Trennung und Verbindung im bäuerlichen Werken des 9. Jahrhunderts

Eine Auseinandersetzung mit Ivan Illichs Genus-Konzept*

  • (* Überarbeitete und durch Anmerkungen erweiterte Fassung eines Vortrags, der in Marburg und Berlin gehalten wurde. Erschienen in: St. Pfürtner (Hg.), Wider den Turmbau zu Babel. Disput mit Ivan Mich, Reinbek 1985, S. 131-145 (Titel: Genus im Frühmittelalter?)

Aller Diskussion um Ivan Illichs Buch »Genus« zum Trotze tue ich einfach so, als sei dessen Basisaussage wissenschaftlich etabliert, als sei »Genus« eine analytische These, die als für Forschungszwecke dienlich gilt.
Ich habe eine bestimmte Forschungsabsicht: mich interessiert die Eigentümlichkeit des ländlichen Lebens im Frankenreich des 9. Jahrhunderts. Ich bin nun - vielleicht gerade deshalb, weil meine Beschäftigung mit dem Thema weit zurückreicht [2] - beim Nachdenken darüber, wie der Schriftsinn der wenigen überlieferten Quellen und die Begriffssysteme meiner Fachwissenschaft und ihrer theoretischen Hilfswissenschaften zueinander stehen sollten, in Unsicherheit geraten. Einerseits ist mir immer klarer geworden, ein wie großes Hindernis die kirchlich und grundherrlich geprägte Schriftlichkeit der Überlieferung für das nähere Fassen und tiefere Ergründen der von Mündlichkeit geprägten Welt der Bauern darstellt.[3] Kann das Antlitz jener sprachlosen Toten durch die Masken von zum Teil unbeholfenem Norm-, Verfügungs-, Kontroll-und Straf-Schrifttum überhaupt durchscheinen? Zum anderen steht die Tragweite und Wirkungsweise der Leitbegriffe in Frage, die ich - und mit mir andere Kollegen - für die stoffliche Ordnung der Quellendetails und für eine überzeugende Darstellung benutzt habe: Produktion, Kosumtion, (geschlechtsspezifische) Arbeitsteilung, Rolle, Familie, Mentalität, Magie, Synkretismus usf. Alle diese Termini entstammen samt und sonders der Moderne - meist dem späten 18. und 19. Jahrhundert — und sollen, wohl bestimmt vom Erkenntnisideal der exakten neuzeitlichen Naturwissenschaften, für Widerspruchsfreiheit, Eindeutigkeit, Kausalität und Finalität der Forschungsergebnisse bürgen. Ich sitze, grob zusammengefaßt, in der »Klemme« zwischen zwei je eigentümlich unzureichenden Sprachen: der Latinität der Quellen und der Modernität der Begriffe.
Will man in solcher Lage nicht wie Hofmannsthals Lord Chandos verstummen, dann braucht man Hilfe von der einen oder anderen Seite. Die Überlieferung aus dem 9. Jahrhundert - sieht man einmal von der Hoffnung ab, daß doch noch flächendeckende Grabungen von dörflichen Arealen möglich werden, die nicht durch Überbauungen oder andere Störungen getrübt sind - wird sachlich Neues nur sehr bedingt bieten können: Hier wird es wohl allein auf genauere Erschließung durch die hochspezialisierte Detailforschung ankommen - das braucht viel Zeit.[4] Schnellere Hilfe kann sicher über konzeptuelle Angebote kommen. Ich frage also: Welche Theorie hilft mir weiter? Jetzt kann ich mich fragen, ob Illichs »Genus« ein Konzept darstellt »das mir in dieser Situation helfen kann. Beim ersten Blick auf dieses Konzept wird klar, daß es hier um eine grundsätzliche Kritik der Sichtweisen heutiger Sozialwissenschaften auf alle vergangenen bzw. (noch) nicht industrialisierten Gesellschaften geht. Der theoretische Bezug ist also allgemein genug, um auch für meine Forschungsabsicht bedeutsam zu sein. Aber ist er umgekehrt nicht zu allgemein, um meine konkreten Interpretationsprobleme lösen zu helfen?
Um in einer solchen Situation weiterzukommen, bin ich es gewöhnt, der Nutzung von Konzepten für meine Forschung eine Prüfung ihrer Bildungsweise vorauszuschicken. Erst dann ist ein Urteil darüber möglich, wie nahe das Konzept meiner Sache steht. Ich frage: Woher nimmt Illich das Anschauungs- und Faktenmaterial, aus dem er seine verallgemeinernden Schlüsse zieht? Eine Durchsicht der Kapitel III bis VII des Buches, in denen er den Begriffsbau von »Genus« errichtet,[5] zeigt schnell, wie breit die .Beispiele« ausgewählt sind. Beliebig bestehende oder vergangene Kulturen aus allen Regionen der Erde kommen dann in den Blick, wenn Wissenschaften modern-europäischen Zuschnitts so ermittelt, berichtet und dargestellt haben, daß Genuskonturen oder Genuselemente direkt oder indirekt ersichtlich sind: Japan (Sprache), Kabylen (Raum), Malaysia (Handel), Guyaki (Werkzeug), Mashrik, Bemba (Wirklichkeit der Kinder), Bakweri (Weltbild). Diese Reihe ließe sich fortsetzen. Natürlich haben auch Einzelheiten aus dem europäischen Kulturkreis ihren Platz im Reigen der Belege. Sie beziehen sich auf genus-spezifische Leiblichkeit, Sprache, Verwandtschaft, Ehre, Arbeit und Rente, und sie reichen von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. Soweit die raumzeitliche Verteilung des sachlichen Materials allein für die systematische Begriffsbildung.
Einen wesentlich größeren Anteil hat die europäische Kulturgeschichte an dem Stoff, mit dem Illich die historische Begriffsentwicklung zeichnet.
Dies deshalb, weil er »Genus durch die Zeit hindurch« (Kapitel VI) vor allem als für Europa typischen Weg vom Genus zum Sexus, von der mittelalterlichen Geschlechtsverbindlichkeit zur modernen Geschlechtsneutralität verfolgt. Dies geschieht, damit man eine Verbindung zwischen dem ursprünglich« europäischen Weg des Genus-»Schwunds« zu den nachfolgenden Straßen der globalen Genus-»Zerstörung« herstellen kann.
