Die germanische Frau in der Vorvölkerwanderungszeit

Einführung

Frauen im Mittelalter

Zuverlässige Aussagen über die soziale und rechtliche Stellung der germanischen Frau sowie zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bei den Germanen lassen sich für den Zeitraum der ersten christlichen Jahrhunderte bis zum Beginn der Völkerwanderung nur sehr bedingt machen. Schriftliche Zeugnisse der Germanen selbst liegen kaum vor. Die erhaltenen Runeninschriften sind meist nur sehr kurz und entstammen überwiegend dem skandinavischen Raum sowie der Nachvölkerwanderungszeit.
Zahlreiche Autoren haben sich deshalb mit der Auswertung der isländischen Sagas des 13. Jahrhunderts beholfen und ihre Erkenntnisse einfach auf die frühere Zeit übertragen.
Dieses Vorgehen erscheint problematisch, denn einerseits handelt es sich bei den Sagas um Dichtungen, zum anderen wird eine ungebrochene historische Kontinuität über 13 Jahrhunderte vorausgesetzt.
Die Sagas können deshalb allenfalls dann herangezogen werden, wenn ihre Berichte durch andere Quellen eine Bestätigung erfahren. Als wichtigste Quellen verbleiben damit, sieht man einmal von den Ergebnissen archäologischer Grabungen ab, die Berichte der antiken Geschichtsschreiber. Der Wahrheitsgehalt ist in diesem Fall jedoch zweifelhaft. Die meisten Berichte beruhen nicht auf eigener Erkundung, sondern auf Mitteilungen von Gewährsleuten.
Im Mittelpunkt des Interesses der Römer standen jene Nachrichten, die für die Beurteilung der germanischen Kriegsführung wichtig waren. Die wichtigste Quelle, die Germania des Tacitus, enthält zwar eine umfassende Beschreibung der germanischen Gesellschaft, sie entwirft jedoch mehr ein idealisiertes Gegenbild zu der als dekadent empfundenen römischen Gesellschaft als eine zutreffende Beschreibung der germanischen Zustände.
Nach dem Bericht des Tacitus verfügte die germanische Frau über eine hochangesehene gesellschaftliche Stellung (2). Dieser Wertung wird man allerdings mit Vorsicht begegnen müssen, wenn man ihr andere Aussagen des gleichen Autors gegenüberstellt. Um die überhöhten Tributforderungen der Römer erfüllen zu können, verkauften die Friesen im Jahre 28 nicht nur ihre Rinder und ihren Landbesitz, sondern auch ihre Frauen und Kinder. Allem Anschein nach entschlossen sie sich erst zum Aufstand, als auch dies nicht ausreichte (3). Die Männer verfügten in diesem Fall über ihre Frauen wie über jedweden Besitz.
Vor der Schlacht bei Idistaviso zwischen Arminius und Germanicus versuchte Arminius die römischen Söldner zum Überlaufen zu bewegen. Er versprach ihnen Ackerland, Sold und Frauen (4). Von den Herulern wird durch Prokop überliefert, dass bei ihnen das Mitsterben der Frau nach dem Tode ihres Mannes üblich gewesen sei (5). Zieht man die nordischen Sagas hinzu, so lassen sich diesem Bild die letztwillige Vermachung der Frau sowie deren Verschenkung hinzufügen (6). Eine Beschränkung der rechtlichen Handlungsfähigkeit der Frau zeigt sich auch in der Institution des Brautkaufs, die Tacitus missverständlich schildert, denn in Wirklichkeit erhielt die Frau vom Mann keine Mitgift, sondern er zahlte einen Brautpreis an deren Eltern (7).
Die Unterwerfung der Frau unter die patriarchalische Hausgewalt des Mannes wird überdies in der unterschiedlichen Behandlung des Ehebruchs deutlich. Ein Ehebruch des Mannes war den Germanen nicht strafwürdig. Tacitus spricht ausdrücklich nur von der Ehebrecherin, die der Strafgewalt ihres Mannes ausgeliefert wird. Die Forderung sexueller Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe galt demnach nur für die Frau (8).
Die mindere Rechtsstellung der Frau erweist schließlich deren nahezu vollständiger Ausschluß vom Erbrecht (9).
Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung lässt sich aus den Berichten der antiken Schriftsteller nur unvollkommen entnehmen. Nach Tacitus trugen die Frauen die Hauptlast der hauswirtschaftlich organisierten Nahrungsmittel- und Güterproduktion (10).
Ob die Feldarbeit allerdings als ausschließliche Frauenarbeit anzusehen ist, muss bezweifelt werden, da bereits bronzezeitliche Darstellungen aus Schweden das Pflügen als Männerarbeit ausweisen. Wahrscheinlicher ist, dass Tacitus das Bild kriegführender Stämme vor sich hatte, bei denen die Frauen infolge der Abwesenheit der Männer diese Arbeiten übernahmen.
Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Tacitus hier nur von den Gefolgsleuten der Edelinge spricht, nicht aber von den Frilingen oder Liten, denen die Mehrzahl der Germanen zuzurechnen ist. Die Arbeitsteilung in der Nahrungsmittelproduktion dürfte im übrigen derjenigen des Mittelalters entsprochen haben. Da Mahlsteine nur in Frauen- nicht aber in Männergräbern gefunden wurden, ist anzunehmen, dass das Getreidemahlen von den Frauen betrieben wurde. Waren Holz-, Metall- und Steinverarbeitung sowie Hausbau Männerarbeit, so fiel den Frauen die Keramik- und Textilherstellung zu. Typische Handwerkszeuge dieser Produktionsbereiche zählten jedenfalls zum Gerätebestand von Frauengräbern. Auf Frauenarbeit deutet auch eine Abbildung auf einer hallstattzeitlichen Urne hin. Sie zeigt zwei Frauen beim Spinnen bzw. beim Weben, während ein Mann dazu auf einer Leier spielt (11). Durch Quellen belegt ist schließlich die Zuständigkeit der Frauen für Kinderaufzucht (8 + 9) und Wundbehandlung (12).
Außerhalb des Hauses trat die Frau kaum in Erscheinung. Von allen öffentlichen Funktionen blieb sie ausgeschlossen. Erwähnung findet sie in den Quellen allein in zwei Bereichen, nämlich im kriegerischen und im sakralen. Die mehrfachen Berichte über eine kriegerische Betätigung von Frauen wird man nicht verallgemeinern dürfen, denn sie beziehen sich ausschließlich auf wandernde Stämme, d. h. Frauen waren sonst nicht kriegerisch tätig. So erwähnt auch Tacitus in der Germania keine einzige aktiv tätige Kriegerin. Während der Schlachten der wandernden Stämme hielten sich die Frauen in der Wagenburg auf. Erst wenn die Männer die Schlacht verloren gaben und flohen, griffen die Frauen von der Wagenburg aus in den Kampf ein, kämpften gegen den Feind, aber wandten sich auch gegen die fliehenden Männer, um diese zum erneuten Widerstand zu bewegen. Um der Sklaverei zu entgehen, mögen sie sich in manchen Fällen sogar selbst mit ihren Kindern umgebracht haben (13).
Kämpfende Frauen in Männerrüstungen waren bei Germanen und benachbarten Völkern sicherlich Ausnahmeerscheinungen (14+15).
Wenn die Frauen nicht aktiv in die Kämpfe eingriffen, so versuchten sie dennoch, auf den Gang der Schlacht einzuwirken, indem sie die Männer durch Zurufe und Gebärden anfeuerten (16) bzw. bei einer drohenden Niederlage zu erneutem Kampf zu bewegen suchten (21).
Die antiken Historiographen schrieben den germanischen Frauen prophetische und seherische Fähigkeiten zu. Als berühmteste bekannte Seherin gilt die Brukterin Veleda. Sie verfügte über einen erheblichen politischen Einfluss. Allerdings war die Einschätzung der Veleda durch die Germanen durchaus ambivalent, indem man ihre seherischen Fähigkeiten zwar anerkannte, die politische Herrschaft von Frauen jedoch für unehrenhaft hielt (2 + 17). Ob die Seherinnen bereits damals im Alltagsleben über eine Stellung verfügten, wie dies in den Sagas der Fall ist, lässt sich nicht entscheiden (18). Hingegen liegen mehrere Nachrichten vor, dass die Germanen vor den Schlachten Seherinnen nach deren Ausgang befragten ( 19, 20). Die germanische Mythologie kannte zwar mit Frigg, Freia, Hel, Fulla, Gefion, Iduna, Idisi, Holda u. a. zahlreiche Göttinnen, allem Anschein nach nahmen die Frauen jedoch keine öffentlichen Priesterfunktionen wahr. Selbst im Heiligtum der Fruchtbarkeitsgöttin Nerthus versah ein Priester den Dienst (21).
Den Ausschluss der Frau vom Priesteramt legt auch die enge Verzahnung von Priesteramt und öffentlicher Funktion nahe. Eine kritische Sichtung der Quellen verweist das von Tacitus und seinen späteren Interpreten entwickelte Bild der germanischen Frau in den Bereich der Legende. Der Widerspruch zwischen der nahezu rechtlosen Stellung der Germanin einerseits und ihrer Achtung als »heiliges Wesen« andererseits lässt sich nicht harmonisieren. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit waren die germanischen Frauen der strengen patriarchalischen Hausgewalt der Männer unterworfen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die freien Frauen in gleicher Weise wie unfreie und Vieh als Sachgüter betrachtet wurden. Ihre personale Qualität war unbestritten. Dies wird neben den bereits zitierten Fällen auch in der Tatsache deutlich, dass Frauen- und Männergräber sich in der Reichhaltigkeit der Ausstattung nicht voneinander unterscheiden.

