1. Fitneß-Kulte in der Gegenwart
Fitneß-Praktiken und Fitneß-Diskurse sind nicht zufällig etwa gleichzeitig mit der weltweiten Offensive des Neoliberalismus aufgeschossen. Seit einigen Jahren vergeht kaum ein Tag, an dem in der Bundesrepublik nicht irgendwo ein »Fitneß-Center« aufgemacht wird. Die USA hatten es vorexerziert, die Sprache verrät es. Dauerlauf und Abhärtung heißen heute Jogging und Fitneß. Übung und Willensstärke sind zusammengezogen zum patentierten Markennamen Powercise, computerisierten Body-building-Maschinen von Livingwelline, in deren Clubs 1990 5 Millionen US-Amerikaner üben sollen.[1]
Was derart Millionen erfaßt, bringt Milliarden ein. »Schon heute würden allein in den Vereinigten Staaten jährlich 40 Milliarden Dollar umgesetzt, davon etwa 8 Milliarden Dollar in den etwa 4000 >Health-Clubs<.« (FAZ, 3.3.87) Livingwell ist auf dem Sprung nach Europa und Japan. Auch in der Bundesrepublik ist das Kapital nicht faul. Der Name eines weltweit propagierten Jogging-Schuhs dehnt sich aus auf eine Produktfamilie. Eine ganze Warengeneration entsprechenden Typs umgibt den Körper.
Der Kult ist keineswegs auf die kapitalistischen Industriestaaten beschränkt. Das Magazin der brasilianischen Fluglinie Varig handelte im Herbst 1986 euphorisch davon, daß »fitness cult and body-building craze that spread throughout Brazil — with the inevitable boom of health clubs — compelled designers to rethink sport clothes«. Die Sportkleidung wurde »optimistisch« umgedacht, um anschließend auf Nicht-Sportkleidung auszustrahlen. Eine zwanzigjährige Designerin entwirft »optimistic outfits for the fitness eult«. Die Firma, die sie mit ihrer Familie zusammen besitzt, heißt »Fit«. Die Gründung folgte dem Erfolgsschema der Firma »Workout«, die gleichfalls Sportkleidung herstellt. Diese Firma war gegründet worden mit der Berechnung, »that people would feel more willing to work out if they wore colorful and stylish clothes«. Inzwischen sei eine Ladenkette daraus geworden, fährt der Bericht mit der missionarischen Euphorie einer Umsatzsteigerung fort, als ginge es darum, Proselyten zu machen. Die ästhetische Innovation bedient sich des Fitneß-Diskurses.
Der neue Kult des leistungsfähigen-gesunden-schönen Körpers blieb nicht auf die Konsumsphäre beschränkt. »United Technologies in einer harten Fitneß-Kur«, überschrieb die Frankfurter Allgemeine (2.6.87, 18) jüngst einen Bericht über die Steigerung der »Leistungsfähigkeit« des Unternehmens auf einem »hart umkämpften Markt«, sich messend vor allem mit den Japanern, den »stärksten Konkurrenten im technischen Wettbewerb der Zukunft«. Daß es mehr als ein Zungenschlag war, hier von »Fitneß-Kur« zusprechen, zeigt das Motto der 17. Tagung des World Economic Forum in Davos von 1987: »Wirtschaftliche und unternehmerische Fitneß«. Der Präsident des Forums, Prof. Klaus Schwab, der es als »Weltgipfeltreffen der Unternehmer« betrachtet, »erklärte in seiner Rede vor rund 850 Unternehmern und Politikern, für ihn setze sich Fitsein aus Flexibilität, Initiative und Härte zusammen.« (FAZ, 31.1.87) Ein Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen artikulierte diese Verknüpfung in anderem Zusammenhang:
»In den Abschiedsreden an die Adresse ausscheidender Unternehmer, >die von Anfang an dabei waren<, also unmittelbar nach dem Kriege, wird seit Jahren immer wieder mit einem gewissen Staunen vermerkt, daß aus dieser >Pioniergeneration< so viele Unternehmerpersönlichkeiten hervorgegangen sind mit hoher Führungskompetenz, starker persönlicher Ausstrahlung, unverwechselbarer Individualität: eben >Mannsbilder, die geradezu aus den Nähten platzen<. Ganz abgesehen davon, daß der Krieg Menschen prägt, wichtig war wohl, daß in den Jahren nach 1945 der individuelle Spielraum für leitende Männer der Wirtschaft (sieht man einmal von Entnazifizierungsproblemen ab) ungleich größer war als heute.« (Eick 1987)
Einen Indikator sieht Eick bezeichnenderweise in dem einigermaßen willkürlichen Umgang mit der Legalität: die gemeinten Erfolge wurden »auf einer höchst wackeligen juristischen Basis« erzielt (ebd.).
Martin Broszat hat darauf verwiesen, daß in der Tat eine der Kontinuitätslinien zwischen dem NS und der Bundesrepublik durch einen Unternehmertypus verkörpert wird, den der Nazismus in Gestalt des »Sonderführers« massenhaft hervorgebracht hat und der eine bestimmtes Muster von Unternehmer-Fitneß darstellt:
»... das Dritte Reich hielt schließlich mit den tausendfachen kleinen und großen Führerpositionen, die es zu vergeben hatte, auch sehr reale Spielräume bereit, in denen junge dynamische Kräfte aus dem Mittelstand sich im harten Konkurrenzkampf mit anderen >Führern< bewähren, ihre Energie und Improvisationsfähigkeit erfolgreich einüben konnten, wobei ihnen aber durch das politische Regime genügend Rückversicherung und Risikogarantie gewährt wurde. Das Weltanschauliche, auch in Gestalt des rassetheoretischen Selektionsprinzips ... war oft nur Überbau. Wichtiger, historisch durchschlagender war der neue hier herangezüchtete Sozialtyp des nationalsozialistischen >Sonderführers<, Prototyp des politisch protektionierten und unselbständigen Unternehmers mit großen Vollmachten. Er gedieh im Dritten Reich auf allen Stufen der Gesellschaft, war fast zu allem zu gebrauchen, brachte dann aber auch gute Voraussetzungen mit für neue Bewährung und Karriere unter den sozusagen frühkapitalistischen Bedingungen des Wiederaufbaus und Gründungsbooms nach der Währungsreform.« (Broszat 1985, 382)
Fragen der Lebensweise und des Kapitalmanagements treffen sich in je spezifischer Weise bei Lohnarbeitern und Kapitalisten in der Vision der »Fitneß«. Die jüngste Geschichte hat vor Augen geführt, welch mörderischer Mutationen diese Vision fähig sein kann. Dies soll Anlaß sein, an einem kleinen Ausschnitt eine Zusammenschau einiger der Funde einer Forschung zu versuchen, die von der Frage nach Genese und Funktionen der Patientenermordung im Nazismus angestoßen worden war und deren Stationen in der Faschisierung des bürgerlichen Subjekts beschrieben sind.
