Die Anfänge der Frauenbewegung -
Charlotte Perkins Gilman
This is the woman's century, the first chance
for the mother of the world to rise to her full
place, her transcendent power to remake humanity,
to rebuild the suffering world — and the world
waits while she powders her nose.[1]
(Charlotte Perkins Gilman 1972, 331)
Hoffnung und Resignation klingen zugleich in diesen Worten mit, mit denen Charlotte Perkins Gilman kurz vor dem Abschluß ihrer Autobiographie das Ausbleiben der erhofften Revolution feststellt, auf die ihr Leben gerichtet war. Verwunderlich ist danach die Tatsache, daß Gilmans Name hierzulande allenfalls durch ihre Erzählung Die Gelbe Tapete und vielleicht durch die Übersetzung ihres Romans Herland geläufig ist.
Die Lektüre des Vorwortes zu Herland erweckt mein Interesse, umfaßt ihr Werk doch Romane, Erzählungen, Gedichte, sozialwissenschaftliche Schriften, etliche Essays sowie sieben Jahrgänge der Zeitschrift The Forerunner, die sie im Alleingang verfaßt, herausgegeben und verlegt hat. Bei dem Versuch, mehr über Gilman in Erfahrung zu bringen, stoße ich schon bald an die Grenzen dieses Unternehmens. Nach und nach werden mir verstreute Quellen zugänglich, nach deren Lektüre sich wiederum die Frage nach dem Mißverhältnis eines umfassenden Lebenswerkes und seiner heutigen Rezeption aufdrängt. Zum besseren Verständnis der Schriften Gilmans soll zunächst ein kurzer Abriß der Entstehungsgeschichte der amerikanischen Frauenbewegung dienen.
Die Anfänge der Frauenbewegung
The history of mankind is a history of
repeated injuries and usurpations on the
part of man toward woman, having in direct
object the establishment of an absolute tyranny over her.[2]
Declaration of Sentiments and Resolutions,
Seneca Falls (1848).
Der Kongreß von Seneca Falls im Jahr 1848 wird heute oft als die Geburtsstunde der Frauenrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten betrachtet. Die in Seneca Falls versammelten Frauen (und Männer!) legten ihre Grundsatzerklärung vor, die »Declaration of Sentiments«, verfaßt nach dem Modell der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Die Kongreßteilnehmerinnen forderten die Gleichstellung von Mann und Frau in der Ehe, in Eigentumsrechten, in Gehaltsfragen sowie im Sorgerecht für Kinder und im Wahlrecht. Die letzte Forderung galt dabei als die radikalste. Beeinflußt wurden diese Forderungen insbesondere von den Theorien Francis Wrights, Margaret Füllers und Mary Wollestonecrafts, die in A Vindication of the Rights of Woman bereits 1792 gleiche Rechte für Mann und Frau als Voraussetzung für eine Veränderung propagiert hatte.
Zwei wichtige Vertreterinnen in Seneca Falls waren Elizabeth Cady Stanton und Susan B. Anthony. Elizabeth Cady Stanton beschränkte sich in ihren Forderungen nicht allein auf die Durchsetzung des Frauenwahlrechts, sondern sie strebte nach einer sozialen Revolution, deren Ziel die Selbstbestimmung der Frau in der Ehe, die freie Selbstentfaltung und die Gleichstellung von Jungen und Mädchen in der Erziehung sein sollte. Susan B. Anthony engagierte sich besonders für die ökonomische Unabhängigkeit der Frau und forderte gleiche Eigentumsrechte für Mann und Frau.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es in den USA durch die Industrialisierung und Urbanisierung zu entscheidenden Veränderungen in den Familien- und Gesellschaftsstrukturen. Diese Entwicklung vollzog sich von der Ost- zur Westküste. Die alte Einheit der Familie wurde durch die Trennung von Haushalt und Arbeitsplatz aufgehoben. Der Mann verdiente den Lebensunterhalt für die Familie nun außer Haus, während die Frau die Hausarbeit verrichtete. Reichte das Einkommen des Mannes nicht aus, so war auch die Frau zur Arbeit außerhalb des Haushalts gezwungen. Die amerikanische Industrie machte sich die Arbeitskraft von Frauen aus den unteren Schichten schon sehr früh zunutze. Diese Arbeit hatte für die Frauen jedoch keine Besserung ihres Status zur Folge. Frauen verdienten etwa nur 40% des Gehalts der männlichen Arbeiter. Darüber hinaus konnten verheiratete Frauen nicht frei über ihr Vermögen, nicht einmal über ihr selbst erworbenes Einkommen verfügen. Zudem waren sie in ungelernter Tätigkeit beschäftigt, so daß sich kaum die Möglichkeit zur beruflichen Weiterqualifikation bot. Frauen waren zudem vom höheren Schulwesen ausgeschlossen.
In den Jahren nach dem Kongreß in Seneca Falls fanden bis 1860 fast jährlich Frauenrechtskongresse statt. Insbesondere kämpften die Frauen um das Wahlrecht, das Recht auf materielle Unabhängigkeit, das Sorgerecht für Kinder nach einer Scheidung sowie das Recht auf gerechten Arbeitslohn. Das Wahlrecht war längst nicht das einzige Thema der »Suffragettenbewegung«. Die »National Women's Suffrage Association« (NWSA) war 1869 in erster Linie zum Zweck der Durchsetzung des Frauenwahlrechts von Elizabeth Stanton und Susan B. Anthony gegründet worden. Nach einem Jahr spaltete sich ein konservativerer Zweig der NWSA unter Führung von Lucy Stone und Julia Ward Home zur Gründung der »American Women's Suffrage Association« (AWSA) ab. Grund hierfür war, daß letztere das Frauenwahlrecht vorrangig durchsetzen wollten, anstatt dies — wie der NWSA — mit Forderungen wie der Abschaffung der Sklaverei gleichrangig zu behandeln. Beide Organisationen schlössen sich dann später wieder zusammen zum NAWSA (National American Women's Suffrage Association). (Vgl. Flexner 1978, 10 und Schultz 1980, 239.)
Kontroverse Themen der Suffragettenbewegung waren im Ausgang des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ehe, Sexualität und Geburtenkontrolle. Umstritten war die Verbindung der NWSA zu Victoria Woodhull, der ersten Frau, die vor dem Kongreß über »Women's Suffrage« sprach. Woodhull propagierte die freie Liebe und erklärte die Ehe für die meisten Frauen als legalisierte Prostitution (Schultz 1980,238). Ein zentrales Thema war für Woodhull Schwangerschaftsverhütung und Abtreibung. Da viele Kontrazeptiva damals noch unbekannt waren, galt Abtreibung oft als einziges »Verhütungsmittel«. Die Forderung nach mehr Möglichkeiten zur Geburtenkontrolle wurde als einziger Ausweg aus der Armut betrachtet. Zum einen sollten so die vielen Abtreibungen unnötig gemacht werden, bei denen bereits viele tausend Frauen gestorben waren, zum anderen sollte sie zu einer lustvolleren Sexualität der Frau, zu ihrer Selbstbestimmung und zur Ermöglichung der Erwerbstätigkeit der Frau beitragen.
Die Zahl der erwerbstätigen Frauen nahm kontinuierlich zu. Die Volkszählung von 1890 verzeichnete 4.005.532 erwerbstätige Frauen, 1900 waren es 5.319.397 und 1910 bereits 7.444.787 (Flexner 1978, 276). Ein Großteil dieser Frauen war in Haushalten und im Dienstleistungsgewerbe tätig. Die Durchschnittszahl der Kinder einer weißen Frau war dagegen zwischen 1800 und 1900 von 7,04 auf 3,56 gesunken. Neben Geburtenkontrolle forderten die Frauen ein gerechteres Scheidungsrecht, die Trennung von Liebe und Ehe sowie das Recht, auch ohne Mann ein respektiertes Leben zu führen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl unverheirateter Frauen stark an. Noch drastischer war die Zunahme der Scheidungsrate. Um 1900 wurden etwa zwei Drittel aller Scheidungen von Frauen beantragt. Die wachsende Selbstbestimmung der Frauen wurde von staatlicher Seite mit Mißfallen betrachtet. So äußerte sich Präsident Theodore Roosevelt 1899:
»Männer, die zurückschrecken vor der Arbeit und vor einem rechtschaffenen Krieg, und Frauen, die zurückschrecken vor der Mutterschaft, wandeln am Rande des Abgrunds und verdienen, von der Erde zu verschwinden.« 1905 griff er kinderlose Frauen sogar an als »Verbrecherinnen an der Rasse ..., Gegenstand verachtungsvollen Abscheus seitens gesunder Leute.« (Roosevelt o. J., 50)
In den folgenden Jahrzehnten kam es durch harte Kämpfe im Parlament, durch eine Flut von Pamphleten, unzähligen Reden und weiteren Frauenrechtskongressen sowie die Ausdehnung der Aktivitäten von Frauen in Industrie und Gesellschaft zu weitgehenden Veränderungen im Frauenrecht, die von Bundesstaat zu Bundesstaat recht unterschiedlich verliefen. Im Jahr 1920 brachte der 19. Verfassungszusatz den Amerikanerinnen bundesweit das Wahlrecht. Als eine der wichtigsten Veröffentlichungen zum Frauen(wahl-)recht zählt heute noch Gilmans Women and Economics aus dem Jahr 1898 mit dem Untertitel »Eine Untersuchung des ökonomischen Verhältnisses zwischen Männern und Frauen als Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung.« und wurde bald als der bedeutendste Text für den Feminismus des 20. Jahrhunderts betrachtet, seine Verfasserin als die fortschrittlichste Theoretikerin des sozialen Feminismus.
Charlotte Perkins Gilman — Ein biographischer Abriß
Gilman wird am 3. Juli 1860 als Charlotte Anna Perkins in Hartford, Connecticut, als Tochter von Frederick Beecher Perkins und Mary Westcott Perkins geboren. Ihr Vater entstammt einer bekannten Theologenfamilie. Sein Großvater war der puritanische Theologe Lyman Beecher, dessen 12 Kinder — nicht nur die Söhne, auch die Töchter — fast ausnahmslos in Reformbewegungen aktiv waren. Ein großes Vorbild Charlottes ist ihre Tante Harriet Beecher Stowe, die Verfasserin von Uncle Toms Cabin. Über sie schreibt sie später: »One of the world's greatest women«, (who led a life) »perfect in the fulfillment of all inti-mate personal relations, and yet fulfilling also the public claim of Service to humanity.«[3] (The Forerunner 2 1911, 196 f.) Diese Ziele will auch Gilman verfolgen. Zu ihren Vorfahren zählen außerdem Catherine Beecher, die sich für höhere Schulbildung von Frauen engagierte, und Isabella Beecher Hooker, eine der führenden Stimmen in der Frauenwahlrechtsbewegung. 1869 trennen sich Charlottes Eltern. An eine Kindheit mit Vater hat sie kaum eine Erinnerung. »The word Father, in the sense of love, care, or to go to in trouble, means nothing to me, save
indeed in advice about books and the care of them — which seems more the librarian than the father.«[4]
Gilman studiert eine Zeitlang an der Kunstgewerbeschule von Rhode Island und verdient anschließend ihren Lebensunterhalt mit dem Entwerfen von Postkarten, als Zeichen- und gelegentlich auch als Hauslehrerin. Im Januar 1882 lernt sie den Kunstmaler Charles Walter Stetson kennen. Stetson möchte sie heiraten, doch Gilman möchte nicht den Fehler ihrer Eltern wiederholen. Sie würde lieber auf ein paar glückliche Jahre verzichten, als sich dem Risiko einer lebenslangen Qual auszusetzen. 1883 veröffentlicht sie ein Gedicht mit dem Titel In Duty Bound im Woman's Journal, aus dem hervorgeht, daß sie die Ehe als Institution betrachtet, die nur aus Pflichterfüllung und Verzicht besteht.
Dennoch beugt sie sich im folgenden Jahr der Konvention und heiratet Walter Stetson. Charlotte ist in dieser Ehe nicht glücklich. »Something was going wrong from the first«,[5] schreibt sie in ihrer Biographie (88). Die Situation verschlimmert sich noch nach der Geburt ihrer Tochter Katharine im März 1885. Zu den Hausfrauenpflichten kommen die der Mutter. Trotz der Liebe und Fürsorge ihres Ehemannes, der Unterstützung durch ihre Mutter und der Liebe zu ihrer Tochter verfällt sie in einen apathischen Zustand. Sie selbst bezeichnet diesen Zustand als »nervöse Erschöpfung«. Während dieser Zeit kann Gilman weder körperlich noch geistig arbeiten. Sie ist apathisch und depressiv. Auf Anraten ihres Arztes verreist sie und verbringt einige Monate bei ihrer Freundin Grace Channing in Pasadena. Sie erholt sich bald, doch gleich nach ihrer Rückkehr zur Familie verfällt sie wieder in den alten Zustand der Depression.
1887 begibt sie sich in Behandlung des damals bekannten Nervenspezialisten S. Weir Mitchell. Dieser verordnet ihr für Wochen absolute Bettruhe und gibt ihr anschließend den Rat, ein möglichst häusliches Leben zu führen und soviel Zeit wie möglich mit ihrer Tochter zu verbringen. Darüber hinaus soll sie nicht mehr als zwei Stunden täglich lesen und auf keinen Fall mehr schreiben. Mitchell sieht den Grund für ihre Krankheit in ihrer Unfähigkeit zur Passivität und Selbstaufopferung. Durch seine Therapie versucht er, sie in die gesellschaftlich allgemein akzeptierte Frauenrolle zu zwängen. Gilman befolgt seinen Rat für einige Monate, hat aber dann das Gefühl, am Rande des Wahnsinns zu stehen. Als einzigen Ausweg sieht sie eine Trennung von ihrer Familie. Im Herbst 1887 entscheiden sich Charlotte und Walter im gegenseitigen Einverständnis für eine Scheidung. Gilman hält es für ihre Tochter für die bessere Lösung, lieber mit getrennten Eltern als mit einer geistesgestörten Mutter zu leben. Die Ehe wird 1894 geschieden.
Nach der Trennung von Stetson geht Charlotte mit ihrer Mutter und ihrer Tochter nach Kalifornien und beschließt, ihren Lebensunterhalt als Schriftstellerin zu verdienen. Zunächst unterhält sie eine Pension, gibt Literaturkurse und veröffentlicht in den folgenden Jahren eine Reihe von Gedichten und Essays. Ihre Karriere als Schriftstellerin beginnt. 1892 erscheint The Yellow Wallpaper, eine Erzählung, in der sie ihre Depressionen der Ehejahre verarbeitet. Ein Gedichtband mit dem Titel In This Our World folgt 1893. Im Jahr darauf gibt sie gemeinsam mit Helen Campbell die Zeitschrift der »Pacific Women's Association« mit dem Titel The Impress heraus. Mehr und mehr interessiert sie sich für die politischen und sozialen Bewegungen an der Westküste: den Kampf um das Frauenstimmrecht, die Gewerkschaften, die Bestrebungen Edward Bellamys und der Verstaatlichungs-Initiativen. Sie beginnt, Vortragsreisen zu unternehmen. Für damalige Verhältnisse gilt dieses Leben als skandalös. Die Presse beschuldigt sie, ihre Tochter durch ihre Arbeit zu vernachlässigen, die nun beim Vater und dessen zweiter Frau, Charlottes Freundin Grace Ellery Channing lebt, die zudem immer noch eng mit Charlotte befreundet ist. Man verzeiht Charlotte nicht, daß sie ihre Karriere den Mutterpflichten vorzieht.
Der historische Kontext
Cried all: »Before such things can come,
you idotic child,
You must alter Human Natura!« and they
all sat back and smiled.[6]
(Similar Cases, 1890)
In den Jahren nach 1890 widmet sich Gilman nicht ausschließlich dem Frauenstimmrecht, sondern beschäftigt sich auch mit Fragen des Sozialismus und Nationalismus. In ihren soziologischen und historischen Schriften versucht sie, Geschichtswissenschaft, Psychologie, Soziologie und Ethik zu vereinen und durch ein solides humanistisch-sozialistisch geprägtes Verständnis der Vergangenheit Vorschläge für eine humanere Zukunft zu machen. Sie selbst lehnt es ausdrücklich ab, als Feministin bezeichnet zu werden, da ihr dieser Begriff zu eng gefaßt ist. Der amerikanische Historiker Andrew Sinclair bezeichnet sie als den »Marx der Frauenbewegung«. Gilman selbst stellt sich in die Reihe der französischen und englischen Frühsozialisten (Gilman 1972, 88). Ihre Zeitgenossen haben Schwierigkeiten mit ihrer politischen Zuordnung. Konservative betrachten sie als Sozialistin, während sie aus der Sicht der orthodoxen Sozialisten ebenfalls aus der Reihe fällt. Gegner der Frauenrechtsbewegung betrachten sie als Suffragette, die Suffragetten hingegen sind gegen ihre über die Forderungen nach dem Frauenstimmrecht hinausreichenden Theorien und Forderungen (ebd. 198). Ihren eigenen politischen Standort entwickelt Gilman vielmehr aus den Ansichten ihrer großen weiblichen Vorbilder Mary Wollestonecraft, Elizabeth Stanton und Susan Anthony sowie aus den Lehren der Darwinisten und Reformdarwinisten, aus den Analysen der Evolutionstheoretiker und aus Bellamys Nationalismusgedanken.
