Ich habe einige Erinnerungen, allerdings
höchst fragmentarische. Sie zeigen mir
die mit einem Messer abgeschabten
Fischschuppen; einige bleiben am Fisch
haften, während andere ins Wasser fallen.
Wenn man das Wasser umrührt,
wirbeln einige schimmernd an die Oberfläche.
Aber Blut haftet an ihnen, und
selbst mir scheint es wahrscheinlich, daß
sie den Kennern das Vergnügen verderben.
Lu Hsün, »Zum Gedächtnis Wei Su-yüans« (1934)
Tschiang Tsching erblickte im März 1914 als Li Tschin das Licht der Welt. Sie wollte nicht das genaue Datum ihrer Geburt preisgeben, weil sie, wie sie sagte, nicht wünsche, daß die Massen ihren Geburtstag feierten. Ihr erstes Zuhause war in Tschu-tscheng, einer Stadt mit ungefähr achtzigtausend Einwohnern am Südufer des Wei-Flusses, etwa achtzig Kilometer von der großen Hafenstadt Tsingtao in der Provinz Schantung entfernt. Diese Provinz lag ungeschützt zwischen dem Golf von Tschihli und dem Gelben Meer und war deshalb eine der ersten Regionen, die eine Beute des ausländischen Imperialismus wurden. 1860 wurde die Küstenstadt Chefoo an Frankreich abgetreten. 1898 wurde der Hafen von Wei-hai-wei an die Engländer und die Halbinsel von Tsingtao an Deutschland verpachtet. Im Geburtsjahr Tschiang Tschings, in dem der Erste Weltkrieg begann, eignete sich Japan das von den Deutschen gehaltene Gebiet von Schantung an, als eine Basis, von der aus einmal ganz China von dem sich mächtig ausdehnenden japanischen Kaiserreich geschluckt werden konnte. In ihren Kindheitsjahren sorgten die lästige militärische Anwesenheit der Japaner und die Kolonialverwaltung für chronische Unruhe in der ganzen Provinz. Diese Unruhe entlud sich immer wieder in blutigen Zusammenstößen.
Trotz dieser imperialistischen Bedrohung hatte die Provinz eine imponierende revolutionäre Tradition. Bei den Taiping- und Boxeraufständen in der Mitte beziehungsweise am Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren starke Kräfte aus der Provinz Schantung beteiligt. Auch für die Revolution von 1911 stellte diese Provinz viele Kämpfer. Die Gefallenen wurden als Märtyrer geehrt. Schantung war die diplomatische cause célèbre des Zwischenfalls vom 4. Mai 1919. Neun Jahre später war die Hauptstadt der Provinz der Schauplatz des Tsinan-Zwischenfalls, der eine neue Periode der chinesisch-japanischen Konfrontation einleitete.
Der Lebensstandard in Schantung, einer dichtbevölkerten Provinz Chinas (der zweitgrößten), war katastrophal schlecht - ein Umstand, der in den Kindheitserinnerungen Tschiang Tschings deutliche Spuren hinterließ. In normalen Zeiten aßen die einfachen Leute nur eine oder zwei richtige Mahlzeiten in der Woche; Darmbeschwerden und langsamer Hungertod waren an der Tagesordnung. Hungersnöten fiel eine große Zahl von Menschen zum Opfer. In Tschiang Tschings heimatlichem Verwaltungsbezirk Tschu-tscheng waren die Lebensverhältnisse vergleichsweise besser als in den anderen Bezirken, und Kultur und Erziehungswesen standen auf verhältnismäßig hoher Stufe. Nach dem Sturz der letzten Dynastie hatte man ein modernes Erziehungssystem eingeführt. In den beiden ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts (als Tausende von Studenten auswanderten) exportierte Tschutscheng mehr Studenten nach Japan, Europa und Amerika als irgendein anderer Kreis der Provinz. Später geriet auch Tschiang Tsching unter den Einfluß verschiedener Auswanderer, die unter dem Eindruck ihrer Erfahrungen im Ausland als Lehrer, Schriftsteller, Kuomintang-Reformer oder radikale Verschwörer zurückgekehrt waren.
Bereits an unserem ersten Abend in Peking hatte sich Tschiang Tsching in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie begann vorsichtig und hielt sich zunächst an die abgedroschenen politischen Schlagworte - die nicht alle kommunistischen Ursprungs waren - indem sie von den Mißständen der »alten« Gesellschaft, der Perfidie der Klasse der Grundbesitzer und vom nationalen Widerstand gegen alle möglichen Formen des ausländischen Imperialismus sprach. Später sprach sie dann freier und griff nur noch seiten auf ihr ideologisches Rüstzeug zurück.
»Da Sie gern etwas über meine Vergangenheit wissen möchten, will ich Ihnen kurz etwas darüber erzählen«, begann sie. »Ich wuchs auf in der alten Gesellschaft und hatte eine elende Kindheit. Ich haßte nicht nur die chinesischen Grundbesitzer, sondern fühlte auch eine spontane Abneigung gegen das Ausland, da die fremden Teufel aus dem Osten und aus dem Westen uns herumzukommandieren pflegten. Uns fehlten Nahrung und Kleidung. Die Ausländer sahen auf uns herab und nannten China den >kranken Mann im Osten<.«
Li Tschin war der erste von mehreren Namen, die sie trug, bevor sie den Namen Tschiang Tsching annahm - es war der, den sie in der kommunistischen Gemeinschaft führte. Sie hatte sehr viele Geschwister - wie viele es genau waren, sagte sie nicht - das zweitjüngste war wenigstens ein Dutzend Jahre älter als sie selbst. (Falls sie für ihre Zurückhaltung, wenn es um die Zahl und die Namen von Familienmitgliedern und später ihren Freunden ging, überhaupt ein bewußtes Motiv hatte, dann wahrscheinlich das, daß sie während des langen politischen Kampfes die Überlebenden vor der öffentlichen Aufmerksamkeit, vor Nachforschungen oder Beschuldigungen zu schützen suchte.) Ihr Vater war bei ihrer Geburt ein »alter Mann« von etwa sechzig Jahren. Obwohl auch ihre Mutter bereits über vierzig war, erschien sie ihr in der Erinnerung als viel jünger und viel zärtlicher als ihr Vater. Ihr Vater hatte als Zimmermannslehrling begonnen und später eine eigene Werkstatt besessen, die auf die Herstellung von Rädern spezialisiert war (für die berühmten quietschenden Schubkarren von Schantung). »Weil wir arm waren und nicht genug zu essen hatten, schlug oder beschimpfte mein Vater ständig meine Mutter.« Sein Benehmen brachte ihm den Spitznamen ma-jen i-schu-tschia ein, »Künstler in der Kunst der Beschimpfung«. Seine Kinder verprügelte er, wann immer er dazu aufgelegt war, wenn er aber brutal die Mutter angriff, scharten sich die Kinder um sie und taten ihr Bestes, um sie zu schützen.
Manche seiner Wutanfälle blieben ihr unvergeßlich. Zur Zeit des Laternenfestes, das am fünfzehnten Tag des ersten Mondrnonats gefeiert wird, hatte eine ganze Reihe von Grundbesitzern eine große Menge Laternen aufgestellt. Anscheinend erbost über diese Zurschaustellung eines ihm unerreichbar bleibenden Reichtums, ergriff ihr Vater einen Spaten und verfolgte damit seine Frau; er traf sie zuerst an der Schulter, dann an der Hand und brach ihr dabei den kleinen Finger. Als sich Tschiang Tsching schützend vor ihre Mutter stellte, schlug der Vater das Kind so heftig auf den Mund, daß ein Zahn herausbrach. Als Tschiang Tsching diese Szene schilderte, von der ihre Mutter eine verkrüppelte Hand zurückbehielt, schob sie mit dem Zeigefinger die Oberlippe hoch, um zu zeigen, wo sie damals den Milchzahn verloren hatte. Gleichsam als ideologische Reflexion fügte sie hinzu: »Erst dachte ich, wenn ich sah, wie mein Vater meine Mutter und uns Kinder tyrannisierte, daß alle Männer schlecht seien. Aber in Wirklichkeit hat ihn nur die drückende Armut dazu gebracht.« Was seine Gründe auch gewesen waren, für ihre Mutter schien dieser Zwischenfall den Tropfen bedeutet zu haben, der das Faß zum Überlaufen bringt. Sie band sich Tschiang Tsching auf den Rücken und floh mit ihr. Sie kamen nie mehr zurück. Obwohl sie damals noch klein gewesen sei, fügte Tschiang Tsching geheimnisvoll hinzu, habe sie von jenem Augenblick an gelernt, ihren Weg im Dunkeln zu finden und sich später nachts auch allein zurechtzufinden.