2. Sozialdarwinismus + Syphilisparadigma = Rassenhygiene
Es ist bedenkenswert, daß mit dem »Fit-Sein« eine Kategorie unerkannt unsern Alltag durchzieht, die von Darwin in seiner Idee vom survival of the fittest seltsam aufgeladen und vom Sozialdarwinismus in eine Art von Biologie des Bürgerlichen umgesetzt worden war. Fitneß bedeutete Sieg im Kampf ums Dasein. In solchen Vorstellungen spiegelte sich die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem Konkurrenzkampf ums ökonomische Überleben in der Natur, um anschließend das verrückte Spiegelbild wieder rückzuübertragen in die Geschichte, so die kapitalistischen Konkurrenzkämpfe »als ewige Gesetze der menschlichen Gesellschaft« naturalisierend (Engels, MEW 34, 170). Bürgerliche Darwinisten wie Haeckel und O. Schmidt stürzten sich auf Darwins Lehre zum Beweis der »notwendigen und allgemeinen Ungleichheit der Individuen«, weil »das Prinzip der natürlichen Auslese aristokratisch ist« (vgl. den Artikel Darwinismus im KWM, Bd.2, 216). Sozialdarwinismus wird dann die entscheidende ideologische Grundschiene, auf der nacheinander unterschiedliche ideologische Züge fahren. Im nazistischen Extrem aber werden die Züge auf dieser Schiene nach Hadamar und Auschwitz fahren.
Die großen Ideologien wie der Sozialdarwinismus, die den Resonanzboden für den Nazismus bereitgestellt haben, waren Gemeingut der bürgerlichen Gesellschaften Europas und, mit gewissen Modifikationen, der USA, schon lange vor der Umsetzung solcher Ideologien in Politiken der Subjektmobilisierung und des Massenmords an den nicht Mobilisierbaren und den zum großen Gegensubjekt mystifizierten Juden. Dies gilt für Lehre von der »Selektion der Besten« im »Kampf ums Dasein«, die sich schnell verwob mit der Lehre von der »angeborenen Konstitution« und mit Morels Lehre von der »Degeneration«. Eine gewisse Besonderheit der deutschen Ideologieentwicklung ergibt sich allenfalls aus der zufälligen Wortverwandtschaft der Ausdrücke für species und Degeneration: »Art« und »Entartung« schössen heftiger zusammen als die entsprechenden Ausdrücke im Englischen und im Französischen. Das bloße Wörterbuch sorgte sozusagen schon für Evidenz. Die obsessiven Phantasmen aber, die sich zunächst ausbildeten, waren Gemeingut der europäischen Bourgeoisien bzw. erlangten im innerbürgerlichen ideologischen Ringen in allen europäischen Bourgoisien ein Übergewicht. Das in England ausgebildete neomalthusianische Phantasma von einer genetisch minderwertigen Übervölkerung, dessen sozio—ökonomische Grundlage Marx im Kapital (vgl. MEW 23, Kapitel 23) analysiert hat und in das zum Teil eine diffuse Angst vor Aufständen von der Art der Pariser Commune einfloß, verbreitete sich in Windeseile durch Europa. Der phantasmatische Charakter wird schon daran erkennbar, daß nur wenig später, nach der Niederlage der Commune und dem Massenmord an den gefangenen Communarden, in denselben Salons und mit derselben Besorgtheit das Gegenteil beredet werden konnte. Die These von der Entvölkerung sprang, von Frankreich ausgehend, im Zeichen menschenverbrauchender Kolonialunternehmen im Nu auf das Deutsche Reich über. Über- oder Entvölkerung — beide Male wandte sich das bürgerliche Bewußtsein dem »Volkskörper« zu, nahm ihn als Herrschaftsressource, als Kriegs- und Konkurrenzmittel ins Visier. Erbgesundheitspflege (»Eugenik«) wurde zu einem der großen Konzepte der Bourgeoisie um die Jahrhundertwende, mit Schwerpunkten in den USA und in England, wo einer der bis dahin größten Wissenschaftlerkonkresse zu diesem Thema zusammenkam. Inferiore/superiore Erbmasse beschäftigte die Gemüter, und die Klassengesellschaft bildete sich als biotische Meritokratie ab, als Herrschaft des Erbguts erster Klasse über die zweit- und drittklassigen Gene. Die Inferioren wurden zur »minderwertigen Rasse«, die von der Fortpflanzung möglichst auszuschalten war. Die Insassen der Gefängnisse und der Irrenanstalten waren die Ersten, die zwangssterilisiert werden sollten, vor allem und schon früh in den USA. Eine deutsche Besonderheit der Entwicklung bis zu diesem Punkt war allenfalls dadurch gegeben, daß »Volk«, nach der Niederlage der 1848er Revolution und im Zuge der Transformation großer Teile der Geschlagenen nach rechts in »Völkische«, ganz anders aufgeladen wurde als in den Nachbarländern oder in den USA. Die Revolutionslosigkeit der Deutschen führte zur Umlenkung der enttäuschten Energien nach rechts. Endlich wurde das einschlägige Gedankenmaterial durch Nietzsche in die schärfste kulturkritische Reflexion der Zeit eingearbeitet und so mit philosophischer Dig-nität und dem Hauch elitären Avantgarde-Geistes versehen. Heidegger wird nach dem zweiten Weltkrieg das »Dasein«, um das in diesen Diskursen gekämpft wurde, in den Rang der philosophischen Zentralkategorie heben. Umgearbeitet in Philosophie nehmen später die ursprünglichen Geberländer die betreffenden Ideologeme wieder zurück, auch noch dann, als sie durch Wissenschaft, Erfahrung und Geschichte blamiert sind und in nazistischer Form ihre Unterdrückungs- und Vernichtungspotentiale gezeigt haben.