Die Entstehung des nationalistischen Gedankens Bellamyscher Prägung ist zurückzuführen auf die sozialen Mißstände am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Die 90er Jahre sind eine Zeit der allgemeinen Depression, der wachsenden sozialen Ungleichheit und der zunehmenden Machtkonzentration der Industrie. 1890 verfügen 7/8 der Amerikaner etwa über 1/8 des nationalen Kapitals. Die Arbeitszeit der Fabrikarbeiter beträgt ca. 60 Wochenstunden. Insgesamt arbeiten 2 Millionen Kinder unter 15 Jahren. Dagegen sind 15 bis 20% der erwerbsfähigen Erwachsenen arbeitslos. Bekannt wird Edward Bellamys utopischer Roman Looking Backward (1888). Bellamy will anhand der Fiktion eine sozialistische Alternative aufzeigen, indem er die Kontrolle des Staates über die Produktion propagiert, die für ihn die einzige Alternative zur miserablen Wirtschaftslage sein kann. Durch zentrale Organisation von staatlicher Seite sollen üble Begleiterscheinungen der laissez-faire-Ökonomie wie Wettbewerb, Egoismus und Machtstreben aufgehoben werden. In seinem Idealstaat »Boston 2000« ist die Armut abgeschafft, es gibt keinen Lohn, sondern ein staatliches Einkommen. Durch ein zentrales System ist die Volkswirtschaft gut durchgeplant und effizient. Dieser Zustand ist aber nicht das Ergebnis eines Klassenkampfes, sondern Resultat einer natürlichen Evolution. Es gibt kein geschriebenes Gesetz, da ein allgemeiner Normenkonsens herrscht.
Der Roman führt zur Gründung von Vereinigungen, wie den Bellamy
Clubs. Bald darauf entsteht eine »nationalistische« Bewegung, die
christlich-sozialistische Ideen vertritt. Sie richten sich gegen Syndikate,
Trusts und Kinderarbeit. Die Regelung von Mindestlöhnen, Maximal
arbeitszeiten, die Nationalisierung von Schlüsselindustrien und Dienst
leistungsbetrieben zählen zu ihren Hauptforderungen. Zum offiziellen |
Organ der Nationalisten wird The Nationalist. Den Bellamy Clubs |
schließen sich Sozialisten, Suffragetten und das »Women's Temperance j
Movement« an. Looking Backward wird in den USA nach Uncle Tom's J
Cabin zum meistverkauften Buch des 19. Jahrhunderts.
Gilman schließt sich aktiv dem »Nationalist Movement« an, in dem sie sich in den Jahren zwischen 1890 und 1892 aktiv engagiert. In dieser Zeit publiziert sie in den Organen der nationalistischen Bewegung. Ihre Artikel und Gedichte werden im Californian Nationalist, im Weekly Nationalist und im Nationalist abgedruckt. Im Juni 1890 spricht sie vor einem nationalistischen Club in Pasadena »On Human Nature«. Sie spricht nun häufig abwechselnd in Pasadena und Los Angeles über Themen wie »Nationalismus und Tugenden«, »Nationalismus und Liebe«, »Nationalismus und Religion«. Die Ziele des Nationalismus legt sie in ihrer Rede »Why We Want Nationalism« dar: Der Nationalismus sei ein System der industriellen Organisation, in dem der Staat mit dem geringsten Aufwand den größten Reichtum erziele, an dem die gesamte Nation in gleichem Maße teilhabe. Alle Produktionsmittel seien verstaatlicht und dienten dem allgemeinen Wohl. Der Nationalismus sei die Weiterführung der amerikanischen Idee, mit den Hauptzielen Gesundheit, Freiheit und Gerechtigkeit (Scharnhorst 1985, 25). Bekannt wird in dieser Zeit vor allem ihr reformdarwinistisch geprägtes Gedicht Similar Cases, in dem sie die sozialen Strukturen radikal in Frage stellt. In diesem Gedicht wie in The Survival of the Fittestvon 1891 wendet sie sich gegen die sozialdarwinistische Verteidigung des laissez-faire-Kapitalismus. Similar Cases, mit dem sie sich gegen die Gegner von Reformbestrebungen wendet, die am Status quo festhalten wollen, wird für Gilman zur Eintrittskarte für die Nationalisten-Clubs. Die Lehren Charles Darwins haben am Ende des 19. Jahrhunderts Konjunktur. Mit ihnen kann die Geldelite ihre Existenz biologisch rechtfertigen. Armut kann nur von den Stärksten überwunden werden. So wird eine Spaltung in arm und reich hingenommen und selbst von Männern wie Henry Ward Beecher vertreten, zu jener Zeit angesehener Theologe, der in einer Predigt von 1877 verlauten läßt, daß ein sozialer Unterschied gottgewollt sei. Die darwinistische Haltung gilt als arbeiterfeindlich und kapitalistenfreundlich. Der Sozialdarwinismus wird zur tragenden Lehre in Philosophie und Gesellschaftswissenschaften. Er kann sich rasch ausbreiten, weil er der gesellschaftlichen Praxis eine verwertbare Theorie nachliefert, weil der Boden für das Aufgehen der Saat sozusagen bereits bestellt ist. Gilman stellt die Auffassung der Sozialdarwinisten in Frage, daß Charaktereigenschaften genetisch bedingt seien, und schließt sich der Meinung des Reformdarwinisten Lester Ward an. Ward und Gilman vertreten die These, daß Charaktereigenschaften erworben werden; ihre Überzeugung, daß die Lage der Frauen verändert werden kann, beruht auf der Annahme, daß ihre Persönlichkeit veränderbar ist, wenn auch nicht völlig, so doch zumindest durch Verstandeskraft, durch geschlechtliche Selektion und durch veränderte gesellschaftliche Bedingungen. Diese Auffassung steht im Gegensatz zur genetischen Forschung der 80er und 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, deren Vertreter Charaktereigenschaften auf erbliche Veranlagung zurückführen. In ihren religiös-politischen Schriften versucht Gilman, reformdarwinistische Evolutionstheorien mit zeitgenössischen feministischen Zielen zu verknüpfen. Der Mann gilt als von Natur aus kämpferisch und kriegerisch. Er hat einen Gott geschaffen, der ihm ähnlich ist: stolz und zornig. Die Frau ist die »eternal mother«. Der Gott der Frau ist »Lebensspender, Lehrer und Beschützer«. Gilman führt die »Minderwertigkeit« der Frau in erster Linie darauf zurück, daß der religiöse Gedanke und die religiösen Lehren von Männern monopolisiert und von ihrem Verstand geschaffen worden waren. In ihren Abhandlungen zu diesem Thema stützt sie sich nicht nur auf Argumente der Frauenbewegung (z.B. auf Elizabeth Stantons Woman's Bible), sondern vor allem auch auf die Lehren Lester Wards. Einer seiner Artikel aus dem Jahr 1888 mit dem Titel »Our Better Halves«, erschien in Forum, VI (1888), bildet für sie die Grundlage für Women and Economics. Ausschlaggebend ist für sie Wards gynäkozentrisches Weltbild, demzufolge das weibliche Geschlecht in der Natur primär, das männliche nur sekundär ist. Dies heißt für Ward jedoch nicht, daß die zeitgenössischen Frauen beanspruchen können, gegenüber Männern gleichberechtigt zu sein. Durch gesellschaftliche Kräfte und Vererbung sind viele der natürlichen Neigungen der Frau unterdrückt worden. Aber es soll den Frauen durch die Reform ermöglicht werden, ihre natürliche Rolle wieder einzunehmen: »it becomes clear that it must be from the steady advance of woman rather than from the uncertain fluctuations of man that the sure and solid progress of the future is to come.«[7] Nach Ward zeigt die Evolutionsforschung, daß die Hauptaufgabe des männlichen Geschlechts darin besteht, dem weiblichen Geschlecht die Reproduktion zu ermöglichen und daß das weibliche Geschlecht daher die primäre Lebensquelle ist, da sie für die menschliche Fortpflanzung von größerer Bedeutung ist.
Die Partnerwahl ist nach Ward naturgemäß eine Funktion des weiblichen Geschlechts (so z. B. bei Motten, Bienen, Spinnen und Moskitos). Daß dies beim Menschen umgekehrt ist, betrachtet er als Abnormität. Durch die allgemein zunehmende Dominanz des männlichen Geschlechts sind die natürlichen Rechte der Frau unterdrückt worden. Wards Theorie unterstützt die Forderungen der Suffragetten. Gilman vertritt seine Theorien in vielen ihrer späteren Bücher und Artikel. Sie ist der Ansicht, daß Frauen von Natur aus uneigennützig und fürsorgend und somit Männern überlegen sind, die sie als von Natur aus aggressiv betrachtet. Die Frau hat gesellschaftlich wichtige Funktionen und sorgt für eine friedvolle wirtschaftliche Entwicklung, der Mann dagegen bevorzugt wetteifernde, gewaltsame Methoden. Diese Annahme verdeutlicht Gilman besonders in His Religion and Hers:
The whole feminine attitude toward life differs essentially from the masculine, because of (woman's) superior adaptation to the Service of others, her rieh fund of surplus energy for such Service. Her philosophy will so differ, her religion must so differ, and her conduet, based on natural impulses, justified by philosophy and ennobled by religion, will change our social economics at the very roots.[8] (Zit. n. Hill 1980a, 270)
Ihre gynäkozentrische Theorie erläutert Gilman in The Man Made World (1911). Sie sieht deutliche Charakterunterschiede zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht und führt diese auf Erbanlagen zurück: »The basic feminine impulse is to gather, to put together, to construet; the basic masculine impulse is to scatter, to disseminate, to destroy«.[9] Gilman vertritt in The Man Made World die Meinung, daß unsere Kultur androzentrisch geprägt ist: Berufe, Wissenschaft, Kunst, Regierung, Religion, alle menschlichen Errungenschaften seien vom Mann monopolisiert. Sie sieht im Lauf der Geschichte eine Wendung vom Matriarchat zum Patriarchat, in dem sich der Mann die Frau unterwerfe und ihre Tätigkeit auf den Haushalt beschränke. Unter männlicher Dominanz habe sich auch das Gottesbild geändert. Die Abwendung von weiblichen Gottheiten hin zu männlichen sei hier bezeichnend. Gilman plädiert aber nicht für die Rückkehr zum Matriarchat, sondern für die Gleichstellung beider Geschlechter, und dies nicht nur in ökonomischer, sondern auch in religiöser Hinsicht.
Das Hauptwerk
»And woman should stand beside man as the
comrade of his soul, not the servant of
his body«.[10] Women and Economics (1898)
1. Die sozialwissenschaftlichen Schriften
Ihren größten öffentlichen Erfolg erzielt Gilman während der 90er Jahre und des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts. Während dieser Zeit hält sie sich viel auf Vortragsreisen auf. Sie ist aktive Teilnehmerin an Treffen der Suffragettenbewegung in New Orleans, Washington, D.C., Portland, Oregon und anderen Orten. In den Jahren zwischen 1899 und 1910 schreibt sie regelmäßig für Zeitungen und Zeitschriften wie The Saturday Evening Post, Harper's Bazar, The Independent, Appleton's, Scribner's, Success, The Delineator und Woman's Home Companion. Zu dieser Zeit verfaßt sie Abhandlungen wie Concerning Children (1900), The Home (1903), Human Work (1904) und The Man Made World (1910), gelegentliche Erzählungen und Gedichte. In allen Werken, die sie während ihrer Hauptschaffensphase verfaßt, verfolgt sie die vier folgenden Hauptinteressen:
- die wirtschaftliche Emanzipation der Frau durch Qualifizierung und einträgliche Arbeit,
- die »sozialisierte Mutterschaft«, in der sich Fachkräfte um die Kindererziehung bemühen,
- die sozialisierte Haushaltsführung und das küchenlose Heim,
- die gynäkozentrische Theorie der geschlechtlichen Unterschiedlichkeit.
Einen Grundstein für die Frauenrechtsbewegung legt sie mit ihrer Arbeit Women and Economics im Jahr 1898. In diesem Werk kritisiert sie scharf Mutterschaft und Haushalt, wie sie zu jener Zeit in den USA praktiziert werden. Wichtige Voraussetzung für die Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen sei besonders die Gleichstellung der Frau. Sie argumentiert, daß unbezahlte Hausarbeit und die ökonomische Abhängigkeit einen Hauptfaktor für die Unterlegenheit der Frau bilden. Die Gleichberechtigung gegenüber dem Mann könne nur errungen werden durch das Ausschöpfen der weiblichen Fähigkeiten, der körperlichen Kraft, der Selbstdisziplin und der wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Mit Women and Economics macht Gilman konkrete Vorschläge zur Überwindung der »Verhäuslichung« der Frau. Mit ihrem »Boarding House Plan« beabsichtigt sie eine Umstrukturierung des Haushalts. Die bisherige Hausfrauentätigkeit samt Kindererziehung solle Fachkräften überantwortet werden. Eine Sozialisierung der Haushalte und der Erziehung ist ihr Ziel: »We are the only animal species in which the female depends on the male for food, the only animal species in which the sex-relation is also an economic relation.«[11] (Zit. n. Scharnhorst 1985, 51) Gilman vertritt die Ansicht, daß der Frau durch die Mutterschaft eine Arbeit außerhalb des Hauses unmöglich wird. Sie fordert daher Kindergärten, die von Fachkräften geführt werden sollen, damit die Mütter gegen Gehalt außer Haus arbeiten können. Das Kochen soll Großküchen übertragen werden, so daß die Wohnungen allein dem Wohnen und Entspannen, als Refugium der Liebe und Zuneigung dienen sollen, nicht aber als Arbeitsplatz für irgendein Familienmitglied. Durch den Eintritt der Frauen ins Erwerbsleben erhofft sie die Verdrängung der männlichen Arbeitsweise. Optimistisch schreibt sie: »We shall live in a world of men and women humanly related, as well as sexually related, working together as they were meant to do, for the common good of all.«[12] (Zit. n. ebd., 53f.) Mit der Veröffentlichung von Women and Economics verschafft sich Gilman den Ruf der führenden Intellektuellen der amerikanischen Frauenbewegung. Das Buch wird ins Deutsche, Italienische, Niederländische und Ungarische, ins Japanische, Französische und Russische übersetzt. Bis 1911 hat es allein sieben Auflagen in englischer Sprache und wird zehntausendfach verkauft.
Die 90er Jahre sind für Gilman geprägt durch Vortragsreisen und auch wieder Phasen der Depression und Einsamkeit. Im Juni 1900 heiratet sie ihren Cousin Houghton Gilman. Mit ihm und ihrer Tochter Katharine lebt sie anschließend in New York und fühlt sich nach langer Zeit wieder zu Hause. Zu dieser Zeit beginnt ihre produktivste Phase. Sie ist weiterhin auf Vortragsreisen in England, den Niederlanden, in Deutschland, Österreich und Ungarn. Sie ist aktiv in der Suffragettenbewegung, schreibt für verschiedene Zeitschriften und widmet sich weiterhin den Themen Haushalt, Arbeit und Mutterschaft.
In ihrem Essay »What Work Is« — veröffentlicht im Cosmopolitan, 27 (1899), 678-682 — liefert Gilman ihre Definition der menschlichen Arbeit: In der menschlichen Gemeinschaft ist dem Individuum vor allem dann gedient, wenn es selbst seinen Mitmenschen dient. Zum Gemeinwohl wird durch eine zunehmende Spezialisierung und Arbeitsteilung am besten beigetragen. Dieser Essay ist Vorläufer ihres Werkes Human Work, in dem sie ihre Theorie noch ausweitet. Human Work erscheint erst 1904, nachdem Gilman es mehrmaligen Überarbeitungen unterzogen hat. Sie selbst hält es für ihr wichtigstes Werk, auch wenn es wenig rezipiert wird. Der Grund hierfür liegt wahrscheinlich in der Tatsache, daß Human Work weniger analytisch und schlüssig ist als z. B. Women and Economics. Es ist weitgefaßt und oft abschweifend. Gilman versucht, einen Weg vom egozentrischen zum soziozentrischen Denken aufzuzeigen und hält hierfür ein grundsätzliches Umdenken für erforderlich. In Human Work trifft sie die folgenden zentralen Aussagen: Die Probleme der modernen Gesellschaft sind wirtschaftlicher und nicht politischer oder religiöser Natur. Die Wurzel des wirtschaftlichen Übels ist ein zu starker Individualismus, der zu Eigennützigkeit und Konkurrenzkampf und folglich zu Ungleichheiten der Geschlechter führt. Arbeit bedeutet für sie ein wichtiges Element im Leben der Frau. Arbeiten und Sparen sind für sie typisch weibliche Eigenschaften. Die Frau ist Erzeugerin, Hervorbringerin und Ernährerin menschlichen Lebens. Das Leben der Frauen, die sich von ihrem Mann ernähren lassen, betrachtet sie als parasitär, das Leben der »leisure class« als Zeichen sozialer Pathologie, der nur mit einer gelungenen gesellschaftlichen Zusammenarbeit entgegengewirkt werden kann, z. B. durch Vermögensumverteilung, durch Progressivsteuer und durch die Verwirklichung der ökonomischen Gleichheit der Geschlechter. Arbeit betrachtet sie als »an expenditure of energy by Society in the fulfilment of its organic functions. It is performed by highly specialized indivi-duals under press of social energy, and is to them an end in itself, a con-dition of their existence and their highest joy and duty.«[13] (Zit. n. Scharnhorst 1985, 62)
Gilman vertritt die Ansicht, daß die Idealisierung der Mutterschaft die Frauen von ihren gesellschaftlichen Aufgaben abhält. Die Forderung, Kinderbetreuung Fachleuten zu überlassen, bringt ihr Kritik von Seiten der Antifeministinnen ein, die ihr vorwerfen, die Wurzeln der Familie zu zerstören. Nach Auffassung Gilmans sollten die Erzieher weiblichen Geschlechts sein, da sie der Überzeugung ist, daß Kindererziehung zum Zuständigkeitsbereich der Frauen gehöre. In Fällen, in denen sich die Familie keine Erzieherinnen leisten können, sollen sich mehrere Mütter zu Kooperativen zusammenschließen, um abwechselnd für die Kinder zu sorgen. Ihre Vorstellung von der sozialisierten Mutterschaft veröffentlicht Gilman in Concerning Children (1900). Sie greift das Thema auch später in Women and Social Service (1907) wieder auf, indem sie folgert, daß es für ein Kind nicht ausreicht, nur seine eigene Mutter zu haben, sondern daß es auch eine gesellschaftliche »Familie« brauche. Gilman glaubt auch, daß die Geburtenrate dadurch wieder ansteigen und die Frauen bei einem solchen Konzept der Arbeitsteilung nicht mehr vor der Mutterschaft zurückschrecken würden. Sie versucht so, Präsident Roosevelts Befürchtung vor dem Aussterben der amerikanischen Nation zu widerlegen.
