Geschichte wird vom Volk gemacht. Aber auf der Bühne der alten Oper (und in der gesamten alten, vom Volk losgelösten Literatur und Kunst) wird das Volk als Abschaum hingestellt. Die Bühne wird von den vornehmen Herren und Damen und deren verzärtelten Söhnen und Töchtern beherrscht. Nun haben Sie die auf den Kopf gestellte Geschichte wieder auf die Füße gestellt, die historische Wahrheit wiederhergestellt. Somit ist die alte Oper zu neuem Leben erweckt worden.
Mao Tse-tung, Brief an das Theater für Peking-Opern
in Jenan, 9. 1. 1944 ...
Dies alles wird von einer mir fremden Musik getragen, die westliche Tonfolgen mit dem Miauen und Kreischen der alten chinesischen Oper vermengt ... Von der Revolution sind nichts als Museen übriggeblieben - und Opern.
André Malraux,
»Antimemoiren«
Als Präsident Nixon im Frühjahr 1972 China besuchte, lud Tschiang Tsching ihn zu einer Vorstellung des revolutionären Balletts »Das Rote Frauenbataillon« ein. Er schien die Vorstellung zu genießen und fragte Tschiang Tsching nach den Namen der Librettisten, Komponisten und Regisseure dieser und anderer zeitgenössischer chinesischer »Musicals«. Sie seien »von den Massen geschaffen« worden, antwortete sie. Es sei ihm nicht leichtgefallen, diese Erklärung zu akzeptieren, berichtete Tschiang Tsching mir lächelnd, und sie fügte hinzu, man habe nicht erwarten können, daß er das Ausmaß ihrer persönlichen Verantwortung für die Entwicklung eines neuen Modelltheaters für China erfasse.
Bei der Erinnerung an die frühen sechziger Jahre gestand sie mit schmerzlicher Miene, daß ihr Entschluß, sich nach jahrelanger Abwesenheit von der Bühne plötzlich wieder in Ballett, Theater- und Musikerkreisen zu zeigen und dort mitzuarbeiten, dazu geführt habe, daß sie auf Kritik sehr empfindlich reagiert habe. Als sie dann den Kunstsektor selbst kontrollierte, weigerten manche Leute sich, mit ihr zusammenzuarbeiten, während andere sogar gegen sie konspirierten. Aber Tschiang Tsching ließ sich auch durch diese Feindseligkeit nicht davon abhalten, ihren Weg zu gehen.
Beobachtet man Tschiang Tsching aus der Distanz einer ganz anderen Kultur, muß man sich vielleicht fragen, bis zu welchem Ausmaß sie sich über die grundlegend revolutionäre Natur ihrer Handlungsweise im klaren gewesen ist. Mit Unterstützung weniger kämpfte sie nicht nur gegen die Strömungen der chinesischen Geschichte, sondern auch gegen die der Weltgeschichte an. In der Überzeugung, daß das Theater das Bewußtsein schärfe, versuchte y sie, die höchste Autorität im Bereich der darstellenden Künste und später der gesamten nationalen Kultur zu werden. Ihr Endziel war die Kontrolle über das Bewußtsein der Menschen - oder besser: dessen »Revolutionierung«. Sie hatte das Gefühl, diese Befehlsgewalt über das Bewußtsein der Massen (und die Anerkennung durch die Massen) als Basis ihrer persönlichen Macht und Autorität und als Mittel zur Festigung der Positionen ihrer loyalen Gefolgsleute zu benötigen. Ihr Aufstieg zur Gestalterin der nationalen Schauspielkunst bedeutete eine Inanspruchnahme des historischen Vorrechts der Männer, »die Rolle des Vorführers zu spielen, das Vorführbare zu bestimmen«.[1]