Zurück zur Jahrhundertwende! Eine weitere Obsession — zunächst mit realerem Kern — bildete sich am Problem der Geschlechtskrankheiten. Genauer gesagt: in der Syphilis-Furcht und ihren gesellschaftlichen Verarbeitungsformen fasste sich diese Problematik zusammen. Das Ablaufmuster der Syphilis verknüpfte eine Reihe von Stationen, die aus unterschiedlichen Gründen besonders aufgeladen waren: Vom Keim der Ansteckung bei Prostituierten bis zur Geisteskrankheit, dazu die Gefahr der Weitergabe an die nächste Generation in Gestalt der infiziert zur Welt kommenden Kinder — dieses Muster prädestinierte die Syphilis zum Paradigma. Das relativ neue Wissen von den Mikroben, die alte Sünde der Wollust, das Tabu über der Prostitution, die pseudoerbliche Weitergabe der Sündenfolge an die Nachkommen, das Objekt der Psychiatrie — nimmt man hinzu, daß diese Verknüpfung ungleichzeitiger gesellschaftlicher Traditionen und Wissensarten auf dem Boden der phantasmatischen Aufmerksamkeit für den »Volkskörper« zustandekam, bekommt man ein Verständnis für die Dynamik dieser Formation. Medizinisch-hygienisches Denken und Sexualmoral verschmolzen miteinander in der Frage der Volksgesundheit. Die um die Jahrhundertwende in Brüssel gegründete Internationale Assoziation zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, die sich blitzartig in den »zivilisierten« Ländern ausbreitete, entfaltete eine Propaganda von ungeheurer Durchschlagskraft. Das viktorianische öffentliche Schweigen von der Sexualität hatte ein Vakuum geschaffen, das nun mit einem Mal ausgefüllt war von der öffentlichen Rede über Sexualität und Körper im Hinblick auf die Syphilis. Das Syphilisparadigma erwies sich vollends als Syphilisphantasma, als die Syphilis medizinisch kontrollierbar geworden war, ohne daß die um ihre Bekämpfung herumgebaute sozialmoralische Formation an Virulenz verloren hätte.
Eine der Bedingungen für dieses Fortwirken war der Wille zur Kontrolle des Volkskörpers, der Wille der Herrschenden zur Macht im Doppelkampf gegen die Emanzipationsbewegungen der Beherrschten und gegen die konkurrierenden Herrschaftsmächte. Von diesem Standpunkt waren die medizinischen und moralischen Diskurse Material, in das hinein sich die Strategie der Herrschenden artikulieren konnte. Daß dieses Material nicht passiv blieb, sondern seine Mitgift an Dynamik in diese Artikulation einbrachte, steht auf einem andern Blatt. Jedenfalls verdichteten sich in der Rassenhygiene die bisher skizzierten Diskurse. Auch Hitlers Vorstellung von »Rassereinheit« wird ohne die hygienische Konnotation der Reinheit nicht zu verstehen sein. Ein moralischer Paradigmenwechsel bahnte sich an: von der individualistischen Moral zu einer national-kollektiven. Man darf aber das National-Kollektive dieses Typs nicht mit sozialistischen Gemeinschaftsvorstellungen verwechseln. Es ist genauso von der sozio-ökonomischen Grundlage des kapitalistischen Privateigentums und seiner inner- wie internationalen Konkurrenz bestimmt wie sein anscheinendes Gegenteil, der Privatindividualismus. Das Nationalkollektiv, um das es hier geht, repräsentiert sozusagen das variable Kapital des nationalen Gesamtkapitalisten, seine Mannschaft für die auf dem Weltmarkt auszufechtenden Kämpfe um Märkte sowie für die im Krieg auszufechtenden Kämpfe um nationalstaatliche Herrschaftsgrenzen. Dieses nationale Kollektiv bleibt von seiner Basis, dem kapitalistischen Privateigentum, widersprüchlich aber bis ins Mark bestimmt. Die Rassenhygiene wurde zu einer der Formen, in denen sich der herrschende Blick auf diese Mannschaft artikulierte. Das Syphilisparadigma fungierte als Vorstufe dieser Verbindung. Der Erste Weltkrieg gab vollends den Ausschlag. Die Konfrontation mit den Kriegsneurosen brutalisierte die Psychiatrie: der psychiatrische Schrecken sollte die Soldaten in den Schrecken des Krieges zurücktreiben. Behandlung ward Folter. Wenn das bis hierher Skizzierte mehr oder weniger Gemeingut der Bourgeoisien war, so besiegelte der Ausgang des Krieges die Besonderheit der deutschen Ausprägung dieser Ideologien. In dem Land, dessen Griff nach der Weltmacht aus einer inferioren Position den Krieg verursacht hatte, ging die Verarbeitung der Niederlage über in die Transformation der obsessiven Phantasmen. Die Vision, daß an der Front die Besten fielen, während die Schlechtesten in den Irrenhäusern in Sicherheit blieben, erhielt durch die Niederlage ihre Zuspitzung. Im Namen einer Moral, die das Individuum durch die Nation ersetzt hatte, konnte so ein gegen die »Inferioren« gerichtetes Vernichtungsprogramm Eingang finden ins ärztliche »Verantwortungsbewußtsein«. Jedenfalls kam es so, daß im militärisch geschlagenen, von Revolution und Konterrevolution zerrissenen, im Elend niederliegenden Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg der Psychiater Hoche und der Jurist Binding die Freigabe des lebensunwerten Lebens forderten — Freigabe für die durch medizinische Gutachten anzuordnende staatliche Tötung.
3. Selbst-Psychiatrisierung im Alltag
»Füg Dich in die Welt hinein, denn dein Kopf ist viel zu klein,
daß sich fügt die Welt hinein«
Die institutionellen Diskurse und die Ideologien der »Gebildeten« allein erklären Dispositionen, nicht aber ihre gesellschaftliche Verwirklichung. Erst wenn ein positives Resonanzverhältnis zum Alltag der Massen besteht, kommt es zu einem Verstärkereffekt, der die resultierende Wucht erklärt. Aus der Ratgeberliteratur und ihrer Verbreitung läßt sich rückschließen auf massenhaftes Verlangen nach Rezepten der Selbstbehandlung und Diätetik auf dem Weg zum Erfolg. Immer geht es um Qualifizierungen im Blick auf die beiden schicksalhaften Märkte der Arbeit und der Sexualität. Beruflicher und erotischer Erfolg sind die implizit allgegenwärtigen Parameter, Leistungsfähigkeit und Attraktivität die Zielwerte. Man erschließt den Kampf der Privat-Einzelnen um knappe Chancen. Insofern versteht man, daß die Klassenlage nicht die alleinentscheidende Determinante der Adressaten ist. Gewiß, die Ratgeber wenden sich an die, welche »es nötig haben«, weil wesentliche Bereiche ihrer gesellschaftlichen Handlungsbedingungen unter fremder Kontrolle stehen. Die subalternen, nicht die herrschenden Klassen sind angesprochen. Aber dann kommt eine unmittelbar entscheidende Bestimmung hinzu: die Abwesenheit solidarkultureller Verarbeitungsmuster für die Existenzprobleme im Kapitalismus, eben die Einschließung in die »Einsamkeit und Freiheit« der Privatheit. Die Ratgeberliteratur interessiert einerseits, insofern sie Echo gibt auf die Nöte der ungezählten Namenlosen, die von den Konkurrenz- und Ausbeutungsverhältnissen hin- und hergeworfen werden; andrerseits rekonstruierten die Ratgeber in der Regel den Zusammenhang der Privat-Vereinzelten völkisch, als »Ein- und Unterordnung« ins Nationalkollektiv des imperialistischen Kapitalismus.