Ihr Werk The Home: Its Work and Influence aus dem Jahr 1903 bezeichnet Gilman selbst als die ketzerischste und zugleich amüsanteste ihrer Publikationen. Sie will das Heim nicht etwa abschaffen, ja betrachtet es sogar als den Ursprung alles Guten. Der moderne Haushalt sei aber die Ursache für die Unterdrückung der Frauen. Die Frau vernachlässige dadurch ihre soziale Verantwortung. Die Hausarbeit hindere sie an der Verwirklichung ihrer intellektuellen Entfaltung. Daher solle die private Küche aufgegeben werden. Etwa 200 Hausfrauen sollen durch 30 Küchenchefs ersetzt werden, Wohnblocks und Appartementhäuser sollen sich zusammenschließen und somit ca. 30% der bisherigen Haushaltskosten einsparen. Durch den Eintritt der Frau ins Erwerbsleben sollten sich die Arbeitskraft und das Familieneinkommen fast verdoppeln. Zudem ist Gilman der Überzeugung, daß sich die Ernährung verbessern werde, wenn man auch den Einkauf und die Zubereitung der Nahrung Fachleuten anvertraut. Das küchenlose Heim solle eine zufriedenere Ehe ermöglichen, in der sich die Partner mehr auf das gesellschaftliche Leben und auf die häusliche Entspannung konzentrieren könnten.
2. Das literarische Werk
a) Die Erzählungen
Gilmans erzählerische Schriften erscheinen vornehmlich in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und richten sich als Aufmunterung an Frauen, sich aktiv in der Frauenbewegung zu engagieren. Diese Erzählungen stehen im Gegensatz zu den Konventionen des literarischen Naturalismus. In den Werken zeitgenössischer naturalistischer Autoren wie Dreiser und London spiegeln sich die Lehren des Sozialdarwinismus wider. Ihre Romanfiguren werden zu Opfern ökonomischer Gesetze. Den Überlebenskampf überlebt nur der Stärkere. Gilmans Figuren dagegen lenken ihr Geschick selbst.
In ihren Erzählungen greift sie in erster Linie Frauenproblematiken auf und versucht in fast allen Fällen — außer in der »Gelben Tapete« — Lösungen mit einem glücklichen Ausgang anzubieten. Oft wird mit Traditionen gebrochen; die Frauen müssen dann, um zu einer positiven Lösung ihres Problems zu gelangen, den gesellschaftlichen Konventionen entgegentreten. Themen sind Spannungen zwischen Familie und Beruf, Eheprobleme, wirtschaftliche Unabhängigkeit und die allgemeine gesellschaftliche Benachteiligung der Frau. In vielen Erzählungen unternimmt Gilman eine literarische Verarbeitung ihrer Theorien, in »Dianthas Farm« greift sie so zum Beispiel ihren Vorschlag der Gemeinschaftsküchen noch einmal auf. In den Erzählungen stehen private Probleme exemplarisch für die politische und historische Situation der Frau. Solche Erzählungen, die die wirtschaftliche Unabhängigkeit zum Thema haben, haben oft eine — wenn auch vielleicht nur vorübergehende — Trennung vom Ehemann oder der Familie zur Lösung, nach der die Frau — oft mit Hilfe anderer Frauen — ihre Unabhängigkeit
erlangt. »The Widow's Might« (1911) beispielsweise erzählt die Geschichte einer Frau, die nach dem Tod ihres Mannes ihre Kinder zurückläßt, um ihr weiteres Leben frei zu gestalten und eine Weltreise zu unternehmen. In Mrs. Beazley's Dead trennt sich eine Frau vom Mann und eröffnet von einer Erbschaft eine Pension, die zu ihrer wirtschaftlichen Eigenständigkeit führt.
Gilmans Erzählungen sind größtenteils Parabeln, einige haben auch stark utopischen Charakter, so z.B. Were a Man (1914): Eines morgens erwacht Mollie Mathewson und stellt fest, daß sie in die Gestalt ihres Mannes geschlüpft ist. Sie erlebt den Tag aus der Perspektive des Mannes, sie hat Geld in den Taschen, über das sie frei verfügen kann, erlebt ein Machtgefühl und das Gefühl körperlicher Überlegenheit. In When IWasa Witch (1910) erwirbt die Erzählerin plötzlich die Fähigkeit, ihre Vorstellungen und Wünsche konkret umzusetzen. Sie nutzt diese Fähigkeit, um die soziale Lebensqualität zu verbessern. So werden z. B. keine Tiere mehr gequält, da Tierquäler fortan die zugefügten Schmerzen selbst verspüren. Die Zeitungen beginnen plötzlich, ihre Lügen in anderen Farben zu drucken, um sie so vom Wahrheitsgehalt unterscheidbar zu machen. Die Erzählerin versucht durch ihre neu erworbene Fähigkeit, ihre unmittelbare Umwelt positiv zu beeinflussen, muß aber bei dem Versuch, die Stellung der Frau zu verbessern, kapitulieren, da dies nicht mehr in den Bereich der schwarzen sondern der »weißen Magie« gehört, gegenüber der sie sich machtlos fühlt.
Viele von Gilmans Erzählungen sind autobiographisch gefärbt, besonders die der frühen 90er Jahre. In ihren frühen Erzählungen ist der Widerstand junger Frauen gegenüber der Ehe eines ihrer Hauptthemen. Ihre Heldinnen sind Idealisierungen ihrer eignen Person. Eine weniger ideale Verkörperung ist jedoch die Erzählerin in »Die Gelbe Tapete«. Sie erzählt die Geschichte einer Frau, die den Sommer mit ihrem Ehemann in einem Sommerhaus verbringt, in dem sie sich entspannen soll. Die Frau neigt zu starken Depressionen. Im Sommerhaus wird sie völlig von ihren Pflichten entbunden. Sämtliche Arbeiten, inklusive Lesen, werden ihr untersagt. Die Erzählerin ist so auf sich gestellt, daß sie stundenlang die Tapete des Raumes betrachtet. Sie beginnt, in dieser Tapete zu lesen und entdeckt in ihrer Halluzination eine in der Tapete eingeschlossene Unbekannte. Die zunehmende Identifikation der Erzählerin mit der Tapete versinnbildlicht die allmähliche Auflösung der Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit; das labyrinthische Tapetenmuster ist ein Spiegelbild ihrer eigenen Innenwelt. Sie versucht nun, die Unbekannte (= ihr eigenes Ich), aus der Tapete zu befreien, indem sie fast die gesamte Tapete von der Wand reißt. Dabei verliert sie die Fähigkeit, zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Realität zu unterscheiden. Auch wenn die »Gelbe Tapete« stark autobiographische Züge trägt, sind die Verläufe zwischen Gilmans Zustand und dem ihrer Erzählerin nicht grundsätzlich gleichzusetzen. Dagegen wehrt sich Gilman auch in einem Artikel, der lange nach der Veröffentlichung der Gelben Tapete 1913 im Forerunner abgedruckt wird. Sie betont hier, selbst nie Halluzinationen wie ihre Erzählerin gehabt zu haben, sondern diese zur Ausschmückung der literarischen Wirkung eingearbeitet zu haben.
Anders als Gilman, die ihre Depression aus eigener Kraft überwindet, indem sie sich von Mann und Kind trennt, um sich ihrer Arbeit als Publizistin und Vortragsrednerin zu widmen, verliert ihre fiktive Erzählerin aus der »Gelben Tapete« den Verstand. Von Ärzten und Neurologen wird »Die Gelbe Tapete« zum Zeitpunkt ihres Erscheinens als gelungene Beschreibung des beginnenden Wahnsinns betrachtet. Die Erzählung gilt als eine der ersten Darstellungen von Persönlichkeitsspaltung in der amerikanischen Literatur. Eine Kopie der »Gelben Tapete« sendet Gilman an ihren Arzt Weir Mitchell. Gilman gegenüber reagiert er nicht. Gegenüber einem Freund äußert er später jedoch, seine Behandlung der Neurasthenie nach der Lektüre der »Gelben Tapete« geändert zu haben. Gilman betrachtet dies als großen persönlichen Erfolg.
b) Herland
In ihrem utopischen Roman Herland aus dem Jahr 1915 schildert Gilman ihren Traum einer hochentwickelten Gesellschaft: Der Amerikaner Van Jennings, der Erzähler von Herland, kommt eines Tages als Forschungsreisender mit zwei Freunden in ein bislang unentdecktes Land, das ausschließlich von Frauen bewohnt wird. Die Fortpflanzung erfolgt in diesem Land durch Parthenogenese. Die von Gilman geschaffene Welt ist der androzentrischen Welt weitaus überlegen. Es herrschen Friede, Kinderliebe und weiser Gemeinschaftssinn — dies ist die Verwirklichung Gilmans gynäkozentrischer Idealvorstellung. Herland ist ein Staat, in dem männliche Charaktereigenschaften wie Überlegenheitsgefühl und Aggression eher lächerlich wirken. Es gibt keinen Konkurrenzkampf und keine Hierarchie. Alle Bewohnerinnen verstehen sich als Schwestern.
Mit Herland wendet sich Gilman gegen die gesellschaftlich herrschende Praxis des Sozialdarwinismus. In einem Gespräch wird Van über sein Land und die Ursachen der dort existierenden Armut befragt. Er antwortet, daß ein Naturgesetz einen Überlebenskampf fordere, der von den Stärkeren gewonnen werde, während die Schwächeren untergingen. Im Gegensatz dazu ist Herland eine kooperative Gemeinschaft. Die Kinder werden gemeinsam aufgezogen. Da es keine Kleinfamilien gibt, existieren auch keine Familiennamen. Die Bewohnerinnen praktizieren eine matriarchalische Religion und beten zur Göttin der Mutterliebe. Ihre Spiele kennen keinen Wettstreit, sondern erfordern Geschicklichkeit statt Stärke. Van geht eine Liebesbeziehung mit Ellador, einer Bewohnerin Herlands, ein. Mit ihr verläßt er das Land, um ihr seine Heimat zu zeigen. Dies wird von Gilman in ihrem weniger bekannten Folgeroman With Her in Ourland (1916) genauer dargelegt. Van und Ellador kommen in eine Welt, in der Krieg und Konkurrenzkampf herrschen. Enttäuscht kehren sie daraufhin nach Herland zurück und zeugen einen Sohn, den ersten männlichen Bewohner Herlands seit 2000 Jahren. Das Land ist fortan von männlichen und weiblichen Bewohnern und deren Eigenschaften geprägt. Die Zivilisation, und dies ist Gilmans Kernaussage, besteht fortan aus einer gesamten Menschheit anstatt aus einer männlichen und einer weiblichen Hälfte. Erst so nähert sie sich ihrem Idealzustand.
3. The Forerunner
Jahrelang schreibt Gilman für renommierte Zeitschriften. In ihrer Autobiographie stellt sie fest, daß mit den Jahren die Bedeutung ihrer Arbeiten ständig zunimmt, während ihr Marktwert jedoch im gleichen Maße sinkt. Die Einnahmen aus ihren Publikationen werden zwar geringer, doch weigert sie sich, ihren Herausgebern das Wort zu reden und etwas zu schreiben, was ihr kein Anliegen ist. Als ihre Manuskripte häufiger abgelehnt werden, beschließt sie, ihre Texte selbst zu verlegen — die Geburtsstunde des Forerunner.
In den Jahren zwischen 1909 und 1916 gibt Gilman im Alleingang 68 Ausgaben des Forerunner heraus. Sie ist in Personalunion Herausgeberin, Verlegerin und Autorin fast aller Beiträge. Jede Ausgabe der Zeitschrift umfaßt etwa 28 Seiten und enthält einen Romanauszug, Auszüge aus einem nicht-fiktiven Werk, eine Kurzgeschichte, einen Essay über variierende Themen, Gedichte, Rezensionen und Kommentare. Mit dem Verkaufserlös können die entstehenden Kosten jedoch nur zur Hälfte gedeckt werden. Daher schreibt Gilman zusätzlich noch für andere Magazine und unternimmt weitere Vortragsreisen nach England, Deutschland und Skandinavien. Doch trotz der Finanzknappheit läßt sie sich nicht auf das Geschäft mit gewinnbringenden Anzeigen ein, die sie ideologisch nicht vertreten kann. Der Forerunner hat zu diesem Zeitpunkt ca. 1500 Abonnenten, etwa 100 davon in Europa. Gilman betrachtet das politische Geschehen in Europa mit großer Sorge. Als sich der Erste Weltkrieg in Europa ausweitet und die USA ihre neutrale Haltung aufgeben, schwimmt sie mit der Strömung. Die beiden letzten Bände des Forerunner zeigen ihre zunehmend negative Einstellung gegenüber Deutschland, das sie als den »Frankenstein unter den Nationen« betrachtet. Sie bezeichnet die Deutschen als Kriminelle und Verrückte. Dies verwundert viele ihrer Freunde, die diese Haltung als Widerspruch in ihrem Denken werten. Der Umschwung kommt bei Gilman so plötzlich, daß er viele Leser des Forerunner abschreckt, die der Zeitschrift fortan ihre Unterstützung entziehen, da sie Gilman als reaktionär betrachten. 1916 gibt sie den Forerunner auf, zum einen wegen der immer weiter steigenden Kosten, zum anderen wegen des Gefühls, alles Nötige gesagt zu haben. Ein paar Monate nach dem Erscheinen der letzten Ausgabe des Forerunner treten die USA in den Krieg ein.
4. Die Jahre nach 1920
In den folgenden Jahren publiziert Gilman Essays über die moderne Industriestadt und über Städteplanung. 1922 zieht sie mit ihrem Mann von Manhattan nach Norwich Town, Connecticut. Im folgenden Jahr veröffentlicht sie ihre letzte sozialwissenschaftliche Abhandlung His Religion and Hers. Die Hauptaussage dieses Werkes lautet zusammengefaßt: Auffassungen in religiösen Dingen sind bisher allein vom männlichen Geschlecht vertreten und entwickelt worden. Sie beschäftigen sich mit dem Tod und dem Jenseits, da das männliche Leben durch Jagd und Krieg geprägt ist. Beim weiblichen Geschlecht dagegen ist die Geburt prägend, die weibliche Auffassung zielt mehr auf sozialen Fortschritt. His Religion and Hers findet kaum Verbreitung und ist im wesentlichen Quintessenz ihrer früheren Werke.
»I am sixty-four years old«, schreibt Gilman 1924. »Practically I have done: a shelf of books — some of importance; a mass of magazine stuff — all tending upward; Poems — some excellent, some useful, none deleterious; Lectures — for thirty-four years — thousands I guess... all tending upward. I ought to be at work ten more years.«[14] (Zit. n. Scharnhorst 1985, 113) Und tatsächlich ist dies ihre letzte Lebensdekade. Sie hält von Zeit zu Zeit noch Vorträge, schreibt Essays. Doch ihr früherer Erfolg ist verblaßt. Vielen Zeitgenossen gilt sie nur noch als Anachronismus, dessen Theorien entweder überholt oder inzwischen so weit verbreitet sind, daß sie keiner Erläuterung mehr bedürfen. Gilman schreibt während dieser letzten Lebensjahre an ihrer Autobiographie und an einem Detektivroman. Ein Großteil der in dieser Zeit verfaßten Schriften bleibt unveröffentlicht.
In His Religion and Hers sagt sie: »We should Not say 'life' as a noun but 'living'as an active verb.«[15] (Zit. n. ebd. 114) Daher nennt sie wohl auch ihre Autobiographie The Living of Gilman und nicht »The Life of ...«. Und mit Recht kann sie zu diesem Zeitpunkt auf ein aktiv gestaltetes Leben zurückblicken.
Im Mai 1934 stirbt Houghton Gilman. Sie selbst weiß zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Jahren, daß sie an inoperablem Brustkrebs erkrankt ist. Im Herbst 1934 zieht sie zu ihrer Tochter Katharine und Grace Channing, der Witwe ihres ersten Ehemannes. Als sich Charlottes Zustand verschlechtert, beschließt sie, das Leiden nicht unnötig zu verlängern und ihr Leben zu beenden. Sie selbst hatte erfahren, wie ihre Mutter lange Zeit vergeblich gegen ein Krebsleiden zu kämpfen hatte. Dem will sie vorbeugen. In einem Essay im Forerunner beschrieb sie bereits 23 Jahre zuvor ihre Idealvorstellung vom Freitod, die sie am 17. August 1935 verwirklicht: Sie nimmt ein Bad, macht sich frisch, geht zu Bett und verabreicht sich eine Überdosis Chloroform. Dieser Tod — völlig rational und gut vorbereitet — entspricht ihrer Lebensweise. In einem Abschiedsbrief begründet sie ihren Tod wie folgt:
Human life consists in mutual Service. No grief, pain misfortune or »broken heart« is excuse for cutting off one's life while any power of Service remains. But when all use-fulness is over, when one is assured of unavoidable and imminent death, it is the sim-plest of human rights to choose a quick and easy death in place of a slow and horrible one.[16] (Perkins Gilman 1972, 333)
Von der Vordenkerin zum Anachronismus
The one predominant duty is to find one's work and do
it, and I have striven mightily at that.[17]
The Living of Charlotte Perkins Gilman, 335.