Quellen und Materialien

(2) Tacitus über die gesellschaftliche Stellung der Germanin, 98
Wie überliefert wird, haben die Frauen schon manches wankende oder gar zurückflutende Heer wieder zum Stehen gebracht durch inständiges Bitten und dadurch, daß sie sich ihren Männern mit entblößter Brust entgegenwarfen und auf die unmittelbar drohende Gefangenschaft hinwiesen. Diese fürchten die Germanen weit weniger für ihre eigene Person als für ihre Frauen, deren Gefangenschaft dünkt ihnen so unerträglich, daß ein Volksstamm, der unter den ihm auferlegten Geiseln auch Mädchen aus vornehmen Familien stellen muss, sich besonders stark verpflichtet fühlt.
Ja, die Germanen erblicken in den Frauen so etwas wie heilige Wesen mit Sehergabe; daher beachten sie deren Ratschläge und richten sich nach ihren Weissagungen. Haben wir es doch selbst erlebt, wie während der Regierung des verewigten Kaisers Vespasian die Seherin Veleda lange Zeit fast überall in Germanien Verehrung genoss wie ein höheres Wesen. Ebenso hat man einstens der Aurinia und mancher anderen Frau derartige Verehrung erwiesen, ohne dass man ihnen aber etwa in niedriger Unterwürfigkeit geschmeichelt oder gar Göttinnen aus ihnen gemacht hätte.
Tacitus: Germania c. 8 (25), S. 14f.

