Eine Revolution ist eine schmerzhafte
Angelegenheit, vermischt mit Blut und
Dreck, nicht so schön und interessant,
wie die Dichter sie sich vorstellen.
Eine Revolution ist eine äußerst handgreifliche
Sache, die viele häßliche und mühselige
Aufgaben mit sich bringt, nicht so romantisch,
wie die Dichter sie sich vorstellen
Lu Hsün, »Gedanken über die Liga Linker Schriftsteller« (1930)
Orest: Du siehst sie nicht, du nicht -
aber ich sehe sie: sie stellen mir nach, ich
muß weiter. - Choephoroi.
T. S. Eliot, »Sweeney Agoniste«
Das Jahr 1933, in dem Tschiang Tsching in die KPCh eintrat, prägte ihr weiteres Leben und nahm deshalb auch in ihrer Erzählung breiten Raum ein. Wie für Tausende unzufriedener junger Menschen ihrer Generation, die ihre Familien verlassen hatten und die Ausübung der Religion schal und bedeutungslos fanden, wurde auch für sie der Eintritt in die Partei eine Art Initiationsritus, der den Übergang zum Erwachsensein markierte. Aber wie die anderen, die in den von der Kuornintang brutal beherrschten Städten lernen wollten, sich durchzuschlagen und unauffällig zu leben, mußte Tschiang Tsching feststellen, daß es schwierig war, eine aktive Parteimitgliedschaft aufrechtzuerhallen - hauptsächlich deshalb, weil die im Untergrund arbeitenden Parteigliederungen schwer aufzuspüren waren. Als sie in Tsingtao heimlich in die Partei eintrat, wußte sie nur wenig über ihre Gliederung, und sie wußte auch nicht, wer außerhalb des kleinen Kreises von Genossen, den sie kannte, noch dazugehörte. Noch weniger begriff sie, welche Bedeutung der Marxismus - eine von den chinesischen Kommunisten damals noch ungenügend verstandene ausländische Doktrin eines Tages für ihr Land haben würde. Und daß sie eine Frau in einer noch immer von Männern beherrschten Welt war, machte sie noch verwundbarer.
Die Kommunistische Partei Chinas war zwölf Jahre zuvor in Schanghai von einem Dutzend jüngerer Männer gegründet worden, die nicht nur mit den herrschenden Verhältnissen unzufrieden waren, sondern auch den Ehrgeiz hatten, sie zu verändern. Auf Befehl Moskaus arbeitete die KPCh in den Jahren zwischen 1923 und 1927 gemeinsam mit ihrer natürlichen Rivalin, der KMT, gegen die Kriegsherren. Sie hoffte, dadurch die Einigung und Regeneration der Nation herbeiführen zu können. Zu dem unvermeidlichen Bruch zwischen den beiden Parteien kam es im Frühjahr 1927, als Tschiang Kai-schek, der durch einen Staatsstreich an die Macht gelangte Oberbefehlshaber der Kuomintang-Truppen, massiv gegen die kommunistischen Untergrundbewegungen in den Städten vorging, um in den Großstädten unangefochten herrschen zu können.
Der endgültige Bruch kam im April mit dem Blutbad von Schanghai - der Stadt, wo die kommunistischen Gewerkschaften und ihr Potential für einen Aufstand am größten gewesen waren.
Der Zerfall der Einheitsfront zwischen KPCh und KMT rief eine weitere Spaltung hervor: zwischen der Arbeiter- und der Bauernfraktion der KPCh. Im Jahre 1928 formierten Mao Tse-tung und Tschu Te als selbsternannte ZK-Bevollmächtigte den Kern der Roten Armee im Tschingkang-Gebirge in der Provinz Kiangsi. Aber die das Zentralkomitee beherrschende Arbeiterfraktion lehnte die unorthodoxe Idee ab, daß einfache Bauern mobilisiert werden sollten, um die Großgrundbesitzer zu enteignen. Ende der zwanziger Jahre stand an der Spitze dieser Fraktion Li Li-san, ein in Moskau ausgebildeter Polemiker und Gewerkschaftsführer. Von seiner Schanghaier Basis aus kittete er die Bruchstücke der im Frühjahr 1927 von der KMT zerschlagenen Parteiorganisation wieder zusammen. Drei Jahre lang zettelte er verlustreiehe Aufstände in den großen Städten an. Gleichzeitig versuchte er, von Schanghai aus eine »revolutionäre Erhebung« der auf dem Lande stationierten Einheiten der Roten Armee in Gang zu setzen, um die Industriezentren angreifen zu lassen und unter kommunistische Kontrolle zu bringen.
Ein weiterer junger Radikaler, der als Politologe und Literaturtheoretiker sehr produktive Schriftsteller Tschü Tschiu-pai, führte die KPCh seit dem schwierigen Sommer des Jahres 1927, ein Jahr lang. Auch er schätzte das revolutionäre Potential der Städte falsch ein. Beide Männer schienen zu vergessen, daß China kaum industrialisiert, zum überwiegenden Teil agrarisch und zutiefst konservativ war. Außerdem hatte keiner der beiden erwartet, daß die bäuerlichen Revolutionäre eigene Wege gehen und die aus den Städten kommenden Weisungen ignorieren würden. Solche schweren Fehler der Schanghaier Fraktion machten ihre Führung und deren radikale Gefolgsleute zu leichten Opfern der KMT-Geheimpolizei, die bekannte oder mutmaßliche Kommunisten in ihren Tarn- und Untergrundorganisationen aufstöberte, sie von den Straßen vertrieb, manche einsperrte und andere hinrichtete. Nachdem ihr Versuch, in China eine Umwälzung nach klassischem marxistischem Muster in Gang zu bringen, fehlgeschlagen war, verließen diese jungen Idealisten etwa ab 1933 Schanghai.
Einige von ihnen zogen sich in die südöstliche Provinz Kiangsi zurück, wo Mao Tse-tung und Tschu Te bereits ein Stützpunktgebiet ausgebaut hatten. Andere suchten Zuflucht bei Förderern in Moskau. Selbst nach Auflösung der städtischen Parteiorganisation wurde die Debatte über den für China richtigen Weg zur Revolution von Männern mit kühnen Träumen fortgesetzt. Sollten die chinesischen Kommunistenführer sich auf die Städte oder das Land konzentrieren? Sollten weitgereiste urbane Intellektuelle oder bäuerliche Kommandeure sich der Öffentlichkeit als KPCh-Theoretiker und -sprecher präsentieren? Sollten Parteimitglieder es weiterhin riskieren, in den geteilten Weißen Gebieten zu arbeiten, oder sollten sie sich in den Roten Gebieten sammeln? Erst im Jahre 1935 wandelte sich die ideologische Orientierung des Zentralkomitees von einer russischen zu einer chinesischen. Auf der im Januar 1935 während des Langen Marsches in Tsunyi stattfindenden Tagung des Politbüros des ZK der KPCh wurde eine neue kollektive Führung mit Mao Tse-tung als Erstem unter Gleichen eingesetzt.
Diese folgenreichen historischen Umwälzungen begannen, als Tschiang Tsching noch ein junges Mädchen war und sich bemühte, auf eigenen Beinen zu stehen, wie es damals nur wenige junge Frauen ohne Unterstützung durch Eltern, Geschwister, Ehemann oder angeheiratete Verwandte versuchten. Da sie in der Stadt geboren und aufgewachsen war, wußte sie fast nichts über das China außerhalb der Städte, das jetzt mit Untergrundzellen und Stützpunkten für revolutionäre Aktionen durchsetzt war. Als die japanische Aggression gegen Chinas territoriale Integrität durch die Invasion der Mandschurei Tschiang Tsching 1931 dazu veranlaßte, ihre Umwelt erstmals skeptisch zu betrachten und patriotisch zu handeln - was damals an Subversion grenzte - bereiteten Mao Tse-tung und Tschu Te anderswo eine neue historische Bühne vor. Sie bauten auf ihre Jugend, auf den Respekt, den man der Tatkraft entgegenbrachte, und auf ihr Talent, die von Armut und Unterdrükkung genährten weitverbreiteten Ressentiments zu schüren, und führten ihre geächteten Streitkräfte in die Hügel von Kiangsi, die seit Jahrhunderten Banditen als Schlupfwinkel gedient hatten. Dort wurde Mao Vorsitzender der Ersten Allchinesischen Sowjetregierung, deren provisorische Hauptstadt Juitschin während der Besetzung umgestaltet wurde. In Schanghai war Tschü Tschiu-pai 1931 durch die kollektive Führung der Achtundzwanzig Bolschewiken - ein Sammelname für die in Moskau geschulten jungen Chinesen, die Ende der zwanziger Jahre heimgekehrt waren - aus dem Politbüro verdrängt und entmachtet worden.
Zu diesem Zeitpunkt waren sie fest davon überzeugt, die Komintern werde China in einem abgekürzten Verfahren zu einer mit dem internationalen Kommunismus übereinstimmenden nationalen Integrität führen. In den Jahren 1931 bis 1935 - der Zeit, in der Tschiang Tsching politisch erwachte und in die KPCh eintrat - wurden die Achtundzwanzig Bolschewiken von Wang Ming geführt, unter diesem Tarnnamen war Tschen Schao-yü in Parteikreisen bekannt. Obwohl Wang Ming sich meistens bei der Komintern in Moskau aufhielt, erreichten seine Bolschewiken in China die Grenzen ihrer auf die Städte beschränkten Macht, während sich auf dem Lande kompliziertere und weiterreichende politische Entwicklungen abspielten. Die tatsächlichen Lebensverhältnisse im damaligen städtischen Untergrund lassen sich kaum mehr rekonstruieren. Kein chinesischer Historiker hat es gewagt, diese Zeit objektiv und umfassend darzustellen, und die meisten Überlebenden haben praktisch Stillschweigen geschworen. Dafür sind traditionelle und revolutionäre politische Gründe maßgebend gewesen: Der Wunsch, alte Kampfgefährten vor Vorwürfen zu bewahren, die sie wegen ihres Verhaltens, das heute als unorthodox beurteilt werden würde, zu erwarten hätten, und der Wunsch, bestimmte Mythen über die Ursprünge und die frühe Geschichte der Partei, die Mao schmeichelten oder ihn zumindest nicht herabsetzten, aufrechtzuerhalten. Zu diesen Mythen gehörte die Behauptung, daß Geld die Beziehungen zwischen Genossen nicht beeinträchtigen und auch keine KPCh-Mitgliedschaft erkaufen konnte. Aber wie Tschiang Tsching berichtete, mußte die Mitgliedschaft oft mit Bargeld oder bei Frauen sogar mit Liebe bezahlt werden. Ebenfalls zu bezahlen waren Hilfeleistungen bei der Kontaktaufnahme mit anderen Genossen, Schweigen in gefährlichen Situationen und sogar zukünftig zu erweisende Dienste. Angesichts dieser Enthüllungen kann man sich nur fragen, wie groß der Unterschied zwischen solchen Praktiken und den sprichwörtlichen »Schmiergeldern« der Vergangenheit überhaupt war.
Von größter Bedeutung aber waren die psychologischen Auswirkungen des Lebens in den radikalen Splittergruppen, die sich bemühten, die Verbindungen zu der geschwächten Stadtfraktion der KPCh aufrechtzuerhalten. Daß die Bindungen zwischen Neulingen wie Tschiang Tsching und den schwer zu erreichenden, nicht immer zuverlässigen Beherrschern des kommunistischen Untergrunds in den von der KMT brutal regierten Städten stets gefährdet waren, förderten bei ihr und anderen Kommunisten ihrer Generation eigentümliche, auch später fortbestehende Einstellungen und Verhaltensweisen. Sie waren stets wachsam, auf dem Sprung, erwarteten irgendeinen Angriff. Sie wurden gewohnheitsmäßig vorsichtig, mißtrauisch und geschickt im Erfinden von Ausflüchten. Sie waren unselbständig und dann wieder aufsässig. Gelegentlich führten sie aufsehenerregende Aktionen durch, um auf sich aufmerksam zu machen und die Öffentlichkeit zu alarmieren.
Tschiang Tsching warf mir einen erwartungsvollen Blick zu und stellte die naheliegende Frage: »Interessiert es Sie, wie ich in die Partei eingetreten bin?«
Bei der Schilderung ihrer beiden Jahre in Tsingtao hatte sie auf diesen Punkt hingearbeitet. Die Antwort würde eine bisher unbekannte Episode aus ihrem Leben öffentlich bekanntmachen. Tschiang Tsching war noch immer eine halbe Studentin, eine unausgereifte Schauspielerin und eine eben flügge werdende Schriftstellerin, als sie infolge der Erweiterung ihres geistigen Horizonts auch mit Parteimitgliedern in Berührung kam. Als Schauspielschülerin in Tsinan hatte sie das Theater nach eigener Aussage als Einkommensquelle und Fortbildungsstätte betrachtet. Aber nachdem sie Anfang 1931 in die wesentlich modernere und lebendigere Hafenstadt Tsingtao gekommen war, verlor sie allmählich diese jugendliche Naivität (so bezeichnete sie es heute) und konzentrierte sich immer mehr darauf, politische Ereignisse zu analysieren und politische Kontakte herzustellen. Ihr Studium und ihre Bühnenlaufbahn liefen in dieser Zeit nebeneinander her. Solange Tschiang Tsching in Tsingtao war, war ihre politische Einstellung vorwiegend nationalistisch. Die beiden Ereignisse, an die sie sich am deutlichsten erinnerte, waren der Mukden-Zwischenfall vom 18. September 1931 und der japanische Angriff auf Schanghai am 28. Januar 1932. Als diese Verletzungen von Chinas Integrität in Tsingtao bekannt wurden, schloß sie sich den jungen Radikalen an, die von der Nationalregierung energischeren Widerstand gegen Japan forderten. Tschiang Tsching hegte bald den Verdacht, daß die Professoren, die sie als akademische Lehrer verehrte und einst als »Reformer« respektiert hatte, in Wirklichkeit zur Gewaltlosigkeit neigten. Dazu kam noch, wie sie schon früher erläutert hatte, daß diese Professoren es mißbilligten, daß Tschiang Tsching die Kühnheit besaß, zu verlangen, China müsse verteidigt werden. Eine Reihe von Vorfällen machte ihr klar, daß sie sich nicht mehr auf die Professoren als Mentoren verlassen konnte. Deren politischer Konservatismus und ihre offenbar mangelnde Risikobereitschaft zwangen Tschiang Tsching dazu, unabhängig zu sein und anderswo Gesinnungsgenossen zu suchen. Sie fand sie in der radikalsten Gemeinschaft, der Kommunistischen Partei Chinas.