In den Jahren nach ihrem Tod wird dem Werk von Gilman kaum Beachtung geschenkt. Ein Grund hierfür ist die Tatsache, daß ihre letzten Publikationen nur wenig Neues vermitteln und stark auf Wiederholungen ausgerichtet sind. Erst 1956 erscheint ein Aufsatz von Carl Degler im American Quarterly, 8 (21-39), mit dem er Gilmans Lebenswerk neue Würdigung verschafft. Die mangelnde Rezeption ihrer Schriften in der amerikanischen Geistesgeschichte kann er sich nicht erklären, antizipierte Gilman doch schon in ihren Analysen die Aussagen moderner Schriftstellerinnen wie Margaret Mead oder Simone de Beauvoir. Degler betrachtet Gilmans Arbeit als wesentlichen Beitrag für die Erfolge der Frauenbewegung, insbesondere der Lage der erwerbstätigen Frau in den USA während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Gilman verfolgt in ihren Schriften stets ein zweifaches Anliegen: die Auswirkungen der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frau sichtbar zu machen und anschließend in Theorie und Praxis Mittel zu deren Überwindung aufzuzeigen. Dieses Bemühen verläuft bei ihr jedoch nicht ganz ohne Widerspruch. Auf der einen Seite fordert sie die volle Gleichberechtigung und Gleichstellung von Mann und Frau und verurteilt partriarchalische Sitten; in ihrer gynäkozentrischen Theorie dagegen hebt sie beinahe enthusiastisch die geschlechtliche Unterschiedlichkeit hervor, aus der die Frau als friedliebend und fürsorgend, der Mann als aggressiv und kriegerisch hervorgeht. Diese Theorie erweckt leicht den Anschein, als wolle Gilman ihre radikalfeministischen Theorien dem Status Quo opfern, in ihren Schriften forderte sie die Frauen aber dazu auf, sich aus ihrer Rolle zu befreien und sich Selbstachtung zu verschaffen.
Während der 20er Jahre zieht sie in ihrer Autobiographie ein Resümee der Erfolge der vergangenen Jahrzehnte: das Frauenwahlrecht ist durchgesetzt, die Arbeitszeiten sind verkürzt, die Löhne erhöht worden. Als größten Erfolg wertet sie die Fortschritte in der Erziehung, besonders bei Kindern im Vorschulalter. Die Lage der berufstätigen Frau hat sich dagegen nicht wesentlich geändert; die Doppelbelastung durch parallele Erwerbs- und Familienarbeit besteht weiterhin.
Deglers Erinnerung an Gilman hat ein neues Interesse an ihren Schriften zur Folge. Gilman wird während der 60er und 70er Jahre wiederentdeckt, fast alle ihre Hauptwerke erfahren eine Neuauflage, geraten dann aber wieder in Vergessenheit.
Trotz einiger Widersprüche, Wiederholungen und Unschlüssigkeiten hat Gilman der Frauenbewegung zumindest wichtige Impulse gegeben. Mit ihren theoretischen Analysen und deren Umsetzung, ihren Erzählungen und autobiographischen Notizen liefert sie historisches Material für das Verständnis der Ursprünge und des Verlaufs der feministischen Theorie und Praxis zu Beginn unseres Jahrhunderts.
Armut und Konservatismus — Herausforderungen für die Frauenbewegung*
- * Teile diesses Beitrags erscheinen in »Blätter für deutsche und internationale Politik. Bonn (voraussichtlich Herbst 1990
Seit dem Ende der Bürgerbewegung und der organisierten Opposition gegen den Vietnamkrieg hat sich die Frauenbewegung zu einer der fortschrittlichsten und am besten organisierten sozialen Bewegungen in den USA entwickelt. Sie ist eine wesentliche und nicht zu unterschätzende politische Kraft, insbesondere angesichts der relativ schwachen Linken und Arbeiterbewegung. Für viele Sozialistinnen in anderen Ländern gelten manche ihrer Errungenschaften als vorbildlich. Dennoch, im Unterschied zu den europäischen Ländern hat die US-amerikanische Frauenbewegung weder eine ausgeprägte sozialistische Tradition noch nennenswerte sozialistisch-feministische Organisationsformen aufzuweisen. Einzelne Sozialistinnen sind in feministischen oder Feministinnen vor allem in sozialistisch orientierten Organisationen aktiv. Großen theoretischen Einfluß auf das politische Denken der organisierten Feministinnen haben vor allem sozialistisch orientierte Wissenschaftlerinnen, obgleich es unter ihnen weder in der Theorie noch in der Praxis einen Konsens gibt.
Die politische Tradition der Frauenbewegung in den USA geht auf liberale Forderungen zurück, die im Kampf um die Sklavenbefreiung im 19. Jahrhundert formuliert wurden. Ihr politischer Gehalt ist von den Prinzipien des klassischen ökonomischen Liberalismus, auf dessen Tradition sich die heutige neokonservative Wirtschaftspolitik stützt, zu unterscheiden. Darin wird das Prinzip der individuellen und freien Konkurrenz zur Gewährleistung einer funktionierenden Marktwirtschaft formuliert. Im Unterschied zum politischen Regulativ, wird zugunsten des ökonomischen Regulativs möglichst minimale Einmischung des Staates in soziale und wirtschaftliche Entwicklungen einer kapitalistischen Gesellschaft gefordert.
Die liberalen Forderungen der Frauenbewegung verstehen sich in der Tradition des politischen Liberalismus, der Rechte einklagte, die für die Garantie einer bürgerlichen Demokratie notwendig sind. Die Feministinnen gehen davon aus, daß zu den Essentials der Demokratie Grundrechte wie das Wahl- und Vertragsrecht, das Recht auf Eigentum, auf einen fairen Prozeß und juristische Mündigkeit, aber auch das Scheidungs-, das Verhütungs-, das Abtreibungsrecht und eine Erwerbstätigkeit ohne sexistische oder rassistische Diskriminierung gehören. Es wird von einem aktiven Einsatz des Staats zum Schutz dieser Rechte ausgegangen. Zwar schließt der ökonomische Liberalismus die Verwirklichung dieser demokratischen Grundrechte theoretisch nicht aus, doch zeigt sich, daß das konsequente Festhalten an seinen Prinzipien zur Konzentration kapitalistischen Privateigentums im Besitz einer so kleinen Minderheit von Menschen geführt hat, daß heute die ökonomischen Voraussetzungen für eine Demokratie in diesem Land ernsthaft in Frage gestellt werden müssen. Dadurch stehen die liberalen Forderungen der Feministinnen in den USA in einem anderen politischen Problemzusammenhang als z.B. in der Bundesrepublik.
An den jüngsten frauenfeindlichen Entwicklungen in den USA, wie der Feminisierung der Armut, der Kampagne gegen das Abtreibungsrecht, der Streichung von Sozialleistungen für alleinerziehende Mütter und der antifeministischen Kampagne der »Neuen Rechten« lassen sich die wachsenden Widersprüchlichkeiten zwischen dem Kampf um liberale Forderungen der Feministinnen und der Verwirklichung traditioneller Prinzipien des ökonomischen Liberalismus aufzeigen. Der Einfluß der Frauenbewegung auf die Gesellschaft geht weit über ihre einzelnen Errungenschaften hinaus.
Obwohl eine Vielzahl der US-Amerikanerinnen heute wie in der Vergangenheit den Traum eines Mittelklasse-Lebensstandards nicht verwirklichen konnten, existiert der nahezu unerschütterliche Glaube, daß er durch harte Arbeit und genügend Ausdauer letzten Endes doch von jedem und jeder erreicht werden kann. Im Mittelpunkt dieses Mythos stehen die tradierten Wertvorstellungen einer patriarchalischen Familie, in der der Vater allein verdient und die Mutter das Haus und die Kinder versorgt —jene Werte, die die »Neue Rechte« stützen und die der Wirklichkeit der zunehmenden Lohnarbeit der Frauen und alleinerziehenden Mütter am direktesten widersprechen. Weil Frauen am härtesten von diesen Illusionen betroffen sind, sind sie die energischsten Kämpferinnen, um diese zu entlarven und die Härte der US-amerikanischen Wirklichkeit aufzuzeigen. So umfaßt der feministische Standpunkt der Frauenbewegung die radikalste Kritik am Erbe der Reagan-Regierung und den konservativen Interessen, die sie gestützt und Präsident Bush an die Macht gebracht haben. Aber gerade deswegen stoßen sie auf harten Widerstand.
Die historischen Wurzeln der feministischen Frauenbewegung
Wenn von der Frauenbewegung die Rede ist, muß sogleich ergänzt werden, daß es auch antifeministische Frauen in den USA gibt, die sich den »Neuen Rechten« angeschlossen haben und seit Reagans Wahlsieg die frauenfeindliche Politik der Neokonservativen aktiv unterstützen. Diese beiden politischen Richtungen haben unterschiedliche historische Wurzeln und Traditionen in den USA: Die politische Tradition der feministischen Bewegung liegt im Emanzipationskampf der afrikanischen Sklaven in der Mitte des 19. Jahrhunderts; die konservativen Frauen knüpfen an die Prohibition und den Kampf der Suffragetten um das Wahlrecht Anfang des 20. Jahrhunderts an.
In den meisten Geschichtsbüchern wurde die Beteiligung weißer Frauen an dem Befreiungskampf der schwarzen Sklaven in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts übergangen. Zum Ende des Bürgerkriegs galten nach dem Gesetz Frauen als Eigentum ihrer Männer. Erst nach der Durchführung der »Property Acts« durften Frauen selbst Eigentum besitzen, einen Vertrag unterzeichnen, legales Fürsorgerecht für ihre Kinder in Anspruch nehmen, und sie waren nicht mehr verpflichtet, ihren Lohn an den Ehemann zu geben.
Obwohl die Lage der Sklavinnen kaum mit der der weißen Frau zu vergleichen war, lag die Analogie nahe, daß weiße Frauen, wie die Sklaven, Eigentum des Mannes waren, was in der Gründung von hundert »female anti-slavery societies« seinen Ausdruck fand. Heute, nach mehr als 150 Jahren, haben die weißen mit den Afro-Amerikanerinnen immer noch die ökonomische Diskriminierung gemeinsam. In seinem Klassiker »An American Dilemma« hat Gunnar Myrdal (1949) geschrieben, daß die Parallele zwischen Frauen und Schwarzen die tiefste Wahrheit des American Life sei, weil sie zusammen die unbezahlte oder unterbezahlte Arbeitskraft bilden, auf der das Land Amerika beruhe. Trotz der gemeinsamen historischen Wurzeln des Rassismus und der sexuellen Diskriminierung beginnen erst in der heutigen Frauenbewegung schwarze und weiße Frauen, für ihre Rechte gemeinsam zu kämpfen.
Aus der Eigenart ihrer Unterdrückung in der weißen Gesellschaft haben die Afro-Amerikanerinnen eine eigene Organisationsform entwickelt, die in ihrer afrikanischen Herkunft wurzelt (vgl. Terborg-Penn 1985). Die Amerikanerinnen, die als Sklavinnen aus Afrika in die Neue Welt gebracht wurden, haben eine Tradition von Selbstorganisierung mit einer gegenseitigen Unterstützung von Frauen in fast allen Lebensbereichen mitgebracht. Im krassen Unterschied zu der traditionellen Rolle der Frau in der weißen Gesellschaft, in der Frauenarbeit als minderwertig verpönt ist, spielt auch heute noch die Frauenarbeit in vielen Teilen Afrikas eine wesentliche Rolle in der Ökonomie und Organisation der Gemeinschaft (community). Nicht nur wird dort die Arbeit der Frauen gleich oder höher als die der Männer bewertet, sondern Afrikanerinnen haben auch einen erheblichen Einfluß auf das politische und kulturelle Geschehen.
Und weil die schwarzen Frauen selbst aus den weißen Frauen gewerk-schaften ausgeschlossen wurden, bildeten sie Selbsthilfe-Organisationen in der Industrie. Entsprechend dieser Erfahrungen mit weißen Gewerkschaften lehnen es viele Frauen bis heute ab, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs steigt die Zahl schwarzer Arbeiterinnen im öffentlichen Dienst und im Büro. Die ökonomische Angleichung führte vor allem zu einer politischen Annäherung weißer und schwarzer Frauen in der neuen feministischen Bewegung. Es ist auch dem gestiegenen politischen Selbstbewußtsein der Afro-Amerika-nerinnen zuzuschreiben, daß schon 1980 24% der schwarzen, aber nur 15% der weißen Frauen gewerkschaftlich organisiert waren.
Gerade die Frauenbewegung zeigt ein Bewußtsein, sich über Klassen-und Rassen-Schranken hinweg zu organisieren. Nach einer Umfrage der New York Times von 1989 beantworteten die Frage, ob eine starke Frauenbewegung in der Zukunft für sie von Bedeutung wäre, 64% der weißen und 85% der schwarzen Frauen positiv. Dennoch ist die Frauenbewegung noch keineswegs integrativ genug. Die schwarze und lesbische Poetin Audre Lourde (1986) fordert, ehe wir gelernt haben, die Feindschaft untereinander gegen den gemeinsamen Feind nach außen zu richten, müßten wir Frauen lernen, daß Unterschiede nicht länger eine Barriere oder Grenze sind, sondern etwas, was wir schöpferisch nutzen können. Wenn wir unsere Verschiedenheit sehen und anerkennen würden, wäre es vielleicht schwieriger, aber dann könnten wir wirklich zwischen uns eine Brücke bauen.
Die Antifeministinnen
So sehr es für viele unverständlich erscheint, daß es eine »antifeministische Frauenbewegung« in den USA geben soll, die außerdem einen Teil der »Neuen Rechten« bildet, haben auch diese Frauen eine langjährige Tradition in den USA, nämlich in den »Women's Temperance Unions«. Diese Frauenorganisationen agierten gegen den Verfall der Moral ihrer Ehemänner un&leiteten die Prohibition ein. Ihre Mitglieder waren hauptsächlich Hausfrauen, die nach einer Analyse von Barbara Epstein (1981) weniger gegen Alkoholmißbrauch kämpften, als eher den Alkohol als Symbol gebrauchten, um ihrer unsicheren Position in Ehe und Familie Ausdruck zu geben, ohne die Männer direkt angreifen zu müssen. Im Unterschied zu heute standen die Forderungen der »Temperance Frauen«, die Familie und ihre traditionelle Geschlechterrolle zu schützen, mindestens im Einklang mit denen der damaligen feministischen Bewegung, die sich mit ähnlichen Argumenten für das Wahlrecht einsetzte. Im Kampf um das Wahlrecht ging es nicht um eine Gleichberechtigung mit dem Mann, sondern um die Absicherung der Position der Frau in Ehe und Familie.
Die Parallele zu den heutigen weiblichen Mitgliedern der »Neuen Rechten« liegt auf der Hand — z.B. »League of Housewives« (Liga der Hausfrauen) oder »Happiness of Womanhood« (Freude am Frausein). Auch sie kämpfen mit moralischen Argumenten gegen Abtreibung, gegen den Sexualkundeunterricht in der Schule. Sie meinen, daß ein starkes Militär in erster Linie dem Schutz der Frauen diene, daß der Abbau der traditionellen Geschlechterrollen die USA zugunsten des Kommunismus schwächen würde. Im Unterschied zu damals wird jedoch nicht der Alkohol für den moralischen Zerfall Amerikas verantwortlich gemacht, sondern die Feministinnen. Barbara Ehrenreich (1983) bringt die Problematik auf den Punkt, wenn sie zeigt, daß die »Neuen Rechten« direkt an die Klasseninteressen der Frauen aus der Mittelschicht appellieren, insofern sie sich an eine Schicht wenden, deren Zugehörigkeit durch einen Ehevertrag mit einem Mann dieser Schicht garantiert wird.
Geschlechterkonflikte in der Wohlstandsfamilie
Für das historische Verständnis der Frauenbewegung ist die langanhaltende Tradition der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung von entscheidender Bedeutung. Vorangetrieben von der Gewerkschaftsführung und im Einverständnis mit der Industrie wurden seit der Frühindustrialisierung die Schwarzen und die Frauen von der besser bezahlten Industriearbeit ausgeschlossen, mit dem Resultat, daß von der Jahrhundertwende bis 1946 nur 20% bis 25% der Frauen im arbeitsfähigen Alter erwerbstätig waren, nach dem Zweiten Weltkrieg 30%, in den 70er Jahren über 40%. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, daß es für die meisten Frauen damals keine Alternative zu Ehe und Familie gab. Auf der Grundlage dieser Tradition wurden die erfolgreichsten Argumente gegen höhere Bildung und Entlohnung der Frau vorgebracht. Die Frauen verdienen seit 1939 nur 64% der männlichen Einkommen.
Besonders stark wurde diese Tradition in der langen Phase des Wohlstands nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA gepflegt, bis Betty Friedan (1963) mit ihrem Bestseller »The Feminine Mystique« (»Der Weiblichkeitswahn«) die tiefe Frustration der ökonomisch gesicherten und »übergebildeten« middle-class-Frauen mit ihrer einseitigen Rolle in Ehe und Familie zum Ausdruck brachte. Zur gleichen Zeit begann sich eine breite Bewegung für die Gleichberechtigung der Frau zu konstituieren.