(3) Tacitus über den Verkauf von Frauen und Kindern bei den Friesen, 115/20
In demselben Jahre (28) brachen die Friesen, ein rechtsrheinisches Volk, den Frieden, mehr unserer Habsucht wegen als aus Ungehorsam. Entsprechend ihrer Ärmlichkeit hatte ihnen Drusus nur eine geringe Abgabe auferlegt, nämlich die Lieferung gegerbter Ochsenhäute für den Heeresbedarf. Dabei hatte niemand auf deren Stärke oder auf eine bestimmte Größe besonders geachtet, bis der zur Verwaltung Frieslands berufene Primipilar Olennius die Häute von Auerochsen als Maßstab für die Ablieferung bestimmte.
Das wäre auch für andere Völker eine harte Forderung gewesen. Für die Friesen aber wirkte sie sich noch schlimmer aus, weil die Germanen wohl in ihren Wäldern eine Menge riesiger Jagdtiere haben, daheim aber nur Vieh ziemlich kleinen Schlages. Zunächst nun gaben sie ihre Hausrinder her, dann ihre Äcker, schließlich mussten sie ihre Frauen und Kinder in Sklaverei ziehen lassen.
Tacitus: Annalen 4, 72 (24), S. 183.

(4) Tacitus über das Angebot des Arminius, den römischen Legionären germanische Frauen zu übergeben, 115/20
Währenddessen sprengte einer von den Feinden, der der lateinischen Sprache mächtig war, an den Lagerwall heran und versprach mit lauter Stimme im Namen des Arminius jedem Überläufer eine Frau, Landzuweisung und für die Dauer des Krieges hundert Sesterzien täglichen Sold. Solcher Schimpf entflammte den Zorn der Soldaten (die ihrerseits hinüberriefen), es solle nur erst der Morgen anbrechen und ihnen Gelegenheit zum Kampf gegeben werden. Dann würden sie sich die Acker der Germanen von selber nehmen und ihre Weiber mit sich fort schleppen. Sie sähen in dem Angebot ein gutes Zeichen dafür, dass das Schicksal die Frauen und die Besitzungen der Feinde für sie bestimme.
Tacitus: Annalen 2, 13 (241, S. 115f.

(5) Prokop über das Mitsterben der Ehefrau bei den Herulern, 540/55
Wenn ein Heruler gestorben ist, muss seine Gattin, wenn sie etwas auf ihren Ruf gibt und ihr an einem freundlichen Gedenken nach dem Tode gelegen ist, sich am Grabhügel ihres Gemahls bald nach seinem Begräbnis erdrosseln. Wenn sie es nicht tut, wird sie ehrlos und die Verwandten ihres Mannes fühlen sich durch sie beleidigt.
Prokop: Der Gotenkrieg 11, 14 (17), S. 104.

(6) Bard der Weise vermacht seine Frau, um 1200
Thorolf und Bard lagen verwundet; Thorolfs Wunden begannen zu heilen, aber wegen Bards Wunden musste man seinen Tod erwarten. Da ließ er den König zu sich rufen und redete so zu ihm: »Wenn es so wird, dass ich an diesen Wunden sterbe, so will ich Euch darum bitten, dass Ihr mich über mein Erbe bestimmen lasst.« Und als der König das bejaht hatte, da sagte er: »Ich will, dass mein ganzes Erbe Thorolf erhält, mein Gefährte und Verwandter, Land und lose Habe; ihm will ich auch meine Frau geben und meinen Sohn zur Erziehung, denn ich vertraue ihm darin am meisten von allen Männern.« Er traf diese Bestimmungen, wie es dem Gesetz gemäß war, mit Zustimmung des Königs. Darauf stirbt Bard, und man veranstaltete für ihn eine Begräbnisfeier und er wurde sehr betrauert. (...)
Als aber Thorolf im Norden nach Torgar kam, wurde er dort wohl aufgenommen. Er berichtete vom Tode Bards und davon, dass Bard ihm Land und lose Habe und seine Frau übergeben hat, alles was er früher besessen hatte, darauf zeigt er die Botschaft des Königs und die Beweise vor. Doch als Sigrid diese Nachricht hörte, da erschien ihr der Tod ihres Mannes als ein großer Verlust; aber Thorolf war ihr von früher gut bekannt und sie wusste, dass er ein ganz ausgezeichneter Mann war und diese Ehe sehr gut wäre; und da es auch des Königs Gebot war, da fand sie es für gut und ihre Freunde mit ihr, dass sie sich dem Thorolf verlobte, wenn das ihrem Vater nicht gegen seinen Sinn wäre. (...)
Darauf brachte Thorolf sein Anliegen bei Sigurd vor und bat ihn um seine Tochter Sigrid. Sigurd nahm diese Rede wohl auf, er sagte, viele Dinge sprächen dafür: als erstes, dass der König es so halten will, dann dies, dass Bard es so bestimmt hatte, und dazu auch, dass Thorolf ihm bekannt sei und ihm scheine, seine Tochter würde gut verheiratet. Diese Sache war leicht bei Sigurd zu erreichen; die förmliche Verlobung wurde beschlossen und die Hochzeit auf den Herbst in Torgar festgesetzt.
zitiert nach: Saga: Islands große Literatur (21), Bd. 1, S. 30-32.

