Klosterleben von Frauen in der frühen Merowingerzeit

Überlegungen zur Regula ad virgines des Caesarius von Arles

Als der Bischof Caesarius von Arles (469/70-542) im Jahr 512 für seine Schwester Caesaria des Kloster Saint-Jean einrichtete und den Frauen zum Einzug die Regula ad virgines [1] übergab, hatte der weibliche Mona-stizismus bereits seit über 100 Jahren Eingang in Gallien gefunden. Seine Anfänge sind auf das Ende des 4. Jahrhunderts zu datieren, die erste sicher bezeugte Gründung ist Cassians Frauenkloster in Marseille (418).[2]
Im Gegensatz zum Mönchtum besitzen wir nur spärliche Informationen über das weibliche Klosterleben in dieser frühen Phase. Mehrere Faktoren sind für diesen Informationsmangel verantwortlich: Erstens existierten keine eigenen Regeln für die Frauenklöster, denen wir Kenntnisse über das klösterliche Leben entnehmen könnten. In dieser Zeit stellt die Nachricht über die Befolgung einer bestimmten Regel oft den einzigen Beleg für die Existenz eines Klosters dar. Zweitens waren die Frauenklöster aus verschiedenen Gründen (z. B. Versorgungsschwierigkeiten, Germaneneinfälle) oft ausgesprochen kurzlebig; obwohl sicher eine Reihe von Frauenklöstern eingerichtet wurde, bestanden zu Beginn des 6. Jahrhunderts nur (noch) drei nachweisbare Klöster.[3] Drittens läßt sich »das weibliche Klosterleben« dieser Zeit nicht ohne weiteres definieren. Man hat sich eine Vielzahl verschiedener Formen des Zusammenlebens vorzustellen, von der lockeren Vereinigung gleichberechtigter gottgeweihter Jungfrauen bis zur streng regulierten, möglicherweise hierarchisch gegliederten Gemeinschaft. Zurückzuführen ist diese Vielfalt auf die Freiheit vieler Klöster, sich selbst eine aus vorhandenen monastischen Texten zusammengestellte, den eigenen Verhältnissen angepaßte Regel zu geben (Praxis der regula mixta). Das Problem der Abgrenzung verhindert eine präzise Bestimmung der Zahl der Frauenklöster in Gallien bis zum letzten Jahrzehnt des 6. Jahrhunderts.[4] Festzustellen ist, daß die Zahl der Frauenklöster bis zum Beginn der iro-fränki-schen Phase des Mönchtums (590) relativ niedrig blieb.[5] Angesichts dieser Umstände ist die Regula ad virgines als Informationsquelle für das Klosterleben von Frauen in der frühen Merowingerzeit kaum zu überschätzen, zumal sie über das Kloster Saint-Jean hinaus im 6. und 7. Jahrhundert beträchtlichen Einfluß gewann. Zwar wurde die Regel selbst nur in wenigen Klöstern befolgt - am besten bezeugt ist die Übernahme der Regula ad virgines durch die merowingische Königin Radegunde in ihrem Kloster Sainte-Croix in Poitiers [6] - doch erfuhr sie als Quelle für eine Reihe von Männer- und Frauenregeln weitere Verbreitung.[7]
Die Regula ad virgines, 512 den Nonnen zur Einweihung ihres Klosters übergeben und den Worten des Autors zufolge bis zum Jahr 534 immer wieder abgewandelt und den Erfordernissen von ratio, possibilitas und sanctitas angepaßt,[8] bietet in 73 Kapiteln die Definition dessen, was wir heute unter dem Klosterleben von Frauen verstehen. Folgendermaßen soll das von der Regula ad virgines geordnete Zusammenleben aussehen: Es vollzieht sich, der bischöflichen Aufsicht weitgehend entzogen (d. h. exemt), in strenger Klausur. Für alle Mitglieder gelten die Pflicht zur ständigen Gemeinschaft und das Verbot jeglichen Besitzes. Innerhalb des Klosters soll das Prinzip der Gleichheit herrschen und die Frage der sozialen Herkunft bedeutungslos machen. Das Kloster steht grundsätzlich allen Frauen offen. Das Prinzip der Gleichheit erstreckt sich nicht auf die Ausübung von innerklösterlicher Macht und Autorität: Unter der Leitung der Äbtissin hat innerhalb einer hierarchischen Ordnung jedes Mitglied seinen festen Platz. Der Regel gegenüber sind alle gleichermaßen zum Gehorsam verpflichtet. Der Tagesablauf und die Tätigkeiten der Nonnen sind von der Regel weitgehend vorgegeben und stark auf ihre kontemplative Aufgabe ausgerichtet.[9]