Das größte Problem für revolutionäre Führer wie für Historiker ist weder der Niedergang eines Reiches noch die Auflösung einer Revolution, sondern der Prozeß, durch den Ideen zu sozialen Normen werden. In China ist das Schauspiel, das Ausländer am besten als »Oper« kennen, das Medium schlechthin. Luigi Barzini hat festgestellt, für die Italiener sei die Oper die dominierende nationale Metapher. Das Gleiche ließe sich von den Chinesen sagen, erst recht in jenem revolutionären Stadium, in dem der Zusammenhang zwischen Politik und Kunst dank der marxistischen Lehre in das öffentliche Bewußtsein eingedrungen war. Beide Völker erschaffen die Vergangenheit auf melodramatische Weise neu, lieben historisches Gepränge und lassen sich nicht davon abbringen, Patriarchen zu verehren. Der Unterschied liegt in dem Grad der Toleranz gegenüber traditioneller Kultur. Die Italiener haben die mittelalterliche Kirche in einem modernen Staat bewahrt und fördern weiterhin die traditionelle Oper als Begleitmusik des heutigen Lebens. Aber die Chinesen haben in ihrer revolutionären Begeisterung nicht nur die politischen Strukturen des »Feudalismus«, sondern auch die damit verknüpften religiösen und sozialen Institutionen ausgerottet. Um eine neue, totalitäre proletarische Kultur zu etablieren, haben Chinas Führer fast alle alten und modernen, ländlichen und städtischen Kulturformen abgeschafft. Teestuben, Caféhäuser, unabhängige lokale Bühnen, private Restaurants und freie Märkte sind geschlossen worden. Märchenerzähler, Wahrsager, Straßenmusikanten, Komiker und Akrobaten sind von den Straßen gefegt worden. Religiöse Feste, prunkvolle Hochzeiten und Beerdigungen sowie die großen Feiertage des alten Kalenders sind aus dem Alltag getilgt worden - als seien sie eine von einer toten Zivilisation ausgehende Seuche.
Diejenigen, die seit der Kulturrevolution an der Macht sind, haben keine neuen opernhaften Darstellungen dieser verbannten Vergangenheit zugelassen. Weil die Vorliebe für Musik, Schauspiel und öffentliche Darbietungen sich unter verbesserten wirtschaftlichen und freieren gesellschaftlichen Bedingungen nicht nur erhalten, sondern sogar vergrößert hatte, stellten Tschiang Tsching und ihre Mitarbeiter ein Repertoire von Musterwerken zusammen, die auf den Strukturen und dem Symbolismus der sozialistischen Gegenwart basierten. In einem Sektor, der eine kulturelle Wüste hätte wer408den können, konnten sich die Neuen Dinge einer geplanten proletarischen Kultur entfalten. Die Menschen drängen sich, um Opern auf der Bühne oder irn Film zu sehen, singen Arien in den Gassen und auf den Feldern und sind sofort bereit, dem ausländischen Besucher ihre Lieblingsszenen vorzuspielen. Selbst die Kinder - für die es keine spezielle Jugendkultur mit Mickymaus, Sesamstraße oder Rockgruppen gibt, keine Kultur, die im Fernsehen angeboten und kapitalistisch vermarktet wird - stimmen spontan ein mitreißendes Revolutionslied an.
Auch in China gewinnt die Ideologie durch die Leidenschaft an Kraft. Revolutionärer Einsatz zeigt sich nicht nur in Worten, sondern auch durch Taten. In Bezug auf kulturelle und folglich auch auf moralische oder politische Angelegenheiten pflegten die Chinesen zu sagen: »Gutes hat gute Wirkungen; Böses hat böse Wirkungen: Regt die Menschen dazu an, gut zu sein.« Das klassische Theater propagierte den Konfuzianismus, und das viel ungeschliffenere Theater des gemeinen Volkes propagierte die volkstümliche Religion, wobei es oft den Konfuzianismus der Feudalherrenklasse herabsetzte.[2] Das revolutionäre Theater der Gegenwart bemüht sich, die Menschen zu lehren, das Böse zu erkennen und das Gute zu tun. In der Werkstatt der Revolution hatte Tschiang Tsching den Sonderauftrag, Ideen zu entwickeln, die mit gesellschaftspolitischer Hebelwirkung in die darstellenden Künste integriert werden konnten. Ihre revolutionären Dramen sind mit physisch attraktiven und moralisch (lies: politisch) vorbildlichen Menschen aus verschiedenen Generationen besetzt. Kraft des geheimnisvollen Hypnotismus des Theaters werden ihre Verhaltensweisen und Wertmaßstäbe bewußt und unbewußt in den Alltag der Zuschauer übertragen und dort nachgeahmt.