(7) Tacitus über die Eheschließung bei den Germanen, 98
Trotzdem wird dort die Heiligkeit der Ehe strengstens gewahrt, und gerade in diesem Punkte ihrer Sitten verdienen die Germanen allerhöchstes Lob. Denn unter allen Fremdvölkern sind sie nahezu die einzigen, die sich mit nur einer Frau begnügen. In den äußerst seltenen Ausnahmefällen ist das Motiv nicht Befriedigung der Sinneslust, sondern es handelt sich dabei um Männer, die ihrer hohen Stellung wegen von den verschiedensten Seiten mit Heiratsanträgen umworben werden.
Die Mitgift bringt nicht die Frau dem Manne, sondern umgekehrt der Mann seiner Frau. Eltern und Verwandte sind dabei zugegen und begutachten die Brautgeschenke. Unter diesen Brautgeschenken ist aber nichts, woran die Neuvermählte ihre Eitelkeit befriedigen oder womit sie sich schmücken könnte: Rinder sind es und ein gezäumtes Ross, ferner Schild, Frame, Schwert. Auf diese Gaben hin erhält der Bräutigam die Braut, und auch sie schenkt nun ihrerseits dem Mann irgendein Waffenstück. In solchem Gabenaustausch erblicken die Germanen das stärkste Band, das sichtbare Zeichen einer geheimnisvollen Weihe und des Segens der Himmlischen für den neuen Ehebund. Die junge Frau soll gleich durch das Hochzeitszeremoniell daran gemahnt werden, dass die mannhaften Taten ihres Gatten, dass Kriege und Schlachten auch in ihr Dasein eingreifen. Sie soll schon jetzt wissen, dass sie die Gefährtin ihres Mannes in Not und Gefahr ist und im. Kriege wie im Frieden dasselbe zu tragen und zu wagen hat wie er. Das ist der tiefere Sinn des Ochsengespannes, des aufgezäumten Rosses und der Waffengabe. In dem Bewusstsein solcher Gesinnung soll sie leben und dereinst sterben: Was sie empfing, habe sie makellos und unversehrt an ihre Kinder weiterzugeben, von denen es die Schwiegertöchter erhalten und ihrerseits wieder an die Enkel vererben sollten.
Tacitus: Germania c. 18 (25), S. 21 f.

(8) Tacitus über Ehebruch und vorgebliche Sittenstrenge bei den Germanen, 98
Also leben die Frauen in Zucht und Keuschheit, nicht verdorben durch lüsterne Schaustellungen oder verführerische Gelage. Die Schreibkunst ist Männern und Frauen gleichermaßen unbekannt. Ehebruch kommt trotz der großen Bevölkerungszahl äußerst selten vor. Die Bestrafung erfolgt auf der Stelle und bleibt dem Gatten überlassen. Der schneidet der Ehebrecherin vor den Augen der Verwandten das Haar ab, reißt ihr die Oberkleidung vom Leibe, jagt sie aus dem Hause und treibt sie mit Peitschenhieben durch das ganze Dorf. Eine Frau, die ihre Keuschheit preisgegeben hat, findet kein Erbarmen; nicht Schönheit noch Jugend oder Reichtum verschafft ihr einen zweiten Mann. Denn in Germanien lacht niemand über Laster; verführen und sich verführen lassen, heißt dort nicht »dem Zeitgeist huldigen«. Besser ist es fürwahr auch heut noch um die Staaten bestellt, in denen nur Jungfrauen heiraten dürfen und mit dem Ehegelöbnis die Hoffnung einer Frau auf Wiederverheiratung ein für allemal ausgeschlossen ist. Wie die Frau nur einen Leib und ein Leben hat, so erhält sie auch nur den einen Gatten; darüber hinaus soll sich kein Gedanke, keine weitere sinnliche Begierde in ihr regen. Sie soll gleichsam nicht den Mann, sondern den Ehestand (die Mutterschaft) lieben.
Die Zahl der Kinder zu beschränken oder eines der Nachgeborenen zu töten, gilt als Frevel; und durch gute Sitten wird dort mehr erreicht als anderwärts durch gute Gesetze.
Tacitus: Germania c. 19 (251, S. 22f.

(9) Tacitus über Kinderaufzucht, Heiratsalter und Erbrecht bei den Germanen, 98 Bei den Adeligen wie bei den Gemeinfreien wachsen die Kinder halbnackt und ohne besondere Pflege auf, dabei erreichen sie die prächtigen Glieder und die stattlichen Körper, die wir an ihnen bewundern. Jede Mutter nährt ihr Kind an der eigenen Brust und überlässt es nicht einer Magd oder Amme. Herrensohn und Knechtessohn kann man in der Kindheit nicht an irgendwelcher Verzärtelung in der Erziehung voneinander unterscheiden: bei demselben Vieh, auf demselben Erdboden tummeln sie sich, bis das waffenfähige Alter den Freigeborenen vom Unfreien scheidet und seine Tüchtigkeit die adlige Herkunft erkennen lässt.
Den Liebesgenuss lernt der Jüngling erst spät kennen, deshalb ist seine Zeugungskraft ungeschwächt. Auch bei den Mädchen nimmt man sich mit der Verheiratung Zeit, so gleichen sie den Jünglingen an Jugendkraft und zeigen ähnlich hohen Wuchs. Den jungen Männern an Stärke ebenbürtig, treten sie in die Ehe; und in den Kindern spiegelt sich die Kraft der Eltern wider.
Der Bruder der Mutter wacht über die Kinder seiner Schwester ebenso wie der eigene Vater. Ja, manche Stämme halten diese Bande des Blutes für noch heiliger und enger als die von Vater und Sohn und verfahren danach, wenn sie Geiseln fordern, denn sie meinen dadurch den, der die Geiseln stellt, enger und seine Sippe in erweitertem Umfang zu verpflichten.
Trotzdem sind aber Erben und Rechtsnachfolger bei jedermann immer nur die eigenen Kinder; Testamente gibt es bei ihnen nicht. Sind keine Kinder da, so erben zunächst die Brüder und dann die Oheime - und zwar zunächst von väterlicher, dann von mütterlicher Seite. Je mehr Blutsverwandte einer hat, je größer die angeheiratete Verwandtschaft ist, desto liebevollerer Verehrung erfreut er sich im Alter. Kinderlosigkeit bringt keinen Vorteil.
Tacitus: Germania c. 20 (25), S. 23.