Tschiang Tsching knüpfte mühsam neue Verbindungen. Indem sie das Vertrauen der weiter vom Zentrum entfernten Genossen gewann, gelang es ihr allmählich, sich nach innen vorzuarbeiten. Im Jahre 1931 trat sie den Tsingtaoer Zellen der Liga Linker Dramatiker und der Liga Linker Schriftsteller bei, 1932 schloß sie sich der Antiimperialistischen Liga an. Diese drei Vereinigungen waren in gewisser Beziehung kommunistische Tarnorganisationen, über die sie mir später mehr erzählen wollte. Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete Tschiang Tsching als Bibliothekarin in der Universitätsbibtiothek von Tsingtao, wo ihr reichhaltigere Bestände, als sie früher jemals gesehen hatte, zur Verfügung standen und wo sie »ernsthaft lesen« konnte. In ihrer Freizeit las sie ihr »erstes marxistischleninistisches Werk«, Lenins »Staat und Revolution«, das ihr Interesse für weitere, inchinesischer Übersetzung vorliegende klassische Werke des Sozialismus weckte.
Nachdem Tschiang Tsching von ihrer Tätigkeit erzählt hatte, machte ich eine Bemerkung über die ins Auge fallende Parallele zwischen ihr und Mao, der zwölf Jahre vor ihr ein Jahr lang eine ähnliche untergeordnete Stellung in der Bibliothek der Peking-Universität bekleidet hatte. Beide hatten die Gelegenheit genutzt, um viel zu lesen, und erinnerten sich am besten an ihre erste Berührung mit den grundlegenden Werken Marx' und Lenins. Und sie waren beide etwa ein Jahr später in die KPCh eingetreten. »Man kann mich nicht mit dem Vorsitzenden vergleichen«, erklärte sie kategorisch. »Er hat auf zahlreichen Gebieten sehr viel gearbeitet, während ich nur sehr wenig gearbeitet habe - bei Studenten, Arbeitern und Bauern und während des Befreiungskrieges in der Armee.«
In Tsingtao war die politische Lage »düster«. Aufgrund der »verräterischen Aktivitäten« einiger (von der Komintern geführter) Genossen wurde die dortige Parteiorganisation Anfang der dreißiger Jahre teilweise aufgelöst. Da eine reguläre Untergrundorganisation nicht vorhanden war, wurde die Aufnahme neuer Mitglieder noch eigenwilliger als zuvor gehandhabt. Über jeden Aufnahmeantrag wurde gesondert entschieden, wobei vieles von den Launen der Wortführer abhing.
Ende 1932 lernte Tschiang Tsching Li Ta-tschang kennen. Er war damals Stadtparteisekretär in Tsingtao und wurde später der führende KPCh-Funktionär von Szetschuan, der größten Provinz Chinas.
Sie fügte hinzu, er sei »während der Kulturrevolution brutal behandelt worden«. Tschiang Tsching unterbreitete ihren Fall Li Tatschang und verlangte Auskunft darüber, weshalb ihre Kontaktaufnahme mit der Parteiorganisation so lange hinausgezögert worden war. Sie hatte monatelang versucht, an die richtigen Leute heranzukommen, aber alle ihre Versuche waren vergebens gewesen. Der sichtlich verlegene Li Ta-tschang wußte keine Erklärung, obwohl sie vermutete, daß es eine geben müsse. Welches Vorurteil bestand gegen sie?
Obwohl Li Ta-tschang erst Anfang zwanzig war, stand er bei den jungen Radikalen bereits in dem Ruf, ein professioneller Revolutionär zu sein. Für Tschiang Tsching arrangierte er eine Reihe heimlicher Treffs, um sie sicher in die Parteizentrale zu bringen, ohne daß sie befürchten mußte, verhaftet zu werden oder anderen Repressalien der Nationalregierung ausgesetzt zu sein. Anfang 1933 wurde der Tag festgelegt, an dem drei KPCh-Mitglieder sich in Tsingtao scheinbar zufällig auf offener Straße mit Tschiang Tsching treffen sollten. Sie sollte in Begleitung eines Studenten einer bestimmten Route folgen. Die beiden sollten wie ein Liebespaar in enger Umarmung die Straße entlangschlendern, aber vorsichtig sein, auf Spitzel oder Agenten achten und nach den vereinbarten Zeichen Ausschau halten.
Alles klappte, und Tschiang Tsching kam mit den Männern zusammen, die unmittelbare Repräsentanten der Partei waren. Ihr Aufnahmeantrag wurde bearbeitet, und sie wurde im Februar 1933 Parteimitglied.[1] Die verschwörerhaften Intrigen, die ihr endlich die Mitgliedschaft einbrachten, stärkten ihren Selbstbehauptungswillen und veränderten offenbar auch ihr Aussehen. Wie Tschiang Tsching sich erinnerte, gaben einige Freunde, die nicht ahnten, welchen politischen Weg sie ging, ihr den Spitznamen Erh Kan-tze - Zwei Stelzen - weil ihre Beine so dünn waren. Sie hatte abgenommen, weil sie nur noch sehr wenig aß: lediglich zwei schao-ping (nordchinesische Weizenmehlpfannkuchen) pro Tag. Als Kommilitonen sie fragten, wie sie von so wenig leben könne, griff sie zu einer Notlüge und behauptete, sie esse bei Verwandten. Eigentlich hätte sie in der Mensa essen sollen. Aber das hätte acht Yüan im Monat gekostet, und das konnte sie sich nicht leisten. Und sie sparte auch anderswo, z. B., indem sie sich im Theater nur den dritten Platz gönnte, obwohl sie lieber auf dem ersten Platz gesessen hätte.
Warum mußte sie so eisern sparen? »Um Li Ta-tschang zu bezahlen!« antwortete Tschiang Tsching lebhaft. Sie weigerte sich, nähere Angaben zu diesem Thema zu machen, deutete aber an, daß zumindest sie für ihre Parteimitgliedschaft hatte bezahlen müssen.
Etwas später im Frühling desselben Jahres gesellte Tschiang Tsching sich zu den Hunderten, bald Tausenden von Mitgliedern der neuen linken Generation von Schriftstellern, Künstlern und Dramatikern, die es aus anderen Städten unaufhaltsam nach Schanghai zog. Dieses Paris des Ostens, Moskau des Orients und Mekka der modernen chinesischen Kultur blühte, weil es einen Zugang zum Geist und zur Substanz westlicher Zivilisation bot - aber es konnte seine einzigartige Weltoffenheit nicht dem übrigen China vermitteln. Für eine Schauspielerin, die auf der nationalen Bühne auftreten wollte, wie für eine junge Revolutionärin, die sich zum Zentrum des politischen Geschehens hingezogen fühlte, war Schanghai ein unwiderstehlicher Magnet. Aber die politischen Radikalen, deren Gedächtnis weiter zurückreichte, konnten die von der Nationalregierung angeordnete Kommunistenverfolgung des Jahres 1927 nicht vergessen und sahen Schanghai mit dem Blut der »revolutionären Märtyrer« befleckt, die zu Tausenden wegen vermuteter Beziehungen zu den Kommunisten hingerichtet worden waren. Dieses Blutbad besiegelte die politische Spaltung der Nation, und mit ihr begann die Herrschaft des Weißen Terrors. Von diesem Zeitpunkt an dienten der regierenden KMT Banden, Geheimagenten und Militärpolizei. Paradoxerweise machte eben diese Polarisierung der politischen Kräfte - und die Existenz der Pufferzonen der Internationalen Niederlassung und der Französischen Konzession, deren Exterritorialität Chinesen theoretisch vor einer Verhaftung schützte - das Leben der Schanghaier Linken etwas weniger gefährlich als beispielsweise in Nanking oder Peking. Dort herrschte die Nationalregierung unumschränkt, und sie hatte es mit einer weniger starken Opposition zu tun.
Am Tag ihrer Abreise aus Tsingtao war Tschiang Tsching aufgeregt und ängstlich zugleich. Einige Freunde begleiteten sie zum Kai, um sie zu verabschieden. Dort machten sie Tschiang Tsching mit einem jungen Mann bekannt (dessen Namen sie in unserem Gespräch nicht nennen wollte), der auf der Reise ins südlicher gelegene Schanghai ihr Begleiter sein sollte. Das fand sie einigermaßen verblüffend, doch sie protestierte nicht dagegen. Auf dieser ersten Seereise wurde sie entsetzlich seekrank. Obwohl sie Berge »wie ein Tiger« besteigen konnte, war sie keine Seefahrerin, und sie würde auch nie eine werden. Die Reise war ein schwindelerregender Alptraum, und sie mußte sich ständig übergeben. Da sie sich nicht mehr zu helfen wußte, wandte sie sich in ihrer Verzweiflung hilfesuchend an Mitreisende, auch an ihren Begleiter. Ohne jeden Erfolg.
Ihre Lage sollte sich noch verschlimmern, denn ihr Verhältnis zu ihrem Reisebegleiter entwickelte sich bedenklich. Er wußte aus Gesprächen, daß Tschiang Tsching in Schanghai von einem ehemaligen Schulfreund abgeholt werden sollte. Als sie eine gewisse Unsicherheit in bezug auf dieses geplante Treffen verriet, schlug er ihr frech vor, die erste Nacht mit ihm in einem Schanghaier Hotel zu verbringen. Tschiang Tsching war über seine Unverschämtheit wütend, lehnte energisch ab und wußte nun, daß er »nichts taugte«.
Irgendwo in Schanghai gebe es ein Frauenwohnheim, versicherte sie ihm. Falls ihr Freund sie nicht abholte, würde sie sofort dorthin fahren. Sie würde sich ein Taxi oder eine Rikscha nehmen, um sich hinbringen zu lassen. Er ließ nicht locker, änderte seine Taktik und bot ihr an, eine passende Unterkunft für sie zu finden, wenn sie ihm 15 Yüan vorstrecke. Tschiang Tsching lehnte auch dieses Ansinnen ab. Als das Schiff anlegte, suchte sie in der Menschenmenge am Kai nach dem Gesicht ihres Freundes. Sie war so erleichtert, als sie ihn entdeckte, daß sie sofort zu ihm lief. Sie hasteten zu seinem Wagen und rannten so schnell davon (sie errötete bei der Erinnerung daran), daß ihr Gepäck versehentlich am Kai zurückblieb. Am Abend nach ihrer Ankunft in Schanghai begegnete Tschiang Tsching zufällig einem weiteren Freund, der einem Theaterensemble mit Verbindungen nach Rußland angehörte. (Sie flocht an dieser Stelle ein, daß die Sowjetunion kurz zuvor - am 12. Dezember 1932 diplomatische Beziehungen zur Nanking-Regierung aufgenommen hatte.) Das Ensemble probte im Augenblick eine »progressive Show« über das bäuerliche China. Ihr Freund lud sie zu einem Imbiß in der Sincere Company ein, damals das größte Kaufhaus Schanghais.[2] Während des Essens drang plötzlich eine schrille Frauenstimme von der Straße her in das ruhige Restaurant. »Was war das?« fragte Tschiang Tsching erschrocken. »Nur eine Prostituierte, die Freier sucht«, antwortete ihr Freund. Auf diese Weise lernte sie Schanghais berühmt-berüchtigtes Straßenleben kennen. (Sie lachte, als sie sich daran erinnerte.)
Das an diesem Abend geführte Gespräch sollte tiefgreifende Auswirkungen auf ihre nächsten vier Jahre in Schanghai haben. Denn bei dieser Gelegenheit hörte sie zum erstenmal von dem neugegründeten Frühling-und-Herbst-Schauspielensemble, das bereits zu einer treibenden Kraft in der linken Theaterbewegung geworden war.[3] Es wurde von dem Dramatiker Tien Han geleitet, der gleichzeitig an der Spitze der Liga Linker Dramatiker stand. Er sei sich wahrscheinlich nicht darüber im klaren gewesen, daß sie der Ortsgruppe Tsingtao dieser Liga im Jahre 1931, dem Jahr ihrer Gründung, beigetreten sei, meinte Tschiang Tsching in unserem Interview. Damals sei Tien Hart noch kein »Abtrünniger« gewesen, stellte sie fest. Sie bezog sich dabei indirekt auf die Kampagne, die während der Kulturrevolution unter ihrer Ägide gegen ihn geführt worden war. Seine verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Verbindungen zur KPCh (in die er 1931 eingetreten war)[4] brachten Tschiang Tsching zu der Überzeugung, wenn sie ihn kennenlernen und sein Vertrauen gewinnen könne, werde er für sie einen Kontakt zur Schanghaier Parteizentrale herstellen und ihr dadurch die Möglichkeit geben, weiterhin Mitglied der Partei zu bleiben.
Ich fragte Tschiang Tsching, weshalb es selbst für ein Parteimitglied so schwierig gewesen sei, in Schanghai die richtigen Verbindungen herzustellen?
Tschiang Tsching erklärte mir, daß die dortige Parteiorganisation wegen der von Wang Ming verfolgten Linie immer weiter unterminiert worden und Mitte der dreißiger Jahre fast völlig zerfallen sei. Deshalb waren offene und direkte Kontakte mit Mitgliedern aus anderen Städten unmöglich. »Wir hatten noch Glück, wenn wir als >Wasserblumen< überlebten«, sagte sie.
Sie meinte damit, daß Neuankömmlinge wie sie zunächst nur Treibgut waren. Als sie Tsingtao verließ, mußte sie auch ihre kostbare Parteimitgliedschaft zurücklassen, denn in Schanghai waren frühere Bindungen zur KPCh wertlos, wenn es einem nicht gelang, persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der dortigen Organisation aufzunehmen. Tschiang Tsching war davon überzeugt, daß Tien Hart ihr als Vorsitzender der Liga Linker Dramatiker würde helfen können. Aber damals war er nicht leicht zu erreichen, und sie begann ihre Suche, ohne zu ahnen, wo sie ihn finden konnte. Und sie war sich darüber im klaren, was der Weiße Terror bedeutete. Auf der Suche nach einem prominenten Kommunisten, der gute Verbindungen hatte, riskierte sie ihr Leben.
So verbrachte Tschiang Tsching die ersten Tage in Schanghai damit, Tien Hart und weitere führende Mitglieder des Frühling-und-Herbst-Schauspielensembies aufzuspüren. Es war äußerst schwierig für sie, Auskünfte zu erhalten und mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, weil ihr heimischer Schantung-Dialekt und der Peking-Dialekt, den sie für die Bühne gelernt hatte, sich wesentlich vom Schanghai-Dialekt unterschieden. Also mußte sie sich einen dritten Dialekt aneignen. Bevor Tschiang Tsching auf Umwegen den Schlupfwinkel erreichte, hatte sie gefährliche Begegnungen mit Spitzeln und wäre mehrmals beinahe verhaftet worden. Davon berichtete sie fast genüßlich und mit dem Gespür einer guten Erzählerin für dramatische Effekte. Deutlich erinnerte sie sich an die Beklommenheit, mit der sie vor Männern gestanden hatte, die nicht nur hervorragende Bühnenautoren, sondern auch einflußreiche Politiker waren. Sie hatte ihnen erklärt, wer sie war und was sie in Schanghai zu erreichen hoffte. Sie wollte Tien Han vorgestellt werden, weil sie gehört hatte, er sei nicht nur der Leiter des Frühling-undHerbst-Schauspielensembles, sondern besitze auch Einfluß in den Parteikreisen, mit denen sie Verbindung aufnehmen müsse. Ihre Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit mußten überzeugend gewirkt haben, denn ihre Gesprächspartner waren bereit, sie mit Tien Hart zusammenzubringen.