Seit der Kulturrevolution haben sich die Musterwerke, zu denen Ballette, Symphonien und Skulpturen sowie Sprechtheaterstücke gehören, zu einer großartigen Manifestation von Geschichte, Mythos und nationaler Politik entwickelt. Was Mircea Eliade über die traditionellen Gesellschaften gesagt hat, gilt auch für Chinas revolutionäre Gesellschaft, die jetzt darum kämpft, Traditionen für die Zukunft zu schaffen. »Alle wichtigen Taten des Lebens«, schrieb er, »sind ursprünglich von Göttern und Helden vollbracht worden. Die Menschen wiederholen diese beispielhaften und mustergültigen Gesten nur ad infinitum.«[3] Im heutigen China stammen alle »Götter und Helden«, die als Gestalten des Mustertheaters auftreten, aus der Geschichte der KPCh. Kein Bühnenstück spielt in einer Zeit vor dem Beginn der zwanziger Jahre, d. h. vor dem Beginn der revolutionären Bewegung. In keinem wird jedoch eine geschichtliche Persönlichkeit wie Mao Tse-tung, Liu Schao-tschi und Lin Piao realistisch dargestellt. Die Bühne wird nur von abstrakten Gestalten bevölkert, die angeblich »typisch« für die Massen sind. Sämtliche Helden verkörpern die leuchtendsten Tugenden der proletarischen Klasse, und die Bösewichte karikieren die Laster der Kuomintang oder des ausländischen Feindes. Im Gegensatz zu der Seefahrermythologie des Mittelmeerraums oder der Südsee sind die Mythen, die sich um die Gründung der KPCh ranken, auf dem Festland angesiedelt, wo das nasse Element vor allem durch Flüsse verkörpert wird.
Der chinesischen Führung kommt es weniger darauf an, daß die Kunst das Leben imitiert, als darauf, daß die Massen die Kunst imitieren. Deshalb beurteilt sie ihre Aufwendungen für das Theater im Gegensatz zu der in den meisten Staaten geübten Praxis nicht kommerziell (sie fragt nicht, ob die Kosten eingespielt werden), sondern politisch (sie fragt, ob die Menschen durch die Stücke zum Wohlverhalten veranlaßt werden). Theaterkarten sind sehr billig. Eine Opernkarte kostet etwa 0,10 US-Dollar, eine Akrobatenschau bekommt man für ungefähr acht Cent zu sehen, und für ein Ballett oder einen Film sind nur etwa sechs Cent zu zahlen. Kinder zahlen überall nur etwa einen Cent. Die wenigen Chinesen, die sich die Mühe machten, nach den Eintrittspreisen in amerikanischen Theatern zu fragen, waren entsetzt: »Die kapitalistische Klasse kontrolliert und konsumiert also tatsächlich die Kultur!« Tschiang Tsching, der diese horrenden Preisunterschiede geläufig waren, zeigte sich entschlossen, die Eintrittspreise künstlich tiefzuhalten, wenn bestimmte Musterwerke auf Amerikatoumee geschickt werden sollten - »um den Besuch durch die Massen zu fördern«.
»Wenn Sie über Kunst schreiben wollen«, erklärte Tschiang Tsching, »müssen Sie zuerst die richtige politische, wirtschaftliche und soziale Analyse der chinesischen Gesellschaft >erfassen<. Dann verstehen Sie, welche Funktion die Kunst innerhalb des Überbaus erfüllt.«
»Überbau« - dieser von ihr so häufig verwendete marxistische Begriff, entspricht etwa dem, was wir im weitesten Sinn unter Kultur verstehen: Kunst, Literatur, Erziehung, Wissenschaft sowie Ideen und Werte. Kommunistische Theoretiker haben die Ansicht vertreten, der Überbau müsse die ökonomische Basis ergänzen: Solange die Geschichte den richtigen Verlauf nimmt, hält der Überbau mit den Veränderungen der Basis Schritt. Das Problem der Koordinierung von Veränderungen in Überbau und Basis sowie die Frage, auf welcher Seite die historische Initiative liege, wurden Anfang der sechziger Jahre diskutiert. Die noch ungelösten Fragen wurden während der Kulturrevolution eingehend behandelt. Damals behaupteten Maos Gefolgsleute mit Tschiang Tsching an der Spitze, Chinas Überbau vor allem auf den Gebieten der Kunst und der Erziehung - habe nicht mit den wirtschaftlichen Veränderungen Schritt gehalten. Werde nichts dagegen unternommen, daß der Überbau nachhinke, so werde die sozialistische ökonomische Basis unweigerlich »zerstört«, wodurch eine »Restauration des Kapitalismus« ermöglicht werde.