(10) Tacitus über die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bei den Germanen, 98
Droht einem Stamm in langer Friedensruhe Verweichlichung, so suchen viele dieser jungen Edelinge auf eigene Faust solche Stämme auf, die gerade in irgendeinen Krieg verwickelt sind. Denn ein tatenloses Leben ist den Germanen nun einmal verhasst. Auch kommt man in Kampf und Gefahr leichter zu Ruhm. Zudem lässt sich eine zahlreiche Gefolgschaft auf die Dauer auch nur durch Krieg und Raubzüge zusammenhalten. Denn neben der gewöhnlichen Verpflegung und den zwar einfachen, aber sehr reichlichen Gastereien, die an die Stelle einer Soldzahlung treten, erwarten die Gefolgsleute von der Freigebigkeit ihres Gefolgsherrn jenes Streitross und jene Frame, mit der sie den blutigen Sieg zu erkämpfen gedenken. Die Mittel für solche Freigebigkeit wird durch Kriegs- und Raubzüge aufgebracht. Man kann einen Gefolgsmann leichter dazu bringen, einen Feind zum Kampf herauszufordern und sich Verwundungen zu holen als daheim den Acker zu bestellen und den Ertrag der Ernte abzuwarten. Ja, für faul und feige gilt, wer mit seinem Schweiß erwirbt, was er durch Blut gewinnen kann. (...)
Gibt es keinen Krieg, dann gehen sie wohl mitunter auf die Jagd; noch lieber aber verbringen sie den ganzen Tag mit nichts anderem als mit Schlafen und Essen. Gerade die tapfersten Kriegshelden betätigen sich am allerwenigsten. Sie überlassen die Sorge für Haus und Hof sowie die Feldarbeit den Frauen, den alten Leuten und überhaupt den körperlich schwächeren Mitgliedern der Familie, sie selbst leben in dumpfer Untätigkeit dahin. Ein merkwürdiger Widerspruch liegt in ihrem Wesen: sie lieben den Müßiggang und können doch die Ruhe des Friedens nicht ertragen. (...)
Die Verwendung der anderen Sklaven erfolgt nicht in derselben Weise wie bei uns, wo die einzelnen Dienstleistungen auf das Gesinde genau verteilt sind. Vielmehr hat jeder Sklave Haus und Hof, wo er frei schalten darf. Seinem Herrn muss er wie ein Pächter eine bestimmte Menge an Getreide, Vieh oder Web- und Spinnstoffen abliefern, und nur so weit geht seine Verpflichtung. Im übrigen werden die Arbeiten im Haushalt des Herrn von seiner Gattin und den Kindern besorgt.
Tacitus: Germania c. 14, c. 15, c. 25 (25), S. 19, S. 26.

(11)
Frauen im Mittelalter

(12) Tacitus über die Rolle der Frauen bei kriegerischen Auseinandersetzungen, 98 Was sie am allermeisten zur Tapferkeit anfeuert, ist der Brauch, dass die Aufstellung der Reiter- und Fußabteilungen nicht dem Zufall überlassen oder ins Belieben gestellt ist, sondern nach Familien und Sippen erfolgt. Zudem befinden sich ganz in der Nähe ihre Lieben, so dass sie die Klageschreie ihrer Frauen und das Wimmern der Kinder hören können. Diese nächsten Angehörigen sind für jeden Kämpfer die heiligsten Zeugen seiner Taten; von ihnen ein Lob zu erhalten, ist eines jeden größter Stolz. Wer verwundet ist, begibt sich zu seiner Mutter oder Gattin. Diese stellen ohne Scheu die Anzahl der Verletzungen fest und untersuchen sie; auch bringen sie den Kämpfenden Erfrischungen und Zuspruch.
Tacitus: Germania c. 7 (251, S. 14.

(13) Plutarch über die kriegerische Betätigung der Frauen bei Kimbern und Teutonen., 100/20
Denn die Römer töteten fast alle, die herübergekommen waren und es nicht wagten, zurückzukehren, die übrigen verfolgten sie bis zum Lager und zu den Wagen. Hier kamen ihnen aber die Weiber mit Schwertern und Äxten bewaffnet entgegen und trieben unter gräßlichem und wütendem Geschrei die Fliehenden. wie die Verfolger zurück, jene als Verräter, diese als Feinde. Sie mengten sich mitten unter die Kämpfenden, rissen mit bloßen Händen den Römern die Schilde weg, fielen ihnen in die Schwerter und ließen sich mit unbesiegtem Mut zu Tode verwunden und in Stücke hauen. (...)
Die Römer trieben die Fliehenden bis zu ihren Verschanzungen zurück, und hier eröffnete sich ihnen ein höchst tragischer Anblick. Die Weiber standen in schwarzer Kleidung auf den Wagen und töteten die Flüchtlinge ohne Rücksicht, ob sie ihre Männer, ihre Väter oder ihre Brüder waren, mit eigenen Händen erdrosselten sie die kleinen Kinder, warfen sie unter die Räder und die Füße der Lasttiere und brachten sich dann selbst um. Eine hatte sich, wie man erzählt, an eine Deichsel gehängt, und an ihren Fersen hingen auf beiden Seiten die Kinder mit Stricken angebunden.
Plutarch: Lebensbeschreibungen. Marius c. 19, c. 27 (16), S. 118, S. 125 f.