In mehrfacher Hinsicht unterscheidet sich dieses monastische Konzept von älteren, auch im 6. Jahrhundert noch praktizierten Formen der weiblichen monastischen Askese. Neu ist die Verleihung der Exemtion, die Saint-Jean der seit dem Konzil von Chalkedon geltenden bischöflichen potestas über die Klöster entzieht. Entgegen der Praxis des 6. Jahrhunderts [10] kann der Bischof in Saint-Jean weder die Befolgung der Regel durch die Äbtissin noch die allgemeine Klosterdisziplin beaufsichtigen, ihm ist der Zutritt zum Kloster nur aus pastoralen Gründen gestattet. Ebenfalls neu sind der hierarchische Aufbau der Gemeinschaft, der den frühen klösterlichen bzw. klosterähnlichen Vereinigungen von Frauen fremd war, die Festlegung auf eine ausschließlich kontemplative religiöse Tätigkeit und die enge Gehorsamsbindung der Äbtissin an die Regel, die die Äbtissin weitgehend ihrer normsetzenden Rolle beraubt.
Die auffälligste Innovation und das hervorstechende Merkmal der Regula ad virgines ist die Einführung der Klausur. Der »Originalität« des Klausurgebots ist es - neben der Tatsache, daß die Regula ad virgines die erste für Frauen verfaßte Regel war - zuzuschreiben, daß die Caesa-riusregel bis heute eine gewisse Beachtung in der Forschung gefunden hat. Zwar waren schon seit den Anfängen des Jungfrauenstandes (2. Jahrhundert) alle gottgeweihten Frauen, ob sie im Kreis der Familie, in klosterähnlichen Zusammenschlüssen oder in Klöstern lebten, zum Rückzug von weltlicher Betriebsamkeit angehalten worden, doch hatte keiner der Kirchenväter ein formelles Klausurgebot ausgesprochen.[11] Im folgenden soll diese zentrale Vorschrift der Regula ad virgines, die sich in 19 der 73 Kapitel niederschlägt, näher untersucht und auf dem Hintergrund der Forschung auf ihre Ursachen und Folgen hin befragt werden.
Vorauszuschicken sind einige grundsätzliche methodische Bemerkungen über den Umgang mit normativen Quellen. Was vermag ein normativer Text wie die Regula ad virgines, der zudem von Klerikerhand verfaßt ist, über die Lebenswirklichkeit der Frauen, an die er gerichtet ist, auszusagen? Die aus dem Text ersichtlichen Normen und Ideale dürfen nicht mit weiblicher Realität verwechselt werden. Zur Gewinnung von Rückschlüssen auf die Realität ist die Gegenüberstellung anderer, z. B. erzählender Quellen wünschenswert. Da auch diese im Frühmittelalter fast ausnahmslos von Klerikern verfaßt wurden, ist allerdings auch hier mit der Intention zu rechnen, Vorbilder oder Negativbeispiele zu bieten.
Besonders im Hinblick auf das, was der Text nicht enthält, möglicherweise bewußt verschweigt, erweisen andere Quellen sich oft als hilfsreich. Andere, nicht normative Schriften desselben Verfassers, z. B. Briefe, können tieferen Einblick in die spirituellen Ideale und die ihnen zugrunde liegende Tradition vermitteln und dadurch eine bessere Einschätzung der daraus resultierenden Normen ermöglichen. Um schließlich diese Normen als frauenspezifisch zu erkennen, sollte ein Vergleich mit den an Männer angelegten Normen vorgenommen werden. Im Fall der Regula ad virgines bieten sich dafür die Mönchsregel des Caesarius und die etwa gleichzeitig entstandene Benediktregel an.12
Der Eintritt in das Kloster Saint-Jean bedeutet für die conversa den weitgehenden Abbruch ihrer Beziehungen zur Außenwelt. Als erstes und oberstes Gebot ordnet die Regel kategorisch die »aktive Klausur«[13] an, die den Frauen vom Eintritt an das Verlassen des Klosters verbietet:
»Haec sanctis animabus vestris prima conveniunt: Si qua relictis parentibus suis saeculo renuntiare et sanctum ovile voluerit introire, ut spiritalium faucibus deo adiuvante possit evadere, usque ad mortem suam d[e] monasterio non egrediatur, nee in basilicam, ubi ostium esse videtur.«[14]
Dieses Ausgangsverbot wird noch zweimal an exponierten Stellen der Regel wiederholt. Es wird ergänzt durch ein generelles Eintrittsverbot
(»passive Klausur«), von dem neben dem Provisor, der zusammen mit der Äbtissin die wirtschaftlichen Belange des Klosters regelt, nur die einzeln aufgezählten Seelsorger ausgenommen sind:
¬Ante omnia propter custodiendam famam vestram nullus virorum in secreta parte in monasterio et in oratoriis introeat, exceptis episcopis, provisore et presbytero, diacono, subdiacono, et uno vel duobus lectoribus, quos et aetas et vita comendat, qui aliquotiens missas facere debeant.«[13]
»Matronae etiam saeculares, vel puellae, seu reliquae mulieres adhuc in habitu laico, similiter introire prohibeantur.«[16]