In der Mitte der sechziger Jahre hatte das revolutionäre Theater eine lange proletarische und kommunistische Tradition. In den Zentralen Sowjetgebieten in Kiangsi gründete die KPCh 1931 ein Theater (an der Akademie der Roten Armee). Ein Jahr später wurde die Gorki-Schauspielschule gegründet und der sowjetische Einfluß verstärkte sich weiter durch chinesische Übersetzungen russischer proletarischer Schriftsteller und durch junge chinesische Kommunistenführer, die zwischen Schanghai, den chinesischen Sowjets und Moskau hin und her reisten. Nach 1933 hörten Chinas propagandabewußte Führer, daß Stalin begonnen hatte, den »sozialistischen Realismus« auf der Bühne zu fördern. Unter Moskaus Einfluß entstand eine Volksschauspielgruppe, und deren Improvisationstheater, das eine »lebende Zeitung« darstellte, wurde regelmäßig dazu eingesetzt, politische Ideologie von Wanderbühnen aus unter die Massen zu bringen. Tschiang Tschings Bühnenlaufbahn in Schanghai wurde durch andere, raffiniertere Formen des revolutionären Dramas bestimmt. Aber in den von der Kuomintang regierten Großstädten mußten solche von links kommenden Veränderungen des Überbaus ohne die Unterstützung durch eine sozialistische ökonomische Basis bewirkt werden.
Nach der Befreiung wurden Bildungseinrichtungen und kulturelle Institutionen zusammen mit dem Grundbesitz und der Industrie stufenweise verstaatlicht. Diese Umwandlung kam nur langsam voran. So wie an der ökonomischen Basis noch bis zum Vorabend der Kulturrevolution einige Betriebe geduldet wurden, an denen Privatleute beteiligt waren, hielten sich bis zu diesem Zeitpunkt einige Institutionen im Überbau, darunter auch privat finanzierte und geführte Schauspieltruppen.[4] Allerdings wurden bedeutsame Anstrengungen gemacht, das Theater zu verstaatlichen. Im Juni 1950 versammelte Tschou Yang über vierzig führende Operndarsteller zur ersten Tagung des Opernreformbüros. Wenig später wurde ein dem Kultusministerium unterstelltes Opernforschungsinstitut unter Leitung von Tschang Keng (einem von Tschiang Tschings abgewiesenen Verehrern) gegründet. Dieses Institut förderte die Kooperation zwischen den neuen Kommissaren und der über ganz China verstreuten Gemeinschaft von Schauspielern, Sängern, Akrobaten und Musikern - der buntscheckigen Darsteller lokaler Opern, die bisher keine Regierungskontrolle gekannt hatten. Im Jahr 1952 wurde ein Pekinger Volkskunsttheater eingerichtet. Es sollte das moderne Schauspiel, das sich aus bürgerlichen auslandschinesischen Vorbildern entwickelt hatte, in ein neues Theater umwandeln, das die Ziele der sozialistischen Gesellschaft propagierte. Hier wurden die Methoden des volksnahen Theaters, das schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts zur Förderung politischen Bewußtseins eingesetzt worden war, systematisch angewendet. Um kommunistische Ideologie zu verbreiten und die Kluft zwischen den Berufsschauspielern und den Werktätigen zu beseitigen, wurden die Ensembles meist in vier Gruppen aufgeteilt. Diese Gruppen wechselten sich bei den Vorstellungen vor Arbeitern und Bauern ab. Die gleiche Einteilung wurde während der Kulturrevolution auf allen Bühnen unerbittlich durchgesetzt.