Die Selbstbehandlung hat einerseits teil an der bürgerlichen Würde der Unabhängigkeit, andrerseits an der Ärmlichkeit und Enge abhängiger Verhältnisse, in denen man sich weder bessere Umstände schaffen noch eine bessere »Behandlung« leisten kann. Kurz, das Do it yourself der Ideologie ist auch einfach billiger. »Willensstärke« wird zur Chiffre für solche preiswerte Souveränität. Zugleich aber ist alles durchfärbt von oben als Durchfunktionalisierung und Inpflichtnahme. Mit dem Sieg über »den inneren Schweinehund« tun die Privatmänner zugleich ihre Pflicht gegenüber ihrem entfremdeten Kollektiv.
Das Material kann hier nicht noch einmal ausgebreitet werden. Einige Proben und die abstrakte Zusammenfassung müssen genügen. Es geht um die tendenziell lückenlose Rezeptur für eine »Gesamtlebensweise« (Gerling 1917), eine geradezu totalitäre Diätetik als Weise der Selbstmobilisierung für Leistungsfähigkeit bei »Ein- und Unterordnung« (ebd.). Die sexuelle Begierde fungiert (hundert Jahre lang) als ein Haupt-Übungsfeld für Willensstärke.
Über den Willen soll dann auch die eigne Erscheinung reguliert werden. »Für Leser, die ... die Schönheitsmaße der menschlichen Gestalt nicht kennen«, werden »Durchschnittsangaben« gemacht, »nach denen sich die ideale Gestalt messen läßt« (ebd.). Die Gestalt des Zwanzigjährigen wird zur Normalform der Älteren erhoben. »Veränderung der normalen Form ist ein Zeichen von Krankheit bzw. Entartung.« Ein prä-skriptives Imaginäres wird derart aufgebaut. Daß die zwanzigjährige Gestalt erhalten bleibe, ist nur in der Einbildung zu haben. Diese Normierung treibt zugleich das Gegenbild des Entarteten und Kranken mit hervor. Die ins Gegenbild passen, sind zur Fortpflanzung nicht berechtigt. »Ins Bild passen« ist wörtlich zu nehmen. Wie erweckt man Vertrauen, wirkt schön, signalisiert Leistungsfähigkeit usw.? Wie blickt man idealistisch statt materialistisch, ohne versponnen zu wirken?
Die Erscheinungstechniken, die Rezepte zum Ausdrücken innerer Werte sind, werden wiederum ergänzt durch ihr Gegenteil, durch Detektionstechniken, die fremde Erscheinungen durchschauen lehren sollen. Hinter jedem Positiven kann ja sein negatives Gegenteil stehen. Aussehen, Blick, Gang, Klang der Stimme, Handschrift — all das fungiert in einem antagonistischen Handlungsfeld. Täuschung lauert überall. Wie schon der junge Marx in den Pariser Manuskripten wußte, trifft jede fremde Anziehungskraft, wo immer sie auf mich wirkt, eine mögliche Schwäche, die zu fremdem Vorteil belauert und ausgenutzt wird. Also bedarf es des nimmermüden Entlarvens fremder Anziehung und Überwindens eigner Schwäche. Zu jedem Erscheinungszauber den Gegenzauber.
Eine Skala des Verzichts wird mit allen erdenklichen Schreckbildern aufgebaut: Vermeidung der »Kaffeegefahr« und Sieg über den »Teufel der Selbstbefriedigung«, gewürzarme Kost, Meidung von Alkohol, der die Willensstärke, jenen Schlüssel zur Herrschaft über die eignen Begierden, brüchig werden läßt, schließlich von Tabak, der einen schlechten Teint macht. Über dem Negativen Verzichtforderungen darf aber nicht das Positive übersehen werden, das dem bürgerlichen Subjekt seine Entfremdung genießbar macht: Ein Schwärm von Aufmerksamkeiten für den Körper wird entworfen, von Stationen des Alltagslebens, die ins Bewußtsein aufzunehmen und mit besonderer Bedeutung zu versehen sind. Augenturnen, Stimmübungen, Tiefatmen, Nacktturnen bei offnem Fenster, dazu im Detail alles Erdenkliche über Essen und Ausscheiden, Wachen und Schlafen, Kleidung und Nacktheit, usw. usf. — nichts wird ausgelassen, und alles verweist aufeinander; eine einheitliche Bedeutung, ein einziger imperialer Sinn zirkuliert in diesem ganzen Reich. Eine Intimsphäre zeichnet sich ab, in der die davon Angesprochenen unermüdlich an sich arbeiten, um zu erfolgreichen Subjekten ihrer Entfremdung zu werden und so über die Konkurrenten zu triumphieren. In dieser Sphäre feiert die herrschende Ideologie entscheidende Siege.
4. Fordistische Selbstnormalisierung und faschistische Subjektmobilisierung
Nicht wenige halten es für marxistisch, die Vernichtungspolitiken des Nazismus als direkten Ausdruck von Profitinteressen darzustellen. Gewiß, diese Interessen versuchen in allem Entscheidenden, sich zur Geltung zu bringen. Wie weit sie — und welche von ihnen — sich jeweils durchsetzen, ist eine andere Frage. Gegen die Reduktion auf quantitative ökonomische Interessen spricht die Ausblendung der Formen und Funktionen, in denen Kapitalinteressen sich ideologisch umsetzen. Die ideologische Subjektion im Nazismus, eben die Faschisierung der Subjekte, blieb ungesehen oder wurde allenfalls unter Kategorien der Täuschung und Verführung gestreift, nicht viel anders als in den bürgerlichen Nazismusdarstellungen. Das historische Material in der Vorgeschichte und im Kontext der Ausrottungspolitiken zeigt aber sogar die Dominanz der Mobilisierungsfunktionen. Zugleich läßt sich verfolgen, wie diese Funktionen sich kompromißhaft durchsetzen; es ist wie bei der Vektorenaddition, wo eine dritte Richtung resultiert. Die »absolute Verselbständigung« der Staatsmacht, die Marx in seiner Bonapartismusanalyse konstatiert hatte, ist ja nur ein anderer Ausdruck für die Entfremdung von Strategien auch der herrschenden Klasse. Diese Beobachtung, die von August Thalheimer für die Faschismustheorie fruchtbar gemacht worden ist, gibt auch einen Hinweis fürs Verständnis des Ideologischen im NS.