Ein Grundbesitzer im Kreis Tschu-tscheng, der zwar eine Frau und mehrere Konkubinen, aber noch keinen männlichen Nachkommen hatte, stellte ihre Mutter als Dienerin ein. Tschiang Tsching weigerte sich zunächst, sie zu begleiten, willigte dann aber doch ein. Von diesem Zeitpunkt an sieht sie in ihrer Erinnerung ihre Mutter stets in einem großen Kreis von Menschen. Warum ihre Mutter damals eine Stellung in diesem Haushalt annahm, mochte Tschiang Tsching zu der Zeit nicht verstanden haben, denn sie gab nachträglich die folgende Rechtfertigung: »Meine Mutter ging arbeiten, damit ich die Schule besuchen konnte. Und doch konnte ich die Grundschule nur beenden, weil der Unterricht und die Schulbücher frei waren. Trotzdem hatte ich noch oft Hunger oder bekam nur Kaltes zu essen, was zu einer chronischen Magen-Darmverstimmung führte.« Sie erinnerte sich, wie sie einmal erbrechen mußte als sie die kalten Eierkuchen heruntergewürgt hatte, die ihr Verwandte gegeben hatten, um ihren quälenden Hunger zu stillen, und wie sie lange Zeit an Ekel und Brechreiz gelitten hatte.
Als Kind habe sie auch nie neue oder überhaupt richtige Mädchenkleider bekommen (hier klang in ihrem Ton deutlich ein Ressentiment mit). Es waren alles getragene Sachen von einem ihrer Brüder. Ihr Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, die zum Schabernack herausforderten. Eine der kleinen Töchter in der Familie, für die Tschiang Tschings Mutter arbeitete, hatte sich einen Sport daraus gemacht, sie, Tschiang Tsching, wegen ihres komischen Aussehens aufzuziehen. Als sie wieder einmal zum Hänseln aufgelegt war, zog sie Tschiang Tsching an den Zöpfen. Wütend und mit aller Kraft stieß Tschiang Tsching die Angreiferin zurück. Es kam zu einer schrecklichen Szene, bei der Familienmitglieder dem anderen Kind zu Hilfe eilten. Das Endergebnis war, daß Tschiang Tschings Mutter gehen mußte. Aber ihre Mutter fand bald eine neue Stellung, diesmal in dem Hause eines »bankrotten Grundbesitzers«; allerdings bedeutete der Verlust seines Vermögens, daß es im Hause fast nichts zu essen gab. Eines Nachts saß Tschiang Tsching allein in dem Zimmer, das sie mit ihrer Mutter teilte; durch den schadhaften Fensterrahmen, dem die Papierverkleidung fehlte, regnete es herein. Die einzige Lichtquelle war eine kleine Petroleumlampe. Tschiang Tsching, die nichts zu tun hatte, saß stundenlang bewegungslos auf dem kang (dem für das nordchinesische Haus charakteristischen breiten Steinbett) und wartete auf ihre Mutter. Als gegen Morgen der Regen aufhörte, erschien ihre Mutter. Erstaunt, ihre Tochter in derselben aufrecht sitzenden Haltung zu finden, in der sie sie verlassen hatte, brach sie in Tränen aus und wiegte Tschiang Tsching in ihren Armen. Sie gab ihr ein Brötchen, aber das Kind war zu erschöpft, um mehr als ein Stückchen abzubeißen. Ihre Mutter konnte gar nichts essen und verwahrte den kostbaren Bissen, um ihn später mit Tschiang Tsching zu teilen.
»Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, lernte ich, in der Dunkelheit nach meiner Mutter zu suchen.« Sie wiederholte diese Feststellung mehrere Male und überließ es ihren Zuhörern, darüber nachzudenken, worin die nächtliche Beschäftigung ihrer Mutter bestand.
Dieses einsame Herumirren in der Nacht wurde ein Motiv ihrer Kindheitserinnerungen. Andere Menschen, sagte Tschiang Tsching, fürchten sich, wenn sie bei Dunkelheit unterwegs sind, vor der Begegnung mit Teufeln, Geistern oder Göttern; davor hatte sie nie Angst gehabt. Aber etwas fürchtete sie: die Wölfe.[1]Jahrelang lebte sie mit der unbezwingbaren Angst, daß sie sie aufspüren und fressen würden. Der beunruhigende Gedanke an Wölfe erinnerte sie an ein anderes Ereignis in einem Tschen-Dorf, wo jedermann wie ihre Familie den Zunamen Li führte. Sie hatte an jenem Tag nur eine Mahlzeit gehabt und war vor Hunger in den Gassen herumgelaufen, um ihre Mutter zu suchen. Das nur spärlich bevölkerte Dorf wimmelte von Hunden. Plötzlich überfiel sie eine Meute von rasenden Hunden, und einer biß sie ins Bein. Sie hob den Saum ihres Kleides und zeigte uns die schwach erkennbaren Narben über dem Knöchel. Alarmiert durch das Hundegebell, war ihre Mutter auf sie zugelaufen, hatte sie in ihre Arme gerissen und dann auf dem Rücken heimgetragen - die Mutter mit tränenüberströmtem Gesicht.
Daß ihre Mutter die Stellung im Haushalt des bankrotten Grundbesitzers annahm, hatte zur Folge, daß Tschiang Tsching wieder eine andere Grundschule in Tschutscheng besuchen konnte. Ihre Zulassung wurde befürwortet von einem Gelehrten namens Hsüe Huan-teng, der eine hervorragende Rolle in der Bewegung des 4. Mai spielte (die für die Erziehung auch der Armen, und zwar beider Geschlechter, eintrat), und der später Professor am Lehrerinnenseminar in Peking wurde (das richtungweisend war für die chinesisch verwaltete Hochschulausbildung für Frauen). Als sie sich in der Grundschule anmeldete, gab Professor Hsüe ihr einen neuen Namen, Yün-ho (Wolkenkranich), der zu ihrer hoch aufgeschossenen schlanken Gestalt paßte. Vom Kreis geführt, war die Schule hauptsächlich für die Töchter der Grundbesitzer errichtet worden. Die wenigen Mädchen aus der Arbeiterbevölkerung waren nur »zum Vorzeigen« aufgenommen worden. Zu arm, um eine Uniform kaufen zu können, trug Tschiang Tsching, was sie bekam, meistens abgelegte Sachen von Jungen. Die anderen Kinder fanden ihre Erscheinung lächerlich. Der eine ihrer beiden lädierten Schuhe ließ ihre große Zehe sehen; spöttisch nannten sie ihn »ihren großen Bruder«. Ihre Fersen, als »Enteneier« verspottet, ragten am anderen Ende der Schuhe heraus.
Ähnlichem Spott war sie auch von seiten einer »Tante« und einer »Nichte« in der Familie des Arbeitgebers ihrer Mutter ausgesetzt (die Tante und die Nichte waren vermutlich Verwandte des Arbeitgebers und nicht Angehörige Tschiang Tschings). Einmal wurde sie von den beiden so verspottet, daß sie im Zorn der Tante gegen die Brust schlug. Beide Frauen schrien wehleidig auf, wehrten sich aber nicht. Warum? Weil sie (Li Tschin) zu klein war, erklärte sie. Ganz aus der Fassung gebracht durch den Zwischenfall, rannte sie zur Schule und kündigte dem Direktor an, daß sie die Schule verlassen und weglaufen wolle. Zu ihrer Verwunderung hörte er sie voller Mitgefühl an, trocknete ihre Tränen und sagte ihr, sie dürfe sich über solche Dinge nicht ärgern. Worauf es allein ankam, war, daß sie fleißig lernte und unbeirrt ihre Schulaufgaben erledigte. Sie gab nach. Mit der Zeit bekamen ihre Lehrer Achtung vor ihr, und einige gewannen sie sogar lieb. Aber die Schule führte auch zu neuen Zwischenfällen. Die Stunde, die sie am meisten haßte, war hsiu-schen - Selbst-Erziehung in konfuzianischer Ethik.[2] Als sie nun eines Tages in dieser Stunde vor sich hinträumte, wurde ihr Lehrer wütend und zog sie in die Toilette, wo er fünfmal mit einem Brett auf sie einschlug. (Derselbe Lehrer hatte auch, wie Tschiang Tsching bemerkte, die Tochter des Arbeitgebers ihrer Mutter geschlagen.) Nach dem Unterricht schien ihm sein Verhalten leid zu tun, und er versöhnte sich mit ihr.
