fastenzeit ein Bußgewand unter ihrer königlichen Kleidung trägt und an der reichgedeckten Tafel heimlich nur einfache Speisen zu sich nimmt.[34] Radegunde wird zur »heimlichen Asketin« am Königshof stilisiert. Die Szenen, die ihr Verhalten beschreiben, thematisieren ihre Distanz zur Ehe [35] und zur königlichen Pracht,[36] ihre Hingabe an Gott im Gebet,[37] ihr Interesse an der christlichen Lehre und am christlichen Kult.[38] Das christliche Handeln Radegundes steht im Gegensatz zu den Auffassungen und Erwartungen ihres sozialen Umfeldes. Die Tugend der Königin manifestiert sich gerade darin, daß sie trotz Kritik und Spott [39] an ihrer asketischen Orientierung festhält.
Das christliche Handeln der Königin Balthilde steht dagegen nicht mehr im Widerspruch zu ihrer weltlichen Stellung. Balthilde wird als christlich vorbildliche Königin dargestellt, die in idealer Weise ihren Platz am Königshof ausfüllte, indem sie als christliche Ehefrau ihrem Gatten »immer wie einem Herrn gehorchte« und allen Parteien des Hofes das angemessene Verhalten entgegenbrachte: den Fürsten »wie eine Mutter«, den Priestern »wie eine Tochter«, der Jugend eine Erzieherin war usw.[40]. Neben Gottesdienstbesuch und Gebet bestand ihr christliches Handeln vor allem darin, ihre Umgebung im Sinne christlicher Vorstellungen zu beeinflussen, z. B. die Jugend zu »religiösem Streben« zu ermuntern und den König zu christlichen Maßnahmen zu bewegen. In seinem Auftrag und mit Hilfe eines kirchlichen Würdenträgers führte sie eine systematische, quasi verwaltungsmäßige Armen- und Kirchenförderung durch, die sich vom individuellen Engagement Radegundes deutlich unterscheidet.[41]
Obwohl ihre Stellung als Königin für beide Frauen die Grundlage ihres christlichen Handelns bildet, kommt dies in den Viten auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck.
Die Verfügungsgewalt über ökonomische Ressourcen als Voraussetzung für ihre Wohltätigkeit und die Nutzung ihres politischen Einflusses für die Milderung von Todesurteilen [42] verweisen in der Vita Radegundis nur indirekt auf die Möglichkeiten, die die Stellung einer Königin bot. Diese ist ansonsten nur von negativer Bedeutung für die Heiligkeit Radegundes. Die Abgrenzung Radegundes vom weltlichen Leben macht einen Freiraum der Königin sichtbar, deren Askese der Einspruch ihres Ehemanns letztlich nicht zu unterbinden vermag.[43]
Zwar werden in der Vita Balthildis die Möglichkeiten einer Königin direkter dargestellt, aber wir haben es auch hier mit einer idealisierenden Beschreibung zu tun. So steht die in dieser Vita hervorgehobene vorbildliche Unterordnung der christlichen Ehefrau wohl im Widerspruch zu Balthildes tatsächlicher Position am Königshof zu Lebzeiten König Chlodwigs. In einer anderen Quelle wird sie als energisch und tatkräftig charakterisiert, und eine Machtposition am Königshof muß auch die Voraussetzung für ihre Übernahme der Regentschaft gebildet haben.[44] Die politischen Maßnahmen der Regentin Balthilde werden in der Vita aufgezählt, so weit sie sich als »fromme Werke« darstellen lassen.[45] Neben verwaltungstechnischen Maßnahmen - unter anderem gegen Simonie und Steuermißstände [46] - wird eine Reform der Kathedralen des Reiches beschrieben.[47] Am ausführlichsten gewürdigt werden die königlichen Klostergründungen und -förderungen.[48] Damit treten hier zum ersten Mal in der merowingischen Hagiographie Züge auf, die den Typus des heiligen Herrschers von anderen Heiligentypen unterscheiden.[49]
Der grundlegende Unterschied in der Darstellung des weltlichen Lebens in diesen beiden Viten ist durch das Fehlen jener Motive in der Vita Balthildis bedingt, die bei Radegunde die persönliche Askese und die Distanz zur weltlichen Stellung betonen. Aber auch die gemeinsamen Züge des christlichen Handelns der Königinnen wie Armenfürsorge und Almosenverteilen   werden   auf  unterschiedliche   Weise   beschrieben:
Während Radegunde durch persönliches Handeln für die Bedürftigen und Kranken eintritt und dazu königliche Mittel sozusagen zweckentfremdet, erfolgt die Armenpflege der Königin Balthilde in Zusammenarbeit mit einem kirchlichen Würdenträger quasi als verwaltungstechnische Maßnahme.