Eine weitere Annäherung an eine marxistische Rahmenanalyse des Verhältnisses von Kapitalinteressen, faschistischem Staat und ideologischer Mobilisierung erschließt sich über Antonio Gramscis Gefängnishefte, vor allem über Heft 22, das mit Amerikanismus und Fordismus überschrieben ist. Gramsci geht es nicht um den triumphierenden Fordismus, sondern »Fordismus« ist hier »ein Instrument zur Analyse weniger rationalisierter, weniger entwickelter Gesellschaften« in Bezug auf die ökonomisch weiter entwickelte Gesellschaft ist (de Felice, z.n. Buci-Glucksman 1975). Fordismus interessiert Gramsci also im Hinblick auf die nachholende Modernisierung der zurückgebliebenen europäischen Kapitalismen, die der »amerikanischen >Vormacht<« (Q 3, 2178) auf dem Weltmarkt zu unterliegen drohen. Eine entsprechende »Transformation der materiellen Grundlagen der europäischen Kultur« (ebd.) zeichnet sich ab. In diesem Rahmen hebt Gramsci folgende Aspekte hervor, die allesamt für unser Thema grundlegend sind: Die Schnittstelle zwischen der neuen Produktionsweise und der Lebensweise, der Eingriff der Protagonisten der Fordisierung in die Lebensweise, ins Sexualleben der Lohnabhängigen, Fragen der Reproduktion der Arbeitskraft, der Diätetik, der Selbstdisziplin mit besonderem Augenmerk auf der Vermeidung von Alkohol, dazu die Frage des Wirtschaftenkönnens mit dem Lohn.
Eine weitere Fragengruppe richtet sich darauf, daß entsprechende Moralisierungsstrategien »zu Staatsfunktionen werden, wenn die private Initiative der Unternehmer sich als ungenügend erweist oder wenn eine zu tiefe und ausgedehnte Moralkrise bei den arbeitenden Massen ausbricht, was im Gefolge einer langen und ausgedehnten Krise in Gestalt von Arbeitslosigkeit eintreten könnte« (Q 2166). Da neben dem Sex und den Drogen der Suff die hauptsächlichste Demoralisierungsmacht darstellt, kann es zum staatlichen Alkoholverbot kommen. Die »Prohibition« in den USA interessiert Gramsci als Beispiel für die Verstaatlichung einer Moralfunktion. Im Rahmen nachholender Fordisierung kann sich dieses Muster schlagartig ausweiten auf die Indienstnahme des staatlichen Gewaltapparats und aller ideologischen Staatsapparate zur allseitig orchestrierten Aufrechterhaltung eines disziplinaren Rahmens, des Fertigwerdens mit dem Widerstand der »zu >manipulierenden< und zu rationalisierenden subalternen Kräfte« wie auch »einiger Sektoren der herrschenden Kräfte« (Q 3, 2139). Das tangiert die Frage nach den ökonomisch passiven, »parasitären« Schichten der herrschenden Klasse, deren Existenz, wie Gramsci sah, zu besonders brutalen Formen der Fordisierung führen kann, und in Europa gab es besonders starke Schichten »ökonomischer Pensionäre« (Q 2140). Gramsci verzeichnet sogar die damals ventilierte Frage, ob die Durchsetzung der fordistischen Arbeitsweise »zum neuen Durchschnittstyp« möglich sein würde, ohne »zu physischer Degeneration und zum Niedergang der Rasse« zu führen (2173). Die obsessiven Phantasmen ragen also in sein Thema herein, und das gibt zu denken, ob sie nicht von jener dramatischen Transformation der kapitalistischen Produktionsweise entscheidende Impulse empfangen haben. Für die unter Zugzwang stehenden, in ihren Ressourcen für hohe fordistische Löhne beengten, zurückhängenden Kapitalismen mußte der Staat eine ganz andere Rolle spielen als in den USA. Die hier wie dort reaktualisierten traditionalen Ideologien werden von Gramsci als Vehikel der Modernisierung erkannt.
Eine dritte Fragegruppe richtet sich auf die Veränderungen der Qualifikationsstruktur der Lohnabhängigen, wobei Gramsci die fundamentale Doppeldeutigkeit im Auge behält, wie er auch für unser Thema überall zu beachten ist: In Gestalt der autodisciplina, die im Rahmen einer »Mischung des Zwangs und der Überzeugung, auch in Gestalt hoher Gehälter« (2173) auftritt, sieht er zugleich das Zerrbild eines tatsächlichen Zuwachses an produktiver Handlungsfähigkeit der »subaltern« Gehaltenen. Überlagert von »subalternen« Praktiken der Selbstmoralisierung, ohne welche die Lohnabhängigen die Disziplin der täglichen Entfremdung nicht aufrechterhalten könnten, sieht Gramsci doch auch Potentiale einer selbstbestimmten Disziplin, in der zur »Freiheit« würde, was vorerst »Notwendigkeit« ist (Q 2179).
Wie man sieht, hebt Gramscis Analyse sich nicht nur vom ökonomistischen Instrumentalismus ab, der nur die bewußte Manipulation bewußter Klassensubjekte kennt, sondern — im Gegensatz zu einem weitverbreiteten Gramscibild, in dem ganz entgegengesetzte Interessen sich Rechtfertigung verschaffen — erst recht vom Ideologismus, der die ökonomischen Verhältnisse außer acht läßt. Das Problem stellt sich bei ihm so, daß unterschiedliche Faktoren ineinandergreifen: die Taylorisierung der kapitalistischen Produktion (Rationalisierung und Intensivierung auf Grundlage der Zerlegung der Arbeitstätigkeiten und der Bewegung des Werkstücks auf dem Fließband von Teilarbeitsplatz zu Teilarbeitsplatz); die Durchsetzungsweise dieser neuen Stufe kapitalistischer Produktivität über den Weltmarkt, der sie über die Konkurrenz zum »äusseren Zwangsgesetz« (Marx) für Nationalstaaten und ihre Volkswirtschaften macht; Strategien der ökonomisch Herrschenden, die auf eine der neuen Arbeitsweise entsprechende neue Lebensweise zielen; endlich die Verstaatlichung bestimmter Moralisierungs- und Disziplinierungsfunktionen, die desto brutaler werden, je geringer die Ressourcen eines nationalen Kapitalismus unterm Druck übermächtiger Konkurrenz sind.