Für den Fall, daß innerhalb der Klausurräume handwerkliche Reparaturen ausgeführt werden müssen, gibt Caesarius genaue Anweisungen, die Handwerker in Begleitung des Provisors und keineswegs ohne Wissen und Erlaubnis der Äbtissin einzulassen.[17] Trotz der Klausur haben die Nonnen die Möglichkeit, Verwandte - zu offenbar festgesetzten Zeiten - im salutatorium zu Besuch zu empfangen, jedoch nur in Gegenwart der Novizenbetreuerin (formaria) oder einer anderen älteren, vertrauenswürdigen Schwester.[19] Diese Aufsichtspflicht gilt selbst für die Äbtissin: Auch sie darf Gästen nicht ohne eine »Ehrenbegleitung« von zwei oder drei Schwestern entgegentreten.[19] An anderer Stelle schärft die Regel das Verbot jeder unbeaufsichtigten Begegnung noch einmal nachdrücklich ein:
»Ut familiaritatem aut quamlibet societatem, nee cum religiosis, nee cum laicis, seu viris seu mulieribus, secretam habeat; nee sola cum solo loqui vel sub mo-mento temporis permittatur.«[20]
Nur zum »conloquium« im Besuchsraum oder zum Gebet im Oratorium, falls es sich um Geistliche handelt, dürfen Gäste aufgenommen werden. Caesarius verbietet den Nonnen die Gewährung von Gastfreundschaft, die auch das leibliche Wohl berücksichtigt, und setzt sich damit deutlich von der traditionellen Pflege der Gastfreundschaft in den Klöstern ab. Höchstens für eine von weit hergereiste femina religiosa darf einmal eine Ausnahme gemacht werden.
»...quia sanetae virgines et deo devotae magis Christo vacantes pro universo populo debent orare, quam corporalia convivia praeparare.«[21]
Auch die Verteilung von Almosen soll so gehandhabt werden, daß die Nonnen nicht in Berührung mit den Empfängern kommen; die Äbtissin läßt die Gaben durch den Provisor verteilen.[22] Andere caritative Handlungen an außerklösterlichen Personen sieht die Regel wegen der Klausur nicht vor. Im Gegensatz zu vielen anderen Klöstern der Zeit wird in Saint-Jean keine Krankenpflege, außer an Mitgliedern der Gemeinschaft, ausgeübt.
Weitere Maßnahmen zur Verhinderung außerklösterlicher Kontakte sind das grundsätzliche Taufverbot [23] und das Verbot der Aufnahme von Mädchen, gleich welcher Herkunft, »ad nutriendum aut ad docendum«, d. h. ohne die Absicht der conversio.[24]
Verboten ist auch die in den Frauenklöstern traditionell übliche Übernahme von Handarbeiten (Kleiderreparaturen, Färben, Waschen) für außerklösterliche Personen, zumindest wenn sie ohne die ausdrückliche Erlaubnis der Äbtissin geschieht.[25] Diese Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit der Außenwelt soll unter Strafandrohung vermieden werden, »...ne per istam incautam et honestati inimicam familiaritatem fama monasterii laedi possit.«[26]
Über die Verhinderung persönlicher Kontakte mit der Außenwelt hinaus zielt die Klausur auch auf ein Verbot der Kommunikation über die Klostermauern hinweg mittels heimlich entgegengenommener oder verschickter Briefe, Botschaften, Geschenke (litterae, mandata, munus-cula). Wer der Empfänger bzw. der Absender ist, spielt keine Rolle; zwischen Eltern, Verwandtschaft und anderen Personen wird nicht unterschieden. Gestattet ist postalischer Verkehr nur über die Pförtnerin als Vermittlerin und mit ausdrücklicher Genehmigung der Äbtissin.[27] Verstöße gegen dieses Verbot sollen streng bestraft werden. Dem letzten Kapitel der Regel ist zu entnehmen, daß Caesarius nicht allein auf die Wirksamkeit der Vorschriften bei der Aufrechterhaltung der Klausur vertraut: Zu einem unbekannten Zeitpunkt während der jahrelangen Niederschrift der Regel hat er sämtliche Türen, abgesehen von der Hauptpforte, deren Schlüssel die Äbtissin verwahrt, zumauern lassen und verbietet um des guten Rufs und der klösterlichen Ruhe willen strikt, sie wieder zu öffnen.[28]
Die Aufzählung der einzelnen Klausurelemente läßt erkennen, wie durchdacht und auf Lückenlosigkeit hin angelegt dieser erste Entwurf einer vollständigen Klausur bereits ist. Lambot weist darauf hin, daß die von Caesarius entwickelte Klausur in all ihren Elementen 1298 durch Bonifatius VIII. im kanonischen Recht verankert worden ist, obwohl zwischen der Klausur der Regula ad virgines und der Klausur von 1298 keine historische Kontinuität bestand. Man darf seiner Ansicht nach jedoch zumindest einen latenten, langfristigen Einfluß der ersten Klausurvorschrift annehmen.[29]