Während in der Vita Radegundis der Eindruck vermittelt wird, die Königin sei die einzige Christin am Königshof gewesen, die einzige, die sich für die Belange des christlichen Kultes und die christliche Lehre interessierte,[50] so sind christliche Vorstellungen in der Umgebung der Königin Balthilde schon so weit vorhanden, daß sie diese unterstützen kann; Gottesdienstbesuch steht hier nicht mehr im Widerspruch zum königlichen Alltag.[51]
Das christliche Handeln der beiden Königinnen steht so in einem unterschiedlichen sozialen Kontext, der sich mit den historischen Gegebenheiten an den beiden Königshöfen in Zusammenhang bringen läßt: Der Gatte Radegundes, Chlothar I. von Soissons, war der am wenigsten am Christentum interessierte unter den merowingischen Königen seiner Zeit;[52] in der Vita Radegundis werden Bischöfe nur als Besucher am Königshof erwähnt, die von der Königin empfangen werden.[53] Die in der Vita Balthildis beschriebene Klosterpolitik bezeugt dagegen den Erfolg der irischen Mission,[54] und die Zusammenarbeit der Regentin mit Bischöfen entspricht einer Veränderung des Verhältnisses zwischen Königtum und Kirche im Frankenreich des 7. Jahrhunderts.[55]
Durch die veränderte Darstellung des weltlichen Lebens in der Vita Balthildis werden christliche Idealvorstellungen auf weltliche Lebensformen bezogen. Wird schon das christliche Handeln der Sklavin Balthilde so beschrieben, wie es für diese soziale Stellung vorstellbar war, so werden die für das christliche Handeln der Königin Radegunde relevanten Motive - Armenfürsorge, Kirchenförderung, Gottesdienst - in der Vita Balthildis in einer Weise aufgegriffen, in der der Gegensatz zwischen weltlicher Stellung und christlichem Engagement tendenziell verschwindet. Das Zurücktreten der individuellen Askese in dieser Vita steht damit im Zusammenhang mit dem Versuch, zwischen weltlicher Stellung und christlichen Idealen zu vermitteln, und christliche Handlungsweisen für den weltlichen Lebensbereich zu formulieren. Dieses Abweichen vom Vorbild der Vita Radegundis56 ist - gerade innerhalb der traditionsgebundenen hagiographischen Gattung - ein aussagekräftiger Beleg dafür, daß die Darstellung des weltlichen Lebens in jener Vita im 7. Jahrhundert als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurde, weil inzwischen christliche Vorstellungen in der fränkischen Oberschicht und an den Königshöfen an Bedeutung gewonnen hatten.

II.

Die Umstände, unter denen die Königinnen ihre weltliche Stellung aufgaben, um ein ganz an christlichen Idealen orientiertes Leben zu führen, waren sehr unterschiedlich.