Tschiang Tsching hielt sich an ihre Anweisungen und erfuhr, daß Tien Hart einen jüngeren Bruder hatte: Tien Hung. Er, den seine Kumpane als den »Schlimmen Mann« kannten, sollte sich um ihren Fall kümmern. Er drängte sich Tschiang Tsching auf immer unangenehmere Weise auf, aber er erklärte sich bereit, sie zu seinem Bruder zu bringen, der KMTRepressalien dadurch entging, daß er ständig seinen Aufenthaltsort wechselte. Er brachte sie zuerst zu einem Haus, in dem - wie sich herausstellte - seine Mutter wohnte. Tschiang Tsching konnte sich nicht mehr an die Adresse erinnern, aber sie wußte noch, daß sie von Madame Tien, einer eindrucksvollen Frau, freundlich empfangen wurde. Sie lud Tschiang Tsching ein, ein paar Tage ihr Gast zu sein und ihnen von sich zu erzählen. Tschiang Tsching sah ein, daß ihr keine andere Wahl blieb, aber sie blieb vorsichtig. Sie erzählte den beiden nur das Nötigste. Sie nannte die Namen einiger Parteimitglieder, die sie in Tsingtao gekannt hatte (manche von ihnen seien später zu Parteiverrätern geworden, fügte sie bedauernd hinzu). Daß sie die Namen bekannter Genossen, die anderswo in der Parteiorganisation arbeiteten, nennen konnte, machte sie für Tien Hans Familie vertrauenswürdig.
Einige Tage später suchten Tien Hart, Tschou Yang und Yang Hanscheng[5] Tschiang Tsching auf. Sie berichteten, daß das Zentralkomitee, in dessen Auftrag sie gekommen waren, die Verhältnisse in der KPCh von Tsingtao kenne und beschlossen habe, Tschiang Tsching die Möglichkeit zu geben, vorschriftsmäßig Kontakt mit der Schanghaier Parteiorganisation aufzunehmen. (Das war offenbar notwendig, bevor ihr wieder die vollen Mitgliedsrechte gewährt werden konnten.) Dann wurde sie gefragt, auf welchem Gebiet sie für die Partei arbeiten wolle.
Da bekannt war, daß sie von Beruf Schauspielerin war, sollte Tschiang Tsching ihre Wahl zwischen Bühne und Film treffen. Sie war sich mit den drei Männern darüber einig, daß die Kulturarbeit im Dienst der Sache wichtig sei, lehnte aber trotzdem beide Vorschläge ab und erklärte ihnen, sie wolle »Massenarbeit an der Basis« leisten - d. h. sie wollte nicht um jeden Preis berührnt werden, sondern zog es vor, Propaganda zu machen. Auf diese Weise würde sie täglich auf zwanglose Weise unters Volk kommen. Diese Antwort mußte ihre Gesprächspartner verblüfft haben (vermutete Tschiang Tsching jetzt amüsiert), da sie wahrscheinlich das Gegenteil erwartet hatten. Trotzdem wurde man sich einig: Tschiang Tsching schloß sich einer der proletarischen Schauspielgruppen an, der Schanghaier Werkstudium-Truppe unter der Leitung des Bühnenautors und Produzenten Tschang Keng, mit dem sie später Schwierigkeiten bekommen sollte.
Die Schanghaier Werkstudium-Truppe, die nicht nur eine Schauspielschule, sondern auch eine allgemeinbildende Schule war, berief sich auf die Erziehungsphilosophie und die Soziallehre von Tschang Kengs Kollegen Tao Hsing-tschih. Die Truppe verdankte ihren Namen Tao, einem Mann, den Tschiang Tsching stets bewunderte. Damals war Tao Hsing-tschih, der sich vor allem als Pädagoge einen Namen gemacht hatte, so berühmt wie Wen I-To, obwohl keiner der beiden KPCh-Mitglied war. Als Tschiang Tsching Tao kennenlernte, war er über vierzig, und seine Sorge um idealistische junge Menschen, zu denen auch sie gehörte, war väterlich. Sie habe zu jenen gehört, die er »liebte und beschützte«, stellte sie fest.
Die Schanghaier Werkstudium-Truppe arbeitete in Ta-tschang (dort, wo sich jetzt der Flughafen Schanghai befindet), in der Nähe einer weiteren Gruppe, der Schanghaier Schauspielschule, die Tao Hsing-tschih selbst leitete. Da der Unterricht kostenlos war, zog die Schanghaier Werkstudium-Truppe Schüler aus den wirtschaftlich und kulturell benachteiligten Industriegebieten und Dörfern der näheren Umgebung an. Auf dem Stundenplan standen auch Abendkurse und andere Fortbildungskurse für Frauen, Verkäufer und andere, deren Schulbildung aus irgendwelchen Gründen unvollständig geblieben war. Tao Hsing-tschih bewies von Anfang an aktives Interesse für die Schule. Er besuchte sie häufig und fühlte sich für ihren Fortbestand verantwortlich. Geriet die Schule in finanzielle Schwierigkeiten oder bekamen manche Schüler nicht genug zu essen, zogen Tao und einige Lehrer los und trieben irgendwo die benötigten Mittel auf.
Tschiang Tsching schilderte Tao mit offenkundiger Zuneigung und Achtung als einen hochgebildeten Mann mit philosophischer Geisteshaltung. Diese Haltung drückte sich schon in der Veränderung seines ursprünglichen Namens aus. Er hieß eigentlich Tschih-hsing, d.h. »Wissen-Tat«, eine Anspielung auf den neokonfuzianischen Philosophen Wang Yang-ming (1472-1529), dessen Formel »tschih hsing ho i« (»Wissen und Tat vereinigt«) den Intuitionismus begünstigte. Taos ursprünglicher Vorname bedeutete: »Erst Wissen ermöglicht die Tat«. Aber als er volljährig wurde, stellte er seinen Namen in Hsingtschih um, wodurch auch der Sinn umgekehrt wurde: »Erst die Tat ermöglicht das Wissen«[6]
Tao Hsing-tschih wurde durch die demokratische Erziehungsphilosophie John Deweys, der während der Bewegung des 4. Mai in China Vorträge hielt, dazu angeregt, sein Studium in Amerika fortzusetzen, wodurch er sich eine »liberale Geisteshaltung« aneignete. Nach seiner Rückkehr nach China wurde er ein unermüdlicher Förderer eines allgemeinen Bildungssystems auf der Basis gebührenfreier Internatsschulen - eine Weiterentwicklung der von seinem Kollegen James Yen begründeten Massenerziehungsbewegung. Als Tschiang Tsching Tao kennenlernte, war er Rektor der Yu-tsai, einer gebührenfreien Grundschule in Tschungking gewesen, die einen ausgezeichneten Ruf hatte. Zuvor (im Jahre 1927) war Taos Name im Zusammenhang mit dem Experimentellen Ländlichen Lehrerseminar bekannt geworden, die er in Hsiao-tschuang bei Nanking gegründet hatte. Nach Tschiang Tschings Darstellung war die Schule in Hsiao-tschuang auf »freies Denken ausgerichtet«, was bedeutete, daß alle politischen Richtungen akzeptabel waren - ein Prinzip, das die Kuomintang fürchtete und verurteilte.
Als 1927 die KMT ihre Diktatur errichtete, wurden zahlreiche Schüler dieser Schule, darunter auch einige Mitglieder der KPCh und der Jugendliga, verhaftet, weil sie sich öffentlich zu demokratischen und anarchistischen Cberzeugungen bekannt hatten. Im Jahre 1930 schloß die Regierung schließlich die Schule und ließ ihre Schüler und Lehrer zusammentreiben und inhaftieren. Diese Unterdrückung einer unkonventionellen Bildungseinrichtung erregte an beiden Enden des politischen Spektrums große Unruhe in der Presse. Als junge Radikale war auch Tschiang Tsching zutiefst beeindruckt, als sie von tapferen Jugendlichen las, die ihren Kerkermeistern die »Internationale« ins Gesicht sangen und sich weigerten, sich von ihnen einschüchtern zu lassen.
Da Tien Han dafür verantwortlich war, daß Tschiang Tsching der Schanghaier Werkstudium-Truppe zugeteilt worden war, bildete er sich ein, sich in alle Angelegenheiten ihres Lebens einmischen zu können. Deshalb erteilte er seinem jüngeren Bruder Tien Hung (»Schlimmer Mann«) den Auftrag, sie in den Unterricht zu begleiten und ihm über alles, was sie tat, Bericht zu erstatten. Tschiang Tsching fand diese Beaufsichtigung lästig und unerträglich. Außerdem mischte Tien Hung sich in ihre Arbeit ein und ließ erkennen, daß er sich in sie verliebt habe, was ihr nur unangenehm war. Tschiang Tsching schrieb Tien Han schließlich einen Brief, in dem sie ihm detailliert schilderte, wie unerträglich sein kleiner Bruder geworden war, und ihn aufforderte, Tien Hung anderweitig zu verwenden. Tien Han wurde damals von seinem Bruder und allen Eingeweihten Lao Ta genannt - d. h. Alter Großer oder sinngemäß Nummer Eins - da er der älteste Sohn der Familie Tien war. Aber dieser Name paßte auch zu ihm, da er (allerdings nicht ausschließlich, obwohl Tschiang Tsching dies behauptete) aus der Banditen- und Gaunersprache stammte. (Das sagte sie mit offenkundiger Befriedigung und voller Boshaftigkeit gegenüber einem Mann, an dem sie sich in späteren Jahren gerächt hatte.) Wie hatte sie die Banditensprache gelernt? Ihre politische Arbeit in den untersten Bevölkerungsschichten hatte ihren Wortschatz um Unterweltausdrücke »bereichert«. Aber die wirkliche Banditensprache hatte sie Anfang der fünfziger Jahre gelernt, als sie inkognito in ländlichen Gebieten gearbeitet hatte. Dabei hatte sie alle möglichen Ausdrücke aufgeschnappt - auch die Decknamen der ersten neun Mitglieder einer Gangsterbande. Der Lao Ta Genannte war der Boß.
Obwohl Tschiang Tsching durch ihren Brief den »Schlimmen Mann« Tien Hung bei dem »Alten Großen« Tien Han angeschwärzt hatte, blieb ersterer ihr unvermindert zugetan. Sie erkannte allerdings bald, daß seine Aufdringlichkeit auch ein Versuch politischer Beeinflussung war - unter Anleitung Tien Hans, der mit heimtückischen Methoden arbeitete. Tschiang Tsching hatte Tien Han aufgesucht, um Verbindung zu der Schanghaier Parteiorganisation zu bekommen; jetzt geschah genau das Gegenteil. Tien Han bemühte sich, sie daran zu hindern, mit anderen Genossen, die sie in Zukunft möglicherweise vor staatlichen Repressalien hätten schützen können, Kontakt aufzunehmen. Da Tschiang Tsching diese lebenswichtigen Verbindungen fehlten, während sie andererseits in gewissen Kreisen bereits als linke Aktivistin bekannt war, trieb sie tatsächlich »in gefährlichen Wassern«. Nach einiger Zeit wurde ihr klar, daß sie ohne den Schutz der kommunistischen Untergrundorganisation auskommen mußte. Manche Leute, die sie bisher für ihre Freunde gehalten hatte, weigerten sich jetzt, ihr die Tür zu öffnen. Sie erkannten, daß jemand wie Tschiang Tsching eines Tages verhaftet werden würde - und das konnte auch für sie schlimme Folgen haben.
Durch ihre Bekanntschaft mit Tien Han lernte Tschiang Tsching Liao Moscha kennen, der ebenfalls Mitglied der Liga Linker Dramatiker war. Der um Anerkennung ringende junge Autor Liao war »damals noch in Ordnung« (ein indirekter Hinweis auf seine spätere abweichlerische journalistische Kritik an Maos Regime, die schließlich seinen Sturz bewirkte). Tschiang Tsching bemerkte auch, Liaos Frau habe einen berühmten Vater gehabt, nannte aber keinen Namen. Anfang der dreißiger Jahre war Liao sehr arm. Er und seine Frau hausten in elendesten Verhältnissen in der Dachkammer eines Hauses, das einem anderen gehörte. Als Tschiang Tsching die beiden kennenlernte, erwartete seine Frau ein Kind. Angeblich deshalb, weil Tschiang Tsching noch immer auf der Suche nach der Parteizentrale war, lud Liao Mo-scha sie ein, zu ihnen zu ziehen - vielleicht um ihre politische Einstellung und ihren Charakter auf die Probe zu stellen. Da sie keine bessere Wohnmöglichkeit in Aussicht hatte, nahm sie dankend an. Die Mansarde war so winzig, daß Tschiang Tsching auf einem kleinen Tisch schlafen mußte. Die ständigen Streitereien der Liaos, die sich jetzt auf sie als Außenstehende konzentrierten, waren unangenehm und ermüdend, so daß Tschiang Tsching kaum noch schlafen konnte.
Während sie bei den Liaos wohnte, begann Tschiang Tsching, die Intellektuellenkreise kennenzulernen, deren Mittelpunkt die Ta-hsia war, wie die Schanghai-Universität bei den Studenten hieß. Sie belegte dort Vorlesungen. Vom Anfang der dreißiger Jahre bis zu den Demonstrationen am 9. Dezember 1935[7] wurden dort Positionen vertreten, die »weit links« lagen und Ausdruck der russisch beeinflußten Wang-Ming-Linie waren. Jedesmal wenn Studenten und Professoren demonstrierten, verhafteten die KMT-Behörden zahlreiche Mitglieder der KPCh und der Jugendliga. Während des Höhepunktes der Studentenproteste im Zusammenhang mit den Demonstrationen am 9. Dezember »hielten ganze Massen von Gefolgsleuten der Wang-MingLinie die rote Fahne hoch«. Tschiang Tsching betonte, die meisten Festgenommenen seien KPCh-Mitglieder gewesen.
Es war heiß und schwül, als sie begann, Vorlesungen an der Ta-hsia zu besuchen. Tschiang Tsching erinnerte sich an das angenehme Gefühl, nur leichteste Kleidung getragen zu haben. Es gelang ihr schwer, in Studentenkreisen Freunde zu gewinnen. Da sie Schauspielerin war, von auswärts kam und offensichtlich an verschiedenen kommunistischen Aktivitäten beteiligt war, hatten die anderen kein rechtes Vertrauen zu ihr. Während sie sich bemühte, in der Studentenschaft Anschluß zu gewinnen, trennte sie sich von Liao Mo-scha und seiner Frau, weil diese Verbindung sich auf die Dauer als persönlich und politisch kompromittierend erwies. Um ihren Plan verwirklichen zu können, brauchte sie rasch Geld. Tschiang Tsching wandte sich hilfesuchend an eine Kommilitonin, von der sie wußte, daß sie einigermaßen wohlhabend war. Die Studentin empfing sie freundlich, was für Tschiang Tsching überraschend war, weil sie Zurückweisungen gewöhnt war. Als sie das Gespräch auf die 20 Yüan brachte, die sie sich leihen wollte, zögerte die andere einen Augenblick und murmelte dann, sie sei ziemlich abgebrannt, weil sie eben ihr Hörgeld bezahlt habe. Trotzdem gab sie Tschiang Tsching das Geld, und Tschiang Tsching ging damit sofort zu Liao Mo-scha. Sie wollte es ihm leihen, weil sie wußte, daß er es brauchte und haben wollte. (Hier drückte sich Tschiang Tsching ein wenig unklar aus. Sie deutete an, daß sie mit diesem Geld sein Schweigen in bezug auf ihre plötzliche Trennung »kaufen« wollte). Als Liao das Geld nahm, erklärte Tschiang Tsching ihm, sie ziehe jetzt aus, und bat ihn, ihr die 20 Yüan bald zurückzuzahlen. (An dieser Stelle unterbrach sie ihre Erzählung, um indigniert festzustellen, sie habe niemals auch nur einen einzigen Cent von ihm zurückerhalten.)