(14) Cassius Dio über die kriegerische Betätigung keltischer Frauen, um 200
Auch von den überrheinischen Kelten drangen viele bis nach Italien vor und taten den Römern schweren Schaden. Gegen sie zog Marcus ins Feld und sandte ihnen die Unterfeldherren Pompeianus und Pertinar entgegen. Hierbei zeichnete sich Pertinar aus, derselbe, der später Kaiser wurde. Unter den gefallenen Barbaren wurden auch Leichen bewaffneter Frauen gefunden.
Cassius Dio: Römische Geschichte 71,3; zitiert nach: Capelle: Das alte Germanien (31, 207 f.

(15) Vopiscus über die kriegerische Betätigung gotischer Frauen, 2. Hälfte 4. Jh.
Es wurden auch zehn Frauen in dem Zug mitgeführt, die er (Kaiser Aurelian), wie sie in männlicher Tracht kämpften, unter den Goten gefangen genommen hatte, nachdem viele solcher Frauen getötet waren. Von diesen gab eine Inschrift über den Stamm der Amazonen Kunde; es wurden nämlich Inschrifttafeln voran getragen, die die Namen der besiegten Völker enthielten.
Scriptores historiae Augustae. Vita Aureliani 34,1; zitiert nach.- Capelle: Das alte Germanien (3), S. 243.

(16) Tacitus über das Verhalten der Germaninnen während der Schlacht, 105110
Civilis, von den Feldzeichen der gefangenen Kohorten umgeben - so wollte er seinen Soldaten den eben errungenen Kriegsruhm vor Augen führen, den Feinden aber durch die Erinnerung an ihre Niederlage Furcht und Schrecken einjagen -, wies seiner Mutter und seinen Schwestern und mit ihnen den Gattinnen und kleinen Kindern aller Mitkämpfer hinter der Front ihren Platz an, um die Männer zum Siege anzufeuern oder sie im Falle der Niederlage zu beschämen. Als nun die ganze Schlachtlinie von dem Schildgesang der Streiter und dem Geheul der Frauen widerhallte, erwiderten die Legionen und Kohorten diesen Schlachtruf keineswegs mit derselben Stärke.
Tacitus: Historien 4, 18 (271, S. 269.

(17) Tacitus über die Seherin Veleda, 105110
Der Legionslegat Munius Lupercus wurde unter andern Geschenken zu Veleda geschickt. Diese, eine Jungfrau aus dem Stamm der Brukterer, hatte einen weitreichenden Machteinfluss, entsprechend einer alten Sitte der Germanen, sehr vielen Frauen eine prophetische Gabe zuzuschreiben und sie sogar, wie denn der Aberglaube sich steigert, für Göttinnen zu halten. Und von da an wurde das Ansehen der Veleda immer größer, denn sie hatte den Germanen ihren glücklichen Erfolg und die Vernichtung der Legionen vorausgesagt. (. ..) Die Gesandten wurden mit Geschenken zu Civilis und Veleda geschickt, und sie setzten alles nach dem Wunsche der Agrippinenser durch; aber man erlaubte ihnen nicht, vor Veleda persönlich zu erscheinen und sie anzusprechen; es war ihnen verwehrt, ihr Antlitz zu schauen; das war ein Mittel, um ihre Verehrung zu steigern. Sie selbst lebte auf einem hohen Turm; sie hatte einen ihrer Verwandten ausgewählt, der Anfragen und Antworten wie ein Bote des göttlichen Waltens überbrachte. (...)
Damals bestand nach der Auffassung des Civilis die Möglichkeit, die Legionen zu vernichten, und die freien Germanen hatten ihm zufolge auch die Absicht dazu gehabt; aber er rechnete es sich zum Verdienst an, sie durch List von diesem Plan abgebracht zu haben; und diese Behauptung hat vielleicht auch ein Körnchen Wahrheit in sich, da ja wenige Tage darauf die Übergabe erfolgte; und wirklich hatte Cerealis durch geheime Kuriere den Batavern den Frieden, dem Civilis Verzeihung in Aussicht gestellt; und zugleich ermahnte er Veleda und ihre Verwandten, sie sollten dem ihnen durch so viele Niederlagen widrigen Geschick des Krieges durch einen dem römischen Volk rechtzeitig erwiesenen guten Dienst eine andere Wendung geben. (...)
Den Drohungen wurden Versprechungen hinzugefügt, und als auf diese Weise die Treue der überrheinischen Germanen erschüttert war, ließen sich auch unter den Batavern Stimmen hören: Man dürfe den Vernichtungskampf nicht noch weiter wüten lassen, und ein einziges Volk sei außerstande, sich von der Knechtschaft des ganzen Erdkreises zu befreien. (...)
Von ihnen verlangte man nicht Tribute, sondern tapfere Männer, das grenze nahe an die Unabhängigkeit; und wenn man seine Herren frei wählen könne, dann sei es ehrenhafter, die römischen Kaiser zu ertragen als germanische Weiber.
Tacitus: Historien 4,61; 4,65, 5,24, 5,25 (27), S. 312, S. 316, S. 360f.