Radegunde floh vom Königshof und setzte, indem sie sich von Bischof Medardus von Noyon weihen ließ, ihre Scheidung von König Chlothar durch. Das heikle Problem, die Weihe einer verheirateten Frau hagio-graphisch darzustellen, für die die kirchenrechtlich an sich erforderliche Zustimmung des Ehemanns wohl nicht vorlag,[57] meisterte Fortunatus, indem er die Weiheszene entsprechend gestaltete. Als Anlaß ihrer Flucht erwähnt er die Ermordung ihres Bruders, ohne auf die Mitschuld Chlothars an dieser Tat einzugehen.[58] Der Bischof, zu dem Radegunde eilt, um die Weihe zu erbitten, hält ihr vor, daß sie ja verheiratet sei. In diesem Moment stürmen die Großen des Reiches in die Kirche, um Chlothars Ansprüche auf Radegunde zu verteidigen und die Weihe zu verhindern. Indem sie den Bischof gewaltsam vom Altar wegzerren, mißachten sie die kirchliche Autorität. In dieser Situation setzt Radegunde ihre Weihe durch, indem sie den Bischof fragt, ob er dem menschlichen oder dem göttlichen Gebot Folge leisten wolle.[59] Diese Möglichkeit, durch eine Weihe die Scheidung zu erreichen, war durch die Situation der Kirche im 6. Jahrhundert bedingt, die sich - wie Fortunatus deutlich herausarbeitet - einer noch wenig am Christentum interessierten fränkischen Oberschicht gegenüber sah und deshalb daran Interesse hatte, das christliche Engagement der Königin Radegunde zu unterstützen.
Balthildes Konversion stellt einen Rückzug der verwitweten Regentin aus der Politik dar, der Zeichen eines politischen Sturzes aufweist. Dies ist aus dem Konversionsbericht der Heiligenvita ersichtlich, der jedoch die politischen Zusammenhänge nur andeutet. Da weitere Quellen fehlen, ist eine genaue Erschließung der politischen Umstände nicht möglich. Balthildes Klostereintritt erfolgte aber kurz nach der Mündigkeitserklärung ihres Sohnes Chlothar III., durch die ihre Machtstellung als Regentin geschwächt wurde.[60]
Im Konvertionsbericht der Vita wird hervorgehoben, daß der Klostereintritt ein langgehegter Wunsch Balthildes gewesen sei, dessen Erfüllung die »Franken«, d. h. die am Königshof Mächtigen, jedoch erst erlaubten, als sie das Vorgehen der Regentin gegen diejenigen fürchteten, die an der Ermordung eines Bischofs schuldig waren. Die Vita erwähnt sowohl, daß diese Erlaubnis »non bono animo« (nicht in lauterer Absicht) erteilt worden war, als auch, daß Balthilde zum Kloster Chelles geleitet wurde und, dort angelangt, sich über die Undankbarkeit derer beklagte, die von ihr gefördert worden waren. Die politischen Umstände der Konversion werden damit zwar angedeutet, Ziel der hagiographischen Beschreibung ist es jedoch, Balthildes Einwilligung in die so geschaffene Situation darzustellen, indem nicht nur auf den langgehegten Wunsch zurückgegriffen, sondern auch die Akzeptierung der Klostereinweisung als Ausdruck des göttlichen Willens betont wird.[61]
Beide Konversionen werden in den Viten stilisiert dargestellt, da die Bedingungen, unter denen die Königinnen ihre weltliche Stellung aufgaben, im Sinne christlicher Idealvorstellungen und kirchlicher Normen Probleme aufwarfen. Bei Radegunde war ihre eheliche Bindung ein Weihehindernis, bei Balthilde stellte der Druck ihrer politischen Gegner die Freiwilligkeit des Klostereintritts in Frage.
Die Konversionsbedingungen verweisen auf den sozialen Kontext, der das christliche Handeln der Königinnen prägte: Radegunde, die sich mit ihrer Askese gegen die königliche Lebensweise aufgelehnt hatte, setzte ihre Weihe gegen den Widerstand ihrer Umgebung durch. Balthilde hatte als Königin im Einverständnis mit ihrer Umwelt christlich gehandelt; mit ihrer Konversion folgte sie den Wünschen ihrer Umgebung.

III.

In der Vita Radegundis bildet die Konversation die Konsequenz ihres Verhaltens als Königin und löst den Widerspruch auf, unter dem die »heimliche Asketin« am Königshof lebte. Ihre Weihe ist nicht mit einem sofortigen Klostereintritt verbunden. Fortunatus beschreibt Radegun-des Lebensweise nach der Konversion in Anlehnung an eine spätantike Lebensform für Witwen und Jungfrauen, die sich, als geweihte Frauen besonders gekleidet, im eigenen Haus dem Schriftstudium und der Wohltätigkeit widmeten.[62] Radegunde zieht sich auf ein dem Königshof fernliegendes königliches Landgut zurück, wo sie ihren Dienst an den Armen in intensivierter Form aufnimmt und ein asketisches Leben führt[63].