Zur Bildungsweise und Aufgabe des Begriffs Genus kann ich nun zusammenfassend sagen: Er ist aus einer Auswahl aus dem wissenschaftlich verfügbaren Material der Weltkulturen gebildet. Jede der herangezogenen Kulturen trägt gewissermaßen einen, wenn nicht gar »ihren« Teil zur Begriffsbildung bei. Daraus ergibt sich zugleich seine sachliche Reichweite: Er ist auf so hohem Abstraktionsniveau gebildet, daß er für jede Kultur »Realitätsgeltung« beansprucht - bis auf eine Ausnahme: die sexus-bestimmten Industriegesellschaften egal welcher politischen Form. Insofern ist Genus ein Kontrast-Begriff, der unter bestimmten Gesichtspunkten multiversale und partikulare Geschichtsformen und -wege humaner Kulturen einer Universalgeschichte der Menschheit gegenüberstellt. Abgesehen von seiner zivilisationskritischen Frontstellung: Genus empfiehlt sich also als Grundkategorie kulturwissenschaftlicher Arbeit mit den Hauptanwendungsbereichen der Anthropologie und aller Geschichtswissenschaften.
Der Bezug des Genus-Begriffs zur ländlichen Lebensform des Frankenreichs im 9. Jahrhundert ließe sich nun so ausdrücken: Genus behauptet, im ganzen auch für sie Bedeutung zu haben, obwohl nur sehr wenig von ihr in ihn eingegangen ist.
Welchen Inhalt hat das Genus-Konzept? Ich denke, daß Illich Genus als alle Lebensbereiche ordnende Wirkungsmacht verstanden wissen will. Maßgebliche, wenn nicht sogar alle Dingbindungen, Raum-, Zeit- und Sinnbezüge der Handlungen, des Verhaltens und der Einstellungen in einem Gemeinwesen tragen entweder männliche oder weibliche Signatur, sind damit unverrückbar qualifiziert. Dies bedeutet zugleich, daß beide »Hälften« des Gemeinwesens unaustauschbar aufeinander verwiesen sind. Diese generelle Verschränkung grundsätzlich geschiedener Geschlechter nennt Illich >Komplementarität<, deren Formen- und Funktionsvielfalt >asymmetrisch<. Gleichheit als »Vergleichbarkeit« zwischen den Geschlechtern, als Beziehungsnorm und -form ist der logische Gegenpol zur asymmetrischen Komplementarität. Sie darf deshalb auch nicht mit »Ungleichheit« in Verbindung gebracht werden. Hieran wird klar, wie radikal Illich versucht, alle terminologischen Systeme zu meiden, die den Erwartungs- und Erfahrungsfeldern des neuzeitlich-europäischen Besitzindividualismus, der Warenzirkulation und des industriell-kapitalistischen Produktivismus zugehören. Die Begriffskonstruktion dient also der Hoffnung, sich von zeitgenössischen Denkmustern distanzieren zu können, die zugleich der Praxis wissenschaftlicher Arbeitsteilung erlegen sind und deren je spezifische Hierar-chisierung von Bedeutungsbereichen mitvollziehen. Der Anspruch, den das Genus-Konzept sachlich, methodisch und kulturpolitisch stellt, ist also gewiß riesig! Er trifft aber genau die Probleme, die ich eingangs geschildert habe, und versucht einen Weg aus ihnen herauszufinden. Läßt er sich nun »umsetzen« für ein so begrenztes Forschungsthema wie die bäuerlichen Lebensverhältnisse im frühmittelalterlichen Westeuropa? Und hat der Umgang mit diesem Konzept Konsequenzen für es selbst?
Lassen sich in den Quellen zum ländlichen Leben im 9. Jahrhundert Formen und Bereiche der Trennung und Verwiesenheit von Männern und Frauen voneinander und aufeinander nachweisen? Fügen sie sich zu einer umgreifenden Ordnung, oder zu Funktionskreisen, die man als elementare Lebensbedingungen aller ihnen Zugehörigen betrachten muß? Allein eine solche Einschätzung würde ja die Anwendung des Genus-Begriffs rechtfertigen!
Zunächst zum Problem der Trennung der Geschlechter. Systematisch seit dem achten Jahrhundert - Vorläufer gehen in die Spätantike zurück - ergeht durch Geistlichkeit und Königtum - noch jahrhundertelang wiederholt - die Mahnung, die Leute auf dem Lande sollten sich am Tag, an dem Gott der Herr ruhte, der »opera servilia« enthalten. Diese Kette von Mahnungen ist als »Verbot der Sonntagsarbeit« längst als gut erforschtes Thema in die Erfolgsgeschichte der abendländischen Kirche eingegangen.[6] Was damals begann, wirkt noch heute - wenn auch mit weitgehend anderem Sinn.
Die karolingischen Versionen des sonntäglichen »Arbeits«-Verbots eignen sich nun gut zum Einstieg ins Problem der frühmittelalterlichen Geschlechtertrennung auf dem Lande. Auch Illich hat dies schon bemerkt. Diese Gebotsvariationen werden aber in der Fachforschung meist zu flach interpretiert: als Rahmenaussage nämlich zur »geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung«.[7] Daß sie aber viel mehr enthalten, gerade im Sinne von Illichs Genus-Konzept, das möchte ich aufzeigen.
Ich erzähle zunächst einmal, was in einem jener Gebote steht. Es wurde 789 von Karl d. Gr. erlassen und später mehrfach wiederholt.[8] Der König oder dessen Beauftragter, der Bischof oder die Synode befiehlt, daß entsprechend dem, »was Gott der Herr als rechtens erkannt hat, sonntags keine Werke (>opera<) verrichtet werden, an denen das Zeichen der Eingebundenheit in grund- und kopfbezogene Herrschaft haftet« (>servus<, >senilis<). Diese Werke werden nun aufgezählt, und zwar unterschieden in solche, die Männer (>viri<), und solche, die Frauen (>feminae<) tun. Die Männer sollen am Sonntag unterlassen:

  • die Weinstöcke zu pflegen, auf den Feldern zu pflügen, Ernten einzubringen, Gras zu schneiden, Zäune aufzustellen;
  • in den Wäldern zu roden und Bäume zu schlagen;
  • in Steinbrüchen zu werken;
  • Häuser zu errichten;
  • im Garten zu werken;
  • zum Gerichthalten zusammenzukommen;
  • zu Markte zu gehen;
  • und endlich: zu jagen.

Erlaubt sind nur drei Arten von Fuhrwerk: das für den Heereszug (der Troßdienst), die Frondienst-Fahrt für den jeweiligen Herrn und die Überführung eines Leichnams zum Grab.
Den Frauen werden die „opera textrilia« untersagt, und das heißt:

  • Stoffe zu schneiden, zusammenzunähen oder nadelfertig zu machen;
  • Wolle zu zupfen bzw. zu spinnen und Flachs zu schlagen;
  • außer Hause („in publico") Wäsche zu waschen;
  • und Schafe zu scheren.

Eines ist klar: diese Ordnung kann man nur als grobe und selektive Zuschreibung von Tätigkeiten an entweder Männer oder Frauen verstehen. Verboten und deshalb zugeschrieben wird nur, was dem eigentlichen Sinn des Sonntags entgegensteht, ihn gewissermaßen entheiligt. Die Aufzählung beschränkt sich also um eines bestimmten Zwecks willen. Er besteht im sonntäglichen Kirchenbesuch. Die Verordnungen schließen mit dem Gebot, zur Feier der Messe von überall her zusammenzukommen und »Gott für alles zu preisen, was er uns an diesem Tage zu schenken geruhte«.
Aber: Trotz dieser zweckgebundenen Einseitigkeit - welche für Mensch und Vieh, Haus und Hof unabdinglichen Tagesverrichtungen sind hier nicht alle ausgespart! - läßt sich diese Zuschreibung doch auf mehreren Ebenen interpretieren. Ich beginne mit dem Gebrauch der Werk-Zeuge. Mann und Frau benutzen völlig verschiedene Geräte:

  • Die Frau hantiert mit Nadel und Schere, mit Spindel, mit Flachsbreche, -schlegel und -hechel, mit Waschtrog und -schlegel.
  • Der Mann führt Hacke, Spaten und Pflug, Sichel und Sense, Axt, Hammer und Säge, Spieß und Schlinge. Dazu kommt der Wagen, damals wohl meist eine einachsige Karre. Viel wichtiger noch: der Umgang mit Pflug und Karre setzt zugleich den mit dem Zugvieh (Ochsen), die Jagd wohl den mit dem Hund.