Den gesellschaftspolitischen Projekten mit dem Ziel, Klassenunterschiede einzuebnen, gelang es nicht, kulturelle Traditionen auszurotten oder moderne Importe zu verhindern. Bis weit in die sechziger Jahre hinein existierten Tausende von lokalen Opernensembles - manche unabhängig, andere mit staatlicher Unterstützung. In Kreisen städtischer Kenner, vor allem bei denen, die neue und unkonventionelle Lebensrezepte suchten, ließ der Enthusiasmus für Stücke von lbsen, O'Neill, Shaw, Tschechow und Tsao Yü (der berühmeste chinesische Imitator westlicher Stücke) keineswegs nach. Russische Dramaturgen und ihre chinesischen Schüler lehrten Stanislawskis Methode der Schauspielkunst. Erst in der Kulturrevolution wurden sämtliche Darstellungen von Seelenerforschung, »häuslichem Exil« und »innerer Emigration« durch staatliche Intervention unterbunden.
Zu Beginn der fünfziger Jahre, als die kulturelle Kontrolle durch das Zentrum noch nahezu wirkungslos war, vermengten sich alte und moderne, feudale und bürgerliche Stilelemente, wodurch neue Bühnenphänomene entstanden. Die Karriere Mei Lan-fangs, eines außergewöhnlichen Schauspielers, der auf elegante weibliche Opernrollen spezialisiert war (Schauspielerinnen erschienen erst nach der Befreiung regelmäßig auf chinesischen Bühnen), zeigte, wie viele kulturelle Initiativen den Darstellern noch immer offenstanden. Zu Anfang des Jahrhunderts hatte er mit Peking-Opern in modernen Kostümen experimentiert; diese Versuche hatte er jedoch bald wieder aufgegeben.[5] In der Mitte des Jahrhunderts hatte er einen internationalen Ruf als Darsteller weiblicher Rollen. Nachdem die Kommunisten an die Macht gekommen waren, gestaltete er sein Repertoire weiterhin mit modernem Glamour, gab seine Lebenserinnerungen auf englisch heraus, machte Filme und Schallplatten von seinen Auftritten und prahlte mit seiner Freundschaft mit Hollywoodstars.[6] Nach der Jahrhundertmitte schrieben die Bühnenautoren neue Dramen, die mehr realistische Dialoge und realistischere Schauplätze enthielten als die traditionelle Oper. Tien Hans Stück über die Kaiserin Wu Tse-tien, Hsia Yens Stück über Sai Tschin-hua und Wu Hans Zyklus über Hai Jui, den aufrechten Beamten der Ming-Dynastie, waren nur Beispiele für eine neue Welle historischer Romanzen auf der Basis spannender Episoden aus der feudalen und kaiserlichen Geschichte - Erinnerungen an diese jetzt durch Liebe und Haß entstellte Vergangenheit.
Hätte Tschiang Tsching, die nach einer allseits anerkannten politischen Machtposition maskulinen Typs strebte, angesichts der Tatsache, daß Schauspielerinnen im allgemeinen als moralisch suspekt galten oder nur als Stars der leichten Muse geschätzt wurden, nicht allen Grund gehabt, sich der Öffentlichkeit nicht wieder als Schauspielerin in Erinnerung zu bringen? Außerdem war die »Kultur« in China wie fast überall auf der Welt noch niemals ein von Frauen beherrschter Wirkungsbereich gewesen. Jahrhundertelang hatten Männer das Theater als Autoren, Regisseure und Musiker beherrscht, und bis vor kurzem hatten sie die Bühne für sich allein beansprucht.
Für Tschiang Tschings zielbewußtes Streben nach uneingeschränkter Kontrolle über die darstellenden Künste und die nationale Kultur insgesamt liegt eine ideologische Erklärung (die jedoch psychologisch unzulänglich ist) nahe. Bei unserem Interview erinnerte sie sich daran, daß sie 1962 über die »ideologischen Kämpfe, die Kämpfe an der ökonomischen Basis wiederspiegelten« tiefer als je zuvor beunruhigt gewesen war. Auf der 10. Plenartagung (1962) des VIII. Zentralkomitees wurde die Frage aufgeworfen, ob es ihr gestattet werden sollte, die Initiative zu ergreifen, um die Kritik an den führenden Mitgliedern des Pekinger Stadtparteikomitees (das zugleich die chinesische Kulturpolitik kontrollierte) zu organisieren. In der Debatte wurde sie von dem Vorsitzenden, von Tschou En-Iai, von Kang Scheng und von Ko Tsching-schih (der als Vorsitzender des Parteikomitees von Ostchina ein412wertvoller Verbündeter war) unterstützt. Nach fünfjährigem Kampf gegen die alte Kulturgarde, deren Amtsenthebung Tschiang Tsching schließlich durchsetzen konnte, hatte sie die jüngeren Wortführer davon überzeugt, daß sie die Führungsposition auf dem Kultursektor zu Recht innehatte.