Während hier die Entfaltung der asketischen Lebensform dargestellt wird, die zuvor durch Radegundes Position am Königshof eingeschränkt war, leitet die Konversion in der Vita Balthildis eine qualitative Veränderung des christlichen Handelns ein.
Balthilde wird als beispielhafte Nonne beschrieben, die sich der Äbtissin unterordnet, ihren Mitschwestern dient und sich in jeder Hinsicht vorbildlich in die klösterliche Gemeinschaft einordnet,[64] wobei extreme asketische Übungen, im Gegensatz zu Radegunde,[65] keine Rolle spielen.
Damit wird in dieser Vita ein deutlicher Gegensatz zwischen den christlichen Tugenden der Königin einerseits und der Nonne andererseits herausgearbeitet. Die Grundtugend der »humilitas«, die in der Vita Radegundis durch das Motiv des persönlichen Armendienstes auch bei der Königin hervorgehoben wird, tritt bei der Darstellung der Königin Balthilde völlig in den Hintergrund und wird in dieser Vita nur bei der Sklavin und Nonne betont.[66]
Die Vita Balthildis beschreibt ein christliches Verhalten, das der jeweiligen Lebenssituation als Sklavin, Königin und Nonne entspricht. Besonderes Gewicht liegt dabei auf der Anpassungsleistung der Nonne, die sich ungeachtet ihrer vorherigen hohen Stellung am Königshof in das Klosterleben vorbildlich einfügt.[67] Damit wird auch in der Vita Balthildis der Gegensatz zwischen weltlichem und idealchristlichem Leben thematisiert. Er wird hier jedoch anders aufgefaßt als in der Vita Radegundis.
Fortunatus stellte weltliches Leben und christliche Orientierung als unvereinbare Gegensätze dar, wobei die christliche Vollkommenheit der Königin die weitestmögliche Abgrenzung von der weltlichen Lebensweise erfordert. Die Verwirklichung des asketischen Ideals wird durch
den Widerstand gegen weltliche Forderungen erkämpft, durch die Flucht aus den weltlichen Lebenszusammenhängen.
Anders bei Balthilde. Hier ist aus dem Gegensatz weltlich - christlich der Gegensatz weltlich - klösterlich geworden, der sich in der Zeit entfaltet, im Nacheinander des unterschiedlichen Verhaltens der Königin und der Nonne. Dabei ist die christlich geprägte weltliche Lebensweise der Königin zwar für sich genommen kein Weg zur christlichen Vollkommenheit - Vorbedingung für die Heiligkeit ist auch hier die Aufgabe der weltlichen Stellung -, sie steht aber durchaus eigenständig neben dem Klosterleben. Von den politischen Verwicklungen einmal abgesehen, war für Balthilde der Übergang vom christlich geprägten Leben am Königshof zur radikalchristlichen Lebensweise vergleichsweise undramatisch. Sie trat in ein Kloster ein, das sie als Regentin gegründet hatte [68] und unterwarf sich der Klosterregel.
Weltliches und klösterliches Leben werden damit in dieser Vita als christliche Existenzformen nebeneinandergestellt. Balthildes christliche Vollkommenheit realisiert sich nicht mehr in der Durchsetzung einer persönlichen Askese, sondern im christlichen Handeln in der Welt einerseits und in der optimalen Anpassung an klösterliche Normen andererseits. Während Fortunatus in seiner Beschreibung von Radegundes asketischem Lebensabschnitt den Eindruck eines völligen Abbruchs der Beziehung zu ihrem früheren Lebenskreis erweckt, pflegt Balthilde vom Kloster aus sehr bewußt ihre Kontakte zum Königshof. Die Wichtigkeit dieser Beziehungen wird in der Vita ausdrücklich angesprochen69. Damit werden in der Vita Balthildis nicht nur weltliche und klösterliche Lebensform, sondern auch Königshof und Kloster als soziale Räume nebeneinandergestellt.