Der durch die Konkurrenz unter Zugzwang gesetzte nachholende Fordismus ist mehr Italiens als Deutschlands Problem gewesen, aber die späte und desto wuchtigere Kapitalisierung im Kaiserreich, schließlich der nachholende Kolonialismus der »verspäteten Nation«, der vom Wilhelminismus säbelrasselnd vorgetragene Anspruch auf einen »Platz an der Sonne« für die Deutschen, geben Hinweise, daß da ein Zusammenhang besteht. Daneben wurde mit größter Energie und Zielbewußtheit ein anderer Weg an die Sonne eingeschlagen: der eines intensiven und qualitativen Wachstums der Volkswirtschaft. Nicht die Konkurrenten am Weltmarkt mit billigen Massenprodukten zu unterbieten, sondern sie mit möglichst konkurrenzloser Qualität auf hohem technologischem Niveau und mit ästhetisch durchgearbeiteter Gestaltung zu schlagen, war das Projekt des deutschen Kapitals. Die »deutsche Wertarbeit« sollte zu einem Weltbegriff werden. Dazu bedurfte es der diszipliniertesten Arbeitskraft. Zugleich waren die Ressourcen für hohe Löhne noch beschränkt. Das war einer der situativen Anstöße für eine Lebensreformbewegung, die das subjektive und kulturelle Moment eines Fordismus in den Farben des Deutschen Reiches darstellte. Das geschlagene und durch den Vertrag von Versailles an der wirtschaftlichen Erholung und politischen Stabilisierung gehinderte parlamentarische Deutschland von Weimar, das schließlich durch die Weltwirtschaftskrise doppelt getroffen wurde, war mitten in der Modernisierung blockiert. Der Nazismus trat als Projekt der Entblockierung auf.
Eine der Bedingungen, die der Nazismus an der Macht im Interesse des Kapitals sofort verändert, betrifft die Handlungsfähigkeit der Arbeiterklasse. Hier wird unterdrückt, zerschlagen, faschistisch-korporatistisch eingegliedert. Gegenüber den »ökonomisch Passiven«, soweit sie nicht zu den besitzenden Klassen gehören, wird gleichfalls der Feldzug eröffnet: Sie werden der Alternative ausgesetzt, sich zur Arbeit mobilisieren zu lassen oder schließlich der Vernichtung überantwortet zu werden. So fundamental diese Gewaltpolitiken sind, so wenig erklären sie den politischen Erfolg, angefangen mit dem ihrer Durchsetzung.
Für unsere Fragestellung ist die Arbeitshypothese sinnvoll, die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts in den Zusammenhang der Fordisierung der Individuen zu stellen. Auch wenn es am Sachverhalt vorbeigeht zu meinen, »daß sich das fordistisch konstruierte Subjekt... ohne jeden Bezug auf eine höhere Ordnung ... als Unterworfenes konstituiert«, hat F. O. Wolf doch zurecht darauf verwiesen, daß das Verhältnis zwischen dem fordistischen Do it yourself der Ideologie und der faschistischen Mobilisierung des Subjekts zu klären ist, jedenfalls keine Identität unterstellt werden darf (Wolf 1987, 229). Unsere These ist, daß die Potentiale fordistischer Selbstmobilisierung einen entscheidenden Verstärkereffekt abgaben und daß die Nazis ihren Typ der zentralen staatlichen Subjektmobilisierung auf ihnen aufbauen konnten. Mit größtem staatlichem Nachdruck, aber ausgehend von den bürgerlichen Bestrebungen der Lebensreform, geht es um Rationalisierung der Lebensweise, Durchsetzung einer Diätetik der Leistungsfähigkeit, Körpertraining, Abhärtung, Willensstärkung — eine allseitige Mobilisierung der Subjekte für Leistung und Leistungsfähigkeit, die als Gesundheit und Schönheit artikuliert waren, faßt die Praktiken der Selbstnormalisierung zusammen und normiert sie ihrerseits von Staats wegen. Die Resonanzverhältnisse schließen sich. Den institutionellen Diskursen ist der Erfolg gesichert. Ihre Vernichtungsqualität tritt an den Tag.
5. Und heute?
Ist diese Geschichte vorbei? Was ist aus ihr zu lernen? Was wirkt weiter? Wie in den meisten westlichen Ländern ist in der Bundesrepublik jene säkulare Moralformation, von der J. v. Ussel gesprochen hat, zu Ende gegangen. Man merkt es daran, daß das diskursive Material veraltet klingt. Es karikiert sich sozusagen selbst. Eine letzte Probe:
»In uns selber haben wir unsern Vernichter zu suchen! Derjenige Teil unseres Körpers, der angeblich das Tier im Menschen repräsentiert... unterhalb der Taille... Und je mehr Aufmerksamkeit wir ihm widmen, um so mehr beherrscht er uns; je mehr wir uns seiner Herrschaft unterwerfen, je rascher vernichtet er uns...« (Gerling 1917).
Das sind, falls die AIDS-Furcht sich nicht so ähnlich artikulieren sollte, tempi passati. Die achtundsechziger Bewegung war ein Symptom des moralischen Umbruchs und zugleich energischer Vollstrecker desselben. Als Bewegung mit einem entscheidenden »kulturrevolutionären Akzent« hat sie die Nahtstelle von Arbeitsweise und Lebensweise aufgerissen. Aber was für Verhaltensmustern kamen dann? Der Aufsteiger in Turnschuhen, der sich, um es mit dem alten Puppenspiel vom Doktor Faustus zu sagen, vom Markt hat lehren lassen zu kaufen und zu verkaufen, der smarte neodarwinistische Held des neuen Liberalismus und Konservatismus, Akteur der Desolidarisierung und Elitenrekrutierung — hat die achtundsechziger Bewegung solchen Verhaltensweisen den Weg frei gemacht? Wird die ambivalente Gestalt der »Yuppies«, der »Jas«[2] Kapitalbejahung mit »life-style-economics« auf dem Boden des Fitneß-Kultus verbinden? Komplizenhaft beschreibt eine Autorin das Syndrom, um den Sozialdemokraten Lust auf ein den »Jas« angepaßtes Erscheinungsbild zu machen: »Nicht die neue Unübersichtlichkeit ist ihr Motiv, sondern die neue Weitläufigkeit. Die neue Sicht der Dinge: Coolness, High-tech, Lässigkeit, Eleganz, Individualität, Konsum, Ästhetik.« (Weinberger 1987, 355) Es fehlt nur noch der zusammenfassende Ausdruck: Die Annahme der Warenästhetik für gehobene Ansprüche auf der Grundlage einer neuen individualistischen Leistungsfähigkeit. Das entsprechende »Idealportrait des Aufsteigers« liefern vor allem Sportler, und dies neuerdings »fast ausschließlich in einer Richtung: blond, fröhlich, schlank, gelassen, kühn. Sozusagen eine Siegfried-Variante aus der Ikea-Küche mit eingebautem Solarium«, mit einem Wort: »Erfolgsblonde« (Schreiber 1987). Das Aussehen des Körpers wird auf neue Weise als ästhetisches Gebrauchswertversprechen der Leistungsfähigkeit in Anspruch genommen. Seine Modellierung modelliert den Lebensstil. »Der gesundheitliche und ästhetische Mehrwert, der sich auf diese Weise aus der vorhandenen Kapitalmasse des Körpers schlagen läßt, soll das reale Selbst dem idealisierten Selbstbild näherbringen.«
Erosion gewohnter soziokultureller Milieus, Selbstmobilisierungsfieber des Fitneßkults, symbolisiert durchs Jogging, diese körperliche Karriereübung par excellence usw. usf. — ohne Zweifel sind diese Verschiebungen in der Lebensweise auch Verarbeitungsformen eines enormen Veränderungsschubs in der Produktionsweise. Denn leben wir nicht in der Zeit einer »neofordistischen Revolution«, wie der italienische Gewerkschafter Guido Bolaffi im Manifesto (3.4.86) geschrieben hat? Freilich verrät die Vorsilbe »neo-« die gleiche Hilflosigkeit wie die zur Zeit grassierende Vorsilbe »post-«: die Unfähigkeit, das Neue, das nach dem Alten kommt, in seiner eignen Qualität zu benennen. In diesem Fall wäre es doppelt schwächend, das Neue unbegriffen und als bloße »neo«-Form eines Alten passieren zu lassen. Denn die Wirkungen der Automation gehen ungleich weiter als die des Fließbands. Um der Spezifik jener Revolution Ausdruck zu verleihen, ziehe ich es daher vor, vom Übergang zur elektronischen Produktionsweise im Kapitalismus zu sprechen. Dieser Übergang revolutioniert wieder einmal die Lebensweise mit der Arbeitsweise. Eine neue Selektion der Leistungsfähigsten entsteht zusammen mit einer neuen »Übervölkerung« von Dauerarbeitslosen. Das geschieht sowohl im nationalen Rahmen wie auch weltweit.