Diese geschlechts-»normierte« Verbindung mit toten und lebenden Werkzeugen kann nicht verständlich werden ohne die ihr entsprechenden Werk-Stoffe. Auf was wirken Mann und Frau je getrennt ein? Dies geordnet zu benennen, fällt mir schon schwerer:

  • Der Mann entringt dem Grund bzw. Boden roh-leblose Anteile (Stein), ebenso der ihm »wild« entwachsenden Flora (Bäume, Gras) und Fauna (Wild). Er richtet die Wachstumsbedingungen von Bodenanteilen für bestimmte Pflanzen zu und fördert deren Wachstums- und Reifeprozeß (Wein, Getreide, Gemüse und Obst): dies alles entsprechend eingelebter Gebrauchsund Verbrauchserwartungen.
  • Die Frau dagegen wirkt auf ganz andere Dinge ein: sie trennt vom Tier (Wolle), nicht vom Boden. Sie wandelt vom Boden getrennte Stoffe (Wolle, Flachs) in leibgerechte Gewebe und macht sie immer wieder gebrauchsfertig.

In der Verbindung jener mann- und frau-eigenen Werk-Zeuge und Werk-Stoffe haben wir die „opera« der Quelle vor uns. Wir können sie Handlungsweisen nennen, deren Raum- und Zeitbezügen nachzuspüren sich lohnt.
Eine Vielzahl von Örtlichkeiten scheint kennzeichnend für die „opera« der Männer zu sein:

  • Stall und Scheune, Garten und Feld, Wald und Wildnis; dazu Straße, Gerichts- und Marktplatz, Herrenhof und Heeresetappe. Nur das Haus scheint zu fehlen.

Wo aber mühen sich die Frauen:

  • Eher wohl auf dem Hof, vor der Tür und unterm Dach - aber notwendig unter dem »eigenen«? Man weiß aus dem Frühmittelalter von herrschaftlichen Frauenhäusern (»genitia«), in denen unter Aufsicht die »opera textrilia« zu leisten waren.[9] Analog denkbar sind frauengemeinschaftliches Spinnen, Weben und Nähen im lokalen Rahmen. Ein deutlicher Hinweis ist das Waschen »in publico«: sicher eine Örtlichkeit außer Haus und Hof - kann man soweit gehen, diesen Platz als frauen-«eigen« aufzufassen?

Noch schwieriger ist es, den Zeitbezug der geschiedenen Handlungsweisen zu bestimmen. Im Jahresumlauf bäuerlichen Wirtschaftens wiederholen sich die vielen Einzeltätigkeiten in je eigenen Rhythmen und Tempi, eng den örtlichen und klimatischen Regelhaftigkeiten angepaßt. In unserem Text spürt man hiervon recht wenig, verständlicherweise, da es in ihm nur um einen Tag im Wochentakt geht. Damit geraten die vielen stündlichen bzw. täglichen Verrichtungen - und ihr Geschlechtsbezug - nicht in den Blick. Gesehen werden eher saisonal begrenzte, aber dann eher tages-, ja wochenzehrende Aufgaben:

  • Beim Mann sind es vor allem die Pflügezeiten nach der Ernte fürs Winterkorn, im Frühjahr fürs Sommerkorn, im Frühsommer auf der Brache; dazu die spätsommerlich-frühherbstlichen Erntezeiten und anschließenden Fronfuhren zum Herrenhof. Wann Holz- und Steinschlag stattfanden, Gerichts- und Markttag gehalten wurden, läßt sich weder allgemein noch im Einzelfall genau ermitteln - für diese Zeit.
  • Der Zeitbezug der »opera textrilia« der Frau bleibt noch unklarer. Eigentlich kann man hier nur auf Kenntnisse über spätere Verhältnisse zurückgreifen: die Schafschur im Sommer, die Wandlung von Fasern zu Gewebe und Kleidung während der Winterruhe der Natur. Und das Wäschewaschen? Dessen Geschichte steht noch so gut wie ganz aus - mit dem, was wir heutzutage gewohnt sind, hat einstige Gewebereinigung auf den Dörfern und Höfen sicher herzlich wenig zu tun!