Es kam jedoch zu weiteren Zwischenfällen, und nach einem Semester wurde sie von der Schule verwiesen. Damals gelobte sie, sich nie wieder von irgend jemandem einschüchtern zu lassen. So endeten ihre Erfahrungen mit der Grundschule abrupt im fünften Jahr. Die Welt, bemerkte Tschiang Tsching mit Skepsis, habe oft bewundert, wie lange schon China ein Kulturvolk sei. Aber als Kind habe sie erfahren, in welch tiefer Barbarei die Chinesen lebten. In der Provinz Schantung sei es in ihrer Kindheit gang und gäbe gewesen, daß die Ortstyrannen die eigenen Landsleute enthaupteten und die Köpfe auf der Stadtmauer zur Schau stellten, um die Bevölkerung in Schrecken zu versetzen. Als sie das als Kind sah, wurde sie krank und entdeckte, daß »die Menschen kein Herz haben«. Und als ihre Mutter einmal erfuhr, daß solch ein blutiges Ereignis wieder bevorstand, zu einer Zeit, wo sie nicht zu Hause sein würde, bat sie die Nachbarn, ihrem Kind die Augen zu verbinden. Aber auch mit verbundenen Augen konnte Tschiang Tsching sich die grauenvolle Schlächterei vergegenwärtigen.
Noch andere Schreckensbilder aus ihrer frühen Kindheit hatten sich ihr unauslöschlich eingeprägt. Tschu-tscheng war ein fruchtbares Gebiet. Aber jedes Jahr zur Erntezeit plünderten Banditen und auch einige Grundbesitzer die Ernten der Bauern. Wer auf frischer Tat erwischt wurde, kam ins Gefängnis, und einige der Übeltäter wurden erschossen oder enthauptet. Zwei Offiziere kontrollierten regelmäßig die Gefängnisse im Gebiet von Tschutscheng und fällten die Todesurteile. Als ein Kind, das gewohnt war, auf die Geräusche der Stadt zu achten, lernte Tschiang Tsching die Schüsse zu deuten, die von der hohen, aus Ziegeln errichteten Stadtmauer widerhallten; aus der Zahl der Schüsse schloß sie auf die Zahl der Getöteten. Sie erfuhr, daß die Offiziere während ihrer täglichen Inspektionen der Gefängnisse oft ein Dutzend oder mehr Menschen töteten, darunter auch solche, die offenbar unschuldig waren.
Warum mußten die Unschuldigen sterben? Es war die Taktik der Militärgouverneure, deren Hauptsorge die eigene Sicherheit war, die Stadttore bei Tagesanbruch gerade einen Spalt weit zu öffnen und sie bei Einbruch der Dunkelheit wieder zu verrammeln. Und weil sie fürchteten, daß Fremde und andere nicht identifizierbare Personen Unruhe stiften könnten, wurden solche ungebetenen Gäste sofort erschossen. Auf Grund ihrer Beobachtungen kam Tschiang Tsching dahinter, daß die Hinrichtungen am Kleinen Osttor stattfanden. In der Nähe befand sich eine Hängebrücke, die schwankte, wenn man hinüberging. Dabei war ihr immer etwas unbehaglich zumute, aber sie fürchtete sich nicht, denn der Ort, an dem sie lebte, war auf einem Felsen gebaut, und so war sie an Höhen gewöhnt.
Sie erinnerte sich, daß sie nicht begreifen konnte, warum manche Menschen den Wunsch hatten, andere zu töten. Noch bestürzender war die öffentliche Begeisterung über solche Ereignisse. Wenn in Tschu-tscheng Hinrichtungen stattfanden, dann beobachteten die »reichen Leute« das Schauspiel von der Stadtmauer aus. Es war eine Szene von düsterer Eindringlichkeit. Rote Quasten flatterten von den breiten Schwertern, mit denen den Opfern der Kopf abgetrennt wurde. Die Gefangenen wurden im Gänsemarsch auf den Platz geführt, jeder von ihnen mit einem Plakat auf dem Rücken. Selbst wenn Tschiang Tsching die Hinrichtungen nicht beobachtete, sondern nur die Geräusche wahrnahm, wußte sie, was das Händeklatschen bedeutete. Jede Beifallssalve signalisierte einen Toten. Und sie wußte: die, die am lautesten klatschten, waren die Reichen.
»Einmal habe ich auch hängende Köpfe gesehen«, fuhr sie fort. Damals wohnte sie mit ihrer Familie in Tschu-tscheng zwischen den inneren und den äußeren Stadtmauern, besuchte aber die Schule innerhalb der Stadtmauern. Als sie eines Tages von der Schule heimkam, wurde sie auf ein merkwürdiges Geräusch aufmerksam. Sie blickte auf und sah einen alten Mann auf sie zukommen, der über der Schulter eine Stange trug, an deren beiden Enden je ein Kopf baumelte, aus dem noch das Blut tropfte. Wie betäubt wandte sie sich ab und rannte blindlings nach Hause. Sie warf ihre Bücher auf den Boden, fiel aufs Bett und bekam prompt hohes Fieber. »Ich glaube, das genügt, um Ihnen eine Vorstellung von meiner Kindheit zu geben«, sagte Tschiang Tsching mit ruhiger Stimme.
Tschiang Tsching wuchs in gefährlichen Zeiten auf, was zur Folge hatte, daß sie nie das Gefühl der Bedrohung und der Unsicherheit verlor. Vom Beginn der zwanziger Jahre an rüttelte die zunehmende Macht der Kriegsherren und das Erstarken des Imperialismus, die beide die Einheit der Nation bedrohten, aber auch das Anwachsen des großstädtischen Industrialismus in den Vertragshäfen von Schanghai und Tsingtao das politische Bewußtsein der jungen Generation der Bewegung des 4. Mai auf. Kommunistische und nationalistische Parteiagenten suchten den Gedanken der Revolution zu fördern, indem sie in den großen Städten den Aufruhr schürten; sie suchten den heimlichen Kontakt mit den Arbeitern in den im ausländischen Besitz befindlichen Fabriken, verbreiteten auf diesem Wege marxistische Propaganda und riefen zu Streiks auf, bei denen gegen die physische Ausnutzung der Arbeiter protestiert wurde, gegen die lange Arbeitszeit, die Beschäftigung von Kindern und die jämmerlichen Unterbringungsbedingungen. Als in den Baumwollspinnereien von Tsingtao und Schanghai gestreikt wurde, reagierten die japanischen Besitzer mit der Verhaftung von »Radikalen«, von denen viele Studenten waren. Die furchtbarste Konfrontation in den zwanziger Jahren fand am 30. Mai 1925 in Schanghai statt, als ein Demonstrationszug von Studenten, Kaufleuten und Arbeitern, der sich gegen die Ausbeutung chinesischer Arbeiter in von Japanern und Briten geleiteten Fabriken richtete, von britischer Polizei beschossen wurde. Die Nachricht von diesem blutigen Zusammenstoß löste eine gewaltige öffentliche Reaktion aus, die sich auf Tsingtau und andere chinesische Städte ausdehnte.