Obwohl sie von Liao Mo-scha nichts zu erwarten hatte, mußte sie ihrer Kommilitonin das geliehene Geld so schnell wie möglich zurückgeben. Wie sollte sie das schaffen? Sie hatte noch andere bescheidene Verdienstquellen, z. B. als Teilzeitlehrerin in mehreren Schanghaier Mitteischulen. Diese Tätigkeit wurde nach Stunden bezahlt - aber Tschiang Tsching wußte jetzt nicht mehr, wieviel sie damals verdient hatte. Ihre einzigen größeren Ausgaben waren die Fahrtkosten: zur Universität, in die Schulen, ins Theater und zu Besuchen in anderen Stadtteilen. Deshalb konnte sie etwas sparen und das geliehene Geld nach nicht allzu langer Zeit zurückzahlen. Für Tschiang Tsching war das eine größere Erleichterung, als ihre Kommilitonin, die nichts von ihrer Untergrundarbeit wußte, ahnen konnte. Liao Mo-scha hatte jetzt ihr gegenüber keine Ansprüche mehr, und Tschiang Tsching beschloß, sich nie mehr mit Mitgliedern der Liga Linker Dramatiker abzugeben (ein Entschluß, der bald umgestoßen wurde) - und schon gar nicht mit denen, von denen sie den Eindruck hatte, sie verwehrten ihr den Zugang zu der lokalen Parteiführung, die ihr das geben konnte, was sie sich am sehnlichsten wünschte: eine Erneuerung ihrer Mitgliedschaft in Schanghai.
Für Linke aller Altersstufen und verschiedener Berufe wurden politische Demonstrationen in den dreißiger Jahren geradezu lebensnotwendig. Organisierte Gruppen konnten ihre Ansichten zu nationalen Fragen freimütiger äußern und ihre Forderungen an die Regierung mit geringerem Risiko vorbringen, als dies Einzelpersonen möglich war. Tschiang Tsching erinnerte sich daran, daß Demonstranten im Jahre 1933 noch mehr Bewegungsfreiheit gehabt hatten als in späteren Jahren. Im August - sie hatte inzwischen ihre Lehrtätigkeit aufgenommen - vertrat Tschiang Tsching eine Gruppe von Lehrerinnen aus einer Vorstadt. Mit einer kleinen Gruppe von Studenten und Arbeitern marschierte sie zum Hafen, um Lord Marley von der englischen Labour Party und den Franzosen Paul Vaillant-Couturier (Chefredakteur der kommunistischen Zeitung »L'Humanité«) zu begrüßen. Die beiden kamen nach Schanghai, um dort in der ersten Septemberwoche an einer Antikriegskonferenz teilzunehmen.[8] Die von zwei Musikkapellen begleiteten Chinesen schwenkten rote Fahnen und zündeten Feuerwerkskörper an, um diese berühmten Gäste für ihren »Antiimperialismus« zu ehren.
Die von der Universität ausgehenden Demonstrationen unterschieden sich grundlegend von denen, die auf den breiten Hauptverkehrsadern Schanghais stattfanden. Tschiang Tschings Erinnerung an das Universitätsleben - an die Professoren, Studenten, Vorlesungen, Seminare und Diskussionen - war weit weniger lebendig als ihre Erinnerung an die Unruhen und die ständige Drohung, verhaftet zu werden. Soweit sie sich erinnerte, folgte die Schanghaier Parteiorganisation in den Jahren 1933 und 1934 noch immer Wang Mings linker Linie, und die kommunistische Jugendliga stand noch weiter links als Wang Ming. Wegen dieser und anderer Differenzen in der politischen Einstellung vieler Genossen konnte Tschiang Tsching nicht in jedem Fall auf die Unterstützung solcher Parteimitglieder zählen.[9]Doch so gespannt das Verhältnis der Genossen untereinander auch sein mochte, alle lebten unter derselben Bedrohung. Die Kuomintang versuchte, den organisierten Widerstand zu zersetzen, indem sie in die Studentenschaft Blauhemden (Angehörige eines militaristischen Jugendkorps, das oft als faschistisch bezeichnet und mit Hitlers Braunhemden und Mussolinis Schwarzhemden verglichen wurde), Spitzel, Agenten und Gegenagenten einschmuggelte, die alle heimlich bewaffnet waren. An der Universität - und in ganz Schanghai - wurde es schwierig, zuverlässig zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Tschiang Tsching beteiligte sich bald mit Freunden an Demonstrationen in ganz Schanghai. Die Studenten forderten eine Stärkung des nationalen Widerstands. Am Jahrestag der überraschenden Verteidigung Schanghais gegen die Japaner durch die meuternde 19.-RouteArmee der Kuomintang (am 18. Juli 1932) waren sie und ein etwa gleichaltriger junger Mann in der Stadt unterwegs, um Geld für die Armee zu sammeln. Auf dem Weg durch Schanghai trafen sie andere Widerstand Leistende, darunter eine Gruppe von Männern, die bereit waren, ihr Leben für ihre Sache zu opfern.
Als Tschiang Tsching die auf den Bahngleisen liegenden Gestalten sah, die mit diesem äußersten Mittel gegen die nachgiebige Haltung der Nationalregierung gegenüber den japanischen Invasoren protestierten, vermutete sie, daß einige von ihnen der damals in den Zentralen Sowjetgebieten [10] stationierten Roten Armee angehörten (möglicherweise ein Hinweis auf Angehörige der 19.Route-Armee, die im November in Futschou eine Revolutionäre Volksregierung ausgerufen hatten; ihr Versuch, zu einer Einheitsfront mit den in den nahegelegenen Zentralen Sowjetgebieten stationierten Kommunisten zu gelangen, mißlang).[11] Da Tschiang Tsching sich häufig an Straßendemonstrationen beteiligte, kannte sie bald die Taktik, die ihnen zugrundelag. Ein Studentenführer gab kurzfristig Ort und Zeitpunkt der Demonstration bekannt. Die Teilnehmer strömten rasch von allen Seiten zusammen, gaben Parolen aus, stellten Forderungen und liefen wieder auseinander, bevor sie von Polizisten und Kriminalbeamten festgenommen werden konnten. Die Erinnerung an das Aufbegehren der Jugend gegen die Staatsgewalt und die Bereitschaft zu Heldentaten - auch an ihre eigene animierte Tschiang Tsching. Sie erwähnte mehrmals, solche Demonstrationen seien stets lebensgefährlich gewesen. Aber die Demonstranten hatten keine andere Wahl. Wie hätten sie sonst ihre Vorstellungen propagieren und Spenden für ihre Sache sammeln sollen? Bei solchen Unternehmungen konnten sie und ihre radikalen Genossen mit der Unterstützung der Liga Linker Erzieher rechnen, denen liberale Förderer wie Tao Hsing-tschih und andere Sympathisanten angehörten. Detaillierter - und vielleicht zuverlässiger - waren Tschiang Tschings Erinnerungen an Demonstrationen zum Jahrestag der japanischen Invasion in der Mandschurei (die 1931 mit dem Mukden-Zwischenfall begonnen hatte). Für linksorientierte Studenten und Radikale endete diese Serie von Demonstrationen katastrophal. Geheimagenten der KMT und kommunistische Verräter nahmen prominente Mitglieder der Kommunistischen Jugendliga fest und behaupteten, sie gehörten zu »ihren eigenen Leuten«. Die davon Betroffenen, die entschlossen waren, nicht zu »Marionetten des Feindes« zu werden, schworen sich, eher für ihre Sache zu sterben, als etwa als Feiglinge zu überleben. In einem öffentlichen Auftritt, in dem sie ihre Stärke demonstrierten, riefen sie: »Zerstört die Jade, statt das Ziegeldach zu flicken!« (Widerstand um jeden Preis) und »Lieber links als rechts!« So sehr Tschiang Tsching sie auch bewunderte, so sehr fürchtete sie sich vor einem ähnlichen Schicksal. Danach habe sie sich die Demonstrationen, an denen sie teilnahm, sorgfältiger ausgesucht, stellte sie fest.
Tschiang Tsching beschloß, einen neuen Anlauf zu nehmen, um endlich Kontakt mit der im Untergrund arbeitenden Parteiorganisation zu bekommen. Ihre Kriegslist bestand darin, an den Massendemonstrationen zum Jahrestag des Mukden-Zwischenfalls teilzunehmen. Dies war zwar riskant, aber sie hoffte, dabei einigen gleichgesinnten Genossen aufzufallen und sie durch ihr tapferes Engagement für die kommunistische Sache zu beeindrucken. Und sie hatte Glück. Ihr sorgfältig kalkuliertes Verhalten bei den Demonstrationen überzeugte einige der Verantwortlichen, und sie gaben ihr nun den Wink, als geheime Anführerin des Demonstrationszugs zu fungieren.
Tschiang Tsching gehörte nun zur Vorhut, und sie wurde weiter auf die Probe gestellt. Einer der Kundgebungsleiter gab ihr den Auftrag, sich um zwei Arbeiterinnen zu kümmern, die sich ihnen eben erst angeschlossen hatten. Tschiang Tsching stellte bei der ersten Begegnung fest, daß sie die beiden noch nie gesehen hatte. (Hier berichtete sie freimütiger als sonst über ihre Eindrücke.) Sie war erstaunt, als sie sah, daß diese Arbeiterinnen viel besser als sie gekleidet waren. Wie war das möglich? Sie hatten offenbar keine familiären Verpflichtungen und brauchten niemanden zu unterstützen. Tschiang Tschings Situation sah anders aus. (Sie äußerte sich nicht weiter zu diesem Punkt, und ich fragte mich, ob sie damit andeuten wollte, sie habe ihre Mutter, einen Ehemann, einen Liebhaber oder einfach nur Genossen finanziell unterstützt.) Obwohl sie keineswegs elegant angezogen war, unterschied ihre Kleidung sich doch von der einer gewöhnlichen Arbeiterin. Als Schauspielerin und studierende Intellektuelle imitierte sie nicht den proletarischen Stil - auch nicht aus politischen Gründen. Trotzdem hatten die Leute, auf die es bei dieser Demonstration ankam, nichts gegen ihre schauspielerhafte Erscheinung. Sie hatten Tschiang Tsching schließlich zu ihrer Anführerin bestimmt.
Am Nachmittag dieses Tages (des 18. Septembers) trat Tschiang Tsching in einer Wohltätigkeitsvorstellung von »Kindermord« auf, einem auf einem japanischen Film basierenden Stück, das den Erfordernissen des Tages entsprechend aktualisiert worden war. Die Einnahmen aus dieser Vorstellung waren für die streikenden Arbeiter einer Fabrik der British-American Tobacco bestimmt. Wie üblich gab es mehrere Kategorien von Plätzen: Während die billigsten nur zwanzig oder dreißig Cent kosteten, waren für die besseren fünf bis zehn Yüan zu zahlen. Da die Vorstellung keineswegs ausverkauft war, kaufte Tao Hsing-tschih, der unermüdliche Förderer des Ensembles, die teuren Karten auf, um die Sache der Schauspieler und der Arbeiter zu unterstützen. Diese Vorstellung von »Kindermord« sollte Tschiang Tsching nie vergessen. Die Ereignisse des Tages hatten die Theaterbesucher und die Schauspieler, unter denen sich weitere Demonstranten befanden, in große Erregung versetzt. Bei ihren Auftritten achtete Tschiang Tsching normalerweise nur wenig auf die Reaktion des Publikums, aber diesmal beobachtete sie die Zuschauer genau. Da »Kindermord« ein Proteststück war, mußte das Publikum ebenso wie das Ensemble mit einer Bestrafung rechnen. Und an diesem Nachmittag wurden Verhaftungen vorgenommen. Sobald der Schlußvorhang gefallen war, verließen die Schauspieler das Theater durch den Bühnenausgang und beeilten sich, zu den Demonstrationen zurückzukommen.
Nachdem die Demonstranten sich später verlaufen hatten, stand Tschiang Tsching allein, erschöpft und hungrig da. Sie suchte in ihrer Handtasche nach Fahrgeld, fand keines und konnte sich deshalb auch kein Abendessen leisten. Dann fiel ihr ein, daß sich ganz in der Nähe ein kleines Restaurant befand, das von Weißrussen geführt wurde. Sie kannte den alten Mann, dem es gehörte, und war davon überzeugt, daß sie dort wenigstens einen Teller Borschtsch-Suppe bekommen würde, wenn sie darum bat. Als sie das Restaurant betrat, merkte sie, daß einige Gäste, die nachmittags im Theater gewesen waren, bei ihrem Anblick überrascht waren, weil sie angenommen hatten, auch Tschiang Tsching sei unmittelbar nach der Vorstellung verhaftet worden. Aber jetzt begrüßten sie sie als Li Yün-ho, die Schauspielerin, die sich durch ihre Leistungen in verschiedenen Rollen einen Namen gemacht hatte. (Tschiang Tsching schien nicht zu merken, daß das, was sie eben gesagt hatte, nach Selbstlob klang.) Der Besitzer mußte gehört haben, daß Tao Hsing-tschih, dessen Liberalismus er unterstützte, mutig im Parkett aufgestanden war, um Tschiang Tschings Leistung zu loben, denn der alte Russe lud sie an diesem Abend zu einem opulenten Mahl ein. Tschiang Tsching meldete sich auch für die am nächsten Tag stattfindende antijapanische Demonstration und bekam eine Führerin zugeteilt, von der sie zum Sammelpunkt gebracht werden sollte. Aber diese Begleiterin ließ sie aus unbekannten Gründen unterwegs im Stich. Tschiang Tsching, die fürchtete, die anderen könnten glauben, sie wolle sich ihrer Mitverantwortung für die Demonstration entziehen, hastete nach Nei-scheng-tschia. Aber dort sah sie keine bekannten Gesichter. Sie geriet in ein anderes Viertel, das von berittenen Polizisten - Sikhs der britischen Kolonialverwaltung - umstellt war. Sie machte einen Bogen um dieses gefährliche Gebiet und suchte so unauffällig wie möglich weiter. Endlich begegnete sie durch Zufall einem Freund, der ihr erklärte, die Demonstration sei in die Peking West Road verlegt worden, eine oft für solche Zwecke benützte Hauptverkehrsstraße.
Auf dem Weg dorthin lief Tschiang Tsching die Ai-wen-i-Straße entlang, ohne auf Bekannte zu stoßen. Sie hastete weiter und blieb erst stehen, als sie eine Gruppe distinguiert aussehender Herren - alles »Literaten« - auf der Straße stehen sah. Diese ungewöhnliche Zusammenkunft inmitten gewöhnlicher Bürger bewies ihr, daß die Demonstration in der Nähe stattfinden mußte.