Diese vielen Unsicherheiten sind sicher der Grund dafür, daß es bislang noch niemand gewagt hat, die frühmittelalterliche Zeitstruktur - möglichst - aller ländlichen Verrichtungen zu erstellen. Dabei richten mit dem 9. Jahrhundert lateinisch dichtende und Kalender illuminierende Mönche erstmalig ihr Augenmerk auf die »Monatsetappen« ländlicher Mühsal (fast ausschließlich der Männer), eine Entdeckung, die für die Entstehung der »Arbeit« grundlegend sein wird. Nur noch Folgerungen sind möglich für die Sinnebene der durch Sprechen vermittelten Verständigung bei diesen Handlungen. Lassen sich geschlechtsbezogene Redeweisen aus dem bereits Gesagten erahnen?
Sicher belegt ist das - den Männern vorbehaltene - Sprechen im Gericht: Ohne formelgerechtes Sprechen - ich nenne hier nur den Eid - ist die Prozedur der Friedensstiftung undenkbar und ungültig. Zu dieser Rechts-Sprache »unter Männern« kommt sicher manches, das sich aufs Zusammenwerken in Feld und Wald bezieht, ebenso aber auch aufs Reden mit dem Vieh, das dienen muß.
Läßt sich - entsprechend - ausschließen, daß die Frauen beim gemeinsamen Waschen oder Spinnen in »ihrer« Redeweise erzählt, gescherzt und gestritten haben? Und im täglichen Hantieren mit Feuer und Wasser wird es der einzelnen Frau nicht die Sprache verschlagen haben. Ich muß hier abbrechen, um nicht allzusehr ins Spekulieren zu geraten. Eine kleine Zwischenbilanz, bevor ich zum Problem der Verbindung von Mann und Frau übergehe:
1. Die Dualismen, die in der Forschung bislang mit dem Blick auf die »geschlechtsspezifische Arbeitsteilung« sichtbar wurden, sind wohl noch Projektionen verhaftet, deren Herkunft man im 19. Jahrhundert vermuten kann, während dessen sich die bürgerliche Lehre von der naturgegebenen Polarität der Geschlechtscharaktere verfestigte.10 Das Landleben im Frühmittelalter ist weder räumlich in den Gegensatz von »Innen« und »Außen« zu fügen, noch greift der Unterschied zwischen »privat« und .öffentlich« Männer und Frauen in den für sie spezifischen Handlungsund Vorstellungsbezügen.
2. Bei der Interpretation solcher Texte kann man gar nicht mißtrauisch genug mit den wissenschaftlich geläufigen Bedeutungen aller Wörter sein, auf die es bei der Interpretation ankommt. Vielleicht hat der Leser bereits gespürt, wie ich mich winden mußte, um nur die Wörter »Arbeit« und Produktion« zu meiden.« Welche verfälschenden Wörter mag ich an ihrer Stelle eingeführt haben! Ähnlich schwierig und risikobeladen ist die Deutung scheinbar so simpler Sätze oder Satzteile wie »in den Wäldern roden« oder »den Flachs schlagen'. Man weiß eben über Werkzeuge und Werkstoffe so wenig, daß man ständig versucht ist, diese Mängel der Quellen durch Kenntnisse auszugleichen, die aus wenig zurückliegenden Zeiten oder anderen Regionen geborgt sind. Aber damit überträgt man natürlich zugleich Teile von deren Genusform.
3. Gibt es bei so schwieriger Methoden- und Sachlage überhaupt noch einen Ertrag, der sich zu inhaltlichen Thesen konzentrieren läßt? Ich meine zweierlei unterscheiden zu können:
A.    Die Verfasser des karolingischen »Sonntagsarbeitsverbots« wollten nicht mehr als die Tätigkeiten ländlichen Lebens aufreihen, die am
sonntäglichen Kirchgang hindern konnten.
Die Ordnung dieser Tätigkeiten aber wurde, wie selbstverständlich, durch getrennte Einstufung von Männern und Frauen vorgenommen. Das zeugt von der Realitätsgeltung solcher Geschiedenheit. Vereint werden Mann und Frau unter das »opus servile«, alles Nähere wird getrennt behandelt, vereint sind sie dann wieder als »Leute«, die man als Kirchgangspflichtige sich denkt. Was die Geschlechter im Sinnhorizont dieser Quelle sich gleichen läßt, sind ständisch niedere Überlebensmühe und regelhafter Gottesdienst.
B.    Aus so engem Blickwinkel formulierte Unterschiedlichkeiten können natürlich kein »System« darstellen. Vielleicht kann man mir aber Recht geben, wenn ich den Grundzug der Zwiefalt bäuerlichen Männer- und Frauenhandelns so formuliere:
Der Mann hält die meisten Domänen der eröffnenden Zurichtung der vielfältigen »Natur« auf künftige Gebrauchszwecke besetzt, die Frau dominiert die Bereiche, die der leiblichen Nutzung unmittelbar vorangehend. Dazu kommt eine viel deutlichere Wahrnehmung der Vielfalt außerhäuslichen Männerhandelns, das kirchganghemmend sein kann - ob nun anerkannt oder anstößig. Es ist die Frage, ob diese Wahrnehmung im Verhältnis zu der der Frauen »schief ist, ob sie gewissermaßen plan spiegelt oder konvex bzw. konkav »verzerrt«. Erst wenn man mehr darüber weiß, wird es möglich sein, auf die Suche nach weiteren »Grundzügen« zu gehen. Aber läßt sich der oben formulierte Grundzug als ein erster Bestimmungsschritt ansehen, der vom Genus-Begriff Illichs in seiner Allgemeinheit zur besonderen Genus-Form frühmittelalterlicher Bauern und Bäuerinnen führt?
Wie dem auch sei - wichtiger ist zunächst, daß die im »Sonntagsarbeitsverbot« enthaltenen Zuschreibungen durch andere Quellen bestätigt bzw. modifiziert werden. Sonst fiele - in diesem Falle - Illichs Grundsatz von der regionalen, ja lokalen Vielfalt und Variation der Genusausformungen.
Diese Konkretisierungen sind möglich. Ein Teil der beachtlichen Zahl von Registern, in denen der königliche und klösterliche Besitz an Land und Leuten, dazu die Einkommensformen und -rechte niedergeschrieben sind - sie heißen Urbare oder Polyptychen - beweist das. Ich greife ein Beispiel heraus. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts erstellten Mönche des reichen Reichsklosters Prüm in der Eifel ein solches Register durch >Erhebung<, also Befragung vor Ort. Im Weinbaugebiet der mittleren Mosel trierabwärts besaß die Abtei Güter im Ort Mehring. Die Beschreibung der dortigen Besitzungen, Leute und Rechte führt in mehrfacher Hinsicht weiter.[12]