Ende der zwanziger Jahre waren Tausende von Japanern zur Verteidigung ihrer langfristigen Interessen in Schantung in Tsinan und Tsingtao stationiert. Obwohl Tschiang Tsching auf diese Phase der politischen Geschichte Chinas nicht näher einging, hat sie ihr unverkennbar ihren Stempel aufgedrückt. Im Frühling 1928, als sie gerade vierzehn war, waren die von Tschiang Kaischek und den Kriegsherren Feng Yü-hsiang und Yen Hsi-schan geführten nationalistischen Streitkräfte zur zweiten Offensive des Nordfeldzugs angetreten, um die Einigung Chinas zu vollenden. Japan setzte umgehend eine Expeditionsstreitmacht in Marsch, um die Interessen von Tausenden von japanischen Bewohnern Tsinans zu wahren und den Vormarsch der Nationalisten nach Norden zu blockieren. Am 2. Mai verlegte Tschiang Kai-schek sein Hauptquartier nach Tsinan, um den japanischen Truppen zuvorzukommen. Während der ersten Maiwoche herrschte zwischen den japanischen und den nationalistischen Streitkräften in Tsinan ein gespannter Burgfrieden, der durch gegenseitige Kontaktaufnahme und zahlreiche kleine Zwischenfälle unterbrochen wurde. Am 7. Mai zog dann Tschiang Kaischek den Großteil seiner Truppen ab und setzte mit ihm den Marsch nach Norden fort. Die Truppen, die er zurückließ, fielen den japanischen Okkupanten in die Hände, die fast ein Jahr ihr Terrorregiment führten. Sie verwalteten die Stadt mit Hilfe chinesischer Handlanger, hoben die Presse- und VersammJungsfreiheit auf und metzelten alle chinesischen Bürger nieder, die in Verdacht standen, mit Tschiang Kai-schek zu sympathisieren.[3] Tschiang Tsching erwähnte diese schreckliche Zeit, die sich so stark auf ihr Leben auswirkte, nur nebenbei.
Nachdem 1911 der letzte Mandschu-Kaiser gestürzt worden war, übernahm - so fuhr Tschiang Tsching fort - der Militärgouverneur Tschu Yü-pu das Kommando über die Provinz Tschihli (später Hopeh), in der auch die Hauptstadt Peking lag. 1927 zog Tschiang Tsching mit ihrer Mutter nach Tientsin, wo sie bei einer älteren Schwester wohnten, die dort mit einem untergeordneten Beamten verheiratet war, der unter Tschu Yü-pu und anderen Kriegsherren des Nordens diente. 1927 war für sie das Jahr, in dem »Tschiang Kai-schek die Revolution verriet. Ich war damals erst dreizehn. Ich mußte die gesamte Hausarbeit erledigen - die Böden wischen, die Zimmer putzen, einkaufen und ins Pfandhaus gehen. Aber diese körperliche Arbeit härtete mich auch ab. Dennoch wünschte ich mir sehr, weiter zur Schule gehen zu können. Aber die Gebühren waren in allen Schulen so hoch, daß ich es mir nicht leisten konnte. Außerdem verlor mein Schwager seine Stellung.« Später in demselben Jahr - sie erinnerte sich, daß es kurz vor der Ankunft der Truppen des Nordfeldzugs war (die Tientsin am 6. Juni 1928 erreichten) - entschloß sie sich, von zu Hause wegzugehen. Sie hoffte, in einer chinesischen Zigarettenfabrik Arbeit zu finden; damals wurden Zigaretten noch mit der Hand gedreht, und diese Arbeit wurde meistens von Kindern verrichtet. Aber ihr Schwager verbot es ihr, ungeachtet der beschränkten Verhältnisse, in denen er lebte und die ihn gezwungen hatten, nahezu alle Besitztümer der Familie ins Pfandhaus zu bringen. Er sagte ihr, die Arbeit in solch einer Fabrik würde sie zu einer »kleinen Bürokratin« machen (eine Bezeichnung, die sie nicht erklärte). Obwohl sie sich über seinen Widerstand ärgerte, fügte sie sich seinem Wunsch. 1929 zog er mit ihrer Schwester nach Tsinan, der Provinzhauptstadt von Schantung, und nahm auch Tschiang Tsching und ihre Mutter mit. Im westlichen Schantung gelegen, zehn Kilometer vom Gelben Fluß, war Tsinan eine bequeme Zweitagereise von dem heiligen Berg des Konfuzitis, Tai-schan entfernt. Tsinan war seit der Ming-Dynastie, als die innere Stadtmauer mit ihrer Fülle von eindrucksvollen Toren und Türmen errichtet wurde, ein lebendiges kulturelles Zentrum gewesen.
Die äußere Stadtmauer stammte aus der Zeit der Mandschu-Dynastie, damals war Tsinan das Prüfungszentrum der Provinz Schantung für den Verwaltungsdienst. Zu der Zeit, als Tschiang Tsching dorthin zog, hatte die Stadt mehr als vierhunderttausend Einwohner, und das städtische Verkehrsnetz und die Eisenbahnverbindungen mit der Außenwelt waren die besten der ganzen Provinz. Dank der Reformfreudigkeit zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts waren die Schulverhältnisse ausgezeichnet; es gab über zweihundert Grundschulen, mehrere höhere Schulen und Colleges und schließlich die Cheeloo-Universität. Das intellektuelle Leben stand auf allen Ebenen des Erziehungssystems unter dem Einfluß einer fortschrittlich ausgerichteten Lehrerschaft, die sich zu einem hohen Prozentsatz aus Mitgliedern der KMT zusammensetzte. Die ethnische Zusammensetzung der Stadtbevölkerung war seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts nicht mehr einheitlich, als nämlich die Gemeindeverwaltung die Stadt Ausländern geöffnet hatte, in erster Linie Europäern; überwiegend war der deutsche Anteil. Die neuesten Einwanderer waren Japaner; ihre Zahl betrug rund fünftausend zu der Zeit, als Tschiang Tsching in die Stadt zog.[5] Seit der Zeit der Ming-Dynastie war Tsinan berühmt gewesen wegen seiner Theater, in denen einige der Darsteller - entgegen dem sonst in China herrschenden Brauch - Frauen waren. In diesem historischen Kulturzentrum fand nun Tschiang Tsching zu ihrem Beruf als Schauspielerin. Sie begann ihr Studium am Schantunger Provinztheater für Experimentelle Kunst, einer Art Internat. Wie im republikanischen China üblich, kam für das Schulgeld und die Lebenshaltungskosten die Regierung auf, dafür waren die Absolventen im allgemeinen verpflichtet, für eine unbestimmte Zeitdauer als Lehrlinge am Theater zu arbeiten. »1929 wurde ich zum Schantunger Provinztheater für Experimentelle Kunst in Tsinan zugelassen. An dieser Kunsthochschule studierte ich hauptsächlich modernes Drama, aber auch ein wenig klassische Musik und klassisches Drama. Ich war damals fünfzehn Jahre alt. Wir brauchten kein Schulgeld zu zahlen, hatten die Mahlzeiten frei und bekamen ein monatliches Taschengeld von zwei Yüan (ungefähr sechzig US-Cents).[6]
Da die Schule vorzugsweise Absolventen der höheren Schule und sogar Studenten aufnahm, erfüllte ich eigentlich nicht die Vorbedingungen. Ich wurde nur deshalb aufgenommen, weil es in der Schule zu wenig Mädchen gab. Ich studierte dort nur ein Jahr, lernte dabei aber sehr viel. Ich studierte alles, wozu sich Gelegenheit bot. Ich stand vor Tagesanbruch auf und bemühte mich, soviel wie möglich zu lernen.« Sie eignete sich eine umfassende Kenntnis der dramatischen Literatur an und lernte, traditionelle Opernpartien zu singen und modernes Theater zu spielen; darüber hinaus wurde sie mit verschiedenen Musikinstrumenten vertraut gemacht, wozu auch das Klavier gehörte, damals für China ein exotisches Instrument. Drei Monate lang hatte sie Klavierunterricht. Obwohl ihr Lehrer sie gern hatte, war er ein strenger Zuchtmeister. Damit sie beim Spiel das richtige Tempo beachtete, schlug er ihr mit einem Stock aufs Handgelenk - eine pädagogische Maßnahme, die sie mißbilligte. Mit so wenig Übung gelangte sie nie über das Spielen der Tonleitern und elementarer Übungen hinaus. In der Klasse Tschiang Tschings waren nur drei Mädchen, und sie war die jüngste. Die beiden anderen sahen, ebenso wie alle übrigen Schüler, wegen ihrer fadenscheinigen Kleidung auf sie herab. Die Frau des Direktors, Yü Schan, die am Ersten Lehrerinnenseminar in Tientsin studiert hatte (wie Übrigens auch die Frau Tschou En-Iais, Teng Ylng-tschao), war die Schwester eines der beiden Mädchen.[7] Sie war »reaktionär« und schikanierte Tschiang Tsching unaufhörlich. Aber Tschiang Tsching ließ sich nicht einschüchtern und brachte es sogar fertig, den beiden anderen Mädchen Streiche zu spielen. Zumal an einen erinnerte sie sich noch jetzt, nach mehr als vierzig Jahren, mit Vergnügen - und nicht ohne Bosheit, wie sie freimütig gestand. Die Schule befand sich in einem alten Tempel des Konfuzius, in dessen Räumen es im Sommer erstickend heiß war. Nach dem Unterricht pflegten die Schüler in den großen Hauptsaal zu gehen, um sich dort abzukühlen. Tschiang Tsching erinnerte sich noch lebhaft an die riesige Statue des Konfuzius, die in der Mitte der Halle stand. Er trug einen gewaltigen Hut mit Perlenschirm vorn und hinten; flankiert wurde er von zweiundsiebzig Weisen, seinen Schülern.