Daneben geht aus der Aufzählung hervor, wie stark das Klausurgebot alle Lebensbereiche durchdringt und prägt. Die in der Regula ad virgines festgelegte Klausur verwehrt den Nonnen nicht nur Tätigkeiten, die das Verlassen des Klosters erfordern würden, sondern verhindert auch innerhalb des Klosters Unterricht, Erziehung und Gastfreundschaft, d. h. jede Verbindung zur Öffentlichkeit. Übrig bleiben Hausarbeit, die die Mitglieder der Gemeinschaft reihum verrichten sollen,[30] Handarbeit (die Nonnen stellen ihre eigenen Kleider her [31]) und Kontemplation. Angesichts der Klausur und der Exemtion, die dem Bischof die Verantwortung für das Kloster abnimmt, stellt sich die Frage nach der wirtschaftlichen Versorgung der Gemeinschaft. Zwar hat Caesarius seine Gründung durch Schenkungen und Verkäufe kirchlichen Eigentums ausgestattet, um sie wirtschaftlich und rechtlich unabhängig zu machen, doch ist über den Umfang dieser Dotation nichts bekannt.[32] Die wichtigste Einnahmequelle der rasch anwachsenden Gemeinschaft [33] war das Privateigentum der conversae, das sie der Regel zufolge beim Klostereintritt möglichst zugunsten der Klostergemeinschaft aufgeben mußten.[34] Einem Brief des Caesarius ist allerdings zu entnehmen, daß einige Frauen bei ihrem Eintritt lieber zugunsten ihrer Familien auf ihren Besitz verzichten, so daß er sie zur besseren Verwendung ihrer weltlichen Habe ermahnen mußte.[35]
Besonders folgenreich sind sowohl Klausur als auch Exemtion für das Amt der Äbtissin. Das Fehlen bischöflicher Kontrolle und Verantwortung läßt eine beträchtliche Zunahme der Kompetenzen der Äbtissin erwarten. Andererseits enthält die Regel keinen Hinweis auf die Befreiung der Äbtissin von der Klausurvorschrift; die Nonnen werden vielmehr ausdrücklich zum Fleiß bei der Kleiderherstellung angehalten, damit die Äbtissin niemals welche »extra monasterium« beschaffen müsse.[36]
Trotz recht genauer Beschreibung der Aufgaben der Äbtissin enthält die Regel keine eindeutigen Aussagen über Tätigkeiten, die sie zum Verlassen des Klosters zwingen würden. Der Schwerpunkt ihrer Aufgaben liegt im Bereich der innerklösterlichen Disziplin.
Wie das Leben in der Klausur in Saint-Jean tatsächlich aussah, ist an Hand der Regel, wie zu erwarten, kaum zu beantworten. Der Text bringt keinerlei Mißstände zur Sprache, die uns Hinweise auf eine laxe Befolgung des Klausurgebots liefern könnten. Die Regel enthält auch keine Bestimmungen - wie z. B. die Regula cuiusdam Patris [37] - für den Fall, daß eine Nonne trotz der Klausur das Kloster verläßt und später um Wiederaufnahme bittet. Möglicherweise kann man die Vermauerung der Türen als eine Reaktion auf Verstöße gegen die Klausur interpretieren,[38] doch könnte es sich dabei ebensogut um eine vorbeugende Maßnahme handeln.
Als Beweis für die Befolgung des Klostergebots wird oft das Verhalten der Nonnen beim Ausbruch eines Brandes angeführt, das die Vita sancti Caesarii folgendermaßen schildert:
»Turbatae igitur ancillae Dei, quibus foris exire non licebat, libros vel rescellas et se ipsas per cisternas iactabant...«[39]
Dabei muß es sich nicht unbedingt um freiwilligen Gehorsam gehandelt haben: Obwohl der Text sagt, daß die Frauen das Kloster nicht verlassen durften, ist auch denkbar, daß sie das Gebäude nicht verlassen konnten, weil die Türen bereits zugemauert waren und die Hauptpforte nachts verschlossen war (der Brand ereignete sich »media nocte«). Darauf hinzuweisen kann natürlich nicht im Sinn eines hagiographischen Textes sein.
Dank Venantius Fortunatus besitzen wir bessere Informationen hinsichtlich der Befolgung des Klausurgebots in Radegundes Kloster in Poitiers. Hier wurden die Anordnungen der Regula ad virgines offenbar nicht in allen Einzelheiten befolgt. Man hielt sich zwar an das zentrale Verbot, das Kloster zu verlassen - die Nonnen nahmen nicht am Beerdigungszug beim Tod Radegundes teil [40] - verzichtete jedoch keineswegs auf Kontakt mit der Außenwelt, wie die Freundschaft zwischen Rade-gunde und Fortunatus zeigt, übte die Gastfreundschaft und machte Geschenke.[41] Daß andererseits das Klausurkloster in Poitiers für weniger »prominente« Nonnen als Radegunde und die Äbtissin Agnes ein Gefängnis darstellen konnte, macht Gregors von Tours Erzählung von der Nonne, die nach einem Ausbruchversuch mit Stricken über die Klostermauer zurückgeholt wurde, deutlich.[42] Von Gregor wissen wir, daß auch Saint-Jean zumindest zeitweilig als Gefängnis diente: Unter der Äbtissin Liliola (ab 559) ließ König Gunthram seine Schwägerin nach dem Tod seines Bruders im Kloster in Arles festsetzen. Gregor berichtet, daß sie nach einem Fluchtversuch den Rest ihres Lebens im Klosterkerker verbringen mußte.[43]