Die Erinnerung an diese Hetzjagd durch die Straßen von Schanghai hatte Tschiang Tsching so sehr erschöpft, daß sie zuletzt fast nur noch im Flüsterton sprach. Sie schwieg einige Sekunden lang und fand dann ihre Stimme wieder. Das Gespräch über ihre Kindheit, das wir am vorigen Abend geführt hatten, hatte sie so aufgewühlt, daß sie ein Schlafmittel hatte nehmen müssen, um zur Ruhe zu kommen. Sie hatte unvorsichtigerweise eine zu große Dosis genommen und war zusamrnengebrochen. Ihre Krankenschwester hatte sie auf dem Fußboden aufgefunden und ins Bett getragen. Tschiang Tsching lachte, als sie mir davon erzählte. An diesem Abend waren Hsiao Tschiao, ihr stämmiger junger Leibwächter, eine Krankenschwester und ein Arzt wachsamer als zuvor; sie machten sich im Zimmer zu schaffen, beobachteten Tschiang Tsching und achteten auf Anzeichen von Erschöpfung. Hsiao Tschiao wolle sie um Mitternacht ins Bett schicken, sagte Tschiang Tsching und lachte wieder. Ihr Lachen deutete darauf hin, daß es ihm schwerfallen würde, sein Vorhaben zu verwirklichen (was sich dann bestätigte). Diese bevorstehende Auseinandersetzung schien sie aufzuheitern, denn sie stand auf, löste den Knoten ihres seidenen Gürtels und ging im Zimmer auf und ab, wobei die Gürtelenden bei jedem Schritt mitschwangen.
Zu den Leuten, die Tschiang Tsching am Rande der Demonstration erkannte, gehörte ein Junge, der früher einer ihrer Schüler gewesen war und jetzt dem Studentenkorps angehörte. Er trug ein Paket, das vielleicht eine Waffe oder Flugblätter enthielt und Verdacht erregen mußte. In diesem Augenblick entdeckte ihn ein berittener Sikh-Polizist. Er hob seinen Schlagstock, beugte sich aus dem Sattel seines galoppierenden Pferdes herunter und schlug dem Jungen das Paket aus den Händen. Der von dem Schlag Benommene verlor kurz das Gleichgewicht, fing sich wieder und rannte davon. Tschiang Tsching, die über die Brutalität des Sikhs empört war, wollte impulsiv hinter dem Jungen herlaufen und sich um ihn kümmern. Aber das wäre tollkühn gewesen, da sie damit nur riskiert hätte, ebenfalls niedergeschlagen zu werden. Um nicht verdächtig zu wirken, schlenderte sie zu einem Geschäft für Damenmoden hinüber und tat so, als interessiere sie sich für die Kleider in der Auslage. Da Tschiang Tsching ins Schaufenster starren mußte, nahm sie nicht alles wahr, was sich um sie herum abspielte. Kurze Zeit später näherte sich eine Frau mittleren Alters, die sie als Lao Wang (Ehrwürdige Wang) kannte und die seit etwa einem Jahr in Schanghai politische Basisarbeit leistete, und blieb schweigend neben ihr stehen. Tschiang Tsching verstand, daß sie ihr folgen sollte, und ging neben ihr her die Ai-wen-i in Richtung Nitseng-Brücke entlang. Plötzlich bemerkten sie, daß sie von der Polizei verfolgt wurden. Tschiang Tsching forderte ihre Begleiterin auf, allein weiterzugehen. Da Lao Wang weniger bekannt als Tschiang Tsching war, konnte sie leichter durch die polizeiliche Absperrung schlüpfen. Danach gelangte Tschiang Tsching auf Umwegen in ihre Schule zurück. Obwohl sie weder dem Zentralkomitee der KPCh noch dem Provinzparteikomitee (oder auch nur der Schanghaier Parteiorganisation) angehörte, wurde sie allmählich als kommunistische Revolutionärin bekannt. Dieser Ruf brachte es mit sich, daß Tschiang Tsching bei Demonstrationen besonders vorsichtig sein mußte. Wenn sie aufgefordert wurde, an »fliegenden Versammlungen« teilzunehmen, die rasch organisiert und ebenso rasch wieder aufgelöst wurden, wog sie die Umstände sorgfältig ab, bevor sie zusagte. Würde sie hinter Gefängnisgittern ebenso nützlich sein wie in Freiheit, wenn sie weiterhin auf dem Kultursektor arbeiten konnte? (Diese und ähnliche besorgte Überlegungen kleidete sie in viele wortreiche Argumente, die ihre Bereitschaft zur Selbstaufopferung, ihren Willen zum Oberleben und eine gewisse Ruhmsucht anklingen ließen.)
Linke politische und kulturelle Organisationen konnten nur überleben, wenn sie wirksame Verhaltensformen und Verständigungsmethoden entwikkelten, d. h. solche, die möglichst nicht die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zogen. Tschiang Tsching und ihre Freunde diskutierten endlos über die Methoden, die am meisten Erfolg versprachen. Die komplexe soziale und politische Struktur des Gebiets, in dem sie arbeitete, war von Außenstehenden nicht leicht zu durchschauen, und diese Oberflächentrübung erleichterte konspirative Betätigungen - unter der Voraussetzung, daß die nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden. Im Herbst dieses Jahres erhielt Tschiang Tsching einen längsgefalteten Brief, auf dem ihr Deckname Yün-ho[12] - Wolkenkranich - stand. Aber das Schriftzeichen für ho war verändert, so daß nur das »Vogel«-Element auf der rechten Seite übriggeblieben war, während die linke Hälfte aus Sicherheitsgründen fehlte. Solche Vorsichtsmaßnahmen waren üblich in den Weißen Gebieten, wo Namensänderungen der politischen Tarnung dienten, aber noch häufiger aus persönlichen oder beruflichen Gründen vorgenommen wurden. Der Brief selbst war ein Musterbeispiel für bewußte Irreführung. Der Absender drückte Tschiang Tsching sein Mitgefühl dafür aus, daß sie nach dem Biß eines tollwütigen Hundes im Krankenhaus liege und sich nur allmählich erhole. Hinter diesen Worten verbarg sich die eigentliche Nachricht. Man teilte Tschiang Tsching mit, daß ihr Leben in Gefahr sei, und wies sie an, die Stadt zu verlassen.
Wie wütend sie damals über diesen Geheimbefehl war! Seit ihrer Ankunft in Schanghai hatte sie darauf hingearbeitet, das Vertrauen von Leuten zu gewinnen, die sie mit dem Stadtparteikomitee zusammenbringen konnten. Konkurrierende linke Organisationen, denen bestimmte unangenehme Personen angehörten, hatten ihr alle möglichen Ratschläge aufgedrängt, die zum Teil widersprüchlich waren. Eine dieser Organisationen, die Revolutionäre Liga, hatte inzwischen einen Linksruck erlebt und stand jetzt »noch weiter links als das Parteizentrum« (das sich noch an die Wang-Ming-Linie hielt). Die Jugendliga und andere Jugend- und Studentengruppen waren ebenfalls »von der Linken kooptiert worden«, wie Tschiang Tsching es ausdrückte. Diese ultralinken Gruppen drängten jetzt Tschiang Tsching und einige ihrer Freunde, die nicht ganz so weit links standen, Schanghai zu verlassen, ohne sich darum zu kümmern, wohin sie sich wandten. Als die Liga Linker Erzieher erfuhr, in welche Zwickmühle Tschiang Tsching geraten war und daß sie noch immer zögerte, wiederholte sie den Befehl, Schanghai sofort zu verlassen. Tschiang Tsching lehnte sich zunächst dagegen auf, weil sie in Schanghai nicht nur politische und berufliche Interessen verfolgte, sondern auch - wie sonst nirgendwo persönliche Bindungen hatte. Aber schließlich gab sie doch nach und zog nach Peking um. Ihrer Erinnerung nach war der Weiße Terror in Peking ebenso brutal wie in Schanghai. Die Spannungen wurden noch durch die Anwesenheit des Dritten Schanghaier Regiments verschärft, das in Peking und Tientsin stationiert war, um die Interessen der Kuomintang-Regierung zu wahren. Tschiang Tsching, die in Peking isolierter und hilfloser als je zuvor war, schrieb sich als Gasthörerin an der Peita (Peking-Universität) ein. In ihrer dritten akademischen Umgebung (nach den Universitäten in Tsingtao und Schanghai) fühlte sie sich jetzt zu den Sozialwissenschaften hingezogen - zu einem Gebiet, auf dem der marxistische Theoretiker Li Ta einer der populärsten akademischen Lehrer der Peita war.
Zu seinen Politologie-Vorlesungen strömten Studenten aller Fakultäten in den Hörsaal; Tschiang Tsching war oft dabei. An der Peita mußte sie mit sehr wenig Geld auskommen. Ihr Einkommen (aus nicht erwähnter Quelle) betrug nur sieben Yüan im Monat. Wenn sie die Zimmermiete bezahlt hatte, blieben ihr nur vier Cent für jede Mahlzeit. Die Peking-Universität, wo der Vorsitzende Mao einst gearbeitet hatte, war die berühmteste aller chinesischen Hochschulen und Universitäten. Selbst eine Gasthörerin wie Tschiang Tsching konnte dort in Vorlesungen und aus Büchern viel lernen. Sie schaffte es auch, einen Leserausweis für die PekingBibliothek zu erhalten. Danach verbrachte sie einige Monate lang den größten Teil ihrer Zeit in der Bibliothek und lernte deren außerordentlich reichhaltige Bestände kennen, während sie sich von trockenem Brot und abgekochtem Wasser ernährte.
Das strenge Selbstbildnis, das Tschiang Tsching als junge Gelehrte darstellte, wurde durch eine weitere Episode ergänzt, die sie ein wenig mädchenhafter zeigte. Sie schilderte lachend, wie sie während ihres Pekinger Exils zum erstenmal versucht hatte, mit einem Fahrrad zu fahren. Nach mehreren schmerzhaften Stürzen hatte sie den Bogen heraus. Sie sei als junge Frau in mancher Beziehung unbeholfen gewesen, sagte sie, und habe einen schlechten Gleichgewichtssinn gehabt. Beim Radfahren wie bei allem anderen verdankte sie ihren schließlichen Erfolg ihrer Willenskraft. Tschiang Tschings Rückkehr aus Peking nach Schanghai im Frühjahr 1934 wurde von der Liga Linker Erzieher, einer Tarnorganisation der KPCh, vorbereitet. Dieser Ortswechsel war für Tschiang Tsching viel bedeutungsvoller, als man vermuten könnte, denn die Betreuung durch die Liga garantierte, daß ihre Verbindung zur Partei nach einer mehr als einjährigen gefährlichen Unterbrechung wiederhergestellt wurde. Durch die Bemühungen der Liga Linker Erzieher und anderer kommunistischer Gruppen waren in den letzten Monaten viele Sektoren des Schanghaier Schulsystems unter die Kontrolle der KPCh gekommen - »in unsere Hände gefallen«, wie Tschiang Tsching es ausdrückte. Die Partei delegierte Tschiang Tsching als Lehrerin für ein Abendkursprogramm für Arbeiterinnen, das der Christliche Verein Junger Frauen durchführte. Obwohl das Arbeiterprogramm dieses Vereins »aufgeklärt« war, beurteilte Tschiang Tsching ihn im übrigen als »zutiefst reaktionär«. Sie hatte jedenfalls kein Interesse an seiner christlichen Grundhaltung. Tschiang Tschings Arbeit für Christentum und Kommunismus zugleich scheint paradox und erfordert einige zusätzliche historische Erläuterungen. Als Tschiang Kai-schek im Jahre 1927 seine kommunistischen Bundesgenossen verriet, wurden die meisten von den Kommunisten gelenkten Gewerkschaften aufgelöst.
Sie mußten deshalb durch andere ersetzt werden, die entweder kein politisches Gewicht hatten oder in Wirklichkeit von der KMT kontrolliert wurden. Diese Erschwerung der gewerkschaftlichen Arbeit, die Folgen der Weltwirtschaftskrise und die Übersiedlung des Zentralkomitees der KPCh nach Kiangsi brachten es mit sich, daß die wenigen in Schanghai zurückgebliebenen Gewerkschaftsführer nach 1932 versuchen mußten, andere Verbindungen zu knüpfen. Abgesehen von den Organisationen der KMT, die infiltriert werden konnten, gab es keine große Auswahl.[13] Wichtig waren damals jedoch angesehene reformistische christliche Institutionen, die in der Arbeitsweit Erfahrung hatten. In der in den dreißiger Jahren heraufziehenden Krise der Städte hatten CVJF und CVJM sich auf die Arbeiterwohlfahrt und ihre Missionen in ausländischen Industriegebieten konzentriert. In China waren sie vor allem in Schanghai aktiv, weil die organisierte Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft dort am nachhaltigsten und im größten Maßstab betrieben wurde. Vom Standpunkt der KMT aus vergrößerte ihre ausländische und christliche Reputation das Prestige der Regierung, zu einem Zeitpunkt, als die KMT um internationales Ansehen bemüht war. Deshalb waren CVJF und CVJM die einzigen privaten Organisationen in Schanghai, die offen patriotische und andere reformistische Arbeit betreiben konnten, ohne von der Regierung daran gehindert zu werden.V[14]
Der Vorstand des Schanghaier CVJF betraute klugerweise auch Chinesinnen mit verantwortungsvollen Aufgaben. Tschiang Tsching, die vermutlich von der Liga Linker Erzieher empfohlen worden war und schon einige Erfahrung als Lehrerin in Schanghai hatte, gehörte zu denen, die dazu ausgewählt wurden. Das den Arbeiterinnen - meist einfachen Frauen vom Lande - angebotene Programm reichte von Geselligkeit und Freizeitgestaltung über die Untersuchung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken bis zu Lese- und Rechtschreibunterricht und medizinischer Versorgung.
Der CVJF unterstützte auch Boykottaufrufe gegen japanische Erzeugnisse, führte antijapanische Theaterstücke auf und veranstaltete Vorträge und Diskussionen über patriotische Themen [15]
Diese progressiven Aktivitäten des CVJF ergänzten andere, die von radikaleren Gruppierungen wie der Liga Linker Erzieher, den Ligen Linker Schriftsteller und Dramatiker und der KPCh getragen wurden. Diesen Verbänden ging es selbstverständlich nicht nur um Literatur und Patriotismus, sondern auch darum, in der Arbeiterschaft das proletarische Klassenbewußtsein zu fördern, durch das eines Tages die Kapitalisten und Imperialisten im In- und Ausland gestürzt werden sollten.