An einem drückend heißen Abend flüchtete sich Tschiang Tsching in den großen Saal und ließ sich auf einen alten Rohrstuhl fallen. Da kamen die beiden anderen Mädchen herein und verlangten, sie solle aufstehen und ihnen Stühle bringen. Tschiang Tsching beschloß, ihrem Wunsch auf ihre eigene Weise nachzukommen. Zuerst erbot sie sich, ihnen die Lampe zu halten, dann trug sie zwei Stühle für die beiden in den Tempelsaal. Als sich die beiden stolz darauf niederließen, schlüpfte Tschiang Tsching, die Lampe in der Hand, durch die Tür, schlug das Tor hinter sich zu und rannte davon. Eingeschlossen in dem stockdunklen unheimlichen Saal, stimmten die Mädchen ein großes Geschrei an und bettelten darum, herausgelassen zu werden. Mehrere Jungen aus der Schule eilten herbei, um sie zu trösten, dann zogen sie los, um Tschiang Tsching zu fassen und »ihr eine Lektion zu erteilen«, wie sie es ausdrückte. Sie war so schnell sie konnte zu den Büschen am Flußufer gerannt, wo man sie nicht finden konnte. Aber die Mädchen wußten, daß sie schließlich in den Schlafraum zurückkommen mußte, den sie alle teilten. Dann würden sie mit ihr abrechnen. Als Tschiang Tsching glaubte, daß alle schliefen, schlich sie sich in das Schlafzimmer, kroch ins Bett und zog das Moskitonetz eng um sich. Die andern wußten aber, daß sie schrecklich kitzlig war. Als sie die Finger sah, die bedrohlich durch das Netz stießen, war die Reihe an ihr zu schreien. Die erzürnten Mädchen wollten ihr das Versprechen abzwingen, so etwas Böses nie wieder zu tun. »Das kommt darauf an«, sagte sie. Sie wollte sich nicht festlegen. Die Schule hatte jedoch auch ihre guten Seiten. Um auf der Bühne aufzutreten mußte Tschiang Tsching erst den Dialekt von Peking beherrschen, die Mandarinsprache, lingua franca für alle offiziellen und kulturellen Beziehungen in China.
Sie selbst sprach den Dialekt der Provinz Schantung, genauer gesagt, den lokalen Dialekt ihres Geburtsortes. Ihre Mitschüler lachten schallend über ihre unbeholfenen Versuche - sie sprachen den Pekinger Dialekt bereits fließend. Nichtsdestoweniger blieb sie hartnäckig, wie sie sich weniger mit Ressentiment als mit Stolz auf das Erreichte erinnerte, und einer ihrer Schulkameraden paukte mit ihr und hörte geduldig ihren Proberezitationen zu.Einmal inszenierte die Schule als Experiment eine Aufführung der »Tragödie am See«, - ein »bürgerliches Drama« des bekannten Bühnenschrifstellers Tien Han, des Gründers der Südchinesischen Schauspielgesellschaft, einer um Erneuerung bemühten, sehr einflußreichen Dramatikergruppe der damaligen Zeit. Die Hauptrolle spielte die Schwester der Frau des Direktors, jedoch wurde im Turnus abgewechselt. Tschiang Tsching war am Montag an der Reihe, wenn es für gewöhnlich wenig Publikum gab. Wie es ihre Art war, ging sie ganz in ihrer Rolle auf, so daß sie ihr Publikum zu Tränen rührte. Diese Reaktion hatte wiederum die Wirkung, daß sie selbst weinen mußte eine Folge des »naturalistischen« Spiels, um das sie bemüht war (wie sie uns erklärte, lehnte später das kommunistische Regime den Naturalismus ab). Als sie sich nach der Vorstellung abschminkte, kamen der Direktor der Schule und ihr Lehrer in die Garderobe, um ihr Spiel zu loben und ihr Talent zur Tragödin zu rühmen. Überwältigt von ihrem Lob brach sie wieder in Tränen aus und stürzte aus der Garderobe. Trotz dieses von ihr als melodramatisch empfundenen Zwischenfalls erinnerte sie sich an die allgemeine Atmosphäre dieser Zeit mit einem Gefühl des Ärgers. »Eigentlich bin ich in Tsinan immerzu beleidigt worden«, fügte sie hinzu, ohne sich weiter auf Einzelheiten einzulassen. »Die Schule wurde geschlossen, als Han Fu-tschü, ein Kriegsherr der Nordwestarmee, nach Tsinan kam.[8] Ich schloß mich einigen Lehrern und Mitschülern an, um mit ihnen eine Theatertruppe zu gründen, die auf Tournee ging, zunächst nach Peking. Ich sagte meiner Mutter nichts davon, sondern schrieb ihr nur einen Brief vom Bahnhof aus, wenige Minuten, bevor der Zug abfuhr.
Damals (1930) war ich erst sechzehn Jahre alt, und das Leben in Peking war sehr schwer. Meine Ausstattung war dürftig, und ich besaß nicht einmal Unterwäsche. Obwohl ich die beste Steppdecke von zu Hause mitgenommen hatte, zitterte ich vor Kälte, weil die Wattierung mit der Zeit dünn geworden war. Zu dieser Jahreszeit herrschten in Peking schwere Sandstürme, und die Nächte waren furchtbar. Von Politik wußte ich noch nichts. Ich hatte keine Ahnung, was >Kuomintang< und >Kommunistische Partei< bedeuteten. Ich wußte nur, daß ich mir meinen Unterhalt selbst verdienen wollte und daß ich fürs Theater schwärmte. Dann ging ich im Frühjahr 1931 nach Tsingtao.« (Sie erinnerte sich lebhaft an den ersten Eindruck von Tsingtao: Kälte, Nebel und im Hafen eine salzige Brise vom Meer her. Wie merkwürdig, meinte sie, daß sie noch nie den Ozean gesehen hatte, obwohl ihre Heimatstadt Tschu-tscheng keine achtzig Kilometer von der Küste entfernt lag.) »Mein früherer Lehrer (Tschao Tai-mou), der aus meiner Heimatstadt stammte und Direktor des Experimentellen Theaters in Tsinan gewesen war, war jetzt Dekan an der Universität von Tsingtao, an der er gleichzeitig als Literaturprofessor lehrte. Durch seine Beziehungen ermöglichte er mir die Zulassung zum Studium an der Tsingtao- (jetzt: Schantung-) Universität.« Die Einladung Tschao Tai-mous reizte sie, aber sie fürchtete sich ein wenig vor der fremden Umgebung in Tsingtao. Um ihr Mut zu machen, versprach er ihr die Einrichtung einer KunstAbteilung an der Universität (vermutlich war Theaterwissenschaft gemeint, obwohl sie es nicht sagte) und bot ihr die Finanzierung der Reise an. Auch ihre Mitschüler vom Theater für Experimentelle Kunst drängten sie, das Angebot anzunehmen, und schließlich willigte sie ein. (Obwohl sie die Universität besuchte, war sie anscheinend nie immatrikuliert.) »Tschao gehörte der Reformistischen Gruppe der Kuomintang an. Er hatte über Literatur und Kunst ähnliche Ansichten wie Hu Schih.[9] Damals schätzte mich die Bourgeoisie«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
»Es gab eine Zeit, in der Mitglieder der Gruppe um Hu Schih, zu der Leute wie Liang Schih-tschiu und Wen I-to gehörten, versuchten, mich auf ihre Seite zu ziehen.[10] Wen I-to war einer meiner Lehrer an der Tsingtao-Universität. Ich habe viele seiner Vorlesungen gehört.« »Am meisten lernten wir aber durch das negative Beispiel des japanischen Imperialismus. Nach dem Mukden-Zwischenfall am 18. September 1931 wurden unsere drei nordöstlichen Provinzen (die Mandschurei) von den japanischen Imperialisten besetzt. Das konnten wir nicht hinnehmen. Wir durften nicht die Sklaven einer fremden Nation werden. Auch ich fühlte mich verpflichtet, der japanischen Aggression Widerstand zu bieten.« Damals gingen in ganz China die Wogen der nationalen und demokratischen Revolution hoch. Viele Studenten traten in den Streik oder wendeten sich mit Petitionen an die Regierung und wurden dabei von den Arbeitern unterstützt. Die Bewegung hatte breite Schichten des Volkes erfaßt. »Von der allgemeinen Stimmung mitgerissen sagte ich zu meinem Lehrer Tschao: >Ich möchte mich der Petitionsbewegung anschließen.< - >Sie wollen also auch Krawall machen?< fragte er scharf. Ich war so verblüfft, daß ich kaum etwas sagen konnte. Ich drehte mich daher um und ging hinaus, und ich wußte genau, daß er sehr ungehalten über mich war. Ich ging allein in die Berge und irrte im Wald umher,[11] zutiefst verwirrt durch die Frage, was er gemeint hatte, als er sagte, die patriotische Bewegung der Studenten sei ein >Krawall<.
