»So ehrten sie ihn, indem sie sich nützten und nützten sich,
indem sie ihn ehrten und hatten ihn also verstanden.«
Brecht
Als Zeichen der Freundschaft und des Dankes widmen wir Erich Wulff diesen Band zu seinem sechzigsten Geburtstag. Arzt und Theoretiker, Schriftsteller und Wahlkämpfer — wir wüßten nicht, wie wir diesen außergewöhnlichen Intellektuellen besser feiern könnten, als indem wir mit ihm zusammenarbeiten an der gemeinsamen, dritten Sache.
Nicht von ungefähr nehmen mehrere Beiträge dieses Bandes die Frage nach einem der wichtigsten Reformprojekte der Nach-68er-Ära wieder auf. Damals wagte eine Gruppe von Psychiatrietätigen den Weg aus der Anstalt in den sozialen Raum. In Italien formierte sich die Demokratische Psychiatrie, in anderen europäischen Ländern hatten sich bereits Reformprojekte entwickelt. Auch in der DDR, speziell in Leipzig, setzte sich die soziale Psychiatrie in Bewegung. In der Bundesrepublik kam es u.a. zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie, des Mannheimer Kreises, zur Psychiatrie-Enquete des Deutschen Bundestages. Eine Reihe von Umsetzungsversuchen des psychosozialen Projekts erblickte das Licht der Welt.
Aus vielen Gründen, inneren wie äußeren, sind diese Projekte heute in der Krise. Vor allem die äußeren Kräfteverhältnisse haben sich verschlechtert. Zum Teil sind Reformen von rechts umfunktioniert worden, und aus mancher Öffnung wurde geradezu ein Abbau an sozialer Versorgung: Einsparung statt Einsperrung... Die Rechtswende in der Wirtschaftskrise, befördert durch den Niedergang des sozialen Keynesianismus und durch die allgemeine Krise des Reformismus, symbolisiert durch den Ruin der Neuen Heimat und den darauf folgenden Zusammenbruch der Gemeinwirtschaft, haben die sozialen Rahmenbedingungen dramatisch verändert. Die Desolidarisierung zur »Zweidrittel-Gesellschaft« und die Propagierung eines neu-elitären und neorassistischen Menschenbilds stellen das soziale Engagement der helfenden Berufe generell in Frage. Wer nicht »mithalten« kann, »keine Leistung bringt«, wird als Störenfried des »Aufschwungs« zusammen mit den anderen Ersatzschuldigen, von denen Negt gesprochen hat: den Arbeitsimmigranten, Asylanten, Dauerarbeitslosen, Jugendlichen und Frauen ohne Ausbildung, den alten Menschen usw., wieder mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Manches von dem, was mit dem Nazismus untergegangen schien, schiebt sich wieder in den Bereich des Möglichen, wenn es nicht — wie vor allem in den USA — längst wieder praktiziert wird: von der »Eugenik« bis zur »Euthanasie«, neue Formen der Einschließung, der Eliminierung, der verstärkten Normalisierung und Mobilisierung zur Leistung.
In dieser Situation sollen die Aufsätze dieses Bandes beitragen zur fälligen Reorientierung der »psychosozialen Projekte«. Bloße Verteidigung der alternden Reformen hätte keinen Sinn. Ihre theoretischen Grundlagen sind weiterzuentwickeln. Dem dient nicht zuletzt Erich Wulffs bislang unveröffentlichte Abhandlung über die Dialektik von ideologischer Subjektion und Delinquenz.
Daß diese Festschrift als Sonderband der Zeitschrift Das Argument erscheint, hat seinen guten Sinn. Vor zwanzig Jahren wurde Argument 36, das erste Heft der Zeitschrift in ihrer bis heute beibehaltenen Konzeption eines Organs kritischer Wissenschaft, mit einem Aufsatz von Georg W. Alsheimer eingeleitet: »Amerikaner in Vietnam«. Alsheimer war das Pseudonym, das den im damaligen Südvietnam sich für die Befreiung engagierenden Erich Wulff schützte. Der Aufsatz fand rasche Verbreitung. Sartre druckte ihn in den Temps modernes, und Herbert Marcuse ließ ihn ins Englische übersetzen.
Von da an begleitete der über Dorothee Solle zum Argument gekommene Erich Wulff die Entwicklung der Zeitschrift. Viele wesentliche Beiträge hat sie ihm zu verdanken, von der »Transkulturellen Psychiatrie« bis zur Untersuchung der Herrschaftsfunktionen der Psychiatrie in Ost und West. Nicht zuletzt aber verkörpert Erich Wulff jenen viel zu seltenen Typus des engagierten Intellektuellen und Wissenschaftlers, der seine Kräfte in der Perspektive der sozialen Befreiung entfaltet und vielseitig interessiert die Entwicklung einer theoretischen Kultur mitträgt. Nichts ist ihm so fern wie das Pendeln zwischen Privatismus und Fachidiotie. Menschen wie er sind die idealen Adressaten einer Zeitschrift wie Das Argument. Erich Wulff zu ehren heißt auch, an einer konkreten Utopie festzuhalten.
8. November 1986
Wolfgang Fritz Haug
und
Hans Pfefferer-Wolf