Die Welt der Fabrikarbeiter, in die Tschiang Tsching im Jahre 1934 abkommandiert wurde, war ihr nach ihren bisherigen Erfahrungen völlig fremd. Dieser Einsatz in der Arbeiterklasse habe keineswegs bedeutet, fügte sie rasch hinzu, daß sie Seite an Seite mit den Arbeiterinnen gearbeitet habe. Sie sei Lehrerin gewesen - eine Rolle, zu der auch das Zusammenleben mit den ihrer Obhut anvertrauten Arbeiterinnen gehört habe. Für dieses Arrangement sei der CVJF verantwortlich gewesen. Nachdem Tschiang Tsching einige Zeit beim CVJF gearbeitet hatte, wurde ihr Aufgabenbereich erweitert. Sie besuchte nun auch Arbeiterfamilien und sammelte Informationen über ihre Lebensverhältnisse. Diese Ausflüge in Arbeiterfamilien machten ihr wirklich Spaß. Später wurde sie losgeschickt, um Sanitätseinrichtungen und kleine Fabriken zu kontrollieren, die den ausländischen Reformisten nicht zugänglich waren.
Nachdem Tschiang Tsching gelernt hatte, kleine Fabriken zu kontrollieren und darüber Bericht zu erstatten, wagte sie sich an größere heran, die meist ausländischen Gesellschaften gehörten, obwohl sie von Chinesen geleitet wurden. Der Zugang zu diesen Fabriken wurde erschwert, weil die Betriebsleiter fürchteten, ungünstige Berichte außenstehender Beobachter und eine raffinierte Agitation, welche die Arbeiter zu antijapanischer Propaganda verleitete, könnten die Produktion beeinträchtigen, der ihr einziges Interesse galt. Die Arbeitsbedingungen spielten in ihren Oberlegungen bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Von allen ihren Aktivitäten, die teilweise vom CVJF ausgingen, fand Tschiang Tsching die Besuche in kleinen und großen Fabriken am fesselndsten.
Alle Behinderungen und Beschimpfungen, die sie bei ihrer Arbeit hinnehinen mußte, wurden durch den großen Einfluß wettgemacht, den Tschiang Tsching nach der Arbeit auf das Leben der Arbeiterinnen auszuüben begann. Sie waren in sogenannten »Wohnheimen« untergebracht: gewöhnlich Baracken, die die Fabriken zur Unterbringung lediger Arbeitskräfte von der KMT erhalten hatten. Männer und Frauen hausten dort getrennt, und alle Bereiche ihres Lebens wurden streng kontrolliert.
Das Tschiang Tsching zugewiesene Wohnheim lag im Fabrikbezirk. Sie hatte ein eigenes kleines Zimmer an der Rückseite des Gebäudes. Die vorderen Räume dienten als Klassenzimmer, und die Arbeiterinnen schliefen jeweils zu mehreren in den übrigen Räumen. Tschiang Tsching machte sich nachträglich Vorwürfe, wenn sie daran dachte, wie naiv und umständlich sie begonnen hatte. Beispielsweise opferte sie viel zuviel Zeit für die Vorbereitung des Unterrichts, während sie gleichzeitig als Schauspielerin auftrat und politisch arbeitete. Sie saß stundenlang da, um ihre Kurse vorzubereiten oder Schularbeiten zu korrigieren, was dazu führte, daß sie nicht genug Schlaf bekam und oft bis an den Rand der Erschöpfung arbeitete. Müdigkeit und Verzicht bestimmten diese Phase ihres Lebens.
Trotzdem waren die Schwierigkeiten, mit denen Tschiang Tsching zu kämpfen hatte, harmlos im Vergleich zu denen der Arbeiterinnen. Die Mehrzahl ihrer Schülerinnen kam aus den großen Textilfabriken, die meist Japanern gehörten, aber von Chinesen geleitet wurden. [16]Die übrigen arbeiteten in Zigarettenfabriken, die Engländern gehörten, vor allem in denen der British-American Tobacco Company. Die Arbeit begann dort um sechs Uhr morgens. Um rechtzeitig ihren Arbeitsplatz zu erreichen, mußten die Frauen im Wohnheim um vier Uhr aufstehen und in der Dunkelheit durch die Stadt zu den Fabriken marschieren. Die Arbeitsbedingungen bei der British-American Tobacco waren »höllisch«. Eine Arbeiterin konnte dort höchstens 17 oder 18 Yüan im Monat verdienen. Kinderarbeit war die Regel, und die Kinder verdienten fast nichts. Im Sommer blieben die Fenster der Fabriksäle geschlossen, so daß bei der in dieser Jahreszeit herrschenden Luftfeuchtigkeit ein regelrechtes Dampfbad entstand. Im Winter wurden die Fenster dagegen geöffnet. Warum? Weil die Fabrikbesitzer fürchteten, Arbeiter, die sich wohlfühlten, könnten träge werden. Deshalb benutzten sie Sommerhitze und Winterkälte, um die Arbeiter anzutreiben. Die Toiletten in den großen Zigarettenfabriken waren so verdreckt, daß Tschiang Tsching schon beim bloßen Anblick mit einem Brechreiz zu kämpfen hatte. Die Zigarettenfabriken waren äußerst primitiv eingerichtet. In den Sälen standen lange Reihen roher Holzbänke - sonst nichts. Um morgens einen Sitzplatz zu bekommen, mußten die Kinder, die nur Gelegenheitsarbeiter waren, sich abends anstellen und die ganze Nacht in langen Schlangen zusammengedrängt warten.
Die Glücklichen, die einen Sitzplatz ergatterten, mußten stundenlang ohne Pause arbeiten, ununterbrochen Zigaretten rollen und sie in Schachteln packen. (»Genau das, was ich mir als Kind gewünscht habe!« bemerkte sie lachend.) Um die Methoden in den Zigarettenfabriken zu illustrieren, schilderte Tschiang Tsching den Fall der »Tochter eines reichen Mannes«. Warum ein Reicher seine Tochter in diese berüchtigt unmenschliche Umgebung geschickt haben sollte, blieb dabei ungeklärt. Das Mädchen war jedenfalls ehrgeizig. Um am nächsten Morgen ganz bestimmt einen Sitzplatz zu bekommen, stellte es sich am Vorabend schon sehr früh an. Aber der Arbeitsvermittler, der für die Vertragsarbeiter zuständig war, wollte eine von ihm betreute Arbeitskraft vor das Mädchen in die Schlange stellen. Das reiche Mädchen beharrte trotzig auf seinem Recht und wollte nicht zur Seite rükken. Daher packte der Vemittler es einfach an den Schultern, schleifte es über den Boden hinter sich her und stieß es eine Treppe hinunter. Das Mädchen blieb schwerverletzt am Fuß der Treppe liegen und starb wenig später. Arbeiterinnen, die solche Vorfälle miterlebt hatten, seien sehr leicht zu mobilisieren gewesen, stellte Tschiang Tsching ruhig fest. Außer den Arbeiterinnen aus Zigarettenfabriken unterrichtete sie auch Frauen, die in den kleinen nahegelegenen chinesischen Strumpffabriken arbeiteten. Dort waren die Hungerlöhne noch niedriger als in den Zigarettenfabriken. Der Höchstlohn einer Strumpfwirkerin betrug zwölf Yüan im Monat - und lag damit weit über dem Durchschnitt. Die Arbeiterinnen wurden auf jede nur vorstellbare Weise ausgebeutet. Brach die Nadel einer Strickmaschine ab, mußte die für diese Maschine Verantwortliche einen Yüan für eine neue Nadel bezahlen. Eine von Tschiang Tschings Schülerinnen hatte das Pech, innerhalb eines Monats acht Nadeln zu zerbrechen. Nachdem sie die Strafen bezahlt hatte, blieb ihr kein Geld mehr für ihre Miete im Wohnheim, für ihr Essen und für ihre Familie (bei der sie nicht mehr lebte). Diese Ausbeutung durch die Betriebsleitung wurde noch dadurch verschärft, daß sie nie imstande war, die ganze Strafe zu bezahlen (wofür sie weitere persönliche Kränkungen hinnehmen mußte). Tschiang Tsching sagte, sie habe damals selbst so wenig verdient, daß sie dieser Arbeiterin nicht habe helfen können. So sehr diese Frauen der Willkür der Betriebsleitung ausgeliefert waren sie waren immer noch besser dran als die Vertragsarbeiterinnen, mit denen Tschiang Tsching ebenfalls zu tun hatte.[17]
Um die Fabriken mit frischen Arbeitskräften zu versorgen, fuhren Arbeitsvermittler oder »Lieferanten«, wie sie auch genannt wurden, regelmäßig aufs Land, warben Bauern an und brachten sie als billige Arbeitskräfte in die Stadt. Die Methoden dieser Lieferanten waren äußerst skrupellos. Um die unwissenden, in Armut lebenden Bauern zu ködern, schilderten sie ihnen Schanghai als ein Paradies auf Erden, in dem selbst der einfachste Bauer reich werden könne. Hoffnungslos leichtgläubige und verzweifelt ums Überleben kämpfende ältere Bauern verkauften ihre Kinder und andere Familienmitglieder, indem sie Verträge mit den Lieferanten abschlossen. Aber das »Paradies«, das die Angeworbenen in Schanghai erwartete, war die Hölle selbst. Die tägliche Arbeitszeit in den Fabriken war unglaublich lang. Zwischen den Schichten wurden die Arbeiter in winzige Räume gesperrt, die kaum größer als Käfige waren. Da sie nur etwas Grütze und Wasser bekamen, litten alle an Unterernährung. Viele von ihnen starben. Tschiang Tsching stellte fest, daß nicht nur die KMT ihre politische Arbeit zu behindern versuchte, sondern daß es auch konkurrierende linke Gruppen gab, die auf ihre Erfolge eifersüchtig waren. Während sie Fabrikarbeiterinnen unterrichtete, versuchten die Schanghaier Parteiführer und die Kommunistische Jugendliga, die aus locker mit der KPCh verbundenen ehrgeizigen jungen Radikalen bestand, die Massen für sich zu gewinnen und dabei jeweils ihre eigenen Ideen zu propagieren. Sobald Tschiang Tsching erste Erfolge im Kampf gegen das Analphabetentum und bei der Verbreitung kommunistischen Gedankenguts erzielte - sie bezeichnete dies als Basisarbeit - versuchten bestimmte Mitglieder der Jugendliga, sich bei ihr einzuschmeicheln, um auf diese Weise an ihren Erfolgen teilhaben zu können.
Sie hatten offenbar erfahren, daß die Liga Linker Erzieher, eine KPCh-Unterorganisation, ihre Arbeit unterstützte, und waren eifersüchtig auf diese Protektion von oben. Eines Tages wurde Tschiang Tsching von einem Mitglied der Jugendliga überrascht. Der junge Mann tauchte unangemeldet in ihrem Hinterzimmer im Frauenwohnheim auf. Vielleicht versuchte er, sie zu vergewaltigen oder sie zu provozieren, denn Tschiang Tsching drückte sich im Hinblick auf diesen Vorfall sehr vage aus. Deutlich zum Ausdruck kam nur, daß er auf arrogante Weise den Versuch machte, sie persönlich und politisch auf seine Seite zu ziehen. Sie blieb jedoch standfest und erklärte ihm, sie weigere sich, »den politischen Stil der Jugendliga zu kopieren ... Und das war meine Rettung«, sagte Tschiang Tsching. Nachdem sie den jungen Mann vertrieben hatte, beschäftigte sie sich wieder damit, ihre Anhängerinnen für den Protestmarsch zum Jahrestag des Mukden-Zwischenfalls zu organisieren. Der Hauptfeind in der Stadt war natürlich die Kuomintang, deren Sicherheitskräfte in den unterschiedlichsten Verkleidungen auftraten. Tschiang Tsching wurde durch Erfahrung wachsamer und geschickter, wenn es darum ging, ihnen zu entwischen. (Sie erinnerte sich mit offenkundigem Vergnügen an diese Zeit.) Damals war es durchaus üblich, daß die KMTPolizei, der es darum ging, ihre Erfolgsquote bei der Kommunistenjagd zu erhöhen, willkürlich Omnibusse kontrollierte. Wenn Tschiang Tsching sah, daß ihr Bus von Polizeibeamten angehalten wurde, versuchte sie, einer Identifizierung und möglichen Verhaftung durch verschiedene Methoden zu entgehen: Sie versuchte zunächst, auszusteigen und zu verschwinden, bevor die Kontrolle begann. Falls sie zwar noch aussteigen konnte, aber trotzdem von der Polizei angehalten wurde, begegnete sie den Beamten mit ausgesuchter Höflichkeit. Dadurch wurden die Beamten meistens soweit besänftigt, daß sie Tschlang Tsching gehen ließen. War sie jedoch in einem Bus eingeschlossen, der gründlich durchsucht wurde, bereitete sie sich darauf vor, sich aggressiv zu verteidigen. Und wenn sie von der Polizei verhört wurde, während sie wichtiges politisches Material bei sich hatte, zeigte sie ein so anstößiges Verhalten, daß die Beamten aus dem Gleichgewicht gerieten und sie passieren ließen. Trotz ihres Vorbilds und obwohl Tschiang Tsching sie eingehend belehrte, waren die Schülerinnen ihrer Abendkurse weniger geschickt, wenn es darum ging, ihre politischen Aktivitäten zu tarnen.
Durch eigene Unvorsichtigkeit fielen mehrere von ihnen Mitgliedern der Kommunistischen Jugendliga in die Hände und wurden beschimpft und körperlich mißhandelt. Solche Angriffe gegen ihre Schülerinnen wertete Tschiang Tsching als persönliche Beleidigung. Weil sie kaum lesen und schreiben konnten, schienen die Arbeiterinnen nicht zu begreifen, welche Gefahren mit dem Besitz staatsgefährdenden Materials verbunden waren. Tschiang Tsching erinnerte sich gut an einen bestimmten Vorfall. Ihr fiel während des Unterrichts plötzlich auf, daß einige Frauen politische Flugblätter mitgebracht hatten, obwohl für diese Stunde nur Rechtschreibübungen vorgesehen waren. Tschiang Tsching war über diese Fahrlässigkeit so wütend, daß sie die Flugblätter vor den Augen der Frauen anzündete. Nachdem die Flugblätter zu Asche verbrannt waren, wies sie die Frauen an, in die Küche zu gehen und Wasser zu kochen. Selbst die Köchin, die kaum wußte, was im Wohnheim vorging, wurde zu dieser Nachhilfestunde hinzugezogen. Tschiang Tsching und ihre Schülerinnen kratzten gemeinsam die verkohlten Überreste der Flugblätter zusammen und warfen sie ins kochende Wasser, das die letzten sichtbaren Spuren ihrer geheimen politischen Arbeit für die KPCh vernichtete. Tschiang Tsching unterrichtete damals in zwei Kursen: morgens die Arbeiterinnen der Nachtschicht und abends die anderen, die tagsüber gearbeitet hatten. Da die Nachmittage unterrichtsfrei waren, konnte sie sich in dieser Zeit anderen Aktivitäten widmen. Eines Abends kam sie spät nach Hause und korrigierte noch Schularbeiten, bis sie gegen vier Uhr morgens endlich ins Bett ging. Die Nachtschichtarbeiterinnen kamen kurz vor Tagesanbruch nach Hause. Sie zogen wie gewöhnlich die Schuhe aus und gingen auf Strumpfsocken in ihre Zimmer, um ihre Lehrerin nicht zu wecken.