(18) Die Seherin Thorb örg, 2. Hälfte 13. Jh.
In dieser Zeit herrschte große Hungersnot in Grönland. Die Männer, die auf Fischfang oder Jagd aus gewesen waren, hatten wenig Beute mitgebracht, manche waren überhaupt nicht wiedergekommen. Eine Frau war da in der Siedlung namens Thorbjörg. Sie war eine Seherin, genannt die kleine Völva. Sie hatte neun Schwestern gehabt, und alle waren Seherinnen gewesen. Nur sie war noch am Leben. Thorbjörg ging gewöhnlich im Winter auf Gelage. Man lud sie dazu ein. Besonders die Leute, die über ihr Schicksal oder über den Ausfall des Jahres Bescheid wissen wollten. Da nun Thorkel für den angesehensten Bauer galt, meinte man, an ihm sei es, festzustellen, wann die schlimme Zeit, die jetzt herrsche, ein Ende nehmen würde.
Thorkel lud die Seherin zu sich, und man bot ihr einen festlichen Empfang, wie er einer Frau ihrer Art gebührt. Man errichtete einen Hochsitz für sie und legte ihr Polster unter. In diesen mussten Hühnerfedern sein. Als sie am Abend eintraf mit dem Manne, der nach ihr ausgesandt war, sah sie so aus: sie trug einen blauen Mantel mit Spangen. Der war bis zum Saum besetzt mit kostbaren Steinen. Um den Hals hatte sie Glasperlen. Auf dem Haupt trug sie eine Haube von schwarzem Lammfell, innen mit weißem Katzenfell gefüttert. In der Hand hielt sie einen Stab mit einem Knauf oben. Der war mit Kupfer eingelegt, oben am Knauf aber in Steine gefasst. Um den Leib hatte sie einen Gürtel mit Zündschwamm, und daran hing ein großer Lederbeutel, in dem sie die Zaubermittel trug, die sie für ihre Weissagung benötigte. Sie hatte an ihren Füßen zottige Kalbfellschuhe mit langen und starken Riemen sowie großen Messingknöpfen an deren Enden. An den Händen aber Handschuhe aus Katzenfell, die innen weiß und zottig waren.
Als sie eintrat, dünkte allen Leuten, sie müssten sie ehrfürchtig grüßen. Sie aber erwiderte diese Grüße, je nachdem ihr die Männer gefielen. Bauer Thorkel nahm die Weissagerin an der Hand und geleitete sie an den für sie errichteten Hochsitz. Dann bat Thorkel sie, ihre Augen über Herden, Haushalt und Häuser schweifen zu lassen. Sie sprach so gut wie gar nicht. Am Abend stellte man Tische hin, und es ist dabei zu berichten, was die Seherin als Speise erhielt. Man setzte ihr vor Grütze aus Geißmilch, und für sie waren zum Essen zugerichtet die Herzen all der verschiedenen Tiere, die es dort gab. Sie hatte einen Messinglöffel und ein Messer mit einem Griff aus Walrosszahn, an diesem zwei Kupferringe. Die Spitze war abgebrochen. Als man die Tische wieder fortgeschafft hatte, ging Bauer Thorkel zu Thorbjörg und fragte sie, was sie über das Hauswesen und über die Art der Männer denke und ob er bald Gewissheit bekommen würde über das, wonach er sie frage und was alle gern wissen wollten. Sie sagte, sie könne das nicht vor dem nächsten Morgen enthüllen, nachdem sie eine Nacht durch geschlafen habe.
Dann, am Ende des folgenden Tages erst, richtete man alles für sie her, was sie für ihren Zauber brauchte. Sie hieß ihr Frauen herbeiholen, die das Lied wüssten, das ihr not täte, um ihren Zauber zu Ende bringen zu können, und das Vardlokkur hieße. Solche Frauen fanden sich aber nicht. Da fragte man den ganzen Hof durch, ob es nicht eine wisse. Gudrid sagte da: »Ich bin weder zauberkundig noch eine Seherin, aber meine Ziehmutter Halldis auf Island lehrte mich ein alt Lied, das sie »Vardlokkur nannte.« Thorbjörg erwiderte: »So bist du klüger denn ich dachte.« Gudrid sagte: »An solchem Sang und Zauber wie hier, denk ich, darf ich nicht teilhaben, denn ich bin eine Christin.« Thorbjörg erwiderte: »Es steht doch so, dass du den Leuten hier helfen könntest und doch dadurch selbst keine schlechtere Frau würdest. Ich muss mich an Thorkel halten, um das zu erhalten, was mir not tut.« Nun setzte Thorkel der Gudrid so heftig zu, dass sie versprach, seinen Wunsch zu erfüllen. Da schlugen die Frauen einen Ring um den Zauberstuhl, auf dem Thorbjörg saß. Dann sang Gudrid das Lied so schön und trefflich, dass alle meinten, nie hätten sie eines mit schönerer Stimme singen hören denn hier. Die Seherin dankte ihr für dieses Lied und sagte: »Manche Geister kamen hierher und dachten, wie schön dieses Lied doch zu hören gewesen wäre - solche, die sich früher von mir abgewandt hatten und mir nicht mehr gehorchen wollten. Jetzt seh ich viele Dinge deutlich vor mir, die bislang mir wie allen andern verborgen waren. Dir, Thorkel, kann ich jetzt künden, dass das Hungerjahr nicht länger währen wird denn bis zum Winter, und besser wirds werden bei Frühlingsbeginn. Auch die Seuche, die so lange hier herrschte, wird unverhofft schnell erlöschen. Dir aber, Gudrid, werd ich sofort die Hilfe lohnen, die du uns allen getan. Denn dein Geschick steht mir jetzt ganz klar vor Augen. Du wirst hier in Grönland dich höchst ehrenvoll verheiraten, bringt diese Ehe dir auch nicht Heil auf die Dauer. Denn dein Weg führt dich nach Island, und dort wirst du die Stammutter eines großen und mächtigen Geschlechts werden, und dies wird in hellem Licht strahlen. Und damit leb denn wohl, meine Tochter.«
Darauf gingen die Leute zur Seherin, und ein jeder fragte nach dem, was er am meisten zu wissen wünschte.
zitiert nach: Thule: Isländische Sagas, Bd. 2. Historische Fahrten und Abenteuer.
Die Geschichte von Erich dem Roten (28), S. 58-60.