Im übrigen sei in diesem Zusammenhang kurz darauf hingewiesen, daß im frühen Mittelalter der Klostereintritt und damit in unserem Fall das Leben in strenger Klausur gewöhnlich keineswegs auf dem persönlichen, bewußten Entschluß der erwachsenen Frau beruhte. Maßgeblich für den Klostereintritt, der meistens schon im Kindesalter geschah - die Regula ad virgines nennt als Mindestalter 6 oder 7 Jahre [44] - war ausschließlich die elterliche Entscheidung, die mit der persönlichen Entscheidung des Kindes gleichgesetzt wurde.[45] Das von der Regula ad virgines vorgeschriebene einjährige Noviziat [46] gab also nur den im Erwachsenenalter eintretenden Frauen die Möglichkeit, sich nach der Probezeit frei für das klausurierte Leben zu entscheiden, während für den Großteil der Klosterbewohnerinnen die Unterwerfung unter die Klausur unvermeidlich war. Sicherlich ist die Detailliertheit, mit der Caesarius in der Regula ad virigines die einzelnen Klausurmaßnahmen festsetzt, unter anderem mit der Novität dieser monastischen Forderung zu erklären. Die in das Kloster eintretende conversa sah sich mit einer in dieser Strenge bislang nicht gekannten Forderung nach Isolation und Separation von ihrer bisherigen Umwelt konfrontiert. Die Klausur bedeutete für sie nicht nur den Abbruch ihrer Beziehungen zu ihrer Familie, sondern war zugleich Ausdruck eines neuen monastischen Konzepts, das das Leben in der klösterlichen Gemeinschaft grundlegend änderte. Die detaillierten Anordnungen, die Caesarius hinsichtich der Klausur erteilt, sind als Anleitung zu einem neuen, bisher noch nicht eingeübten Verhalten zu lesen, das für das gemeinsame Leben in der Klausur erlernt werden mußte. Um die Klausur in Saint-Jean einführen zu können, mußte Casesarius sie in seiner Regel erst genau definieren.[47] Abgesehen von dieser definitorischen Notwendigkeit jedoch verweist die Sorgfalt, mit der die Klausur in allen Einzelheiten von der Regel vorgeschrieben wird, deutlich auf den zentralen Platz, den gerade diese Vorschrift innerhalb des monastischen Entwurfs des Autors einnimmt. Zu fragen ist, warum Caesarius an der Durchsetzung gerade dieser Verordnung so großes Interesse zeigt. Was bezweckt die Klausur, welchem Ideal soll sie dienen?
Eine ernstzunehmende Antwort auf diese Frage muß zunächst einmal der Tatsache Beachtung schenken, daß die Regula ad monachos des Caesarius kein entsprechend strenges Klausurgebot, sondern, wie die Benediktregel, nur die Verpflichtung zur stabilitas enthält:
»In primis si quis ad conversionem venerit, ea condicione excipiatur, ut usque mortem suam ibi perseverit.«[48]
Caesarius gibt in seiner Mönchsregel keine Begründung für die Vorschrift der stabilitas an, doch wissen wir von Benedikt, daß die stabilitas das Gyrovagentum, das umherschweifende Mönchtum, unter Kontrolle bringen sollte.[49] Die passive Klausur in der Regula ad monachos beschränkt sich auf das Eintrittsverbot für Frauen. Von den übrigen in der Frauenregel enthaltenen Klausurelementen finden sich in der Mönchsregel nur zwei: das Verbot, Kinder zur Taufe aufzunehmen, und das Verbot, heimlich Briefe auszutauschen.[50] Das Leben nach der Regula ad monachos bedeutet also einen gewissen Rückzug aus der Welt, aber keineswegs die Abgeschlossenheit der klösterlichen Gemeinschaft. Insofern als das Klausurgebot des Casesarius frauenspezifisch ist, läßt es sich nicht einfach als eine Folge seines religiösen Eifers, seiner strengen monastischen Geisteshaltung erklären.[51] Unbefriedigend erscheint auch die Annahme, die Klausur habe für Caesarius als ein Hilfsmittel zur ungestörten Kontemplation gedient.[52] Schließlich stellten Gebet und Gottesdienst ebenso den Hauptinhalt des männlichen Klosterlebens dar. Ebenso oberflächlich bleiben Erklärungsversuche, die die Asymmetrie der Klausurvorschrift zwar zur Sprache bringen, sie jedoch auf die Eigenart des »weiblichen Wesens« zurückzuführen. McCarthy zeigt, daß nicht nur Teile der älteren Forschung ein von Stereotypen geprägtes Frauenbild im Kopf haben, wenn sie von »the more affectionate and submissive natures of women« spricht, die bestimmte Vorschriften als ratsam erscheinen lassen:

  • »... women, given by God a different role in society, had corresponding needs both psychological and social even within the monastic State and would profit by specific applications of ascetical principles.«[53]

Anstatt wie McCarthy von einer grundsätzlichen, physischen und moralischen Schwäche des weiblichen Geschlechts auszugehen, weist Schulenburg auf das Schutzbedürfnis der Frauen in der merowingischen Gesellschaft hin, in der sie oft Angriffen auf Leib und Leben ausgesetzt waren, und bietet damit eine plausibel erscheinende Erklärung der Klausurvorschrift in der Regula ad virgines:
»In its early use, for example as articulated by Caesarius of Arles, enclosure seems to have been viewed as essentially an external, physical defense. Its purpose was to protect the nuns and their chastity from barbarian invaders and local violence.«[54]
Ihre Ausführungen über den Zusammenhang von Klausur, Exemtion und Selbstversorung schließen sich an S. F. Wemple an, die dazu schreibt:

  • »The need to guard the autonomy, privacy, and freedom of female contemplatives was well understood by Caesarius. He not only insisted on the community's exemption from episcopal governance and its economic self-sufficiency, but also prohibited the nuns from associating with and providing Services, such as weaving, sewing, and cooking, for people in the outside world.«[55]

Beide Autorinnen schätzen die Klausur in Saint-Jean positiv ein, während sie die aus karolingischer Zeit stammenden Klausurvorschriften als frauenfeindlichem Denken entsprungene Maßnahmen zur Unterdrückung weiblicher Sexualität verurteilen.