Als ich schließlich begriff, daß seine Ansichten falsch waren, beschloß ich, mich der Liga Linker Dramatiker (einer kommunistischen Tarnorganisation) in Tsingtao anzuschließen. »An der Universität von Tsingtao boykottierten die Studenten massenhaft Vorlesungen und Prüfungen. Unter diesen Umständen weigerte ich mich, noch weitere Unterstützung von meinem Lehrer anzunehmen. Statt dessen arbeitete ich in der Universitätsbibliothek. Meine Arbeit bestand darin, Karteikarten auszuschreiben. Gleichzeitig besuchte ich nach wie vor die Vorlesungen. Ich verdiente jeden Monat 30 Yuan (ungefähr neun US-Dollar) und sandte zehn davon meiner Mutter. Da die Lebenshaltungskosten in Tsingtao sehr hoch waren, reichten die mir verbleibenden zwanzig Yüan nicht aus. Denn Sie müssen wissen, ich hatte nicht nur für mich zu sorgen, sondern mußte auch Kameraden aushelfen. Wir mußten aus eigener Tasche die Unkosten bezahlen, wenn wir Stücke auf die Bühne brachten, die zur Rettung des Vaterlandes [12] aufriefen - niemand unterstützte uns finanziell. Wenn wir unsere Stücke in den Fabriken und auf den Dörfern aufführten, hießen uns die Menschen willkommen und halfen uns auch, aber sie hatten selbst keine Mittel. Damals wußte ich noch nicht, daß die Befreiung durch die Armen geschehen muß. Erst später, nachdem ich in die Partei eingetreten war, lernte ich von den Genossen, daß eine so naive Auffassung nicht genügt und daß man dem Proletariat dienen muß.« Aber die Universität war nur eine Dimension im Leben Tschiang Tschings in Tsingtao.
Bald nach ihrer Ankunft dort, 1931, gründete sie mit einigen Kollegen (den oben erwähnten >Kameraden<) die Schauspielvereinigung der Küstengebiete. Der Zweck war weniger künstlerisch als politisch: in Schulen, Fabriken und in den ländlichen Bezirken mit Hilfe der Bühne Propaganda gegen Japan zu treiben.[13] »Nachdem wir in der Stadt auf dem Höhepunkt des Neujahrsfestes gespielt hatten, ging unsere Truppe aufs Land, um Nachrichten über die Sowjetgebiete zu verbreiten, die die chinesische Rote Armee in Kiangsi geschaffen hatte. 1931 war noch nicht viel über die Führer der Roten Armee und die neue Lebensweise in den Sowjetgebieten bekannt geworden, und die Streitkräfte dieser Armee stellten noch keine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit des nationalistischen Regimes dar. Trotzdem war es nicht ungefährlich, die Existenz dieser Sowjetgebiete öffentlich zu erwähnen. Um der Verhaftung durch Kuomintang-Agenten zu entgehen, die die ländlichen Bezirke infiltriert hatten, beschlossen die Mitglieder der Schauspielvereinigung, sich zu trennen und in kleinen Gruppen zu reisen, so daß sie in diesem japanisch besetzten Gebiet weniger auffielen.« Bei dieser ersten Berührung mit dem Land trafen sie auf eine schlechthin unvorstellbare Armut. Es gab so gut wie keine Nahrungsmittel zu kaufen, und Restaurants und Gasthäuser existierten praktisch überhaupt nicht.
Mehrmals erwähnte Tschiang Tsching, wie sehr sie von Hunger geplagt worden seien. Daß sie gezwungen waren, oft lange Zeit ohne Nahrung auszukommen, untergrub ihre Moral. Das erste Dorf, das sie erreichten, war Lao-schan-wan, ein paar Kilometer die Küste aufwärts von Tsingtao entfernt. Als die Schauspieler dort eintrafen, schockierten sie die Dorfbewohner durch ihre Kleidung - die Männer mit ihren westlich geschnittenen Anzügen, die Frauen mit den Kleidern, die man üblicherweise in den Städten der chinesischen Republik trug, mit Mandarinkragen und geschlitztem Rock. Aus der Fassung gebracht durch ihr Erscheinen schenkten sie ihnen einen Silberdollar, offenbar, um sie zur raschen Weiterreise zu bewegen. Außerdem warfen die empörten Dorfbewohner ihnen vor, sie seien nur so zum Spaß gekommen und nicht, um eine richtige Vorstellung zu geben. So hatte auch die Propaganda der Truppe keinen nennenswerten Erfolg.
Damals, so erklärte Tschiang Tsching, wußten sie noch nichts von der Methode, »die Erfahrung zusammenzufassen«, mit der die kommunistisch geschulten Politarbeiter unmittelbar nach einer Vorstellung eine kollektive Bewertung der Plus- und Minuspunkte der einzelnen Darsteller vornehmen. Als sie sich anschickten, Lao-schan-wan zu verlassen, empfahlen ihnen die Einwohner, nach Wang-ko-tschuang zu gehen, einem größeren Dorf mit mehreren Wirtshäusern, nur ein paar Kilometer weit die Küste von Tsingtao aus hinunter. Dort bekam Tschiang Tsching die Aufgabe, mit Kindern zu arbeiten. Da zu diesem Zeitpunkt die Japaner das gesamte Küstengebiet um Tsingtao in Besitz genommen hatten, suchte und fand Tschiang Tsching den Kontakt mit den Kindern, indem sie ihnen antijapanische Lieder beibrachte. Die Kinder reagierten bereitwillig, da sie bereits von ihren Eltern vor den bösen »westlichen und östlichen Teufeln« gewarnt worden waren. Die Kinder fühlten sich zu ihr hingezogen, und ein paar luden sie ein, sie zu besuchen. Obwohl sie diese Erinnerung sichtlich genoß, stellte sie fest, daß andere Mitglieder der Truppe einen ebenso großen Erfolg gehabt hatten wie sie. Während des Aufenthalts in Wang-ko-tschuang paßte sich Tschiang Tsching an das dörfliche Leben an, und die Bauern faßten Zuneigung zu ihr. Sie wählten sie aus der Gruppe aus, wie sie sich mit Vergnügen erinnerte, und baten sie, ihnen ihre Lieblingsarien aus Peking-Opern zu singen. Schon damals war sie keine Anhängerin der Peking-Oper, doch ihnen zuliebe kam sie dem Wunsch nach. Nach einer Weile stimmten ihre Zuhörer ein und sangen in dem dort üblichen Opernstil mit. Sobald die Truppe das Vertrauen der Bevölkerung gewonnen hatte, flocht man Politisches in Lieder und Parodien ein. Solche Neuerungen kamen am besten bei den jungen Bauern an. Aber wie erstaunt waren sie erst, als ihnen die Schauspieler vom Leben in den Sowjetgebieten erzählten (meistens nur aufgrund von Nachrichten aus zweiter Hand), besonders wenn sie vom kommunalen Eigentumsrecht an Nahrungsmitteln und Kleidung hörten.