1.    Die Aufgabenteilung zwischen Mann und Frau in Mehring weicht in wichtigen Punkten von der oben erläuterten ab. Ich referiere eine Textpassage: Die Frau des Weinbauern Eurich

  • >zinst 10 Scheffel Wein. Sie sammelt 1 Viertel (Brom-)Beeren, zinst 1 Becher Senf, achtet auf ein Schnittlauchbeet und eineinhalb Lauchbeete im Garten des Herrenhofs. Sie muß Flachs zusammenlesen und -binden, die Schafe waschen und scheren<.[13]

Die Sätze handeln von Pflichten der Frau gegenüber dem Kloster: Abgaben und Dienste sind zu leisten. Deren Aufzählungen geben am meisten her für die geschlechtsspezifischen Ausformungen im konkreten Fall. Doch sind zwei Vorbehalte zu machen: Es wird nur formuliert, was die Bauern bzw. Bäuerinnen sollen, dieses Soll muß nicht mit dem übereinstimmen, was sie dann wirklich für die Herrschaft tun; und dieses Soll ist auch nicht gleichsetzbar mit dem Männer- und Frauenhandeln, das sich nicht auf die Rechte der Herrschaft bezieht - mögen es auch die »gleichen« Tätigkeiten sein! Deutlich wird an dieser Passage, daß in Mehring die Frau am Weinbau beteiligt ist; wie sollte sie sonst zinsen können? Und sie schafft im Garten. Beide Tätigkeiten sind im »Sonntagsarbeitsverbot« den Männern zugeschrieben. Man muß also mit recht verschiedenen Ausformungen der Aufgabenzwiefalt vor Ort rechnen.
2.    Die genauen Bestimmungen zum Frondienst erlauben es aber auch, den Gesichtspunkt der unterschiedlichen Verteilung von Hab und Gut
am Ort für die lokale Genus-Ausformung ins Spiel zu bringen. Ich referiere wieder: Eurich hat einen Hof (>mansus<) und dazu eine Weingutparzelle.

  • ”Er (Eurich, der Hof?) zinst... Pro Woche arbeitet er - während des ganzen Jahres 3 Tage mit Ochsen oder mit der Hand, und dabei wird er mit Brot verpflegt. Er leistet 3 Pflugtage: Wer Ochsen hat, mit dem Pflug, wer keine hat, zieht Zäune oder gräbt auf dem Feld«.[14]