Das hier dargestellte Verhältnis von Kloster und Welt verweist auf die Etablierung des Klosterlebens als einer gesellschaftlich anerkannten Lebensform, die mit der Entstehung des von der fränkischen Oberschicht getragenen irofränkischen Mönchtums zusammenhing.

IV.

Ebenso wie Balthilde verbrachte auch Radegunde ihre letzten Lebensjahre in einem von ihr selbst gegründeten Kloster. Die Vita, die Venan-tius Fortunatus verfaßt hatte, um das Andenken an die Größe seiner verehrten Freundin bewahren zu helfen,[70] beschreibt ihr Klosterleben jedoch nicht. Deshalb schrieb Baudonivia, eine Nonne des von Radegunde gegründeten Klosters, kurz nach 600 ein zweites Buch,[71] das sich vom ersten Buch der Vita hinsichtlich seiner sprachlichen Qualität und seiner Darstellungsweise stark unterscheidet.[72] In der Intention, das zu ergänzen, was Fortunatus wegließ,[63] stellt sie Radegunde als Bekehrerin der Franken,[74] als Gründerin [75] und geistliche Leiterin des Klosters Sainte-Croix bei Poitiers dar, die die Nonnen durch ihr Vorbild anleitete und die klösterliche Lebensweise gestaltete.[76] Im Gegensatz zum ersten Buch der Vita Radegundis wird hier die christliche Führungsrolle der ehemaligen Königin herausgearbeitet. Während Fortunatus Radegunde als Zuhörerin der Priester beschreibt,[77] berichtet Baudonivia, daß Radegunde im Kloster predigte, ohne sich um das kirchliche Lehrverbot für Frauen zu kümmern.[78] Ihre sehr persönliche und alltagsnahe Darstellung führt vor Augen, welche Bedeutung Radegunde für die Nonnen des Klosters von Poitiers hatte. Diese Beschreibung entspricht Radegun-des Wirken als Pionierin des Klosterlebens und Wegbereiterin der irischen Mission, denn das von ihr gegründete Kloster bei Poitiers war das erste Kloster, das in der fränkischen Oberschicht Bedeutung gewann.[79]
Da Klostergründungen im 6. Jahrhundert oft ihre Gründer nicht überlebten80, bemühte sich Radegunde, ihre Gründung zu stabilisieren. Als Grundlage des klösterlichen Alltags führte sie die Nonnenregel des Bischofs Caesarius von Arles ein. Sie ließ die jüngere Agnes zur Äbtissin wählen, wohl um eine Kontinuität dieser Führungsrolle über ihren eigenen Tod hinaus zu gewährleisten, und legte ihre Gründung den Bischöfen des Reiches ans Herz.[80]
Diese Bemühungen konnten jedoch nicht verhindern, daß es 589, kurz nach ihrem Tod, zu einem Nonnenaufstand kam, über den Gregor von Tours ausführlich berichtet.[82] Diese Ereignisse werfen ein Licht auf die Probleme, die die Einführung klösterlicher Lebensformen in der fränkischen Oberschicht mit sich brachte.
Zwei Königstöchter, Chrodechilde und Basina, hatten eine größere Anzahl von Nonnen auf ihre Seite gebracht und protestierten gegen die Lebensweise, die ihnen im Kloster auferlegt war. Beide Anführerinnen waren mit dem Klosterleben unzufrieden. Chrodechildes Ziel war es, selbst die Stelle der kürzlich gewählten Äbtissin Leubovera einzunehmen.[83] Von Basina, einer Tochter König Chilperichs, wissen wir, daß sie auf Betreiben der Königin Fredegunde, ihrer Stiefmutter, ins Kloster geschickt worden war.[84]
G. Scheibelreiter, der diesen Aufstand hinsichtlich seiner Aussagekraft für die Probleme des fränkischen Klosterlebens im 6. Jahrhundert analysierte, kam zu dem Ergebnis, daß Chrodechilde und Basina unfähig waren, den Gegensatz zwischen den germanisch-adeligen und den christlichen Wertvorstellungen zu überbrücken.[85] Warum führte dieser Gegensatz aber gerade in einem Nonnenkloster zu einem spektakulären Aufstand, dessen Beilegung sich länger als ein Jahr hinzog? Ich denke, der Blick auf die Wertsysteme reicht nicht aus, um diese Ereignisse zu verstehen.