  • »At its root this restrictive policy seems to have been based on the clerical refor-mers« fear of female sexuality and their pervasive distrust of women. It seems to reflect the underlying misogynism which one finds especially during periods of reform. In large part, the basic rationale for narrow enclosure seems to have been the desire of CONTROLLING (bei Schulenburg kursiv, C. N.) woman's sexuality through enforced isolation, not guarding her autonomy. In the reformers« minds, enclosure appears to have been viewed primarily as an internal safeguard which would protect the female religious from the fragility of her sex, and only secondarily to serve as a physical protection from the dangers of the outside world.«[56]

Eine genaue Untersuchung der Regula ad virgines zeigt m. E., daß sich der Gegensatz von Klausur als »physical protection« bei Caesarius einerseits und »internal safeguard« in späterer Zeit nicht aufrechterhalten läßt. Aus der Regula ad virgines geht vielmehr eindeutig hervor, daß auch hier die Klausur bereits auf die Bewahrung der Keuschheit und der Jungfräulichkeit gegen die Versuchungen, denen die weibliche Schwäche zu erliegen droht, abzielt. Dies zeigt sich erstens am Aufruf zur pudicitia (Sittsamkeit, Keuschheit), der im Zusammenhang mit dem Besuch des Provisors oder anderer Männer (Geistliche oder Handwerker) erfolgt. Dabei sollen die Nonnen einander kontrollieren:

  • »Quando ergo simul statis, si aut provisor monasterii, aut aliquis cum eo virorum supervenerit, invicem vestram pudicitiam custodite ...«
    »Si quam vero liberius quam decet agere videritis, secretius corripite ut sororem: si audire neglexerit, matri in notitiam ponite.«[57]

Die Regel kennt kein anderes Gebot, dessen Befolgung offenbar so wichtig und zugleich so schwer ist, daß die gegenseitige Beobachtung und notfalls sogar die Anzeige des Vergehens vorgeschrieben werden muß. Weitere Hinweise auf die Jungfräulichkeit als das von der Klausur zu schützende Ideal liefern die Begriffe der fama und der familiaritas. Mit der fama begründet Caesarius die Notwendigkeit der Klausur:

  • »Ante omnia propter custodiendam famam vestram nullus virorum... introeat«[58]