Zeitschriften der Roten Garde, die auf ihrer Seite standen, veröffentlichten Biographien, die jeden Schritt ihres Aufstiegs zur kulturellen Macht schilderten und lobten.[7] In diesen Ergüssen wurden ihre revolutionären Mustertheaterstücke gelobt, weil sie bewirkten, »daß der Überbau tatsächlich mit der ökonomischen Basis übereinstimmte«, weil sie ein »kostbares Gut des Weltproletariats« und »leuchtende Perlen proletarischer Literatur und Kunst« waren - »von Maotsetungideen sprühend..., ein glänzendes Ergebnis von Genossin Tschiang Tschings persönlicher Beteiligung an der Kampf-und Kunstpraxis«.[8] Tschiang Tsching übernahm auch die kaiserliche Tradition, die Kunst im allgemeinen und das Theater im besonderen zu fördern. Kaiser Ming Huang aus der Tang-Dynastie hielt sich an seinem Hof einen Schauspielerzirkel, den er den »Birnen-Garten« nannte; ähnliche Förderung wurde dem Theater von seinen Nachfolgern zuteil. Die letzte Mandschu-Herrscherin, Kaiserin-Witwe Tze Hsi[9], bewunderte die Schauspielkunst so sehr, daß sie sich im Sommerpalast eine erhöhte Freilichtbühne im prächtigen Ming-Stil bauen ließ. Dort wurden Romanzen über unglückliche Liebende, erbauende Stücke voller Sohnesliebe und religiöse Maskenspiele nach buddhistischen Legenden aufgeführt. Die Kaiserin-Witwe gab sich nicht damit zufrieden, nur Zuschauerin zu sein. Sie und ihr Schützling, der junge Kaiser Tung-tschih, verkleideten sich gelegentlich phantastisch und spielten Rollen, die weit weniger erhaben als ihre Herrscherrollen waren.
Chinas gegenwärtige Herrscher haben keine Zeit mehr für Idyllen. Da sie entschlossen sind, den Charakter der Massen, deren kulturelle Gewohnheiten noch aus kaiserlichen Zeiten stammen, völlig umzugestalten, können sie es sich nicht leisten (zumindest nicht öffentlich), sich dem Amüsement hinzugeben oder sich ihren Bibliotheken, Kunstsammlungen und Filmarchiven zu widmen. Ihnen geht es in erster Linie um die Festlegung dessen, was die Nation lesen, hören und sehen darf.
Wie beim Aufbau einer modernen Industrie konnten die kommunistischen Führer in der kulturellen Revolution westliche Elemente nicht völlig ausschließen. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert - Jahrzehnte vor dem Siegeszug des Marxismus - waren Spannungen zwischen dem ideologischen Überbau und der ökonomischen Basis spürbar gewesen. »Chinesische Gelehrsamkeit für das Wesentliche, und westliche Gelehrsamkeit für die Funktion«[10], mahnte der in der Mandschu-Dynastie lebende Reformer Tschang Tschih-tung. Er befürchtete, China werde durch den Import westlicher Industrie- und Waffentechnologien, die für die Nation angesichts der Bedrohung durch den ausländischen Imperialismus lebensnotwendig waren, kulturell verseucht werden. Anfang der zwanziger Jahre warnte Hu Schih, der liberale Förderer schrittweiser Reformen und einer Mundartliteratur im amerikanischen Stil, vor der Tendenz zu einer »pauschalen Verwestlichung«.[11]Auch die kommunistische Führung stand vor dem Problem, ausländische und einheimische Werte gegeneinander abwägen zu müssen. Der Vorsitzende Mao hatte dazu aufgefordert: »Das Alte in den Dienst der Gegenwart stellen, das Ausländische für China nutzbar machen!« Tschiang Tsching benutzte dieses Rezept, um die kritische Aneignung des nationalen Kulturerbes und die Einführung neuer ausländischer Ideen in altvertraute Genres zu rechtfertigen. Aber kritische Aneignung bedeutete, daß der im Überbau wuchernde Wildwuchs beschnitten werden mußte. »Wie können wir kritisch Geister, Götter und Religion assimilieren?