Man muß also damit rechnen, daß im konkreten Fall zwischen den Männern (und Frauen) selbst Unterschiede in der dinglichen Ausstattung bestehen, die das lokale Genusgefüge komplizieren. Man kann nicht die Frage übergehen, welche Folgen das dauerhafte Haben oder Nicht-Haben von Ochse und Pflug, und weiter: von viel oder wenig Land, von Knechten und Mägden u. a. für die Zwiefältigkeit der Gemeinschaft am Ort, aber auch in einer Kultur oder Epoche hat.[15]
3. Eng zusammenhängend, aber nicht identisch mit diesem Gesichtspunkt ist die rechtsständische Gliederung der Bauern im Frankenreich. Meist erborene, seltener - durch Freilassung, Freikauf, freiwillige oder erzwungene Verknechtung - erworbene Rechtsqualitäten, die sich -modern gesprochen - als vielfältige Minderungen unserer >Grundrechte< darstellen, teilen und schichten die Bauern vor Ort, aber von Ort zu Ort in verschiedenem Ausmaß: Hier gibt es fast nur »coloni« bzw. »ingenui«, dort vorwiegend »servi«, anderswo gleich viele »lidi« und »servi«, wieder anderswo - neben den genannten Ständen - auch »epistolarii«, »cartularii«, ja ab und zu sogar »liberi«. Was diese Wörter je genau bedeuten, kann ich hier übergehen. Die lokale und regionale Genusausformung betreffen solche Unterschiede sicher erheblich. Es kann einfach nicht ohne Folgen für die Art der Geschlechtertrennung sein, wenn unter den Männern die einen, weil sie - ständisch gesehen -,Knechte« sind, der Herrschaft allwöchentlich drei Tage dienen müssen, während die .Freien« tagweise zu den Pflug- und Erntezeiten fronen, sonst nicht. Ebenso genus-prägend dürfte es gewesen sein, wenn die Mehrheit der Frauen am Ort so gut wie frei von jedem Frondienst ist, einige aber im .Frauenhaus« des Herrenhofs regelmäßig Wolle und Flachs bereiten, spinnen und weben, die fronenden Bauern beköstigen u. a. m. Für all dies gibt es Hinweise in Hülle und Fülle.[16]
4. Noch wichtiger scheint mir eine weitere Differenzierung des Bildes zu sein, das die urbarialen Quellen ermöglichen. Ich referiere wieder aus der Beschreibung von Mehring: Bei der Heumahd, der Getreideernte und der Weinlese sollen >Mann und Frau mit ihrem Karren täglich werken (et vir et uxor cotidie operari cum carro suo)<.[17] Im Fall des Erntens sieht man beide Geschlechter im engen Zusammenwirken: Wie solche »Kooperation« genau aussieht, wird nicht gesagt: wer Halm, Gras oder Traube schneidet, wer zusammenlegt, auflädt, zum Hof karrt, Nachlese hält usf. Unserer Erfahrung nach mag die Verteilung recht klar sein - deren Übertragung aber aufs Moselland im 9. Jahrhundert ist nicht erlaubt.
Damit sind wir an den Punkt gekommen, wo die Trennung der Geschlechter voneinander in ihre Verbindung miteinander »umschlägt«. Wo und wann aber geschieht dies überhaupt? Sicher dann, wenn beide Geschlechter im unmittelbaren »Wechselschritt« handeln, wenn alles, was zur Handlung gehört, wie ein Zug an einem Reißverschluß vor sich geht: Mann und Frau bzw. Männer und Frauen in nahezu raumidentischer und zeitgleicher Verzahnung. Wie aber steht es mit der Integration in allen den Fällen - und diese bilden sicher die Mehrheit beim ländlichen Sich-Mühen um ein Auskommen -, wo diese sozusagen dramatische .Einheit von Personen, Zeit und Handlung« nicht besteht, ja nicht bestehen kann? Von welchem Punkt aus ist dann die Komplementarität zu begründen? Inwiefern dienen all diese geschlechtsentzweiten Handlungen endlich doch beiden Geschlechtern zugleich? Wenn die beid-geschlechtliche Verbindlichkeit nicht im Handlungsvorgang selbst liegt - was bleibt anderes, als nach dem Sinn und Nutzen ihrer Ergebnisse zu fragen?
Genau auf diese Fragen gibt es jedoch keine direkten Antworten. Wieder muß man sich an verschriftlichte Ordnungsversuche der Herrschaft halten, man kann sich also nicht sicher sein, wie viel bäuerlicher Lebens-Wirklichkeit in ihnen steckt. Die ausführlicheren frühmittelalterlichen Urbare enthalten in der Regel zwei Dimensionen organisierter Einheit, auf die es hier ankommt:
Männer und Frauen sind in der Betriebsform der Hufe (>mansus<) vereint.[18] Man versteht darunter den Verbund von Hofstatt und Garten, Acker- und Wiesenland (10 bis 30 ha), Waldnutzungs- und Weiderechten. Die Hufe ist eine kleine, aber äußerst vielseitige Einheit von extensivem Mehrfruchtbau, intensiver Pflanzkultur, gestaffelter Viehzucht vom Rind bis hinunter zum Huhn und überbetrieblich verteiltem Sammeln und Jagen. Dieser »Ort« der Überlebensmühe ist deutlich von dem des Nachbarn abgegrenzt, und zwar durch feste Bindungen der Dinggesamtheit an deren Nutzungsbefähigte und - seitens der Herrschaft -Nutzungsbefugte. Und deren Gebrauchs- und Verbrauchserwartungen sind über den Jahresablauf hinaus auf den generationsübergreifenden Erhalt dieser Dingstruktur ausgerichtet.
Die dieser Betriebsart entsprechende Sozialform ist die paarhafte Verbindung von Mann und Frau (>et vir et uxor<). Man ist versucht, dazu »monogame Ehe« zu sagen — sollte es aber besser nicht tun, da die Eigentümlichkeit dieser Geschlechtereinung noch unzureichend entdeckt ist.[19] Die Urbare - dazu aber auch Urkunden, Rechtstexte und andere Quellenarten - geben einige Einzelheiten hierzu frei:

  • Nicht allein der Mann wird von der Herrschaft als Verantwortlicher für die Entrichtung der Abgaben und Dienste benannt. Zwar steht er - namentlich genannt - an erster Stelle; dann aber folgt - in den ausführlichen Registern - die Frau (entweder nur als »uxor« oder namentlich genannt). Und im Falle der Verwitwung tritt sie gegenüber der Herrschaft an die Stelle ihres Mannes - nicht etwa der nächste Verwandte des Toten. »Verdrängt« von dieser Stelle wird sie von dem Mann des ersten Paares der folgenden Generation - sei er Sohn oder Schwiegersohn.
  • Die rechtsständischen Unterschiede, von denen ich oben sprach, sind kein Hindernis für eine Paarbildung. Der Stand der Nachkommen eines Mischpaares kann sich sowohl nach dem des Mannes als auch dem der Frau richten. Ebenso ist es mit der Namensvererbung.