In der Wohlstandsgesellschaft hatten nicht nur die Frauen Interesse am Abbau der traditionellen Geschlechterrollen, sondern auch ihre Ehemänner. Wie Barbara Ehrenreich (1983) dokumentiert hat, befand sich bis Ende der 60er Jahre die Hauptverdienerrolle des middle-class-Mannes und das begleitende antikommunistische Machtverhalten deutlich im Rückgang. Im Vordergrund stand die ideologische Prägung des »Kalten Kriegers«; solange es Kommunisten gab, mußte es auch harte, patriotische Männer geben, die Frau und Kind vor der »roten Gefahr« schützen. Ehrenreich vermutet, daß auch die Popularität John Waynes auf Jahrzehnte durch McCarthys antikommunistische Kampagnen gesichert wurde. Mit dem Vietnam-Krieg änderte sich das maskuline Image des US-Mannes drastisch. Mit My-Lai und vielen ähnlichen Fällen wurde den Amerikanern im Wohnzimmer am Bildschirm vorgeführt, wie kräftige Marines Krieg gegen zierliche Frauen und hagere Kinder führten. Das konventionelle Feindbild des »bösen Kommunisten« wich dem Entsetzen über das Handeln der eigenen Soldaten. Jenseits des Vietnamkriegs ebnete die Revolte gegen die Langeweile des Konformismus, die Sexualmoral und die gesundheitsschädliche Rigidität des middle-class-Lebens den Weg für die Entstehung der Hippie-Kultur und deren »Vereinnahmung« durch die Konsumgesellschaft. Das Leben ohne eheliche Verpflichtungen erschien zunehmend attraktiver.
Diese Entwicklungen — das veränderte männliche Selbstverständnis, die Zerstörung des maskulinen Images und die Unzufriedenheit der Frauen mit ihrer Nur-Hausfrauen- und Mutter-Rolle, die geschlechtsspezifische Benachteiligung der zunehmenden Zahl der erwerbstätigen Frauen — führten zu neuen Konflikten zwischen den Geschlechtern in allen gesellschaftlichen Schichten. Zwischen 1960 und 1970 verdoppelte sich die Scheidungsrate, zehn Jahre später verdreifachte sie sich sogar. Die historischen Veränderungen fanden 1970 ihren politischen Ausdruck im Entstehen der Frauenbewegung.
Erste Etappe der Frauenbewegung und ihre Organisationsformen
Zum 50. Jahrestag des »Equal Rights Amendment« fand 1970 unter dem Motto »Strike for Equality« die bisher größte Frauendemonstration in der Geschichte der Nation statt, die den Anfang der neuen feministischen Bewegung als Massenbewegung markiert. Angeführt von einer damals relativ kleinen (mit heute über 100.000 Mitgliedern) liberalen Organisation, der »National Organization for Women« (NOW), wurden Frauen im ganzen Land aufgerufen, den Streik zu unterstützen. Sollte es für sie nicht möglich sein, auf die Straße zu gehen, wurden sie gebeten, in anderer Form ihre Solidarität auszudrücken — sei es in der Ablehnung, das häusliche Geschirr abzuwaschen oder eine Stunde lang die Büroarbeit zu verweigern.
Der Erfolg war enorm, durch diese Taktik fühlten sich Millionen von Frauen von der Bewegung direkt angesprochen. Außerdem brachte der Streik zum ersten Mal fast alle — z.T. auch die sehr zerstrittenen — feministischen Gruppierungen zu einer gemeinsamen Aktion zusammen. Es wurde damals in vielen Städten der USA demonstriert. In New York City gingen allein 100.000 Frauen auf die Straße. Besonders wichtig für die Bewegung war auch die erstmalige ausführliche und frauenfreundliche Berichterstattung durch die Medien. Eine Umfrage zeigte nach dem Streik, daß — in seiner Folge — 80% aller erwachsenen US-Amerikanerinnen zum ersten Mal von der Existenz einer Frauenbewegung in den USA gehört hatten.
Obwohl die damalige Frauenbewegung sich aus verschiedenen Gruppen zusammensetzte, ging ihre Entstehung hauptsächlich auf zwei Gruppierungen zurück, die älteren und die jüngeren Feministinnen. Beide stammten überwiegend aus der Mittelschicht. Die älteren Frauen stellten den Zugang zur Regierung und zu den etablierten Frauenorganisationen mit Massenbasis her; sie waren auch in der Entwicklung einer Lobby erfahrener. Außer NOW, entstanden andere größere »women's rights«-Organisationen, wie »Women's Equity Action League« (WEAL) 1969 und der »National Women's Political Caucus« (NWPC) 1971. Aber auch die traditionellen und älteren Organisationen, wie die »League of Women's Voters« (LWV), »American Association of University Women« (AAUW), »Business and Professional Women« (BPW) und die »General Federation of Women's Club« (GFWC) schlössen sich der Frauenbewegung an.
Die jungen Frauen kamen vor allem aus den Reihen der aktiven und radikalen Opposition gegen den Vietnamkrieg und der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Trotz aller Unterschiede hatten sie die Unzufriedenheit mit dem tradierten Rollenverhalten mit den älteren Feministinnen gemein. Aus den Erfahrungen mit den chauvinistischen Führungsmethoden der radikalen linken Männer brachten sie einen radikal antiautoritären Klang in die Bewegung und wichtige Kenntnisse, wie man Menschen auf der kommunalen und »grass-roots«-Ebene effektiv organisiert. Sehr nützlich war auch ihr Zugang zur Untergrundpresse und zu akademischen Forschungsinstituten.
An den Universitäten, Gemeinden und Arbeitsplätzen, wo vor allem die Neue Linke aktiv war, entstanden tausende von Selbsterfahrungsgruppen (consciousness-raising groups). Sie wurden nach dem Brauch der chinesischen Kulturrevolution des »Aussprechens der Bitterkeit« modelliert, der eine Art Bildungsprozeß als Umorientierung von tradierten auf neue Werte bewirken sollte. Bewußte und unbewußte Erfahrungen der Unterdrückung wurden ausgetauscht und daraufhin überprüft, ob sie eine gemeinsame Verwendung zur Verbesserung der Lage der Frau hätten.
Besonders an den Universitäten standen theoretische Analysen des Patriarchats und »das Persönliche als das Politische« im Mittelpunkt der Diskussionen. Aufbauend auf der Erkenntnis dieser Gruppen, daß durch die lange Unterdrückung Frauen die Welt anders als die Männer erleben, wurden zunehmend die traditionellen Formen des Denkens als patriarchalisch kritisiert und Programme zu deren Erforschung von einem feministischen Standpunkt gefordert. Bald wurden Zentren für feministische Forschung (Women's Studies) in der Soziologie, Literatur, Philosophie und anderen Humanwissenschaften errichtet. Daraus entwickelten sich drei verschiedene theoretische Grundrichtungen der Forschung, die auch heute maßgebend sind: der radikale, der sozialistische und der marxistische Feminismus mit verschiedenen Untergruppierungen, wie die Lesben und Anarchistinnen. Rassismus wurde zwar diskutiert, aber nicht voll integriert. Bald formulierten schwarze Feministinnen ihre eigene Position über die Bedeutung des Zusammenhangs von Sexismus und Rassismus für die theoretischen feministischen Analysen.
Entsprechend den Potentialen dieser Hauptgruppen stellten die neuen Feministinnen ein ausgezeichnet funktionierendes Kommunikationsnetz her, vermutlich eine der wichtigsten Bedingungen ihrer Erfolge. Die Organisation funktioniert in differenzierter Weise horizontal und vertikal. Horizontal organisiert sind größere und kleinere Gruppen, die sich auf die Bereiche Bildung, Arbeitsleben, Religion und öffentliche Medien konzentrieren. Vertikal gruppieren sich dagegen Organisationen, die auf der »grass-roots«-Ebene, auf der Ebene der Bundesstaaten oder auf einer regionalen Ebene arbeiten. Verschiedene Massenorganisationen sind lokal und auf Bundesebene organisiert.
Die Art und Weise, wie sich der Feminismus in den verschiedensten Lebensbereichen verbreitete, geschah weniger durch wachsenden Zulauf zu den größeren und etablierteren Organisationen, als vielmehr durch die Formierung neuer Gruppierungen. Schwarze, weiße ältere Frauen, Gewerkschafterinnen, Büroangestellte, lesbische Frauen usw. hatten alle neue Organisationen geschaffen, die die Implikationen des Feminismus auf ihren spezifischen Lebensbereich und ihre besonderen Erfahrungen bezogen. Es gibt heute tausende solcher Organisationen mit regelmäßig erscheinenden Publikationen. Anfang der 80er Jahre betrug die Gesamtzähl der organisierten Mitglieder etwa drei Millionen, dazu kommen ca. sieben Millionen in Gewerkschaften organisierte Frauen.
Initiativen der Gewerkschafterinnen
Mit der zunehmenden Feminisierung der Arbeiterschaft wächst die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Frauen. 1985 betrug die Zahl der weiblichen Mitglieder in Gewerkschaften und Arbeiterassoziationen ca. 41% (1975: 25%). Dieser Zuwachs ist um so aussagekräftiger, als die Gesamtzahl der Gewerkschaftsmitglieder seit dem Zweiten Weltkrieg auf ca. 20% zusammengeschrumpft ist.
Obwohl die Arbeiterbewegung von einzelnen militanten Gewerkschafterinnen, Sozialistinnen und Kommunistinnen geprägt ist, die die Frauen mit Erfolg zu organisieren vermochten, gingen ihre frühen Kämpfe selten um frauenspezifische Fragen. Für Männer wie Frauen in den Gewerkschaften war die Frauenfrage dem Klassenkampf untergeordnet. Es ist charakteristisch für Gewerkschafterinnen, daß sie eine direkte Identifizierung mit dem Feminismus der bürgerlichen Karriere-Frauen und dem Individualismus der Frauenbewegung ablehnen.
Von den verschiedenen feministisch geprägten organisatorischen Initiativen der Arbeiterinnen seit den 70er Jahren erzielten die »Coalition of Labor Union Women« (CLUW) und die »9 to 5«-Gewerkschaft die größten Erfolge. Während die CLUW sich zum Ziel setzte, Zugang zu den Führungspositionen und einen höheren Status innerhalb der bestehenden Gewerkschaftsstruktur zu erringen, lehnte »9 to 5« die tradierten Strukturen ab und optierte für die Gewinnung ihrer Mitglieder durch die Entwicklung neuer Organisationsformen.
Anfang der 70er Jahre bauten junge Feministinnen in der Neuen Linken vor allem unter den damals zumeist unorganisierten weiblichen Büroangestellten und Frauen im öffentlichen Dienst verschiedene autonome Organisationen auf. Aus diesen Gruppen war »9 to 5« in Boston als erfolgreichste entstanden und bildet heute eine nationale Organisation in verschiedenen Teilen der USA. Ein Ziel der »9 to 5« besteht in der bewußten Abgrenzung gegen die Politik des »Aufsteigens« der CLUW-Frauen und darin, den Büroangestellten Recht und Anerkennung zu verschaffen. Man geht von dem Bestehen unterschiedlicher kultureller Erfahrungen zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen aus und von geschlechtsspezifischen Problemen und Bedürfnissen und setzt auf eine grundsätzlich frauenorientierte Gewerkschaftspolitik. Der Einfluß der feministischen Bewegung ist nicht nur in ihrer Zielsetzung, sondern auch in ihrer Organisationsstrategie, die sich oft auf dem Modell der Selbsterfahrung gründet, deutlich erkennbar.
Die organisatorischen Initiativen der Frauen beschränken sich keineswegs auf die größeren Frauenorganisationen. Charakteristisch für die Art der politischen Organisierung in den USA sind die unzähligen »grass-roots«-Initiativen; sie entstehen meist unabhängig von den etablierten Organisationen auf lokaler und kommunaler Ebene durch die Organisierung spontaner Streiks, von Bürgerinitiativen, Selbsthilfe-Organisationen, z.B. gegen Männergewalt, aber auch zur Betreuung der Kinder von erwerbstätigen Müttern, Beratungsstellen für Frauen, die unter verschiedenen Formen von Diskriminierung zu leiden haben.
Eine der Stärken der Frauenbewegung liegt darin, daß das Informationsnetz der größeren und etablierten Organisationen allen interessierten Frauen zur Verfügung steht und damit auf die Entstehung von kleineren Fraueninitiativen förderlich wirkt. Adressen und Telefonnummern werden im Netzwerk nicht nur durch ihre vielen Publikationen zugänglich gemacht, sondern auch durch die populären nationalen feministischen Zeitschriften Mother Jones und Ms verbreitet.
Die frühen Erfolge der Frauenbewegung
Anfang der 70er Jahre haben die Feministinnen vor allem durch Gerichts- und Kongreßbeschlüsse erreicht, daß die Diskriminierung der Frau in vielen Lebensbereichen gesetzlich verboten wurde. Allein im Jahre 1972 hat der Kongreß für die Gleichberechtigung der Frau mehr bewirkt als in den ganzen zehn Kongreßversammlungen zuvor. 1972 ergänzte das Gesetz für gleiche Beschäftigungschancen (Equal Employ-ment Act) das Antidiskriminierungsgesetz des Art. VII der Bürgerrechtsgesetzgebung (Civil Rights) von 1964. Dem ging 1971 die Revidierung der »Executive Order« Nr. 11375 voraus mit einem Zusatz für die Durchführung von »Affirmative Actions«. Darunter werden Maßnahmen verstanden, die zu einer Verbesserung der Chancen bis hin zur Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt für Frauen und Angehörige bisher benachteiligter Minderheiten führen sollen. Von den »Education Amendments«, die 1972 rechtskräftig wurden, sollte »Title IX« zur Aufhebung der geschlechtsspezifischen Diskriminierung im Bildungswesen beitragen. Aufgrund der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (Supreme Court) im Fall »Roe vs. Wade« wurde 1973 das Recht auf Abtreibung in der Verfassung aufgenommen. Im Jahre 1974 unterschrieb der Präsident ein Gesetz, das »Equal Credit Opportunity Act«, das Diskriminierungen bei der Vergabe von Krediten aufgrund des Geschlechts verbot, und durch ein weiteres Gesetz, das »Women Education Equity Act«, wurden Geldmittel für die Erforschung und Durchsetzung gleicher Bildungschancen für Frauen von der Regierung zur Verfügung gestellt. Das private Forschungsinstitut »Institute For Women's Policy Research« wurde 1974 gegründet.
So frappierend diese Erfolge auch waren, waren sie doch als Ergebnis einer verspäteten Angleichung an die historische Realität vor allem der lohnarbeitenden Frauen zu sehen. Bis heute haben 60% der erwerbstätigen Frauen immer noch keinen Anspruch auf Mutterschaftsurlaub, der inzwischen in 117 Ländern der Welt anerkannt ist. Das »Jahrzehnt der Emanzipation« hat es einigen jungen, gut ausgebildeten und ehrgeizigen Frauen ermöglicht, Zugang zu traditionellen Männerbereichen zu bekommen. 1972 z.B. waren 10,1% der Ärzte, 1,9% der Zahnärzte und 4% der Rechtsanwälte Frauen; heute liegt der Frauenanteil bei 17,6% der Ärzte, 4,48% der Zahnärzte und 18% der Rechtsanwälte.
Von Bedeutung für die ganze Gesellschaft aber war die erfolgreiche Beseitigung des traditionellen Ideals der im Durchschnitt 2,3 Kinder erziehenden, Kombi fahrenden, mit technisch raffinierten Haushaltsgeräten ausgestatteten braven Mutter und Hausfrau.
Der Kampf um das »Equal Rights Amendment«
Besonders wichtig war nach 49 Jahren Kampf, daß endlich 1972 das »Equal Rights Amendment« (ERA) mit überwältigender Mehrheit vom Kongreß bewilligt und den einzelnen Staaten zur Ratifizierung übergeben wurde. Die Frauen waren durch ihre ersten Erfolge ermutigt, ihre Forderungen zu erweitern.
Das gleiche Recht der Frauen ist in der Verfassung der USA (noch) nicht verankert, was bedeutet, daß Frauen gegen eine Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts nicht klagen können. Die Verfassung garantiert das gleiche Recht für Menschen verschiedener ethnischer Gruppen, Religionen, politischer Überzeugungen, sie garantiert Vereinigungsfreiheit, nicht jedoch das gleiche Recht der Geschlechter. Die einzige verfassungsmäßige Garantie gleichen Bürgerrechts für Frauen bezieht sich auf den 5. und 14. Zusatzbeschluß der Verfassung — Amendments genannt —, die den Frauen als Bürgerinnen das gleiche Recht in einem Gerichtsverfahren und den Schutz durch Gesetze einräumt; diese Amendments schließen jedoch den Schutz vor Diskriminierung nicht ein. Durch eine verfassungsmäßige Verankerung der Gleichberechtigung der Geschlechter könnten mit dem ERA alle Praktiken, Frauen aufgrund ihres Geschlechts zu diskriminieren, für verfassungswidrig erklärt werden. Im Jahre 1982 wurde eine Untersuchung veröffentlicht, die belegt, daß Frauen durch über 800 Bundesgesetze diskriminiert werden. Hierzu zählen Gesetze aus dem Bereich des Erbrechts, des Eigentumsrechts, der Altersversorgung und des Lohns.
Man rechnet damit, daß mit einem ERA gegen diese Gesetze geklagt werden könnte. Doch löste die liberale Forderung von »Equal Rights« eine bis heute noch nicht geklärte Kontroverse über die Bedeutung von Gleichberechtigung für Frauen unter den Feministinnen aus. Man befürchtet, daß ein ERA auch die Militärdienstpflicht für Frauen bringen könnte bzw. Richtern Argumente an die Hand gibt, gegen einen bezahlten Schwangerschaftsurlaub zu entscheiden. Gerade dieses Argument nützen die Antifeministinnen zur Bekämpfung des ERA.