Die Königstöchter protestierten gegen die Lebenswege als Nonnen: Indem sie sich auf ihre Herkunft beriefen, sprachen sie den Gegensatz zwischen weltlicher Stellung und Klosterleben auf der Ebene der Lebensformen an, wo er sich ihnen besonders kraß darstellte. Während nämlich Frauen ihrer sozialen Schicht im weltlichen Bereich unter günstigen Umständen erhebliche Einflußmöglichkeiten auf das politische Geschehen offen standen, sah sich Chrodechilde nach der Wahl Leuboveras auf eine untergeordnete Position innerhalb der klösterlichen Klausur festgelegt, ohne daß sie sich - wie Mönche vornehmer Herkunft - durch Aussichten auf andere kirchliche Ämter hätte trösten können.[86] Eben dieser Gegensatz zwischen königlicher Stellung und Klosterleben wird in der Vita Balthildis aufgegriffen. Die Vorbildlichkeit Balthildes besteht nämlich gerade darin, daß sie sich trotz ihrer vorherigen Machtstellung am Königshof in das Klosterleben musterhaft einfügt. Wenn also in dieser Vita, die wie das zweite Buch der Vita Radegundis für ein klösterliches Publikum verfaßt wurde,[87] formuliert wird, Balthilde habe ihre Frömmigkeit, für die sie nach ihrem Tod belohnt wurde, ihren Mitschwestern als Leitfaden hinterlassen,[88] so ist diese Aussage ernst zu nehmen.
Da in der Vita Balthildis die Bewältigung eines unfreiwilligen Klostereintritts und die Verarbeitung des Gegensatzes zwischen weltlicher und klösterlicher Lebensweise thematisiert werden, Probleme also, die für Nonnen aus der fränkischen Oberschicht, wie der Klosteraufstand von Poitiers zeigt, sehr relevant waren, ist es wahrscheinlich, daß diese Vita als Anleitungstext für die Einübung klösterlicher Normen geschrieben wurde. Auch das zweite Buch der Vita Radegundis, das nicht lange nach dem Klosteraufstand entstand, dürfte eine solche Funktion im Rahmen der klösterlichen Rezeption erfüllt haben.[89]
Beide Viten beschreiben Frauen, die sehr privilegierte Stellungen in der fränkischen Gesellschaft einnahmen, als vorbildliche Nonnen. Diese stilisierten Darstellungen zeitgenössischer Lebensgeschichten führen die Erfüllbarkeit der Anforderungen des Klosterlebens und den Lohn dieser Mühen um christliche Vollkommenheit vor Augen.[90] Dadurch waren sie geeignet, den Nonnen zu helfen, ein ihrer Lebensweise angemessenes Selbstverständnis zu entwickeln und christliche Normen einzuüben, die im Widerspruch zu den Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend im weltlichen Bereich standen.[91]

V.

Vor dem Hintergrund ihrer Funktion als klösterliche Erbauungstexte erscheinen auch die der Vita Balthildis und dem zweiten Buch der Vita Radegundis gemeinsamen Motive, die das Verhältnis des Klosters zum Königshof beschreiben, in einem neuen Licht. In beiden Viten werden Kontakte der im Kloster lebenden ehemaligen Königin zum Königshof erwähnt,[92] und die Gebete der Nonnen für das Wohl des Reiches, von denen Baudonivia berichtet,[93] weisen auf die Gebetsverpflichtungen voraus, die die Regentin Balthilde den alten Kathedralen des Reiches auferlegte.[94] Die Beziehung zum Königshof, zum Zentrum weltlicher Macht, wird in diesen Texten m. E. nicht nur deshalb betont, weil diese Beziehungen für die Klöster wichtig waren.[95] Durch diese Motive wird vielmehr auch das Selbstverständnis der von Königinnen gegründeten Klöster ausgedrückt, in denen Nonnen und Mönche lebten, die sich aufgrund ihrer Herkunft dem fränkischen Reich und seiner Führungsschicht zugehörig fühlten. Das Motiv des Betens für das Wohl des Reiches hebt darüber hinaus die Bedeutung der Klöster in und für die Welt hervor und führt den Nonnen und Mönchen die Wichtigkeit ihres täglichen Handelns vor Augen.