Da Tschiang Tschings Zimmer schlecht belüftet war, ließ sie manchmal die Tür einen Spalt breit offen, um mehr Luft zu bekommen. An diesem Morgen klangen die Schritte der Arbeiterinnen auf der Treppe schwerfälliger als sonst, und Tschiang Tsching hörte etwas gegen die Wände stoßen. Neugierig geworden öffnete sie die Tür und sah die Frauen im Gänsemarsch vorbeikommen. Normalerweise hatte jede von ihnen nur einen kleinen Kasten mit Arbeitsmaterial, ihren persönlichen Besitz, bei sich. Diesmal schleppten sie jedoch große Bündel, die Tschiang Tsching nicht identifizieren konnte, Deshalb wies sie die Frauen besorgt an, sofort auf ihre Zimmer zu gehen, und kündigte an, sie werde eine Kontrolle vornehmen. Wie habe sie so herrisch auftreten können? Dies fragte sich Tschiang Tsching jetzt selbst, als sei sie von ihrem eigenen Verhalten überrascht. Weil Lehrerin Li, wie sie genannt wurde, bei ihren Schülerinnen so hohes Ansehen genoß, daß sie entscheiden konnte, wie sie es für richtig hielt. Sie sei von ihnen gut behandelt worden, stellte Tschiang Tsching ohne jedes Anzeichen von Verlegenheit fest. Und ihre Schülerinnen wußten es zu würdigen, daß Tschiang Tsching ihre politische Aktivität gut zu tarnen wußte, denn auch sie wollten möglichst keine Schwierigkeiten mit der Polizei bekommen. Also ließ Tschiang Tsching diese geheimnisvollen Bündel öffnen.
Die Frauen stellten sich absichtlich ungeschickt an und öffneten langsam die Verpackungen. Tschiang Tsching stieß sie ungeduldig beiseite und riß die Bündel selbst auf. Sie entdeckte, daß die Arbeiterinnen Flugblätter - gedruckte Beweise für ihre politische Arbeit - in Zeitungen verpackt hatten, weil sie glaubten, sie auf diese Weise unauffälliger transportieren zu können. »Wie kann man bloß so dämlich sein?« kreischte Tschiang Tsching. Sie ließ sofort alle Bündel auspacken, die wertvollen Flugblätter aussortieren und die Zeitungen, die nur Platz wegnahmen und auffällig waren, wegschaffen. Dann wies Tschiang Tsching die Arbeiterinnen zurecht. Wenn sie Propagandamaterial in die Fabriken oder nach Hause transportierten, sollten sie es in sehr kleine Päckchen aufteilen. Noch besser war es, Flugblätter in einen Schirm zu stecken. Wurde eine Arbeiterin unterwegs kontrolliert, konnte sie sofort die Flugblätter wegwerfen und in aller Unschuld behaupten, nur einen Schirm zu tragen. Die Sicherheitsprobleme, die selbst bei der einfachsten Flugblattverteilung bei den werktätigen Massen entstanden, waren schwieriger, als daß Tschiang Tsching sie allein hätte bewältigen können. Außerdem ging es dabei auch oft um ihre eigene Sicherheit. Tschiang Tsching bleute ihren Schülerinnen immer wieder ein, sie sollten nicht ins Wohnheim zurückkommen, falls sie bemerkten, daß sie auf dem Heimweg beschattet wurden. Vielmehr sollten sie so tun, als wollten sie eine Kollegin besuchen. Oder sie sollten in einem Geschäft verschwinden, um die Verfolger abzuschütteln. Trotz dieser Absprachen war ihr stets unbehaglich zumute, wenn eine der Arbeiterinnen unerwartet lange fortblieb. Als eines Abends mehrere Arbeiterinnen nicht zur gewohnten Zeit aus der Fabrik zurückkamen, konnte Tschiang Tsching vor Angst, ihnen könnte etwas zugestoßen sein, nicht schlafen. Dann jedoch kamen alle heim - bis auf zwei, die erst mehrere Stunden später zurückkehrten. Da sie geglaubt hatten, beschattet zu werden, hatten sie sich genau an Tschiang Tschings Anweisungen gehalten: Sie waren zu Kolleginnen gegangen und hatten ihren Heimweg erst fortgesetzt, als die Gefahr vorüber zu sein schien.
Diese Episode und die Tatsache, daß ein weiteres Mitglied der Jugendliga, das vermutlich wie jener erste junge Mann eifersüchtig auf ihre Erfolge war, sie in ihrer Unterkunft aufgespürt hatte, überzeugten Tschiang Tsching davon, daß sie dort nicht länger sicher war. Deshalb packte sie ihre Sachen, lieh sich etwas Geld und mietete ein Zimmer in einem anderen Haus. Nach dem Umzug in ein anderes Stadtviertel war Tschiang Tsching eines Tages unterwegs, um einen Brief aufzugeben, als sie einem alten Freund aus Tsingtao begegnete. (Sie schilderte lebhaft sein eindrucksvolles Aussehen und seine blütenweiße Uniform.) Im Verlauf des Gesprächs erzählte er, er arbeite als Kassierer im Schanghaier Hauptpostamt, das in der Internationalen Niederlassung lag. Aber aus seinen Andeutungen war auch zu entnehmen, daß er irgendeiner kommunistischen Organisation angehörte und seine Arbeit bei der Post nur als Tarnung benutzte. Er versicherte mehrmals, daß er sehr froh sei, Tschiang Tsching wiederzusehen. Und er fragte, ob sie an seiner Tätigkeit interessiert und vielleicht sogar bereit sei, ihn zu unterstützen und Nachrichten an Leute in Schulen zu übermitteln. Tschiang Tsching, die seine Aufdringlichkeit verwirrend und beängstigend fand, antwortete ausweichend, sie habe »noch keinen Kontakt mit der Parteiorganisation aufgenommen«. Sie hoffte, er werde sich dadurch abwimmeln lassen. (Das sei natürlich eine Lüge gewesen, sagte sie, aber eben eine Notlüge.) Tschiang Tsching meldete diese Begegnung der Liga Linker Erzieher und erhielt Anweisungen, wie sie sich bei einem etwaigen weiteren Treffen zu verhalten habe. Einige Tage später machte sie einen Spaziergang durch den Tsao-fen-Park - einen für Ausländer angelegten Park, den sie jedoch betreten durfte, weil sie eine Saisonkarte gelöst hatte. Dort begegnete sie ihrem Freund zum zweitenmal. Sie übergab ihm im Auftrag der Liga Linker Erzieher einen Brief, dessen Inhalt sie allerdings nicht kannte. Die beiden sprachen kurz miteinander, und Tschiang Tsching erklärte ihm, es sei besser, weitere Begegnungen zu vermeiden.
Er schien Verständnis für ihre Zwangslage zu haben, wollte die Verbindung zu ihr jedoch offenbar nicht abreißen lassen. Einige Tage später schickte er ihr ein Exemplar der linksstehenden Zeitschrift »Wissen der Welt«. Sie trafen sich erneut im Tsao-fen-Park, wo er ihr weitere Gefälligkeiten erweisen wollte und sie zum Essen einlud. Tschiang Tsching lehnte besorgt ab und behauptete, keine Zeit zu haben. Um ihn von ihrem üblichen Heimweg abzulenken, verließ sie den Park in einer anderen Richtung. Sie kam durch ein Wohnviertel. Dort begegnete sie einer jungen Frau, die sie in Tsingtao als Verkäuferin gekannt hatte. Ihre Bekannte lud sie zu sich nach Hause ein. Aber Tschiang Tsching lehnte die Einladung dankend ab, um keine Zeit zu verlieren, und hastete zu Fuß weiter, weil kein Bus in ihre Richtung fuhr. Da hörte sie in einiger Entfernung hinter sich plötzlich schreiende und fluchende Männerstimmen. Sie sah sich um und erkannte zwei Männer, die jemanden verfolgten und immer näherkamen. »Verdammte Bullen!« rief ein anderer Mann hinter ihnen her. Im nächsten Augenblick bemerkte Tschiang Tsching, daß die beiden Gestalten sie fast schon erreicht hatten. Als sie sich nach ihnen umdrehte, nahm sie wahr, daß der eine Mann wie ein Arbeiter gekleidet war, während der andere die Tracht eines Händlers trug - beides Verkleidungen von Geheimpolizisten. Die beiden ergriffen sie, bevor sie etwas sagen konnte, und hielten sie an beiden Armen fest. Sie war wütend, weil sie zum erstenmal in ihrem Leben »geschnappt« worden war. Tschiang Tsching beschwerte sich aufgebracht darüber, daß ihre Festnahme eine Verletzung der Exterritorialität dieses Stadtteils bedeute, in dem Chinesen keine Verhaftungen vornehmen durften. Aber die beiden brachten sie ungerührt und barsch zu einem Polizeirevier.
Da dort keine Kriminalbeamtin Dienst tat, mußten sie auf die übliche Leibesvisitation verzichten und förderten nur die Zeitschrift »Wissen der Welt« zutage. Diese Zeitschrift allein war nicht belastend. Obwohl kein zureichender Grund dafür vorhanden war, sie weiter auf dem Polizeirevier festzuhalten, waren die Männer, die Tschiang Tsching verhaftet hatten, weiterhin entschlossen, sie aus der Stadt zu schaffen. (Die KMT machte es sich und »Unruhestiftern« manchmal leicht, indem sie solche Leute aus Schanghai vertrieb.) Tschiang Tsching, die vor dem Gedanken zurückschreckte, in einem ihr unbekannten Gebiet auf dem trockenen zu sitzen, wandte ein, sie könne den Weg aus der Stadt in der Dunkelheit nicht finden. Außerdem sei sie für ein derartiges Unternehmen nicht richtig angezogen. Aber die Männer ließen sich von ihren Protesten nicht beeindrucken und versuchten, ihren Abmarsch zu beschleunigen, indem sie aus ihrer Asservatenkammer ein farbenprächtiges chinesisches Samtgewand holten, das Tschiang Tsching unter anderen Umständen nie getragen hätte. Als Tschiang Tsching sich unbeobachtet umziehen konnte, zog sie das Samtgewand an und darüber ihr schlichtes Kleid im westlichen Stil und ihre wollene Strickweste. Aus der Unterwäsche, die sie zurückließ, zog sie heimlich ihr kostbarstes und belastendstes Dokument - das geheime Aufnahmegesuch - und verbarg es unter ihrer Wolljacke. In dieser seltsamen Aufmachung verließ sie das Polizeirevier und rannte in die Nacht. Wie andere schreckliche Erlebnisse aus ihrem Leben schilderte Tschiang Tsching diese nächtliche Flucht aus Schanghai als ein zugleich unwirkliches und groteskes Ereignis. Sie ging rasch oder lief. Während sie durch verschiedene Stadtteile hastete und dabei zweifellos einen bizarren Eindruck machte, versuchten verschiedene Männer, ihr aufzulauern. Aber sie entkam. Wenig später erreichte Tschiang Tsching die Stadtgrenze. Nun hatte sie das flache Land vor sich. Sie trabte atemlos und müde die Straße entlang. Plötzlich wurde sie von hinten gepackt und festgehalten. Alle Befreiungsversuche waren erfolglos. »Hilfe, ich werde entführt!« kreischte sie immer wieder, so laut sie konnte. Aber ohne jeden Erfolg, denn außerhalb der Stadtgrenzen hielt sich niemand auf, der sie hätte hören oder ihr hätte zu Hilfe kommen können. Tschiang Tsching nahm an, sie sei von der Polizei geschnappt worden. Aber als sie die Männer näher betrachtete, stellte sie fest, daß diese ihrer Kleidung nach Geheimagenten in Zivil sein mußten.
Da sie nicht hoffen konnte, ihnen zu entwischen, versuchte sie, die Situation zu ihren Gunsten zu verändern, indem sie die Empörte spielte. Sie machte den Männern Vorwürfe, weil sie sich einer Frau gegenüber so viehisch benahmen. Das wirkte tatsächlich, denn einer von ihnen lockerte seinen Griff und machte sogar einige alberne höfliche Gesten. Als sie durch eine dunkle Straße kamen, nutzte Tschiang Tsching die Bewegungsfreiheit aus, die der eine ihr ließ: Sie gab vor zu stolpern, kam von der Straße ab und sprang in ein Reisfeld. Bevor die Männer sie wieder fassen konnten, holte sie ihr Geheimdokument - den Aufnahmeantrag von der Schanghaier Parteiorganisation - unter ihrer Wolljacke hervor, steckte es in den Mund, kaute hastig und schluckte es hinunter. Das Gefühl, als das Papier durch ihre Speiseröhre rutschte, war, gelinde ausgedrückt, eigenartig. Aber Tschiang Tsching wußte nun, daß sie alle sichtbaren Beweise für ihre Verbindung zur KPCh vernichtet hatte. Nachdem die Geheimagenten Tschiang Tsching auf die Straße zurückgeholt hatten, brachten sie die Festgenommene zur Bezirkspolizeistation. Dort wurde sie in eine Zelle gesperrt. Sie hörte, daß die Männer telefonisch meldeten, sie hätten eine Verdächtige gefaßt - eine Leistung, die sie ihrer Ansicht nach dazu berechtigte, einen Dienstwagen mit schwarzem Nummernschild anzufordern: ein Fahrzeug, das mehr Prestige verlieh als ein gewöhnliches Taxi mit weißem Kennzeichen. Aber damals seien alle Autos klein gewesen, fügte Tschiang Tsching beiläufig hinzu. Als Tschiang Tsching untätig in ihrer Zelle saß, wurde ihr bald klar, daß sie nicht um ihrer selbst willen festgehalten wurde, sondern weil sie in den Verdacht geraten war, zu Personen Kontakt zu haben, die von der KMT als Staatsfeinde angesehen wurden. Die Nationalregierung habe damals hohe Kopfgelder für die Ergreifung von Staatsfeinden ausgesetzt, fügte Tschiang Tsching erklärend hinzu. Ein ehrgeiziger Geheimagent konnte sich viel Geld und Prestige sichern, wenn er einen Verdächtigen faßte, dessen Aussagen und Kontakte ihm später die Chance eröffneten, einen Staatsfeind zu verhaften und die Belohnung zu kassieren.