Die Voraussetzungen für eine Ratifizierung sahen zunächst recht günstig aus; obwohl hierfür eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich war, kam das ERA mühelos im Kongreß durch. Bis 1980 gab es das ERA in der Wahl-Plattform beider Parteien; jeder Präsident, von Truman bis Carter, hatte es unterstützt — bis es die Republikaner 1979 vor der Wahl aus ihrer Plattform strichen. Umfragen zeigten immer wieder, daß die Mehrheit hinter dem ERA stand. Bis zum Ende der Kampagne hatten sich 450 Organisationen, einschließlich aller kirchlichen, öffentlich für die Ratifizierung ausgesprochen, so daß die Chancen, die Ratifizierung vor dem letzten Termin 1979 zu erreichen, sehr gut standen. Doch es kam anders.
Es entstand ein überraschender, harter Widerstand gegen das ERA. Seit der McCarthy-Ära gab es vermutlich noch keine derartige Mobilisierung der Rechten. 1979, im Jahr vor Reagans Wahl, schlössen sich die vier größten Rechtsorganisationen den fundamentalistischen Pfarrern an, die ihnen durch die »Elektronische Kirche« und die Kontrolle sämtlicher Fernseh- und Radio-Stationen Zugang zu großen Teilen der Bevölkerung verschafften. Im Mittelpunkt sämtlicher moralischer und religiöser Argumente gegen das ERA — und damit für eine patriarchalische Gesellschaft — stand ausdrücklich die Befürchtung, daß die Erwerbsquote insbesondere der verheirateten Frauen stark ansteigen könnte, was die traditionelle Familie — und hier vor allem die Autorität des Ehemanns und Vaters — zerstören würde. So leitete die Kampagne gegen das ERA die reaktionäre »Pro-Familien-Bewegung« ein, die von dem gleichen Argument ausgehend z.T. mit Erfolg versuchte, sämtliche Errungenschaften der Feministinnen in den 80er Jahren systematisch rückgängig zu machen. Der Zusammenschluß der Rechtskonservativen und die Kampagne gegen das ERA brachten mit enormer politischer Entschlossenheit 1980 Ronald Reagan und 1988 George Bush an die Macht — jene Männer, die den Zielen und Errungenschaften der Feministinnen am feindlichsten gegenüberstanden. Weder die Beweggründe der Frauenbewegung in den 80er Jahren noch die Entstehung der »Neuen Rechten« und ihr Reiz für große Teile der Bevölkerung unter Reagan und Bush können adäquat erklärt werden, ohne die wirtschaftlichen Veränderungen seit Mitte der 70er Jahre in den USA zu erörtern.
Die Benachteiligung der Frauen in der Wirtschaft
Der Versuch der Geschlechter, die Lasten der tradierten Geschlechterrollen abzuschütteln, ist um so bedeutender, als er mit einem deutlichen Rückgang der wirtschaftlichen Prosperität zusammentraf, die vor allem Frauen ökonomisch benachteiligte. Diese Entwicklung hängt eng zusammen mit grundlegenden Verschiebungen in der Wirtschaftsstruktur. Wall Street Journal und Business Week, Sprachrohre der Konzerne, dokumentieren für die Zeit von 1960 bis 1978 zahlreiche Fusionen von Firmen, durch die deren Profite um das 50fache stiegen. Der Hauptteil der Gewinne wurde jedoch nicht durch Investitionen in produktivitätsintensiven Industrien erzielt, sondern in charakteristisch kurzfristigen finanziellen Transaktionen und Grundbesitzankäufen. Die Tendenz der Konzerne, auf die Investitionen zur Steigerung der Produktivität in der eigenen Wirtschaft zugunsten einer Profitmaximierung durch spekulative Fusionen und Auslandsinvestitionen zu verzichten, wird seit den 60er Jahren von den verschiedenen Regierungen unterstützt. Keine hat jedoch diesen Prozeß auf Kosten eines sinkenden Lebensstandards der arbeitenden Bevölkerung so beschleunigt, wie die Regierung Reagans. In Reagans Amtszeit ging die Produktivitätsrate auf die Hälfte des Durchschnittswerts der Jahre 1947 bis 1973 zurück, das durchschnittliche Realeinkommen liegt heute unter dem von 1973.
Genügte in den Jahren der Hochkonjunktur (1967, 1973, 1979) ein jährlicher Mindestlohn, eine dreiköpfige Familie gerade oberhalb der offiziellen Armutsgrenze zu halten, unterschreitet heute ein Mindestlohn-Einkommen die Armutsgrenze um mehr als 26% und liegt selbst unter der Armutsgrenze für einen Zwei-Personen-Haushalt. Obwohl schon in der zweiten Hälfte der 70er Jahre das Schrumpfen der Mittelklasse und die Zunahme von extremer Armut und Reichtum erkennbar war, verstärkten sich diese Tendenzen unter Reagan.
Mit der sinkenden wirtschaftlichen Produktivität und stagnierenden Realeinkommen traf der größte Anstieg der Frauenerwerbsquote in der Geschichte der USA zusammen. In den Jahren zwischen 1970 und 1980 nahm die Zahl der weiblichen Erwerbstätigen um 13 Millionen zu. Seit 1980 arbeiten 47 Millionen Frauen gegen Entgelt (47% der Erwerbstätigen) . Anders als in den Jahren zuvor waren davon 1984 67% im gebärfähigen Alter, 75% geschieden, ca. 52% verheiratet. Innerhalb eines Jahrzehnts machte der Einstieg der Frauen in die Lohnarbeit mehr als die Hälfte aller Neueinstellungen in den Hauptindustriezweigen aus, obwohl die Frauen nur die Hälfte der Gesamtbelegschaft stellten. Dieser Zuwachs entstand zusammen mit der drastischen Abnahme der Konsumgüterproduktion zugunsten des heute dominierenden Dienstleistungssektors.
Charakteristisch für die Produktion im Dienstleistungsbereich sind eine niedrige Produktivität, ein hoher Ausbeutungsgrad und besonders diskriminierende Einstellungspraktiken. Obwohl z.B. eine der größten Supermarktketten (Safeway), in denen oft rund um die Uhr gearbeitet wird, genausoviele Menschen beschäftigt wie die US-Steel, erwirtschaften sie 17% mehr Gewinn pro Arbeiterin als der Stahlkonzern. Angesichts des hohen Ausbeutungsgrads der Frauenarbeit verwundert es nicht, daß zwei von drei in Armut lebenden Menschen heute Frauen sind und daß die Armutsrate bei Frauen um 50% höher liegt als bei Männern.
Die Feminisierung der Armut
Armut in den USA ist nicht nur Produkt der neokonservativen Wirtschaftspolitik der Reagan-Regierung. Schon die Bekanntgabe von 33,4 Millionen in Armut lebender Menschen veranlaßte die Kennedy- und die Johnson-Regierung, mit einem neuen Programm von Sozialleistungen einen bedingungslosen »Krieg gegen die Armut« zu führen. War seit den 60er Jahren aufgrund einer steigenden Produktivität und durch die Schaffung von gezielten Sozialprogrammen bis 1973 eine relative Reduzierung der Armut um 3% noch möglich, so besteht für ihre kurzfristige Reduzierung heute wegen der anhaltenden Tendenz stagnierender Produktivität und gleichzeitiger Kürzungen von sozialen Leistungen kaum Aussicht.
Der auffälligste Unterschied zur Armut der 60er Jahre liegt heute jedoch in der wachsenden Verarmung der Haushalte mit weiblichen Haushaltsvorständen und ihre Zunahme. Mehr als die Hälfte dieser Haushalte — 14 Millionen alleinerziehende Mütter und ihre Kinder — leben heute unter der Armutsgrenze und viele an der Grenze zur Armut. Seit 1960 hat sich ihre Zahl mehr als verdoppelt. Eine Untersuchung des Institute For Women's Policy Research hat 1989 unter der wachsenden Zahl der Obdachlosen (ca. vier Millionen) eine alarmierende Zunahme von alleinerziehenden Müttern mit ihren Kindern festgestellt. Allein im kalten Winterjahr 1986/87 hatten in den Obdachlosenheimen 25% mehr Unterkunft gesucht als im Jahr zuvor.
Für die politische Perspektive der Frauenbewegung ist von Bedeutung, daß in den 80er Jahren die geschlechtsspezifische Diskriminierung stärker als der Rassismus zum Ausdruck kam. Ob ein Mensch in den USA heute in Armut lebt, hängt immer mehr davon ab, welchem Geschlecht und welcher Haushaltsform er angehört. Obwohl in den 70er Jahren die Haushalte von alleinerziehenden schwarzen und Latino-Müttern doppelt so schnell zunahmen wie die von weißen, kehrte sich der Trend in Reagans Amtszeit um. Von der Gesamtzahl aller Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand, die unter der Armutsgrenze leben, nahm die der weißen um 58,5% in dieser Zeit zu. Die Erkenntnis, daß über die ethnischen Unterschiede hinaus Frauen die ökonomische Unterdrückung gemeinsam haben, könnte zu einer effektiveren Durchsetzung ihrer politischen Interessen in der Frauenbewegung führen.
Untersuchungen haben gezeigt, daß die ökonomische Last, die Kinder mit sich bringen, zu der Feminisierung der Armut erheblich beiträgt. Bei geschiedenen Müttern, von denen 90% das Sorgerecht erhalten, nimmt nach der Scheidung das Familieneinkommen um 50% ab. Zur ökonomischen Belastung trägt nicht nur die Kürzung von Sozialleistungen bei, sondern auch die ständig abnehmenden Unterhaltszahlungen der geschiedenen Väter. Obwohl die geschiedenen Mütter am bedürftigsten sind, stellt sich immer wieder heraus, daß in den Gerichtsurteilen über Unterhaltsfragen die meist männlichen Richter zum Nachteil der Frauen entscheiden.
Auch die Struktur des Systems sozialer Sicherung trägt zur Perpetuie-rung der Armut alleinerziehender Mütter und ihrer Kinder bei. Seit 1970 ist der Realwert der Sozialleistungen um 30% gesunken. Der ohnehin geringe Anteil der Sozialleistungen wurde noch einmal im Laufe der 80er Jahre von der Reagan-Regierung um ca. 55% gekürzt. 59% der Kürzungen trafen direkt alleinerziehende Mütter und ihre Kinder. Von den armen Familien, die 1980 soziale Leistungen für ihre Kinder bezogen, wurden 1983 über 20% aus der Bezugsberechtigung gestrichen. Millionen von Kindern wurde das warme Mittagessen in der Schule entzogen. In den ärmeren Gebieten der USA haben Kongreßuntersuchungen verschiedene nahrungsbedingte Mangelerscheinungen bei Kindern festgestellt, die sonst nur in der Dritten Welt auftreten.
Infolge der Zerstörung der tradierten Alleinverdiener-Rolle der Männer durch die Einbeziehung der Frauen ins Erwerbsleben wurde dem Staat die Möglichkeit einer sozialen Kontrolle der Privatsphäre der arbeitenden Bevölkerung entzogen. Die Tatsache, daß die Kürzungen die Autonomie der Frauen, die für sich und ihre Kinder eine Lebensexistenz außerhalb der traditionellen Familienform aufzubauen versuchen, erheblich einschränken, weist, trotz ihrer Widersprüchlichkeit, auf die sexualpolitische Absicht des Staates hin, die fehlende Autorität des Mannes in der Familie durch die direkte Kontrolle des Staates zu ersetzen. Sofern die neokonservative Regierung das Interesse der »Neuen Rechten« an der Aufrechterhaltung der traditionellen Familienform unterstützt, widerspricht sie u.a. ihrer eigenen Wirtschaftspolitik, die auf die Ausbeutung der billigen Arbeitskraft der Frauen angewiesen ist.
Die Frauenbewegung in den 80er Jahren
Stärker als die Probleme mit dem ERA oder der Pornographie stellt neben der Abtreibungsfrage die Feminisierung der Armut die größte Herausforderung für die Frauenbewegung dar. Obwohl mindestens 14 nationale Organisationen schon lange gegen die ökonomische Diskriminierung der Frauen kämpfen, hat die Feminisierung der Armut und die zunehmende soziale Unsicherheit der Frauen in den 80er Jahren die Organisationsarbeit auf der Ebene der »grass-roots«-Bewegungen stark aktiviert.
Ein Beispiel ist Kaliforniens 1984 gegründete »Wömen's Economic Agenda« (WEAP), die sich vorgenommen hat, Wählerinnen auf der kommunalen und bundesstaatlichen Ebene über die Auswirkungen der Verschlechterung der Wirtschaft auf die Lage aller Frauen aufzuklären. Sie hat angefangen mit einer kleinen Gruppe von Frauen, die sich 1982 in der Gegend von San Francisco Bay für die Mobilisierung von Stimmen für politisch »frauenfreundliche« Kandidaten in den Wahlen in Kalifornien einsetzte. Nach den Wahlen schlössen sich der »East Bay Women's Coalition« fünfzig andere Frauenorganisationen an und organisierten zusammen mehrere Frauenausschüsse, um über Klassen-, Rassen- und Frauenfragen zu diskutieren. Ein Frauenausschuß bestand z.B. aus einer alleinerziehenden Mutter, einer Vizepräsidentin einer Gewerkschaft, einer geschiedenen arbeitslosen vormals »Nur-Haus-frau« (displaced homemaker), einer bürgerlichen Hausfrau und einer »an der Armutsgrenze« erwerbstätigen Mutter. Sie verschafften sich Einlaß in einer Gewerkschaftssitzung von »Women's Caucus« und diskutierten mit den Gewerkschafterinnen über die Auswirkung der Feminisierung der Armut auf alle Frauen. Gleichzeitig machten sie in diesem Zusammenhang auf das enorme politische Potential der weiblichen Wählerschaft aufmerksam. Ein Jahr lang arbeitete die Koalition auf dieser Ebene, schrieb Artikel, sammelte wichtige politische Erfahrungen und lernte allmählich, durch welche Streitfragen und ökonomischen Sorgen Frauen aus allen Schichten und ethnischen Gruppen zusammenzubringen sind. Ihr Erfolg war enorm. Noch als »East Bay Coalition« waren sie an der Entstehung und Implementierung der ersten nationalen Hearings in San Francisco über die Feminisierung der Armut beteiligt. In diesen Hearings durften zum erstenmal betroffene Frauen konkret über die Auswirkungen der Armut in der Öffentlichkeit berichten. Es war auch sicher WEAP's Verdienst, daß bei der Präsidentschaftswahl 1984 in Kalifornien 10% weniger Frauen für Reagan stimmten als auf der nationalen Ebene.
Nach dem Modell von WEAP sind ähnliche Aktionsprogramme (Agendas) in vielen anderen Bundesstaaten und Großstädten entstanden, in denen auch viele sozialistische Feministinnen arbeiten. Andere Organisationen setzen sich ein durch die Bildung von Lobbies, aber auch durch die Entwicklung von Programmen für die Ausbildung und Umschulung von arbeitslosen und ungelernten Arbeiterinnen. Mit diesem Konzept leitet allein das nationale »Women's Workforce Network« (WÖW) bundesweit die Arbeit von 250 Untergruppen. Weitere Organisationen setzen sich für die ökonomische Gerechtigkeit für Frauen ein. Sie helfen bei der Gründung von kleinen und mittelständischen Frauenunternehmen, z.B. eines Lastwagen-Handels im Bundesstaat Connecticut oder einer schwarzen Frauenbuchhandlung in New York. Die nationale »Co-ventures for Women's Enterprises« (HUB) arbeitet vor allem mit armen Frauen und weiblichen Angehörigen von Minderheiten. Sie unterstützen die Gründung von Selbsthilfe- und anderen kleineren Projekten, die häufig auf dem Land entstehen. Z.B. lernen Frauen, Kräuter zur Herstellung verschiedener Produkte zu verarbeiten und zu vermarkten.
Aufbauend auf dem alten Netzwerk sind bundesweit Frauenorganisationen, Koalitionen und Entwicklungsprojekte für die Bekämpfung jeglicher Art ökonomischer Diskriminierung von Frauen entstanden, die Feministinnen vorsichtig als »The Women's Economic Justice«-Bewegung bezeichnen.
Die Arbeit der Aktivistinnen wird durch die Frauenforschung an 437 Universitäten und einigen privaten Forschungsinstituten theoretisch ergänzt. Über 80 verschiedene Universitäten bieten einen »Bachelor of Arts-« oder »Sciences«-Abschluß im Hauptfach Feminist- oder Women's Studies an, 20 einen Abschluß mit Magister und/oder Promotion. Obwohl sie auch aus einer Art »grass-roots«-Bewegung an den Universitäten Anfang der 70er Jahre entstanden ist, hat sich die Frauenforschung vor allem in den Sozial- und Human-Wissenschaften konstituiert. Manche feministischen Forscherinnen beklagen eine gewisse Etablierung auf Kosten der Kreativität und Innovation, die die Frauenforschung in ihren frühen Jahren auszeichnete.
Wenn auch ohne theoretischen Konsens ist die Bezogenheit auf praxisnahe Frauenprobleme vor allem für die sozialistisch-feministisch orientierten Sozialwissenschaften charakteristisch. Es besteht auch auf diesem Gebiet ein dichtes Informationsnetz mit Verbindung zu den Frauenorganisationen und einigen Regierungskommissionen.