Diese Verbindung von Religion und Politik, die auf Entwicklungen der Karolingerzeit vorausweist,[96] ist vor dem Hintergrund der Entstehung und Rezeption dieser Texte als Ausdruck des klösterlichen Selbstbewußtseins zu erklären.

Der Vergleich der Viten der beiden Königinnen Radegunde und Balthilde hat gezeigt, wie sehr sich im Frankenreich zwischen dem 6. und 7. Jahrhundert die Auffassung vom idealen christlichen Handeln einer Königin verändert hat. Dieser Wandel beruht nicht nur auf der verschiedenartigen Sichtweise des in spätantiker Tradition stehenden Dichters Fortunatus und der fränkischen Nonne (oder des Mönchs), der die Vita Balthildis verfaßte. Die Verarbeitung des weltlichen Lebensabschnitts in den beiden Viten unterscheidet sich nämlich nicht nur in bezug auf die Idealvorstellungen, die die Stilisierung beherrschen - Askese und Weltverachtung auf der einen, christliches Handeln in der Welt auf der anderen Seite - sondern auch hinsichtlich des sozialen Kontextes, in dem das christliche Handeln der Königinnen steht: Während Radegunde an einem noch kaum christlich geprägten Königshof asketisch lebte, konnte Balthilde in Übereinstimmung mit ihrer Umgebung, die also bereits christlich geprägt war, christlich handeln.
In den hagiographischen Lebensbeschreibungen spiegelt sich, wie wir gesehen haben, der Prozeß der Rezeption christlicher Ideale und Lebensformen in der fränkischen Oberschicht zwischen dem 6. und 7. Jahrhundert. Beide Königinnen waren als Klostergründerinnen und Nonnen an der Etablierung der klösterlichen Lebensform in dieser Schicht maßgeblich beteiligt. Das christliche Engagement der Frauen wird in den Heili-genviten auf unterschiedliche Weise aufgegriffen: Fortunatus hatte Radegunde als Asketin dargestellt, ohne ihr Leben im Kloster zu thematisieren. Für die Nonnen des von ihr gegründeten Klosters wurde deshalb ein Ergänzungstext geschrieben, der Kloster und Königshof miteinander in Beziehung setzt und dadurch auf die Vita Balthildis vorausweist. Diese beiden Texte unterscheiden sich von der Vita Radegundis des Fortunatus unter anderem dadurch, daß sie das Selbstbewußtsein fränkischer Klöster ausdrücken. Die Neuformulierung der Heiligkeitsvorstellungen in der Vita Balthildis, die sich nicht auf die veränderte Darstellung des weltlichen Lebensabschnitts beschränkt, hat daher m. E. nichts mit den Problemen adeliger Herrschaftslegitimation zu tun97, sondern hängt mit der Entstehung einer von der fränkischen Oberschicht getragenen Klosterkultur zusammen. Hinsichtlich frauenspezifischer Normen ergibt sich aus dem Vergleich der beiden Viten, daß der Wandel des Heiligenideals mit einer stärkeren Akzentuierung des christlichen Frauenbildes verbunden ist.
In der Vita Radegundis steht das christliche Handeln der Königin in einem gewissen Widerspruch zu kirchlichen Nonnen: Radegunde läßt sich ihre asketische Lebensweise von ihrem Ehemann nicht verbieten (ordnet sich ihm also nicht unter), setzt ihre Weihe durch, obwohl sie verheiratet ist, und predigt den Nonnen in dem von ihr gegründeten Kloster.