Aber im großen und ganzen befand sich die politische Arbeit der Schauspielvereinigung noch im Stadium des Experiments. Zu den Vorstellungen, die die Truppe probeweise in Wang-ko-tschuang gab, gehörte die Originalfassung von »Leg deine Peitsche nieder!«[14] Dieser Einakter mit Gesang und Instrumentalmusik über Flüchtlinge aus der Mandschurei, die unter japanischer Besatzung lebten, war ein typisches Beispiel für Straßentheater und wurde in den dreißiger Jahren überaus beliebt als Mittel zur Darstellung des Themas »Nationale Verteidigung«. Da die erste Fassung einige Mängel hatte, wollte Tschiang Tsching nicht, daß die Partitur die Runde machte. Als einige Musiker aus dem Dorf eine Kopie von ihr haben wollten, steckte sie sie rasch in die Tasche, stahl sich aus der Versammlung davon und eilte geradewegs zum Friedhof, wo sie sie unter einem Grabstein versteckte. Im Publikum von Wang-ko-tschuang befanden sich auch ziemlich viele Soldaten, denen die Vorstellungen der Truppe offensichtlich gut gefielen. Empfänglich für ihr Lob, willigte Tschiang Tsching ein, sich mit dreien von ihnen zu treffen. Als sie über Politik sprachen, wurden die Soldaten nicht müde, den großen Wert einer Zusammenarbeit zwischen den chinesischen Kommunisten und der Kuominlang zu betonen, - eine Vorstellung, der sie schon damals nicht zustimmen konnte. Aber sie trennten sich, ungeachtet ihrer politischen Meinungsunterschiede, in aller Freundschaft; die Soldaten bestanden darauf, daß sie für sich und ihre Freunde ein paar Geschenke als Zeichen ihrer Anerkennung für ihre kulturelle Arbeit annahm. An diesem Abend kehrte sie in das Wirtshaus mit Geschenken beladen zurück: mit Baumwolldecken, gedünstetem Kohl, für den diese Region Schantungs berühmt ist, und gedämpftem Brot, einer nordchinesischen Spezialität. Erst später kam sie dahinter, daß unter den Soldaten, mit denen sie damals gesprochen hatte, einige waren, die am Aufstand von Schanghai 1927 teilgenommen hatten - der zur Liquidation mutmaßlicher Kommunisten in den Reihen der Kuomintang geführt hatte - und daß schon vor der Ankunft der Truppe in Wang-ko-tschuang ein Ortsverband der Kommunistischen Partei dort bestand. Sie war mit diesem Ortsverband nie in Berührung gekommen - ihr erster Kontakt mit der Partei erfolgte später, und zwar in Tsingtao. Nach einem Aufenthalt von mehreren Tagen in Wang-ko-tschuang bereiteten sich die Schauspieler auf die Weiterreise vor. Einige der Dorfbewohner drängten Tschiang Tsching zu bleiben, und sie war von der Gastlichkeit gerührt, aber sie mußten die Tournee fortsetzen. Immer wenn sie sich in diesen abgelegenen Gegenden wieder auf den Weg machten, wurde ihr Geld knapp, und der Magen knurrte ihnen vor Hunger. Einmal, als sie, wie üblich, völlig abgebrannt waren, quetschten sie sich in einen Autobus. Nach ein paar Stunden hielt der Fahrer an einer Haltestelle auf einem schmalen Weg im Gebirge und forderte das Fahrgeld. Sie versuchten, ihn zu überzeugen, daß sie an ihrem Zielort bezahlen würden, aber er protestierte lautstark und hätte sie aus dem Bus geworfen, wenn nicht ein paar Einheimische ihnen zu Hilfe gekommen wären, die das Fahrgeld bezahlten.
Diese peinliche Begegnung zwischen den »armen« Bergbewohnern und den »reichen« GroßstadtIntellektuellen machte auf Tschiang Tsching einen nachhaltigen Eindruck. Bald darauf untersuchte Tschiang Tsching die sozialen Zusammenhänge in einem langen, in Tsingtao veröffentlichten Artikel. Die Erwähnung dieses 1931 geschriebenen Artikels erinnerte Tschiang Tsching an einen Zwischenfall aus jüngerer Zeit. Während der Kulturrevolution beauftragte die »Lin Piao Clique« (Lin Piao war bis zum Herbst 1971 als Tschiang Tschings wichtigster politischer Helfer gefeiert worden) zwei Gruppen damit, Material zu suchen, das in dem Machtkampf gegen Tschiang Tsching verwendet werden könnte. Die eine Gruppe, vordem bekannt als die 16.-Mai-Gruppe,[15] stellte alle möglichen Informationen über ihre Vergangenheit zusammen, um sie dadurch in die Enge zu treiben. Diese Gruppe forderte Tschou En-Lai auf, er möge persönlich nach den Artikeln fahnden, die Tschiang Tsching vor Jahren geschrieben hatte, darunter dem, den sie zu Beginn der dreißiger Jahre als Mitglied der Schauspielvereinigung der Küstengebiete in Tsingtao geschrieben hatte. Tschou fügte sich ihrem Druck, aber seine Nachforschungen blieben ohne jeden Erfolg. Außer dem in Tsingtao erschienenen Artikel war ihnen noch ein anderer entgangen, der unter der Überschrift »Mein offener Brief« ein paar Jahre später in der Schanghaier Zeitung »Ta-kung pao« erschienen war. Nach einem flüchtigen Zögern in ihrem Bericht stellte Tschiang Tsching ihre Bemerkung richtig: tatsächlich habe Tschou einen Artikel aufgespürt, den sie für ein Frauen-Magazin geschrieben habe. Da der Aufsatz so lange zurücklag, hatte Tschiang Tsching ihn fast vergessen. Als man sie wegen dieses Artikels zur Rede stellte, warf man ihr vor, ihn nur geschrieben zu haben, um Geld zu verdienen. Sie verblüffte ihre Befrager damit, daß sie ihnen zustimmte!
Da sie damals von der Hand in den Mund lebte, hatte sie den Artikel nur des Geldes wegen geschrieben. In der Zeit der Chinesischen Republik war es für einen armen Studenten nichts Ungewöhnliches, Vorlesungen als Gasthörer zu besuchen und dieselbe Arbeit zu leisten wie ein regulärer Student; er hatte nur nicht das Recht, ein Diplom zu erlangen. In ihrer Eigenschaft als Gasthörerin kam Tschiang Tsching mit angesehenen Professoren in Berührung, nicht nur an der Tsingtao-Universität, sondern später auch an der von Peking und an Universitäten in Schanghai. Als Gasthörerin in Tsingtao sah sie sich zum erstenmal direkt dem Einfluß intellektueller Persönlichkeiten ausgesetzt, die lebendige Ideen zu vermitteln wußten. Obwohl sie später die zwanglose akademische Diskussion ablehnte, war das freie Spiel der Gedanken im Milieu der Universität für sie im empfänglichen Alter von siebzehn Jahren ein erregendes Erlebnis. Sie hatte, wie sie gestand, seit Jahren nicht mehr an ihre Erfahrungen von Tsingtao zurückgedacht, und vermochte die Ereignisse nur unvollständig zu rekonstruieren. Dank ihren Mannigfaltigen Theatererfahrungen war sie stark an alter und moderner Literatur interessiert, auch daran, sich selbst im Schreiben zu versuchen (eine verbreitete Erscheinung unter gebildeten und idealistischen jungen Leuten ihrer Generation).