Die Entwicklung der »Comparable Worth«-Theorie ist ein gutes Beispiel einer solchen wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Angesichts der Ghettoisierung von Frauenarbeit in den niedrigsten Lohngruppen und der enormen Ungleichheit in der Entlohnung von Männern und Frauen in den gleichen Berufsgruppen, wurde, zur Schaffung eines Ausgleichs der Entlohnung von Frauen, eine Neubewertung von Frauentätigkeiten vorgenommen. Da Frauenarbeit nicht nach dem gleichen Marktwert wie Männerarbeit bewertet wird, fordert diese Theorie die Erstellung anderer Maßstäbe für ihre Bewertung, wie Geschick, Einsatzbereitschaft, Grad der Verantwortung, Arbeitsbedingungen usw. Unter Berufung auf das »Comparable Worth«-Prinzip haben z.B. Krankenschwestern (ein typischer Frauenberuf) in Kalifornien die Aufwertung ihrer Lohngruppe gemessen an den besser bezahlten Holzfällern in ihrem Staat gefordert. Der größte Erfolg der »Comparable Worth«-Be-wegung war 1983 das Gerichtsurteil eines Richters im Staat Washington, der wegen des Befunds einer Lohndiskriminierung von Frauen im öffentlichen Dienst eine Ausgleichszahlung von einer Billiarde Dollar forderte. Darüber hinaus forderte er die Regierung des Bundesstaats Washington auf, einen Plan für die Aufwertung der Frauenlöhne um 31% zu erstellen. Seit Mitte der 80er Jahre wächst die Zahl der Fälle, bei denen »Comparable Worth« angewandt wird. Bereits 36 Bundesstaaten haben legislative Maßnahmen aufgrund dieses Prinzips durchgesetzt. Die Demokratische Partei nahm sie dreimal in ihr Wahlprogramm auf und die gewichtige Gewerkschaft AFL-CIO hat ihr Priorität eingeräumt.
Die Pro-Familien-Kampagne der Rechten
Gerade weil die Feminisierung der Armut so eng mit der Wirtschaftspolitik der Neokonservativen verknüpft ist, bedeuten die politischen Ambitionen der »Neuen Rechten« eine noch viel größere Herausforderung für die heutige Frauenbewegung als ihr Kampf um das ERA. Denn die Lösung der »Neuen Rechten« für die Armut der Frauen und Kinder lautet »zurück in die Ehe« und die patriarchalische Rollenverteilung der 50er Jahre.
Die Zuspitzung der Pro-Familien-Kampagne der »Neuen Rechten« gegen die Feministinnen belegt nicht nur die Richtigkeit der frühen Einschätzungen der Frauenbewegung hinsichtlich des politischen Status der Familie, sie basiert auch auf einer wirklichen Krise der traditionellen Familienform in den USA. Nur noch ca. 10% aller Haushalte entsprechen dem normativen Modell der Durchschnittsfamilie mit zwei oder mehr Kindern und dem alleinverdienenden Ehemann. In Zeiten der ökonomischen Verunsicherung mag die Erinnerung an das alte Familienideal noch einen Reiz haben. Trotzdem werden sich die Rechten damit abfinden müssen, daß die Einbeziehung der Frauen in die Erwerbstätigkeit und die zunehmende Unabhängigkeit, die sie mit sich bringt, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. In zwei Dritteln aller Ehen sind beide Ehepartner erwerbstätig. Fast acht Millionen Mütter leben mit ihren Kindern allein und stellen die am deutlichsten zunehmende Lebensform in den USA dar. 20,6 Millionen Menschen ziehen ein Leben ohne Partnerin vor, und eine wachsende Zahl von Haushalten besteht aus jungen unverheirateten Paaren.
Es ist verständlich, daß die verschiedenen ökonomischen und sozialen Veränderungen von vielen Menschen als Familienkrise erlebt werden, die sich häufig in Gewaltanwendung gegen Frauen und Kinder ausdrückt, in der persönlichen Betroffenheit und Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren oder auch in der Trennung vom Ehepartner/der Ehepartnerin und von den Kindern. Die Familienideologie der »Neuen Rechten« kann daher an weitverbreitete Sehnsüchte appellieren, solche Verluste zu überwinden oder ihnen vorzubeugen. So spricht die »Neue Rechte« nicht nur die Klassen-Interessen einer Minderheit an, ihre Familienideologie stimmt auch mit den Ansichten vieler, auch jüngerer Menschen aus sozial verunsicherten und ökonomisch benachteiligten Schichten der USA überein. 40% der US-Amerikanerinnen (ein Zuwachs von 50 bis 55 Millionen Menschen in 20 Jahren) bekennen sich zu den »New Born-Christians« und 20% zu den radikaleren Evangelisten.
Seit dem Zusammenschluß der »Neuen Rechten« mit den fundamentalistischen religiösen Vertretern verfugt die Bewegung bundesweit über mehrere tausend Radiostationen und Fernseh-Shows, die ihre Positionen zu Streitfragen, wie das ERA, zu Abtreibung, Homosexualität, Zwangsgebet in den Schulen, Sozialausgaben der Bundesstaaten usw. verbreiten. Auch finanziell sind sie den Frauenorganisationen überlegen. Obwohl die meisten der evangelistischen Anhängerinnen zur unteren Mittelschicht zählen, gehören diese traditionell zu einer Bevölkerungsgruppe, die gern und großzügig spendet. Daß unter diesen Spendern einige in der Lage sind, fünfstellige Summen zu geben, bezeugen die beliebtesten evangelistischen Gemeinden.
Mit solchen Fonds und dem zielbewußten Gebrauch der Medien für den politischen Aktivismus bei einer zunehmenden Anzahl von Analphabetinnen (60 Millionen können keine Zeitung lesen) sind die Einflußmöglichkeiten der »Neuen Rechten« ziemlich groß und drängen die Feministinnen in die Defensive. Auch auf die Regierung üben die Rechten einen erheblichen Druck aus. Vom Beginn seiner Amtszeit an hat Reagan ihre Forderungen nach Abschaffung der legalen Abtreibung, der Sexualaufklärung in den Schulen und in der Öffentlichkeit sowie die Einführung eines Zwangsgebets in den Schulen und verschiedenen diskriminierenden Gesetzesvorlagen gegen die Homosexuellen voll unterstützt. Die gleichen Forderungen hatte Bush in seine Wahlplattform übernommen. Reagans Ernennung von 743 Bundesrichtern (fast die Hälfte aller Stellen), die der Pro-Familien-Ideologie anhängen, sichert die konservative Rechtsprechung auf Jahrzehnte.
Schon immer hat die Rechte in den USA sich für die Aufrechterhaltung von US-amerikanischen Traditionen eingesetzt. Das wirklich »Neue« daran ist, daß heute nicht die Kommunisten für ihre Zerstörung beschuldigt werden, sondern die Feministinnen. Paul Weyerich, bekanntester Theoretiker der »Neuen Rechten«, trifft den Punkt genau: »Eines der Hauptziele der Kommunisten ist die Zerstörung der traditionellen Familie. ... Dann gibt es Menschen, die eine neue politische Ordnung herbeiführen wollen, die nicht unbedingt Marxisten sind. Symbolisiert durch die Frauenemanzipationsbewegung glauben sie, daß die Zukunft ihrer politischen Macht in der Umstrukturierung der tradierten Familie und besonders in der Herabsetzung des Mannes oder der Vaterrolle in der Familie liegt.« (Zit. n. Petschesky 1984, 245)
»Unser Vietnam der 90er Jahre«
Mit diesem Spruch kündigte eine Anhängerin der »Pro-Choice-Bewe-gung« die Mobilisierungsstrategie der Frauenbewegung als Antwort auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs an, mit der das Abtreibungsrecht der Frauen seit dem 3. Juli 1989 anfechtbar geworden ist. Der Vergleich mit der Opposition gegen den Vietnamkrieg ist gerechtfertigt. Seit der Supreme Court-Entscheidung demonstrierten bundesweit hunderttausende von Menschen (allein im November 300.000 Menschen in Washington DC) beiderlei Geschlechts, alt und jung, für das Recht der Frauen auf Abtreibung. Da der gleiche Gerichtshof auch schon die »Affirmative Actions« und andere Gesetze gegen Rassismus einzuschränken versucht hatte, furchten viele, daß auch die Entscheidung über das Abtreibungsrecht den Weg für Angriffe auf die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung ebnen könnte.
Obwohl die Abtreibungsfrage so viele verschiedene Menschen zum Protest zusammengebracht hat, waren die Positionen der Feministinnen von Anfang an uneinheitlich. Das liberale Argument der Feministinnen für Abtreibung basiert auf der Überzeugung, daß es das private Recht der Frau ist, die Kontrolle über den eigenen Körper zu behalten (repro-ductive freedom). Dazu bekennen sich nicht nur die radikalen und sozialistischen Feministinnen, sondern eine Reihe von Menschen, die auf andere feministische Forderungen recht konservativ reagieren mögen. In den eigenen Reihen haben z.B. Betty Friedan (1984) und Sylvia Hewlett (1986), beide aktive Vertreterinnen der Pro-Choice-Bewegung, die radikalen Feministinnen für die Niederlage der Frauenbewegung in den Verfassungskämpfen verantwortlich gemacht. Damit ist gemeint, daß die Frauenbewegung die individualistische und berufliche Emanzipation auf Kosten des Familienlebens vorangestellt hätte.
Die Kehrtwendung von Friedan wird auch von einigen, wie Zillah Eisenstein sie zu nennen pflegt, »revisionistischen« sozialistischen Feministinnen, wie Jean Elshtain (1982), geteilt. Andere sozialistisch orientierte Frauen (u.a. Rosalind Petschesky 1984) sehen in der Pro-Choice-Position eine Überbetonung des Individualistischen und mangelnde Berücksichtigung der sozialen und ökonomischen Bedingungen, die mit der Abtreibungsfrage zusammenhängen.
Obwohl noch sechs Wochen nach der Gerichtsentscheidung die Pro-Choice-Koalition wegen NOW's Antrag für die Gründung einer eigenen politischen Frauenpartei total zerstritten war, einigten sich die Frauen über den »Empower American Plan« für eine Mobilisierung der Stimmen für Pro-Choice-Kandidatlnnen in den bevorstehenden Bürgermeister- und Gouverneurs-Wahlen. Das Ergebnis ihrer Bemühungen war die absolute Niederlage der meist republikanischen »Pro-Family«-Kandidatinnen (Gegner des Abtreibungsrechts). Daß sogar in dem traditionell rassistischen ehemaligen Sklavenhalterstaat Virginia schließlich der schwarze Demokrat Doug Wilder trotz seiner Hautfarbe mit den Stimmen zahlreicher traditionell republikanischer Wählerinnen zum Gouverneur gewählt wurde, hat Geschichte gemacht und wird als Sieg der Abtreibungsbefürworterlnnen gesehen.
Dennoch war es den Rechten in der Reagan-Ära gelungen, mit ihrer Anti-Abtreibungskampagne die Feministinnen in die Defensive zu drängen; eine Position, die trotz aller jüngsten Erfolge der Frauen unter Bush nicht einfach umzukehren sein wird. Zwar reicht die Kampagne gegen die Abtreibung bis zum Amtsantritt Reagans zurück, aber vor allem in den ersten Jahren seines Amts, als er sich noch auf die Mehrheit seiner Partei stützen konnte, haben die Ultrarechten im legislativen Bereich verschiedene Maßnahmen gegen die Abtreibung durchsetzen können. Darüber hinaus haben die Rechten unter den Reagan-Bush-Regierungen mit ihrer hartnäckigen Kampagne gegen die Abtreibung versucht, alle Errungenschaften und Veränderungen, die von den Bewegungen der 60er Jahre ausgegangen sind, rückgängig zu machen. Mehr und mehr entpuppen sich die Angriffe gegen die legalisierte Abtreibung als Vorhut einer allgemeinen Kampagne der sozialen Disziplinierung und als Versuch, eine moralische Kontrolle der ökonomisch unterprivilegierten Schichten in den USA zu erzwingen.
Die feministische Opposition und die Pro-Choice-Gruppen haben jedoch nicht allein wegen der legislativen Veränderungen einen schweren Stand. Durch Feuerbomben-Anschläge gegen Abtreibungskliniken, Demonstrationen und Störaktionen, die mit Bildern von blutigen Embryos Frauen von dem Weg in die Klinik abhalten sollen, mußten bundesweit viele Kliniken schließen. Diese Praktiken gerichtlich anzuklagen ist außerordentlich problematisch, da Gerichtsentscheidungen sich negativ auf den Kampf der Frauen um das Recht auf Abtreibung auswirken könnten. Der weiter vorn erwähnte Testfall, ein Gesetz in Idaho (März 1990), das die Abtreibung in diesem Bundesstaat für illegal erklärt hat, könnte, falls es vor den Supreme Court gebracht wird, die »Roe vs. Wade«-Entscheidung, die 1973 die Abtreibung legalisierte, rückgängig machen.
Unabhängig von der Unterstützung, die die Feministinnen von den liberaleren Kongreß-Mitgliedern bekommen mögen, läßt der konservative Trend in den Gerichten befürchten, daß sie auf längere Zeit in der Defensive bleiben werden. Von den neun Richtern des Supreme Court scheiden in nächster Zeit vier Richter aus (darunter die drei liberalsten). Damit fällt der Regierung die Ernennung von vier neuen Stellen zu. Ihre Besetzung mit konservativen Richtern würde für eine konservative Ära des Obersten Gerichtshofs bis ins 21. Jahrhundert hinein sorgen. Auch wenn heute Abtreibung noch legal ist, ist unter der Reagan- und der Bush-Regierung ihre gesellschaftliche Legitimität ins Schwanken gekommen, der Zugang erschwert und sind feministische Werte, die ihre Legalisierung gestützt haben, in Frage gestellt worden.
Krise und Herausforderung
Die Kampagne zur Wiederherstellung der tradierten patriarchalischen Werte schafft mehr als nur Vorurteile gegen die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen. Sie stellt die Existenzbedingungen von Millionen von Frauen (und Kindern) in Frage. Wenn auch das Interesse der »Neuen Rechten« an der Aufrechterhaltung der traditionellen Familienform in erster Linie ideologischer und nicht wirtschaftlicher Natur ist, bietet dennoch die konservative Familienideologie dem Staat die Möglichkeit der Legitimierung der Unterbewertung der Frauenlohnarbeit und, in Zeiten steigender Ausbeutung, der direkten sozialen Kontrolle und Disziplinierung der Ausgebeuteten, wobei das Familienbild der Mittelschicht zur Motivierung des sozialen Aufstiegs des Mannes und zur Erhöhung seiner Arbeitsproduktivität paßt. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß diese Familienideologie im Widerspruch steht zur eigenen konservativen Wirtschaftspolitik, die zu ihrer Profitsteigerung auf die Vermarktung der Frauenarbeit angewiesen ist.
Die Attacken gegen die feministischen Forderungen nach Gleichberechtigung und gegen den Wohlfahrtsstaat zugunsten der Rehabilitierung der patriarchalischen Familienstruktur bieten dem neokonservativen Staat eine willkommene Unterstützung für das in den USA längst überholte Prinzip der gleichen Chancen für den sozialen Aufstieg in einer Gesellschaft, in der sich die Einkommensunterschiede ständig vergrößern. In Zeiten wachsender Ausbeutung, so zeigen die feministischen Forderungen, kann eine patriarchal-kapitalistische Gesellschaft ihr liberales Versprechen der Gleichberechtigung nicht verwirklichen, ohne sich selbst zu destabilisieren.
Erfahrungen einer Ausländerin in den USA
1987, Ankunft in New Jersey, 60 Kilometer von New York entfernt. Der Zusammenhänge in der Frauenredaktion beraubt und dem Druck des Dissertationsschreibens entkommen, mache ich mich nach einer Weile auf, um mich der US-amerikanischen Frauenbewegung anzuschließen. Glücklicherweise gibt es in New York einen Frauenbuchladen mit Schwarzem Brett für Mitteilungen und Ankündigungen. Allerdings suchen nur Literaturlesegruppen neue Frauen, und ich interessiere mich nicht so sehr für die schöne Literatur. In der lokalen feministischen Monatszeitschrift lese ich Haßtiraden über und gegen sozialistische Feministinnen neben informativen aktuellen Berichten über Aktionen von puertorikanischen, schwarzen und Latina-Frauen. Der Monatskalender kündigt Veranstaltungen zu Sadomasochismus an, Wanderungen und Motorradfahrten, Treffen von Architektinnen und Programmiererinnen. Nichts reizt mich so, daß ich dafür in die Stadt fahren würde. Als das Abo nach einem Jahr ausläuft, erneuere ich es nicht. Inzwischen mußte der Buchladen schließen. Es gibt verschiedene Gerüchte, warum: Herrschaftsansprüche der Besitzerin, Mißwirtschaft, steigende Miete in einer zunehmend verbürgerlichten Gegend New Yorks. Ein neuer Frauenbuchladen, der ein Jahr später aufmacht, hat kein Schwarzes Brett.
In den »Gay Yellow Pages« fand ich die Adresse der Gay Activists Alliance Morris County, die sich jeden Montag hier im Ort trifft. Jede Woche kommen ca. 100 Menschen zusammen, davon 20 bis 30 Frauen. Seit einer Weile gibt es eine Stunde vor dem gemischten Treffen eine Women's rap group. Themen sind: Gleichberechtigung lesbischer Frauen, Coming out in der Familie, Integration der Geliebten in die Familie, Sexualpraktiken, Ehe für Lesben usw. Fast ausnahmslos sind die Versammelten weiße Mittelschichtfrauen, denen es weniger um Feminismus und Veränderung der Gesellschaft geht als um die Erlaubnis, sich gleichberechtigt in sie integrieren zu dürfen. Zu meinen Schwierigkeiten, in die Gruppe hineinzuwachsen kam noch hinzu, daß bis auf einen Stamm von Teilnehmerinnen die Anwesenheit stark fluktuierte. So mußte ich jeden Montag erneut erzählen, wer ich bin, was ich mache usw. Wir drehten uns im Kreis. Es wurde langweilig, gab keine Basis und daher keine Entwicklung. In den gemischten Veranstaltungen gab es sexistische Bevormundungen von seiten der Männer, die unwidersprochen blieben. Wir hörten Vorträge über die Geschichte der Schwulen- und Lesbenbewegung, über Hauskauf, die psychologische Notwendigkeit, Wut rauszulassen usw. Inzwischen gehe ich nur noch zu explizit politischen Veranstaltungen und zu Demos. Es hatten sich Freundschaften aus der Frauengruppe ergeben, aber auch diese stagnierten und starben allmählich ab.