« fragte Tschiang Tsching im November 1966 auf einer Dramatikerversammlung in der Großen Volkskongreßhalle. »Das ist meiner Ansicht nach unmöglich, weil wir Atheisten und Kommunisten sind. Wir glauben gar nicht an Geister und Götter.« Solcher Aberglauben sei von der Gutsbesitzerklasse dazu benutzt worden, das Volk zu unterdrücken und auszubeuten. »Alle Reste des Ausbeutungssystems und die alten Ideen, die alte Kultur, die alten Sitten und Gebräuche der Ausbeuterklassen hinwegzufegen, ist eine wichtige Aufgabe unserer Großen Proletarischen Kulturrevolution.«[12]
Bis zum Untergang der Mandschu-Dynastie waren die Führer Chinas davon überzeugt, ihr Regierungssystem, ihr reiches geschichtliches Erbe und ihre Kultur seien denen der abendländischen »Barbaren« überlegen. Während die marxistische Geschichtsbetrachtung Chinas gegenwärtige Führung dazu gezwungen hat, die »Feudalherrschaft« und die literarische Tradition der Vergangenheit zu verwerfen, sind die materiellen Kulturdenkmäler Bronzen, Keramik, Porzellan, Architektur, Monumente - zu einem neuen Quell des Nationalstolzes geworden. Sie werden nicht als geniale Werke von Künstlern gefeiert, sondern als »Schöpfungen der Massen«.
In ihrem Kampf um eine literarische Kultur für die revolutionäre Ära wurden verschiedene Parteiführer, darunter auch Mao Tse-tung und Tschiang Tsching, von einem Gefühl der Unzulänglichkeit, ja sogar des Versagens ergriffen. Die jahrhundertealte Haßliebe für den Westen ist unverändert stark geblieben. Allerdings kann niemand behaupten, seit der Gründung der KPCh im Jahre 1921 sei nichts erreicht worden. Wären die politischen Zustände in China in den dreißiger Jahren und danach günstiger gewesen, hätte Lu Hsün vielleicht Chinas Solschenizyn, Tien Han Chinas Arthur Miller und Hsia Yen Chinas Federico Fellini werden können. Alle drei waren zudem Mittelpunkt eines vielversprechenden Kreises kreativer Begabungen. Ihr tragisches Unglück scheint es gewesen zu sein, daß sie Genies und Individualisten zugleich waren - und den Mut hatten, diese Kombination zu verteidigen. Lu Hsün starb 1936. Die beiden anderen überlebten und wurden in der Kulturrevolution gestürzt: paradoxerweise in derselben Bewegung, die Lu Hsüns heldenhaften Ruf - nicht nur als revolutionärer »Bannerträger«, sondern auch als »Kommunist« - begründete, obwohl er niemals unter kommunistischen Bürokraten gearbeitet hatte. Im Jahre 1956 erklärte Mao im Hinblick auf dieses kulturelle Dilemma:
- »Wir müssen zugeben, daß das Niveau des Westens, was die moderne Kultur betrifft, höher als unseres ist. Wir sind hinter ihm zurückgeblieben. Gilt dies auch für die Kunst? In der Kunst haben wir unsere Stärken und unsere Schwächen. Wir müssen es verstehen, uns die guten Dinge aus dem Ausland anzueignen, um unsere Mängel wettzumachen. Wenn wir unsere alten Wege beschreiten und die ausländische Literatur nicht studieren, sie nicht in China einführen, wenn wir nicht wissen, wie man ausländische Musik anhört oder spielt, ist das nicht gut. Wir dürfen nicht wie die Kaiserin-Witwe Tze Hsi blindlings alle ausländischen Dinge ablehnen. Blindlings ausländische Dinge ablehnen ist das Gleiche wie sie blindlings anbeten. Beides ist falsch und schädlich.«[13]