»Modernisierung ist ein Prozeß, der zunächst einmal Ungleichheiten schafft: Jene, die >nicht mehr mitkommen< — Institutionen, Firmen einzelne —, geraten ins Hintertreffen gegenüber den Anpassungsfähigen, jenen, die sich nicht auf Besitzstände verlassen, sondern die neuen Chancen suchen [3] und nützen.« (Nonnenmacher 1987)
Die Stellung eines Individuums in der sozialen Hierarchie des Erfolgs, der macht und des Reichtums drückt wieder vermeintlich das »Erbgut« aus. Schwarze sind dümmer als Weiße und sollten »mit Prämien zu freiwilliger Sterilisation angeregt werden«, verkündigte der amerikanische Physiker W. Stockley, der 1956 den Nobelpreis für die Erfindung des Transistors erhalten hatte (FAZ, 8.9.84, 7), usw. So der neue gesunde Menschenverstand der Herrschenden nicht nur in den USA — mit starker Ausstrahlung nach unten. Es ist die Zeit neuer Rassismen.[4]
Im Unterschied zur Zeit unsrer Großväter stehen heute die Technologien bereit. Hitlers und Himmlers Träume wären heute machbar. Schon existieren die Samenbanken, wo Frauen »hochwertiges« Erbgut sich zuführen lassen können. Schon existiert ein Ensemble von Techniken und Installationen für extrauterine Befruchtung. Verfahren zur Genmanipulation und zur asexuellen identischen Multiplikation von Lebewesen stehen bereit. Urheberrecht und Eigentumsbegriff sind soeben auf technisch modifizierte Lebensmuster ausgedehnt worden.
Das politische Klima scheint den Individuen eine Ahnung davon zu vermitteln, daß ein Konkurrenzkampf neuen Typs angesagt ist. Die Deutsche Bank hat sich das Ihre gedacht, als sie für einen siebenstelligen Betrag ein Nutzungsrecht am Image von Boris Becker erworben hat. Neue Formen des Do it yourself der Ideologie haben sich herausgebildet. Und in der Ideologie ist eine neue Meritokratie des Lebens propagiert. Fit zu sein ist wichtiger denn je. Armut vermehrt sich wieder mitten im — und erst recht um den —- Reichtum; und sie schändet wieder. Neue Formen des entschlossenen Ketzertums der Armut, der Selbstabkopplung von Gegenmilieus kündigen das Einverständnis mit der neuen Ordnung auf eine Weise auf, die sie zugleich bestätigt oder ihr allenfalls, in einer Art von politiklosen Ghetto-Unruhen wie jüngst in Kreuzberg, Schwierigkeiten macht, an deren Bewältigung sie sich legitimieren kann wie der staatliche Informations- und Gewaltapparat im Umgang mit dem »Terrorismus«.
Neue obsessive Phantasmen kündigen sich an. Das Syphilisparadigma vom Beginn des Jahrhunderts aufersteht am Ende des Jahrhunderts in Gestalt des AIDS-Paradigmas. Die objektiven Gefahren der Ansteckung bilden die Kristallisationspunkte, an die ein ganzes Ensemble von Ängsten, Schuldgefühlen, Projektionen, eine Verschlingung medizinischer und moralischer Diskurse anschießen und eine Formation von populistischer Dynamik hervorbringen. AIDS ist nicht der einzige biomedizinische Druckpunkt dieser Art. Radioaktive oder chemische Verseuchung des Erbguts könnte zu einem weiteren Anlaß für ideologische Reaktionsbildungen werden.
So wenig wie die unleugenbaren Auslösergefahren vom Typ von AIDS oder erblich werdenden Strahlenschäden auf bestimmte gesellschaftliche oder politische Ordnungen beschränkt sind, so wenig die gesellschaftlichen Verarbeitungsmuster. In den sozialistischen Ländern wie in denen der Dritten Welt steht einiges zu erwarten. Aber es ist damit zu rechnen, daß die positive Resonanz zwischen Produktionsweise und den technisch gewendeten Sozialdarwinismen diesen zumindest der Möglichkeit nach wieder ihre extreme Dynamik geben könnte. Und diese Resonanz ist gefährlich positiv auf dem Boden einer neuen Offensive der Privatisierung der Naturressourcen menschlichen Lebens, der gesellschaftlichen Arbeit und überhaupt der Verteilung individueller Lebens- und Entwicklungschancen. Die Restauration des Privaten ist desto wirkungsmächtiger, als sie tatsächlich die Chancen und Karriereräume multipliziert, während sie sie zugleich, was das Resultat für eine immer grösser werdende, nach der Annahme von Peter Glotz nicht weniger als ein Drittel der Gesellschaftsmitglieder umfassende, Gruppierung drastisch minimiert.