Es steht noch manche Arbeit aus, damit über das Verhältnis dieses bäuerlichen Paares zur Verwandtschaft, zum vererbbaren Gut, zum täglichen Haushalten und zum Dienst für die Herrschaft solide geurteilt werden kann - sicherlich aber ist ein wichtiges weiteres Element der Genusform frühmittelalterlichen Bauerndaseins gewonnen. Dies auch dann, wenn die herrschaftliche Wahrnehmung und Registrierung dieses Paares noch nicht viel mehr als ein »Programm« sein kann, in dem Ehe-Lehren der frühmittelalterlichen Theologie mit dem Bemühen um intensivere Indienstnahme der bäuerlichen Betriebe sich verbinden.[20] Ich gebe Illich auf alle Fälle erst einmal recht, wenn er diesem Grundzug der frühmittelalterlichen Genusform den Titel des »abschöpfbaren Paares« verleiht.[21]
Mein Gang durch zwei Quellenbereiche hat sowohl für den Gesichtspunkt der Geschiedenheit wie für den der Einung die Brauchbarkeit des Genuskonzepts für das frühe Mittelalter bestätigt. Es war möglich, verschiedene Ebenen, Schichten, Felder und Horizonte des Geschlechtsbezuges zu sehen oder zu vermuten, die andere Konzepte nicht beförderten oder erlaubten.
Dabei hat sich aber gezeigt, welche Unsicherheiten die Lücken und die Tücken der Überlieferung hinterlassen: Kann man in dem, was im königlichen, kirchlichen oder grundherrlichen Interesse wahrgenommen, geordnet und in buch-bezogener Sprache aufgeschrieben ist, mehr sehen als dieses Interesse? Eine der Eingangsfragen bleibt also auf der Tagesordnung. Ohne Zweifel wird man hier weiterkommen, wenn man -wie die Historiker sagen - die »Quellenbasis« erweitert. Für Illichs Genuskonzept hat der kurze »Prüfgang« durch ein begrenztes geschichtliches Feld - so denke ich - auch Nützliches erbracht. Ich sehe diesem Konzept nun noch deutlicher an, wie eng den von den Ethnologen studierten Lebensverhältnissen es angepaßt ist, gewissermaßen maßgeschneidert für die kleinen Lebensformen, in denen vor allem neben- und nacheinander, vielleicht sogar füreinander gelebt wird. Im frühen Mittelalter sind diese kleinen Formen aber umstellt und überlagert von Instanzen, die deren Genus mindestens mitprägen. Es ist recht verlockend, schon in dieser Zeit Frühformen jener Dreiheit am Werke zu sehen, die seit dem Hochmittelalter das »Land« in den Schwitzkasten je eigener Betreuungsarten nimmt und dafür Unterhalt fordert: Der Territorialstaat stiftet Frieden gegen Zins, die Kirche Erlösung gegen Zehnt, die Stadt Wert gegen Zoll. »Am Ende« steht dann ein Konstrukt, das heute alle Kritiker des Industrialismus peinigt: das untertänige gewissenhafte, produktive und geschlechtsneutrale Individuum. Man mag diese Hauruckausrichtung der europäischen Geschichte für schlichtweg idiotisch halten. Deshalb zurück zu den Quellen des 9. Jahrhunderts!

  • Der Zugriff der friedenstiftenden Herrschaftsträger auf die Genusform besteht in der Heraushebung männereigener Handlungsweisen für das »größere« Gemeinwesen: Sie dürfen sogar für Heeres- und Herrenbedarf die Sonntagsmesse versäumen. Damit weist der Mann einmal mehr über die »kleine Form« von Haushalt und Lokalgemeinschaft hinaus.
  • Der Zugriff der heilsvermittelnden Herrschaftsträger auf die Genusform besteht in der Erhebung der Frauen zu gottesdienst-pflichtigen Leuten neben den Männern. Vor dem Priester sind - salopp und grob gesagt - Mann und Frau als Pflichtige und Empfangende »gleich«: »Alle« sollen am Sonntag erscheinen, nicht etwa nur alle Hausväter. Damit bricht das »größere« Gemeinwesen Kirche rituell in den Bauernhaushalt ein.
  • Die Wirkung des gemünzten Geldes, das an die Stelle jeder tauschbaren Sache treten kann, auf die Genusform ist ebenso deutlich wie unabsehbar: In dieser Zeit geht der Trend im Abgabenwesen dahin, den Bauernhaushalten den Gang zum geldbeschaffenden Markt schmackhaft zu machen, gleichgültig, ob Mann oder Frau erwirtschaftet haben, was dann »versilbert« wird.[22]

Ich schließe mit einer kniffligen Frage an Illich und alle, die sich mit seinem Genuskonzept auseinandersetzen möchten - egal, von welchen empirischen Verhältnissen sie dabei ausgehen: Man muß immer mit Trübungen, Brechungen, Prägungen, Ein- und Ausgrenzungen der kulturspezifischen Genusausformungen rechnen, die verursacht sind durch die »großen« Formen oder Mächte oben, drüben oder draußen: Witterungseinbruch, Seuche, Invasion, Kulturkontakt, veralltäglichte Herrschaft, Austausch usf. Können diese »Modifikatoren« samt und sonders als qualifizierende Attribute in den jeweiligen Genusbegriff eingehen? Oder sind sie alle Erzfeinde dieser Grundform, die nichts mit ihr zu tun haben (sollen), also auch begrifflich scharf von ihr getrennt bleiben sollen?
Die detailverliebten, endlos reinterpretierenden Historiker werden, so nehme ich auf alle Fälle an, der Idealität der Komplementarität verunreinigend zu Leibe rücken und Illich doch noch in die Abhängigkeit ihrer langfristigen Dienst-Leistungen bringen wollen!