Als die frauenfeindliche Entscheidung des Surpreme Court zur Legalität bzw. Einschränkung von Abtreibungen anstand, organisierte die nationale Frauenorganisation NOW (National Organization for Women) eine nationale Demo und Kundgebung in Washington. Die Demo war ein großer Erfolg, es kamen mindestens eine halbe Million Menschen, allen voran prominente Schauspielerinnen und Politikerinnen. Von Morris County fuhren vier Busse, zwei von Planned Parenthood organisiert (vergleichbar mit Pro Familia), einer von einer Kirche und nur einer von der lokalen NOW-Gruppe. Öffentlich aufgerufen und mobilisiert hatte nur Planned Parenthood. NOW Morris County schwieg. Später organisierte NOW New Jersey eine ähnliche Kundgebung auf Staatsebene in New Jersey, wo wir für das Recht auf Abtreibung demonstrierten. Die Veranstalterinnen hatten sich Mühe gegeben, Frauen aus verschiedenen Bereichen sprechen zu lassen: NOW-Organisatorinnen, schwarze Radikale, Gewerkschafterinnen, Politikerinnen, Pastorinnen und weibliche Rabbis1. Ich trat in NOW ein und erwartete, daß frau mir eine Kontaktadresse in Morris County mitteilt, oder daß die Ortsgruppe Kontakt mit mir aufnimmt. Das ist bis heute nicht geschehen. NOW steht auch nicht im Telefonbuch. Täglich studiere ich die Lokalpresse, wo fast alle Gruppen ihre Veranstaltungen ankündigen, NOW Morris County ist dort noch nie in Erscheinung getreten. Mein Kontakt zu NOW ist nun recht einseitig, ich erhalte regelmäßig Spendenaufrufe für die nationale Pro-Abtreibungskampagne (Pro Choice).
Frauenforschung, die offensichtlich ausschließlich an den Universi
täten gemacht wird, resultiert in zugängliche Veröffentlichungen und
Konferenzen, die punktuelle Begegnung erlauben, jedoch keine Möglichkeit einer kontinuierlichen Zusammenarbeit in der Frauenforschung innerhalb und außerhalb des akademischen Bereichs. Auch die Organisation der Akademikerinnen, die im Bereich Frauenforschung angestellt sind (National Women's Studies Association), hat bisher keine derartigen Kooperationen organisiert oder ihren Forschungsprozeß nach außen getragen, um Außenstehende daran teilnehmen zu lassen.
Auch andere Frauengruppen sind in sich geschlossen und erlauben keinen Zugang. Entweder sind sie berufsspezifisch (und es gibt nicht so viele Linguistinnen, wie mich), oder sie sind in exklusive Institutionen wie Kirchen und Parteien eingebunden, bieten mir also keine Möglichkeit des direkten Engagements. Die einzige Alternative scheint, etwas außerhalb der bestehenden Zusammenhänge zu organisieren, will ich über zufällige und individuelle Kontakte hinauskommen. Einfacher dagegen wäre, in meiner Nicaragua-Solidaritätsgruppe — in die ich mich trotz unterschiedlicher politischer und ideologischer Orientierungen leichter integrieren konnte — die Frauenperspektive auszubauen. Der organisatorische und soziale Zusammenhang in der internationalen Solidaritätsbewegung kommt mir viel stärker vor als in der gegenwärtigen Frauenbewegung.
Tagesordnung einer zukünftigen Frauenbewegung
Vor fast zwanzig Jahren fing ich gerade an, den militanten Widerstand gegen Sexismus im Privatleben und in den Familienbeziehungen mit einer »Frauenbewegung« zu verknüpfen. Im ersten Studienjahr am College hörte ich zum ersten Mal von diesem organisierten Kampf. Damals saßen wir nicht in einem Seminar zur Frauenforschung zusammen, wie ich es heute leite, wo wir feministische Theorien von einem Standpunkt aus diskutieren, der Geschlecht, Rasse, Klasse und sexuelle Praxen zum Ausgangspunkt nimmt. Wir demonstrierten, forderten die Einstellung von mehr Professorinnen, organisierten Selbsterfahrungsgruppen und Tanzveranstaltungen nur für Frauen, um den konkreten Aufstand der Frauen mitzutragen und zu feiern. Die meisten waren noch nicht bereit, sich mit Rassen- und Klassenfragen auseinanderzusetzen. Es gab Widerstand von und wütende Konfrontationen mit Frauen, die der Meinung waren, daß diese Fragen zu den vielen Machenschaften des Patriarchats gehören, nur um die Aufmerksamkeit von »Frauenthemen« abzulenken. Heute dagegen zeigen sich Studentinnen in der Frauenforschung diesen Fragen gegenüber aufgeschlossen. Sie sind bereit, sich in harten Diskussionen zu engagieren, die Paradigmenwechsel und Perspektivveränderungen erfordern. Dies ist ein Zeichen für Wachstum und Veränderung im feministischen Denken.
Aber sowohl in den Seminaren als auch in feministischen Gruppendiskussionen geraten wir immer an einen Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht, wenn wir anfangen, über konkrete Möglichkeiten zu sprechen, wo die Verbindungen zwischen abstrakter Theorie und Praxis anzusiedeln sind. Vor einer Woche bezeichneten wir im Hauptseminar den feministischen Diskurs als ein Kraftfeld, wo weiße Frauen versuchen, theoretische Hegemonie über farbige Frauen aufrechtzuerhalten. Im Seminar und auch auf den vielen feministischen Konferenzen und Treffen legen zwar fast alle bereitwillig Lippenbekenntnisse für das Konzept von »Rasse, Klasse und Geschlecht« als dreieiniges Herrschaftssystem ab, das unseren gesellschaftlichen Status, unsere Identität, unsern Standpunkt, unser politisches Engagement bestimmt. Wir sind uns aber auch einig, daß wir bisher wenig unternommen haben, um eine feministische Bewegung mit Massenbasis zu entwerfen und zu organisieren, die auf solchen Grundlagen beruht. Wir wissen, daß wir feministische Theorie und Praxis aus den Universitäten heraus und auf die Straße, ins Alltagsleben bringen müssen. Aber dann wissen wir nicht genau, wie wir das anstellen sollen. Gerade jetzt, wo es so viel feministisches Wissen gibt, Informationen in Büchern, über die ausnahmslos in privilegierten Umgebungen gesprochen wird, sollte es offensichtlich sein, daß wir in einer zukünftigen Frauenbewegung Mittel und Wege finden müssen, dieses Wissen mit anderen Frauen und mit Massen von Menschen zu teilen, damit es mehr als nur einer kleinen Gruppe von Auserwählten zugänglich ist, die dann ihr Leben so überdenken und umgestalten können, daß sie daraus die Kraft schöpfen für Veränderungen. Um das zu erreichen, müssen künftige Frauenbewegungen sich unmittelbarer mit den Erfahrungen des Alltagslebens auseinandersetzen. Sie müssen folgende Fragen beantworten: Wie fangen Frauen in männlich-dominierten heterosexuellen Ehen und Familien an, ein kritisches feministisches Bewußtsein zu entwickeln? Wie können sie zu Hause eine Pädagogik der Befreiung schaffen, damit sie feministische Denkweisen mit anderen teilen können? Wie können sie mit der Wut und der Ablehnung ihrer Männer und Liebhaber fertigwerden, die sich weigern, sich zu verändern und die Widerstand leisten? Meine Versuche, das Wissen, das ich am privilegierten Ort der Universität bekomme und vermittle, wo ich feministische Theorie lehre und entwickele, mit Frauen aus der Arbeiterklasse, mit armen Frauen, mit meiner Familie und Verwandtschaft, besonders mit meinen Schwestern, zu teilen waren der Ort und die Erfahrung, die mir gezeigt haben, wie wenig letztlich so viel von der an der Universität gefeierten feministischen Theorie Frauen in konkreten Situationen hilft, besonders Frauen mit niedrigem sozialen Status. Was macht eine Arbeiterin, die gerne auf das College gehen würde, um ihren B.A. Abschluß zu machen, vielleicht sogar an die Universität um ein Diplom zu machen, wenn ihr Mann seine finanzielle Unterstützung verweigert, weil die Familie bereits Geldschwierigkeiten hat, und/oder weil er dadurch seine Überlegenheit bedroht sieht? Was soll sie ihm antworten, wenn er argumentiert, daß wenn er keinen B.A. hat, sie auch keinen braucht? Oder, was soll sie machen, wenn sie einen Weg findet, auch ohne seine Hilfe auf ein College zu gehen (durch Betteln oder Borgen) und er ihr dann täglich vorhält: »Du bist sowieso zu blöd, du schaffst nie ein Examen.«? Oder, eine von meinen Schwestern fragt mich um Rat. Ihr Mann befiehlt ihr vor den Augen der Kinder, ihren Mund zu halten, und spricht respektlos und voller Verachtung von ihr. Sie will von mir wissen, wie sie diese Situation ändern kann, denn ich habe ihr erzählt, daß Widerstand möglich ist. Sie sagt: »Du bist die Feministin, sag mir, was ich machen soll.« Und ich brauche dann Tage, um mir eine Strategie zu überlegen, mit der sie die Situation angehen und sie verbessern kann. Alle angeführten Beispiele stammen aus Erfahrungen mit Frauen, die versucht haben, Feminismus im Alltag praktisch zu leben. Sie deuten auf Lücken in der feministischen Theorie und darauf, daß wir noch nicht genügend Gedanken und Strategien entwickelt haben, Sexismus im Privaten zu verändern.
Wenn sich eine zukünftige feministische Bewegung stärker auf die Ausarbeitung von Theorien über die Entwicklung feministischer Prozesse konzentriert, die im Alltag Anwendung finden können, dann wird es ein großes Interessse an feministischen Aktivitäten seitens der Frauen über Klassen- und Rassengrenzen hinweg geben. Gleichzeitig wird das Wohnungsproblem zum Hauptthema einer zukünftigen feministischen Bewegung werden müssen. Werden wir in allen US-amerikanischen Städten Gebäude finden können, die Frauen kollektiv besitzen (unabhängig davon, ob sie mit Frauen oder Männern zusammenleben), wo es Kinderbetreuung gibt und Bibliotheken, in denen Unterricht stattfindet usw.? Es sollte viele solche Orte geben. Sie wären konkretes Zeugnis feministischer Eingriffe ins Patriarchat. Eines der Hauptprobleme, mit dem eine Frau — unabhängig von Rasse oder Klasse — konfrontiert ist, wenn sie ihre Unabhängigkeit von einer sexistischen Familie oder einem sexistischen Partner sucht, ist die Frage, wo sie wohnen kann. Die Einflußnahme auf den Wohnungsmarkt ist von größter Bedeutung für eine zukünftige feministische Bewegung — vor allem für arme Frauen. Wer wird die Wohnmöglichkeiten bereitstellen? Wie werden die Wohnungen instandgehalten? Wie wäre eine Politik und Gesetzgebung erreichbar, die es Frauen ermöglichen würde, erschwinglichen Wohnraum zu kaufen, anstatt ihn als Mündel des Staates zu mieten? Den Komplex der Wohnraumbeschaffung auf die feministische Tagesordnung setzen, hieße, den Schwerpunkt auf einen Bereich verschieben, der in erster Linie Probleme armer Frauen anspricht, die mehrheitlich nicht-weiß sind. Damit würden deren Bedürfnisse in den Mittelpunkt der feministischen Bewegung rücken.
Weitere Punkte, die wieder auf die feministische Tagesordnung gehören, sind Sexualität und sexuelle Praxen. Feministinnen dürfen nicht aufhören, öffentlich Möglichkeiten des Ausdrucks und der Erfahrung von Sexualität zu diskutieren, die eine sexuelle Praxis widerspiegelt und verkörpert, die patriarchale Herrschaft nicht mehr weiterfuhrt oder verstärkt. Wir müssen auch mehr darüber erfahren, wie Aids und öffentliche Reaktionen auf die Krankheit sich auf die Konstituierung und Erfüllung weiblichen Begehrens auswirken. Wir müssen darüber reden, wie die gegenwärtige Konzentration auf Monogamie mit der Wieder-Einführung überholter Besitzvorstellungen in der Partnerschaft zusammenhängt, die patriarchale Herrschaft und Macht über den weiblichen Körper verstärken. Diese Diskussion müssen wir mit der Frage der Kindererziehung in Zusammenhang bringen. Wir müssen die neuen Tendenzen von Frauen ansprechen, Schwangerschaft und Geburt auf eine Art aufzuwerten, die die durch eine sexistische Gesellschaft bedingten Probleme verschleiert. So über Sexualität, Kindererziehung usw. zu diskutieren, daß dabei die Probleme von Massen von Frauen angesprochen werden, ist eine Möglichkeit für Feministinnen, in den gesellschaftlichen Gesamtdiskurs über den Körper von Frauen, über die Rechte von Frauen auf freie Entscheidung in Reproduktionsfragen und Abtreibung einzugreifen. Wir müssen intensiver in der Öffentlichkeit thematisieren, wie der Kampf um die Gewinnung und Erhaltung des Rechts auf freie Entscheidung in Reproduktionsfragen auch mitgarantiert, daß unsere Gesellschaft demokratisch bleibt, letzteres ist für viele Bürgerinnen äußerst wichtig.
Die organisierte Frauenbewegung in den USA hat die Entwicklung einer kritischen Lese- und Schreibfähigkeit nicht auf ihrer feministischen Tagesordnung, d.h. die Bemühung, Frauen auf eine Art Lesen und Schreiben beizubringen, die eine Politisierung ermöglicht. Das Fehlen einer solchen Bewegung als Massenbewegung (es gibt einige kleine Lese- und Schreibprojekte) schwächt die Versuche, ein feministisches Bewußtsein zu entwickeln, das eine politisierte feministische Bewegung in allen gesellschaftlichen Schichten unterstützen und erhalten würde. Die Entwicklung eines nationalen feministischen Al-phabetisierungsprogrammes in diesem Sinne ist ein notwendiges Projekt, wollen wir eine revolutionäre feministische Bewegung schaffen. Erst ein solcher Rahmen würde es ermöglichen, mit feministischer Theorie auch außerhalb von Colleges und Universitäten zu arbeiten, und er würde eine Grundlage zur Analyse von Rasse, Klasse und Geschlecht bilden.
Eine zukünftige feministische Bewegung muß den Kampf gegen Rassismus oben auf ihre Tagesordnung setzen. Bisher haben Feministinnen geglaubt, es reiche aus, Rassismus innerhalb der Frauenbewegung anzugehen. Losgelöst von anderen Bemühungen, Rassismus in der gesamten Gesellschaft abzuschaffen, ist dieses Projekt zum Scheitern verurteilt. Die feministische Bewegung hat Schritte in die richtige Richtung getan. Heute sind Frauen eher bereit, sich mit dem Problem des Rassismus und der Verflochtenheit von Unterdrückung aufgrund von Rasse und Geschlecht auseinanderzusetzen. Aber den meisten Feministinnen fehlt eine konkrete kritische Praxis im Kampf gegen Rassismus in ihrem alltäglichen Leben und in der Kultur insgesamt. Wenn die Vergegenständlichung von Rasse im Diskurs, diese vom Rassismus trennt, werden feministische Bemühungen behindert, die Ideologie und Praxis der weißen Überlegenheit und Herrschaft und rassistische Unterdrückung zu bekämpfen. Wenn weiße Frauen und Männer erst einmal verstehen, daß die Anfechtung von Rassismus automatisch das weiße rassistische Patriarchat sprengt, dann werden sie verstehen, daß der Kampf zur Beendigung des Rassismus Sache von Feministinnen ist. Wenn Feministinnen den Rassismus militant bekämpfen, wird es mehr farbige Frauen und Männer in der feministischen Bewegung geben.
Gleichzeitig muß der zukünftige Befreiungskampf der Schwarzen seinerseits eine feministische Tagesordnung haben. Heftiger denn je fechten fortschrittliche schwarze Frauen Männerherrschaft und Sexismus an, auch wenn sie kaum oder gar nicht im Feminismus engagiert sind. Die Herausforderung der Zukunft besteht darin, diese Belange mit der Entwicklung feministischer Theorie zu verbinden, die die spezifischen Bedürfnisse von Schwarzen miteinbezieht, und mit einer feministischen Praxis, die unser Leben signifikant verändern kann. In meine Seminare kommen mehr schwarze junge Männer als je zuvor, und sie sind sehr daran interessiert, Geschlecht kritisch und analytisch zu erforschen, sie stellen den Sexismus in Frage. Diese jungen Männer geben mir Hoffnung für die Zukunft. Wir brauchen Orte in unseren Gemeinschaften (communities) und im akademischen Bereich, wo das Leben von Schwarzen aus feministischer Sicht erforscht wird, von einem Standpunkt, der die Verflechtungen verschiedener Herrschaftssysteme wie Rasse und Geschlecht in den Blick rückt.
Trotz der vielen Hindernisse, die den schwarzen Frauen den Weg verstellen, die militant für den Feminismus eintreten — für Frauen wie mich —, ist es weiterhin ein lohnender Kampf. Die Menschen, die mich ermutigen und mir kritische Rückkoppelung über meine Arbeit geben, machen es möglich, daß ich in Liebe weitermache, und sie helfen im Kampf gegen die Vereinzelung, die immer das Engagement für grundlegende Veränderungen zu untergraben droht. Für die Zukunft hoffe ich, daß wir schwarze Frauensolidarität stärken können, die eine anti-hege-moniale feministische Schwesterngemeinschaft hervorbringt, die uns kollektive Macht zur Veränderung unseres Lebens gibt.
Aus dem Amerikanischen von Claudia Gdaniec