Es ist schwer abzuschätzen, zu welchen ideologischen Dynamiken das führen wird, zumal das Resultat auch durch unser Handeln mitbestimmt sein wird und jeder Fatalismus sich verbietet. Aber der Hinweis auf diese Tendenzen genügt, daß wir uns durch das Veraltet-Sein des historischen Materials nicht vorschnell beruhigen lassen. Freilich sind die Bedingungen heute andere. Nicht nur haben die ausschlaggebenden Produktiv- und Destruktivkräfte eine völlig andere Qualität und Reichweite, auch kulturelle und ideologische Muster haben sich gewandelt. Vor allem das Verhältnis von Normalität und Abweichung gestaltet sich anders. Das alte Muster ist freilich noch nicht verschwunden. Der Vorsitzende der neofaschistischen NPD, Mußgnug, artikulierte seine Adressatengruppe als »die ganz Normalen«:
»Wir Nationaldemokraten appellieren nicht an die Schwulen, die Lesben und das ganze Ungeziefer, sondern an die ganz Normalen, an die Anständigen.« (Spiegel 6/1987)
Aber schon daß er das so aussprechen muß, verrät andere Strukturen und Kräfteverhältnisse auf dem Feld der Normalitätspolitik. Denn inzwischen hat sich eine Multiplikation von »Normalitäten« entwickelt, von der nicht recht zu sehen ist, wie und warum sie wieder beseitigt werden sollte. Die alte männliche Normalität ist herabgestuft auf ein Muster neben anderen. Zugleich aber ist eine neue »Meta-Normalität« entstanden, quer zur Pluralität von Kulturen und Identitäten. Es ist wie ein Gleichnis, daß sich auf dem Joggingpfad, dieser Karriere der Alerten, die »Fitneß-Bewußtesten« aller jener Kulturen, die Lesbe und der Macho, der Jude und der Neofaschist usw., in einträchtiger Gleichgültigkeit begegnen. Die neue Fitneß, das Mithaltenkönnen in den neuen Konkurrenzen und auch in den neuen Arbeitsweisen und Qualifikationen auf dem Niveau der elektronisch-automatischen Produktionsweise, aber auch die modischen, konsumtiven und diätetischen Kompetenzen der neuen »Lebensstil-Ökonomie«, all das zeigt zumindest die Tendenz, sich zu einer Normalität jenseits der Normalitäten zusammenzuschließen und Zugänge oder Ausschließungen bei Elitebildungen zu regulieren.
Als die Linke noch klassenreduktionistisch und ökonomistisch agierte, Sozialdemokraten und Kommunisten je auf ihre Weise, als die Sozialdemokraten die von der zum Stalinismus übergehenden Sowjetunion hegemonisierten Kommunisten verfolgen ließen und die Kommunisten die Sozialdemokraten als »Sozialfaschisten« denunzierten und im übrigen eine Politik des verbalradikalen Vor-den-Kopf-Stoßens des »Kleinbürgerlichen« als solchen betrieben, usw. usf., waren die Nazis Meister in der Bündelung unterschiedlichster Kräfte in einem neuen Block. Damals erarbeitete Antonio Gramsci die Umrisse einer strukturellen Alternative linker Politik, deren rechtzeitige Anwendung in Deutschland dem Nazismus einen tragfähigen Block hätte entgegenstellen können. Aber Gramsci arbeitete in doppelter Isolation von seiner Partei — getrennt von ihr durch die Zuchthausmauern und, auf andere Weise, durch wachsende Unterschiede in der Methodik antifaschistischer Politik. Sein Denken konnte erst lange nach seinem Tode zum Tragen kommen. Während er in Italien von Gefängnis zu Gefängnis geschleppt wurde, gestaltete sich die Situation in Deutschland immer hoffnungsloser. Die Kommunisten entlarvten das Parlament als »Schwatzbude« und praktizierten ihre Variante von Führerprinzip und straffster Disziplin von oben nach unten. So war ein demokratisches Bündnis gegen die Faschisten im Namen der Selbstbestimmung von unten bei Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz usw. ausgeschlossen. Die Nazis andererseits praktizierten — im Gegensatz zu einem verbreiteten Klischee einer bloßen »Befehlswirtschaft« des Ideologischen — »unterhalb« des Führerstaats und eingerahmt vom Staatsterrorismus — in großem Stil das Do it yourself der Ideologie. Sie waren Meister darin, Arrangements zu schaffen, in denen die Individuen selbsttätig waren und gerade dadurch »unabsichtlich« ideologische Subjekteffekte im Sinne des Nazismus produzierten.
Die Rezeption und Weiterentwicklung der Überlegungen Antonio Gramscis gehört daher zu den Bildungselementen der Linken, die nicht wieder verloren gehen dürfen. Sie konvergieren mit den Tendenzen zu einer alternativen Politikstruktur, für die auch die Politik des Kulturellen eine grundwichtige Dimension darstellt.
Zu den Lehren aus dieser Geschichte gehört schließlich der Hinweis auf die enorme Bedeutung des Zusammenhangs von kapitalistischer Produktionsweise und Lebensweise, die Bedeutung des Alltäglich-Kulturellen und der Entwicklung solidarischer kultureller Handlungsfähigkeiten in der Perspektive eines Projekts solidarischer Vergesellschaftung.
Auch wenn die — sozialen und demokratischen — Reformen der Psychiatrie in die Krise geraten sind, sollte deutlich geworden sein, daß die demokratische Psychiatrie an einem strategischen Punkt angesetzt hat: an der Kreuzung der Kapitalinteressen mit dem Bedarf an Handlungsfähigkeit der Lohnarbeiter, an der Grenze von Produktionsweise und Lebensweise, an der zugleich die staatliche Zwangsgewalt sich mit den Institutionen, Diskursen und Praktiken der Gesundheit und der »Normalität« verknüpft und, unter autoritären Verhältnissen, sich ihrer bedient im autoritär staatlich interpretierten Kapitalinteresse. An diesem Punkt setzen in verschiedener Weise auch die Gesundheitsbewegung und die alternativen Kulturbestrebungen an. Wichtiger als die Reformen der siebziger Jahre erscheint die Anstrengung, eine blinde staatliche und kapitalistische Refunktionalisierung der Gesundheitsinstitutionen und ihrer Spezialisten, der Ärzte, der Psychiater und der anderen »Psy-Agenten« zu verhindern. Der Arzt als Unterstützer der Bemühungen um Handlungsfähigkeit von unten, überhaupt die Institutionen und Akteure einer demokratischen Psychiatrie usw. werden eine Gesellschaft schon etwas besser schützen vor solchen jähen ideologischen Mutationen, wie sie zu den Vernichtungspolitiken des Nazismus geführt haben.