In der Vita Balthildis werden keine solchen, die kirchliche Ordnung in Frage stellenden Verhaltensweisen mehr beschrieben. Die Königin wird zur idealen christlichen Ehefrau stilisiert, die sich ihrem Gatten unterordnet. Als vorbildliche Nonne fügt sich Balthilde in das Klosterleben ein; von einer christlichen Führungsrolle der ehemaligen Königin ist hier nichts mehr zu bemerken. Die stärkere Betonung christlicher Normen in dieser Vita zielt auf eine Durchsetzung der Unterordnung der Frauen nicht nur im kirchlich-klösterlichen, sondern auch im weltlichen Lebensbereich.
Nicht nur durch die Betonung der Einbindung in die klösterliche Ordnung dient die Vita Balthildis, die für die klösterliche Rezeption verfaßt wurde, der Einübung in die Verhaltensnormen des Klosterlebens. Auch die veränderte Darstellung des weltlichen Lebensabschnittes in dieser Vita ist in diesem Kontext bedeutsam. Sie bildet die Folie für die klösterliche Vorbildlichkeit der ehemaligen Königin: Durch die Beschreibung ihrer Unterordnung im Kloster wird die Bewältigung des Gegensatzes zwischen weltlichem Leben und Klosterleben vor Augen geführt. Damit wird ein Grundproblem thematisiert, das das Klosterleben für Frauen aus der fränkischen Oberschicht mit sich brachte. Auch die Beschreibung der Konversion Balthildes thematisiert wohl ein solches Grundproblem.
Die Konversionsberichte in den hier untersuchten Viten sind zwar stilisiert, lassen aber die tatsächlichen Umstände von Radegundes Weihe und Balthildes Klostereintritt ansatzweise erkennen. Obgleich es sich hier um herausgehobene Einzelfälle handelt, scheint mir doch eine Beziehung dieser Konversionen zur historischen Situation, in der Königinnen lebten, gegeben. Daß Radegunde eine kirchenrechtlich problematische Weihe durchsetzen konnte, ist m. E. nur dadurch erklärlich, daß die Kirche im 6. Jahrhundert noch bemüht sein mußte, in der fränkischen Oberschicht - besonders im Teilreich Chlothars I. von Soissons - an Boden zu gewinnen. Im Gegensatz dazu wird Balthilde zum Eintritt in ein bereits bestehendes Kloster gedrängt. Voraussetzung hierfür ist die Existenz der von der fränkischen Oberschicht getragenen Klosterbewegung.
Durch das Entstehen dieser Klosterkultur wurde das Klosterleben zu einer etablierten  Lebensform. Dies eröffnete die  Möglichkeit,  den
Klostereintritt als Alternative zur Heirat in die familiären Planungen der Oberschicht einzubeziehen. Bei diesen Planungen waren elterliche Entscheidungen ausschlaggebend; besonders die Töchter hatten auf ihre Eheschließungen kaum Einfluß.[98] Da für den Fall des Klostereintritts ähnliches gegolten haben dürfte,[99] ist es wahrscheinlich, daß die Vorbildlichkeit Balthildes auch einen Leitfaden zur Bewältigung eines unfreiwilligen Klostereintritts bieten sollte. Damit wird in der Vita Balthildis nicht nur die Anpassung an die christlichen und klösterlichen Normen, sondern auch an die gesellschaftlichen Bedingungen thematisiert, im Rahmen derer das Klosterleben Frauen im 7. Jahrhundert zugänglich war.
Hagiographische Texte ermöglichen, so zeigt dieser exemplarische Vergleich von zwei Königinnenviten, einen Zugang zur Sozialgeschichte christlicher Lebensformen für Frauen. Zugleich wurde deutlich, daß die Untersuchung von Frauenviten auch einen wichtigen Beitrag zu unserem Verständnis der sozialgeschichtlichen Grundlagen des Wandels der Heiligkeitsvorstellungen in der Merowingerzeit leisten kann. Durch den hier vorgenommenen Vergleich war nur eine erste Annäherung an frauenspezifische Aspekte des Heiligenideals in der Merowingerzeit möglich. Um diese zu erfassen, ist es erforderlich, die Handlungsund Verhaltensideale in Frauen- und Männerviten dieser Zeit zu vergleichen.[100]

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