(19) Caesar über die Bedeutung der germanischen Seherinnen im Krieg, 51/50 v. Chr.
Am folgenden Tage führte ich nach bisheriger Gewohnheit meine Truppen aus beiden Lagern heraus, rückte ein wenig vom größeren Lager weiter vor, machte mich kampfbereit und gab dem Feinde Gelegenheit, sich zu stellen. Als ich sah, dass dieser nicht einmal jetzt herauskam, führte ich ungefähr um die Mittagszeit das Heer ins Lager zurück. Da erst schickte Ariovist einen Teil seiner Truppen aus, welcher das kleinere Lager stürmen sollte. Heftig kämpfte man auf beiden Seiten bis zum Abend. Bei Sonnenuntergang führte Ariovist seine Truppen sie hatten viele verwundet, aber auch selbst viele Wunden erlitten - ins Feldlager zurück. Als ich Gefangene fragte, warum Ariovist keine Entscheidungsschlacht schlage, stellte ich folgenden Grund fest: Bei den Germanen herrsche der Brauch, dass die Frauen auf Grund von Runen und Weissagungen offenbarten, ob es vorteilhaft sei, die Schlacht zu liefern oder nicht. Diese erklärten, es sei nicht vom Schicksal bestimmt, dass die Germanen siegten, wenn sie vor dem Neumond kämpften.
Caesar: Der Gallische Krieg 1,50 (5), S. 37.

(20) Strabo über die Tätigkeit kimbrischer Seherinnen und Priesterinnen im Krieg, 7/19
Von den Kimbern berichtet man folgenden Brauch: Ihre Weiber, die mit den Männern zu Felde zogen, wurden von Priesterinnen begleitet, die die Gabe der Weissagung besaßen, Frauen mit grauem Haar in weißen Gewändern, die ihr Oberkleid aus spanischer Leinwand auf der Schulter mit Spangen befestigt hatten, einen ehernen Gürtel trugen und barfuss gingen. Diese gingen den Kriegsgefangenen durch das Lager mit dem Schwert in der Hand entgegen, bekränzten sie und führten sie dann zu einem ehernen Milchkessel, der etwa 20 Eimer fasste. Sie hatten hierzu eine Trittleiter; diese erstiegen sie und, über den Kessel gebeugt, schnitten sie jedem Gefangenen, der zu ihnen empor gehoben wurde, die Kehle durch. Aus dem Blut, das in den Milchkessel strömte, pflegten sie zu weissagen. Andere (Priesterinnen) schlitzten den Gefangenen den Leib auf und weissagten aus ihren Eingeweiden, indem sie den Ihrigen mit lauter Stimme Sieg verkündeten.
Strabo: Erdbeschreibung VII,294; zitiert nach: Capelle: Das alte Germanien (3), S.47.

(21) Tacitus über den Nerthuskult, 98
Auf einer Insel weit im Meer befindet sich ein abgeschiedener Hain. Dort steht der heilige Wagen der Nerthus, der mit einem Tuch verhüllt ist; nur der Priester darf ihn berühren. Dieser merkt es, wenn sich die Göttin im Inneren des Wagens niedergelassen hat; er spannt dann Kühe vor den Wagen und geleitet die Göttin unter vielen Ehrfurchtsbezeigungen auf ihrer Fahrt. Das gibt fröhliche Tage; festlich geschmückt sind alle die Orte, denen die Göttin die Ehre ihres Besuchs und ihres gastlichen Verweilens angedeihen lässt. In dieser Zeit ruhen alle Kriege, die Festteilnehmer erscheinen ohne Waffen: weggeschlossen wird alles, was eine Waffe ist. Diesen Frieden und diese Waffenruhe kennt und wünscht man sich aber nur so lange, bis derselbe Priester die des Verkehrs mit den Menschen überdrüssig gewordene Göttin wieder in den Hain zurück geleitet hat. Dann wird der Wagen, das Tuch und, wenn man es wahr haben will, die Göttin selbst in einem verborgenen See gewaschen. Dabei helfen Sklaven mit, die auf der Stelle von eben demselben See verschlungen werden. Daher das geheime Grauen und die heilige Ungewissheit, was das wohl für ein göttliches Wesen sein mag, das nur solche schauen dürfen, die dem Tode geweiht sind.
Tacitus: Germania c. 40 (25), S. 36f.