Welche nützlichen Kontakte konnte man in ihrem Falle vermuten? Offenbar mußte es sich um Kontakte zu dem berüchtigsten Schanghaier Kommunisten handeln: zu Wang Ming, dem Anführer der sogenannten Achtundzwanzig Bolschewiken, der nach seiner Ausbildung durch die Moskauer Komintern für kurze Zeit nach China zurückgekehrt war, um in den Jahren 1930 und 1931 das ZK der KPCh zu leiten. In der Mitte der dreißiger Jahre (Tschiang Tsching beeilte sich, dies aus aktuellen politischen Gründen hinzuzufügen) sei Wang Ming jedoch als »Renegat« entlarvt worden.[18] Trotz seiner Fehler beherrschten seine Gefolgsleute damals die Schanghaier Parteiorganisation. Wenn Tschiang Tsching ihre Haut retten wollte, durfte sie nicht zugeben, daß sie Kontakte zu ihm oder von ihm beeinflußten Organisationen hatte. Und noch weniger durfte sie erkennen lassen, daß sie an der Planung von Aufständen beteiligt oder gewerkschaftlich tätig gewesen war. Denn beides gehörte zu Wang Mings Strategie. Als Tschiang Tsching vernommen wurde, versuchte sie das, was man vermutlich beobachtet hatte, als möglichst harmlos darzustellen: ihren Spaziergang im Park und ihr Rendezvous mit einem jungen Mann - offenbar einem Spitzel. (Tschiang Tsching war anscheinend ständig überwacht worden.) Sie sei nur deshalb im Tsao-fen-Park (einem beliebten Treffpunkt für kommunistische Liebespaare, die sich auf exterritorialem Gebiet vor einer Verhaftung durch die chinesische Polizei sicher fühlten) spazierengegangen, weil sie gern spielende Kinder beobachtete. Und nun müsse sie unbedingt zu ihrer Arbeit als Lehrerin zurück. Aber diese Darstellung war offenbar nicht überzeugend genug. Tschiang Tsching wurde als Verdächtige von der Bezirkspolizeistation ins Polizeipräsidium von Schanghai überstellt. Sie lachte, als sie sich daran erinnerte, daß sie ihre Bewacher, wütend über diese erneute Inhaftierung, höhnisch aufgefordert hatte: »Verwendet eure Zeit lieber dazu, echte Kommunisten zu erwischen!«
Tschiang Tschings Olivenhaut glänzte in der Hitze des späten Abends, der ein früher Morgen geworden war, als sie sagte: »So bin ich damals geschnappt und acht Monate lang von der Kuomintang gefangengehalten worden«. Dies war eine Phase ihres Lebens, von der sie nie zuvor berichtet hatte.[19] Ihr Gesichtsausdruck ließ widersprüchliche Empfindungen erkennen: Verbitterung wegen dieser sinnlos hinter Gittern verbrachten Zeit und Belustigung über die Ironien des Schicksals in der Enge eines Frauengefängnisses. Unter den Häftlingen - die alle aus politischen Gründen, nicht wegen Straftaten in Haft waren - war eine erfahrene Kommunistin, die Tschiang Tsching einige wertvolle Ratschläge gab. Nach einem Blick auf Tschiang Tschings äußere Erscheinung erklärte diese Genossin ihr, mit ihren kurzen Haaren sehe sie wie eine Radikale aus. Die Frau trug selbst Zöpfe, um altmodisch und rückständig zu wirken. Sie gab vor, Analphabetin zu sein, und stellte sich erfolgreich dumm. Tschiang Tsching dachte über ihre Ratschläge nach und bemühte sich dann ebenfalls, geistig beschränkt zu wirken. Wenn ihre Mithäftlinge Revolutionslieder anstimmten, sang Tschiang Tsching unbeirrt Arien aus Peking-Opern. (Für sie sei das schon damals wirklich rückständig gewesen, rief sie lachend.) Aber so beschränkt sie sich auch stellte, die Polizei war dennoch nicht davon abzubringen, ihren Kontakten zu revolutionären Kreisen nachzuspüren. Wie Tschiang Tsching später erfuhr, war an dieser Hartnäckigkeit ein »weiblicher Spitzel« unter den Gefangenen schuld. Von ihm hatte die Polizei den Tip erhalten, diese Li Yün-ho (Tschiang Tsching) sei nicht so naiv, wie sie sich stelle. Zu den politischen Gefangenen gehörte eine Arbeiterin, die zur Zeit von Tschiang Tschings Einlieferung schon acht Monate hinter Gittern saß. Ihr Schicksal sei typisch für das vieler guter Genossen gewesen, die das Opfer von Parteiverrätern geworden seien, sagte Tschiang Tsching. In diesem Fall war der Renegat und Verräter ein leitender Gefängnisaufseher mit dem Spitznamen Hei Ta-han (d. h. »Großer Schwarzer Chinese«, ein Name aus dem Banditenjargon, der hier einem Mann gegeben wurde, dessen Bösartigkeit durch seinen Verrat an der KPCh bewiesen worden war). Hei Ta-han war früher ein Anhänger der »linksabweichlerischen Linie« der Wang Ming Gruppe gewesen. Er war in der Provinz Anhwei geboren und Kommunist geworden und hatte dem Provinzparteikomitee von Kiangsu angehört. Später wurde er bei politischer Arbeit in Schanghai verhaftet. Er verriet die KPCh schon nach zwei Stunden, indem er in die Geheimpolizei der KMT eintrat, gab aber weiterhin vor, ein guter Kommunist zu sein. Als Geheimagent der KMT war er in einen Fall verwickelt, der ihn in linken Kreisen als einen Ausbund von Infamie erscheinen ließ. Hei Ta-han kannte eine Genossin, die er vernichten wollte. Er verfolgte sie tagelang und stöberte sie schließlich in der Französischen Konzession auf, wo sie politische Immunität zu haben glaubte.
Er gewann ihr Vertrauen und erzählte ihr, ihre Identität sei der Polizei verraten worden; sie befinde sich in Lebensgefahr, solle augenblicklich den Ort wechseln und müsse alle ihre Parteidokumente mitnehmen. Das sei eine grausame List gewesen, berichtete Tschiang Tsching. Die Frau habe als eingeschriebene Genossin in der Französischen Konzession gewohnt, weil sie angenommen hatte, auf exterritorialem Gebiet vor der chinesischen Polizei sicher zu sein. Trotzdem hatte Hei Ta-han sie zur Flucht überredet. Sobald sie das Konzessionsgebiet verlassen hatte, wurde sie von Polizisten umringt und zum Polizeirevier geschleppt. In der offiziellen Pressemitteilung über ihre Verhaftung sei behauptet worden, sie habe der Polizei ihre Parteidokumente »freiwillig« vorgelegt, fügte Tschiang Tsching spöttisch hinzu.
Nachdem sie in das Gefängnis eingeliefert worden war, über das Hei Tahan herrschte und das Tschiang Tsching nun mit ihr teilte, versuchte er, sie zu vergewaltigen, ohne daß bekannt wurde, ob er damit Erfolg gehabt hatte. Etwa zur gleichen Zeit heiratete er eine andere Frau, die er dann betrog, indem er einer weiteren nachstellte. Hei Ta-han war nicht nur ein Renegat und Verräter, sondern auch ein Sadist, der seine Frau quälte. Einmal zwang er sie dazu, sich flach auf dem Boden auszustrecken. Er stellte Ziegelsteine unter ihre Knöchel und ließ sich mit seinem massigen Körper auf ihre Beine fallen. Er brach ihr dabei beide Knie, und sie blieb ihr Leben lang verkrüppelt. Die Genossin, die von Hei Ta-han hereingelegt und dann verhaftet worden war, hatte alle ihre Parteidokumente verloren und war deshalb von der Parteiorganisation abgeschnitten, die sie sonst hätte beschützen können. Im Gefängnis wurde sie von der Polizei unter starken Druck gesetzt. Sie sollte ihre Verbindungen zum kommunistischen Untergrund eingestehen. Aber sie weigerte sich, ein Geständnis abzulegen und blieb selbst unter der Folter bei ihrer Weigerung. Der Renegat Hei Ta-han griff schließlich ein und schrieb ein Geständnis, das als das ihre ausgegeben wurde. Für Tschiang Tsching bestand die große Schwierigkeit darin, auf irgendeine Weise Verbindung mit der Außenwelt zu bekommen. Sie hoffte sehnsüchtig, daß jemand auftreten und sich für ihre Schuldlosigkeit verbürgen würde. Wie sollte sie sonst freikommen? Tschiang Tsching schrieb an die Schule, an der sie als Teilzeitlehrerin in Abendkursen unterrichtet hatte, und bat um einen Zeugen, der ihren guten Leumund bestätigen konnte. Sie wartete wochenlang vergebens auf eine Antwort. Auch Mitteilungen, die für Mithäftlinge bestimmt waren, blieben unbeantwortet. Tschiang Tschings Versuche, innerhalb des Gefängnisses und mit der Außenwelt Kontakte herzustellen, machten sie nur verdächtig, denn die Gefängnisleitung unterzog sie bald darauf weiteren zermürbenden Verhören.
Über verschiedene Querverbindungen, die sie damals nicht überblickte, erfuhr Tschiang Tsching, daß die Parteiorganisation »sie nicht vergessen hatte«. Ihre Genossen schickten ihr anonym eine Steppdecke, Brot und etwas Geld. Die Polizei beschlagnahmte das Geld. Das Brot ging durch die groben Hände der Aufseher und war zerkrümmelt, als es Tschiang Tsching erreichte. Nur die Steppdecke kam heil an. Wenig später wurde ein weiterer Schub verhafteter Frauen eingeliefert. Tschiang Tsching stellte verblüfft fest, daß sich darunter fünf oder sechs ihrer ehemaligen Schülerinnen befanden. Durch Gerüchte erfuhr sie, daß die Partei zweien von ihnen den Auftrag gegeben hatte, ihr das Geld, die Steppdecke und das Brot zu bringen. Ihr Schmollen verriet, weiche Ressentiments sie gegenüber Tschiang Tsching hegten: Sie hatten den Verdacht, sie seien festgenommen worden, weil sie sich durch die Ablieferung der Liebesgaben für Tschiang Tsching strafbar gemacht hatten. Voller Empörung über die ungerechte Bestrafung dieser Frauen verlangte Tschiang Tsching, der Gefängnisleitung vorgeführt zu werden. Dann stand sie zwischen zwei Wachen im Büro und prangerte die Verantwortlichen laut an: »Ihr habt es nicht geschafft, richtige Genossen zu fassen! Ihr wißt nicht mal, wie man richtige Frauen erwischt! Ihr habt nur ein paar Mädchen geschnappt, die so freundlich gewesen sind, mir eine Decke zu schicken. Warum erschießt ihr mich nicht gleich?« Hei Ta-han wurde so wütend, daß er Tschiang Tsching ins Gesicht schlug. Sie war benommen und kaum mehr imstande, sich auf den Beinen zu halten. Er beschimpfte sie mit den übelsten Ausdrücken. Aber Tschiang Tsching setzte sich zur Wehr: »Wie können Sie es wagen, mich zu beschimpfen!«
Ihre ehemaligen Schülerinnen, die diesen Wortwechsel mitangehört hatten, seien völlig durcheinander gewesen, erinnerte sich Tschiang Tsching. Um ihr die Gewißheit zu geben, daß sie keine Ressentiments gegen sie hegten, erklärten sie hartnäckig, Tschiang Tsching könne unmöglich irgend etwas mit ihrer Verhaftung zu tun gehabt haben, und sie vermuteten, sie seien wegen ihrer Beteiligung an politischen Demonstrationen festgenommen worden. Während sie sich gegenseitig zu beruhigen versuchten, fiel Tschiang Tschings Blick durch das schmale Fenster auf einen eben in Sicht kommenden Leichenzug. Plötzlich wurde ihr klar, daß dort eine kommunistische Arbeiterin, die während ihrer politischen Tätigkeit ermordet worden war, zu Grabe getragen wurde. Auch Hei Ta-han sah den Leichenzug und lächelte grausam. Dann setzte er eine scheinbar großzügige Miene auf und erklärte seinen Kollegen, den anwesenden Polizisten und den Häftlingen wichtigtuerisch, er habe nicht die Absicht, diesen kommunistischen Leichenzug zu weiteren Verhaftungen zu benutzen. Er begründete diesen Entschluß ohne jegliche Ironie mit der Tatsache, daß das Gefängnis bereits mit weiblichen Häftlingen überfüllt sei
Nachdem Tschiang Tsching wieder in ihre Zelle zurückgebracht worden war, begann sie, einigen ihrer Mithäftlinge die richtige Taktik bei Vernehmungen beizubringen. Sie sollten nach Möglichkeit immer harmlose Äußerungen machen, wie zum Beispiel: »Oh, wir haben uns nur die Prozessionen angesehen!« Aber sie waren hoffnungslos begriffsstutzig. Eine Frau, die verhaftet worden war, weil sie Flugblätter bei sich gehabt hatte, gehörte zu den Analphabeten, die nicht wußten, welch gefährliches Material sie da transportierten. Tschiang Tschings Erinnerungen waren bemerkenswert nüchtern. Die anderen Häftlinge erschienen ihr ganz und gar von Emotionen beherrscht. Nach einiger Zeit im Gefängnis fiel ihr auf, daß die ganze Gruppe in Tränen ausbrach, sobald eine Frau weinte. Um ihre Beobachtung zu überprüfen, forderte sie eine ihrer ehemaligen Schülerinnen - die noch immer zu ihr als ihrer Lehrerin aufsah - zum Weinen auf. Die Frau begann zu schluchzen, und bald brach das ganze Gefängnis in Tränen aus. Dieses kollektive Gejammer war äußerst irritierend für die Aufseher, die im allgemeinen jünger und weniger hartgesotten als ihre Vorgesetzten in der Gefängnisleitung waren. Einer der labilsten Aufseher trug ständig eine Peitsche im Gürtel und drohte jeder Weinenden Peitschenhiebe an. Allein diese Drohung genügte, um einige Frauen in Tränen ausbrechen zu lassen. Bald schluchzten alle sogar einige Aufseher.
Wenn die Neuzugänge an die Reihe kamen, verhört zu werden, wurden sie einzeln vernommen. Dieses Erlebnis war für die Wartenden ebenso qualvoll wie für die Betroffenen. Im Lauf der Zeit wurden die meisten der später als Tschiang Tsching verhafteten Frauen wieder freigelassen. Aber warum nicht auch sie selbst? Weil sie keinen Zeugen für ihre »politische Unbescholtenheit« beibringen konnte, wie sie mir erklärte. Als eine ihrer Schülerinnen kurz vor der Entlassung stand, nahm Tschiang Tsching sie beiseite und gab ihr den Auftrag, der Partei mitzuteilen, sie habe niemanden, der zu ihren Gunsten aussagen könne, und werde ohne eine entlastende Zeugenaussage nie mehr freikommen. Die Botin sollte der Partei außerdem versichern, daß Tschiang Tschings wahre Identität der Gefängnisleitung noch immer nicht bekannt sei.
Falls die junge Frau sich an ihre Anweisungen hielt, blieb dieser Appell fruchtlos. Schließlich griff Tschiang Tsching zu einem letzten Mittel. Sie griff auf ihre Verbindungen zu Ausländern zurück, weil sie wußte, daß die Gefängnisleitung Besuche von Ausländern fürchtete. Sie bat eine andere ehemalige Schülerin, die entlassen werden sollte, beim CVJF dafür zu sorgen, daß ein Ausländer kam und sich für sie verbürgte. Das wirkte. Ein Ausländer kam und sagte zu ihren Gunsten aus, und so wurde auch sie entlassen.
Nach ihrer Entlassung kehrte Tschiang Tsching nicht in ihre frühere Wohnung zurück, weil sie fürchtete, die anderen auf diese Weise in Schwierigkeiten zu bringen. Statt dessen zog sie mit einer Freundin zusammen. Anfang Februar 1935 wurde das chinesische Neujahrsfest gefeiert, und in ihrem eigenen Leben begann ein neuer Abschnitt.