Ihr erster Lehrer war Wen I-to, der Vorlesungen über den Roman, das Drama und die Dichtung zur Zeit der Tang-Dynastie und über die Geschichte der chinesischen Literatur hielt. Der zweite war Yang Tschen-scheng, der Autor des Romans »Jade Gentleman« (1925) und damals Präsident der Universität von Tsingtao, bei dem sie »kreatives Schreiben« studierte. Ihn lernte sie besser kennen als Wen I-To. Sie besuchte auch die Vorlesungen von Fang Ling-lu, einer Schriftstellerin, die, soweit sie sich erinnerte, damals Vorsitzende der Literarischen Gesellschaft von Tschekiang war. Tschiang Tsching bemerkte, daß Wen I-To, Yang Tschen-scheng und Fang Ling-lu alle in den Vereinigten Staaten studiert hätten und daß Yang und Fang noch die Zeit der Befreiung 1949 erlebten. Die Namen ihrer übrigen Lehrer waren ihr entfallen. Woran sie sich am besten erinnerte, war das Echo, das ihre eigenen ersten literarischen Versuche fanden. Sie schrieb ihre erste Kurzgeschichte in einem Seminar, das Yang Tschen-scheng abhielt; er lobte ihre Arbeit voller Begeisterung, weil sie dem, was die berühmte Schriftstellerin Hsie Ping-hsin schrieb, sehr ähnlich sei. Als große Bewunderin von Ping-hsin (unter diesem Pseudonym kannte man sie am besten) war Tschiang Tsching durch diesen Vergleich geradezu überwältigt. Eine zweite Geschichte war nicht ganz so erfolgreich. Wenn sie Yang auch als die beste des Seminars beurteilte, hatte er doch eine Kritik anzubringen. »Miss Li«, sagte er, »Ihr Räuber ist zu vornehm. Wenn er jemanden verflucht, gebraucht er den Ausdruck >Du sollst tot umfallen!< (>kai-ssu<). Das klingt zu gebildet - nicht rauh genug für einen Räuber.« Gedemütigt durch diese Kritik, kehrte sie nie wieder in sein Seminar zurück.
Im Sommer 1931 schrieb Tschiang Tsching ein Theaterstück mit dem Titel »Wessen Verbrechen?«, das von einem jungen Revolutionär handelte, der bei seiner kränklichen Mutter lebte. Später wurde der Sohn verhaftet, und seine Mutter starb.
Als sie die Handlung erzählte, fiel ihr der Name ihres Lehrers im Stückeschreiben, Tschao Ping-o, wieder ein, mit dem sie im Lauf des Semesters ebenfalls eine peinliche Auseinandersetzung hatte. Er lobte zwar ihren Stil, gestand aber seine Verwirrung angesichts der politischen Zweideutigkeiten im Text. Er fragte sie geradeheraus, ob ihre »Revolutionäre« der Kommunistischen Partei oder der Kuomintang angehörten. Noch immer in hoffnungsloser Unkenntnis des wesentlichen Unterschieds zwischen beiden und frustriert über ihre eigene Verlegenheit, entgegnete sie scharf: »Sagen Sie mir doch den Unterschied zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und der Kuomintang!« Das abrupte Lachen, mit dem er ihre jugendlich-unreife Reaktion aufnahm, zeigte ihr, daß er sie für reichlich töricht hielt. Doch fand er ihr Stück gut genug, um sie zu ermuntern, es von einem auf drei Akte zu erweitern. Das Stück war dabei gar nicht so wichtig, erklärte sie; wichtig war nur, daß Tschaos Sticheleien sie neugierig gemacht hatten. Obschon sie während der Tournee mit der Schauspielervereinigung ein bißchen Propaganda für die Sowjets gemacht hatte, begann sie sich jetzt doch zu fragen, worin die ideologischen Unterschiede zwischen der Kommunistischen und der Kuomintang-Partei bestanden. »Von diesem Augenblick an begann ich zu beobachten.« In jenem Herbst wurde die übliche Ruhe des Universitätslebens durch den Mukden-Zwischenfall am 18. September 1931 erschüttert. Japanische Truppen marschierten in die Mandschurei ein. Sogar angesichts dieser schweren Krise war ihr die Bedeutung des Begriffs Reformismus noch immer so unbekannt wie die Beziehung, die zwischen Reformismus und der Kuomintang bestand.[16]
Wenn sie und ihresgleichen bisher geglaubt hatten, daß diese an den Universitäten so konzentriert vertretenen Nationalisten Patrioten seien, denen die Einheit ihres Vaterlandes über alles gehe, dann hatten sie sich geirrt. Sie erkannte jetzt, daß diese geachteten Reformisten nicht ernsthaft entschlossen waren, der japanischen Aggression Widerstand um jeden Preis entgegenzusetzen. Als sie sich in der ersten Erregung über den Mukden-Zwischenfall offen für den Widerstand aussprach, kritisierten die anderen sie als Störenfried. Den Sarkasmus Tschao Ping-os noch im Ohr, irrte sie allein in den Wäldern um Tsingtao umher, um über seine Worte nachzugrübeln. Es dämmerte ihr nun, daß Tschao ein Mitglied der Kuomintang sein mußte, der Nationalistischen Partei, die der Linie des harten Widerstands nicht folgte. Wenn Studenten an der Universität begannen, ihr Schwierigkeiten zu bereiten, dann, so nahm sie an, mußten auch sie für die Kuomintang arbeiten. Darauf nahm sie keine Hilfe mehr von Tschao Ping-o an und ging von nun an ihren eigenen Weg.
Der Empfangsraum, in dem wir uns - Tschiang Tsching und ich - unterhielten, besaß großzügige Proportionen; aber an diesem Augustabend, an dem Tschiang Tsching sich über ihre Kindheit ausließ, war es in Kanton so schwül, daß wir zu ersticken meinten. Tschiang Tsching schlug vor, in einen anderen Raum zu gehen. Sie stand auf, reckte sich genüßlich, ordnete und glättete ihr Kleid und ging voraus. Das Zimmer, in das wir hinüberwechselten, war ähnlich geräumig und großzügig ausgestattet wie das erste. Die Sitzgelegenheiten, Tische, Schreib- und Aufnahmegeräte, die Erfrischungen und all die heißen, kalten, feuchten und trockenen Handtücher waren genau so angeordnet wie im ersten Raum. Wir setzten uns, und sie nahm ihren Bericht wieder auf. Sie hatte auch bei dem Schriftsteller Schen Tsung-wen studiert, der an der Universität von Tsingtao das Schreiben von Prosa lehrte. Als seine Studentin lernte sie ihn allmählich kennen.
Er lebte mit einer Schwester, Schen Tschou-tschou, zusammen, die Tschiang Tsching oft ins Haus lud. Von ihrem literarischen Talent stark beeindruckt, suchte Schen ihren Stil zu verbessern, indem er sie jede Woche eine Geschichte schreiben ließ. Er meinte es wohl ernst, sagte sie, aber sie gab sich keine Mühe. Aus ihrer Perspektive der armen Studentin gesehen, schien ihr die Familie Schen reich zu sein.[17] Als die Schwester Schens sah, daß Tschiang Tsching Geld brauchte, bot sie ihr an, gegen Bezahlung für Schen einen Pullover zu stricken; aber Tschiang Tsching lehnte ab. Später erfuhr sie, daß Schen Tschou-tschou auf der französischen Missions-Schule in Peking ausgebildet worden war, einer elitären Bildungsanstalt, für deren Besuch ein hohes Schulgeld zu zahlen war - fünf-oder sechshundert Silber-Yüan pro Semester. Schließlich faßte Tschiang Tsching noch einmal die kulturelle Bedeutung ihrer Jahre in Tsinan, Peking und Tsingtao zusammen. Sie habe, sagte Tschiang Tsching, ein Jahr (1929-1930) an einer Kunstakademie und zwei Jahre (1931-1933) in den »höheren Sphären des Kulturbetriebs« verbracht, womit sie die intellektuellen Kreise der Tsingtao-Universität und den kulturell aktiven Kreis der Schauspielvereinigung der Küstengebiete meinte.
In jenen Jahren entstand ihre Liebe zum Roman und zur Dichtung. Sie las auch mit Vergnügen Übersetzungen ausländischer Dichtung, besonders »alte Lyrik«, obwohl sie fand, daß Poesie zumeist unübersetzbar sei und so von Ausländern im Grunde nicht aufgenommen werden könne. In ihrer Jugend habe sie Verse geschrieben, die zu veröffentlichen sie in Betracht gezogen habe, und auch Essays, von denen einige auch veröffentlicht seien. Aber in den dreißiger Jahren war sie zu der Überzeugung gelangt, daß das Schreiben von Gedichten und Essays bei weitem nicht so wichtig war wie die aktive Unterstützung der Revolution. Ihre schulische Ausbildung dauerte alles in allem nur acht Jahre, fünf Jahre Grundschule eingeschlossen. Ihre wirkliche Ausbildung war, wie die Maos, die »Erziehung durch die Gesellschaft«, die Erziehung in der Schule der Erfahrung. Und die begann im Jahre 1933.