Die fama ist ein konstitutives Element der Heiligkeit; erst der Ruf der Heiligkeit, d. h. die öffentliche Anerkennung läßt die Heiligkeit existieren.[59] Zu dieser allgemeinen Bedeutung der fama tritt eine besondere Bedeutung für die weibliche Heiligkeit, die in der Zeit der Spätantike und des Frühmittelalters ausschließlich durch Virginität zu erreichen ist. Schon Cyprian weist auf die Notwendigkeit der Sichtbarkeit der Virginität hin. »Virgo non esse tantum sed et intellegi debet et credi...«[60]
Die Entwicklung eines strenger organisierten Monastizismus für Frauen, die ihren ersten Höhepunkt in dem Klausurkloster des Caesarius findet, ist sicher als ein Zeichen anzusehen, daß das Habit als Zeichen der virginitas nicht mehr genügte, um die Anerkennung als Jungfrau und Heilige zu erlangen. Die Propagierung des Zusammenschlusses in der Klausur erweist sich unter diesem Aspekt als ein Beitrag zu der Tendenz, nur noch das vor der Öffentlichkeit verborgene, streng geordnete Kloster als Ort und Möglichkeit der Heiligkeit zuzulassen. Der zweite Schlüsselbegriff heißt familiaritas, Vertraulichkeit oder vertraulicher Umgang. Die familiaritas bedroht die fama und damit die Jungfräulichkeit. Ihr soll durch die Klausur vorgebeugt werden: »... ne per istam incautam et honestati inimicam familiaritatem fama monasterii laedi possit.«[61]
Die zentrale Bedeutung der familiaritas für die Klausurverordnung kann aus dem Text der Regel kaum erschlossen werden. Deutlich geht der Zusammenhang von familiaritas und virginitas aus einem ermahnenden Brief des Caesarius an die Nonnen in Saint-Jean hervor.[62] Caesarius schildert die familiaritas assidua, incongrua oder inordinata hier im Hinblick auf die Jungfräulichkeit als eine um jeden Preis zu meidende Gefahrenquelle. Er bietet all seine Eloquenz auf, um das aus der familiaritas entstehende Unheil den Nonnen abschreckend vor Augen zu führen. Grundsätzlich muß der Kontakt zu außerklösterlichen Personen, besonders zu Männern, auf das Notwendigste beschränkt bleiben. Jede Begegnung birgt Gefahren für die Keuschheit des Geistes, der Sinne und des Körpers. Selbst die assidua familiaritas mit den Eltern und Verwandten soll die virgo nach Kräften vermeiden: »... ne aut quod non oportet audiat, aut quod non expedit dicat, aut quod castitati potest esse contrarium videat.«[63]
Caesarius schildert wortreich, wie aus harmlosen Gesprächen zwischen zwei Menschen verschiedenen Geschlechts auf die Dauer notwendigerweise Begierde und verbotene Liebe entstehen muß. Hinter seinen Ausführungen über die Kämpfe und Probleme, die mit der Bewahrung der Jungfräulichkeit verbunden sind, steht die Vorstellung von der Triebbessenheit des Menschen, die bei Caesarius nicht etwa nur auf das weibliche Geschlecht, sondern auf das gesamte genus humanum bezogen zu sein scheint.[64] So betont Caesarius ausdrücklich, daß die Notwendigkeit, die familiaritas zu fliehen, gleichermaßen für Männer und für Frauen gilt: «... quam rem non solum feminae de viris sed etiam viri de feminis observare contendant, si integram puritatem custitatem custodire desiderant.«[65]
Nirgends ist von einer spezifisch weiblichen Schwäche die Rede. Die Einfügung des zweiten Kapitels aus dem Brief an die Nonnen in die Regula ad monachos [66] läßt darauf schließen, daß Caesarius an Männer und Frauen zumindest theoretisch gleiche asketische Anforderungen stellt.
Daß die theoretische Geltung gleicher asketischer Prinzipien allerdings nichts über die Realität des monastischen Lebens aussagt, belegt der Unterschied zwischen Klausur in der Nonnenregel und stabilitas in der Mönchsregel deutlich genug. Die einseitige Anwendung der Klausur entlarvt die Gleichheit der Geschlechter, die der von Caesarius verwendete Begriff des genus humanum verspricht, als scheinbar. Mit der Einführung der Klausur in Saint-Jean verleiht Caesarius seiner Ansicht Ausdruck, daß die Nonnen den Gefahren der familiaritas nicht die gleiche Widerstandskraft entgegensetzen können wie die Mönche. Gleichzeitig dient die Klausur als Schutz gegen die Gefahr, die selbst die moralisch integre Frau für die männliche Keuschheit darstellt. Das Klausurgebot beruht auf der Überzeugung, daß die asketisch lebende Frau nicht nur für die Bewahrung ihrer eigenen Virginität, sondern auch für die Keuschheit des mit ihr möglicherweise in Berührung kommenden Mannes verantwortlich ist.

  • »Ecce tuus oculus alium simpliciter videt, et forte ille te crudeliter concupiscit. De tua castitate gaudes, et de illius ruina non times? Si enim tu te nimium familiärem praebueris, alterius concupiscentiam nutris: etiam si ipsa non pecces, alium tarnen perdes; ...[67]

Angesichts dieses Befundes muß die These, die erste Klausurvorschrift habe auf anderen Vorstellungen beruht und andere Intentionen verfolgt als spätere Maßnahmen zur Durchsetzung der Klausur in Frauenklöstern, revidiert werden. Schon die in der Regula ad virgines festgelegte Klausur ist in erster Linie ein Mittel zur Bewahrung der durch die weibliche Schwäche gefährdeten Virginität.
Die negativen Folgen für die Betätigungsfelder und damit für die Teilnahme der Nonnen am öffentlichen Leben sind deutlich geworden. Es erscheint fraglich, ob die Verbindung von Klausur und Exemtion, die gern als ein Indiz für die wirtschaftliche und spirituelle Autonomie der Nonnen in Arles betrachtet wird, die repressiven Effekte der Klausur wesentlich lindern kann. Zumal der Begriff der spirituellen Autonomie [68] ist insofern irreführend, als die Klostergemeinschaft nicht nach einer selbstgesetzten Regel lebend sich spirituell »selbstverwirklicht«, sondern zum Gehorsam gegenüber der vom Klostergründer vorgegebenen Regel verpflichtet ist, die die Autorität des Bischofs ersetzt. Die Untersuchung der Regel widerlegt den Eindruck, daß Caesarius im Interesse der Frauen »emanzipatorische« Ziele verfolgte, denen die Klausur als eine Schutzmaßnahme dienen sollte; seine Absicht war die Beschneidung von Freiheiten, die die Bewahrung der Virginität gefährdet hätten. Nicht erst in karolingischer Zeit ist die Klausur im wesentlichen eine restriktive Vorschrift.

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