Kein geschichtsbewußter Chinese kann Konfuzius' Feststellung vergessen, daß Musik das Gemüt der Menschen besänftige. Seit dem Beginn der chinesischen Geschichte wurden staatliche Rituale von Musik begleitet. In der Westlichen Tschou-Dynastie (1100-771 v. Chr. ) wurden Bogenschießzeremonien von Orchestern begleitet, zu deren Instrumenten Leiern, Flöten, Trommeln und Glocken gehörten. Die kaiserlichen Orchester der Han-Dynastie fügten nach und nach weitere Instrumente hinzu. Nach vier Jahrhunderten der Uneinigkeit waren die Sui- und Tang-Dynastien, die vom sechsten bis zehnten Jahrhundert regierten, beide vor allem mit der Konsolidierung des Reiches und der Bereicherung der Kultur - auch durch die Übernahme einiger ausländischer Eigenarten - beschäftigt. Kaiser beider Dynastien gründeten stark gegliederte Musikakademien, die sich bemühten, Musik aus Zentralasien und die Musik der nationalen Minderheiten mit der dominierenden HanTradition zu verschmelzen.[14] Ein Jahrtausend später förderte die Volksrepublik, der soviel wie jeder vergangenen Dynastie daran lag, einen inneren Zwiespalt durch politische Konsolidierung zu überwinden, neue Forschungsarbeiten über die Musik der Minderheiten oder die »Volksmusik«, wie man sie auch nennen konnte. Sie sollte mit Elementen der klassischen Han-Tradition und des Westens verschmolzen werden - möglichst von allen Anklängen an Feudalismus, Imperalismus und Kapitalismus gesäubert.
In derselben Zeit, als die Kaiserin-Witwe Tze Hsi »ausländische Dinge blindlings ablehnte«, bewunderte der phantasiebegabte Reformer Liang Tschi-tschao ausländische Musik, die er für viel ausdrucksvoller als die chinesische hielt. Liang suchte nach den Gründen dafür, daß Chinas militärischer Geist unterentwickelt war (was sich nie deutlicher als während der Herausforderung durch den ausländischen Imperialismus im späten 19. Jahrhundert zeigte), und zu den Gründen, die er anführte, gehörte auch das »lethargische« Wesen der chinesischen Musik. Er schlug vor, die Chinesen sollten wie die Athener, von denen die Spartaner gelernt hatten, ihre Krieger mit aufreizender Musik zum Sieg zu treiben, nach Mitteln suchen, um den Wagemut und die Angriffslust ihres Volkes zu stimulieren.[15]
Die Bereitschaft, die Staatsmusik durch bewußte Anleihen bei ausländischen Quellen und der chinesischen Vergangenheit zu bereichern, war am Vorabend der Kulturrevolution größer als je zuvor. Das Hauptziel dieser nationalen Erhebung war eine Wiedererweckung des revolutionären Willens der Massen, damit diese die ehrgeizigen Aufgaben beim »Aufbau des Sozialismus« anpacken konnten. Als Tschiang Tsching diese historische Herausforderung in den sechziger Jahren annahm, waren die Probleme der kulturellen Ausgewogenheit und der kulturellen Synthese noch immer ungelöst. Wieviel ausländischen Einfluß konnte China in seinem Bemühen um kulturelle Autarkie tolerieren? Welche kulturellen Vorteile hatten andere Rassen und Staaten Chinas aufstrebender Proletarierklasse zu bieten?Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts betraf die Herausforderung durch den Westen nicht nur das kulturelle, sondern auch das industrielle und das militärische Niveau. Nach Chinas demütigender Niederlage im Opiumkrieg von 1839-1840 und dem Abschluß der Ungleichen Verträge setzten einige tapfere Reformer um 1860 eine Bewegung in Gang, mit dem Ziel, Grundlagen für eine Industrialisierung zu schaffen und die nationale Verteidigungskraft zu stärken. Angesichts der agrarischen, nichtindustriellen Tradition Chinas ist das beispiellose Streben dieser Reformer nach Energie und Macht über die unbelebte Natur von dem Historiker Benjamin Schwartz zu recht als faustisch-prometheisch bezeichnet worden.[16] Die gleiche dynamische und aggressive Einstellung wurde von der Kommunistischen Partei Chinas bewußt zum Arbeitsprinzip erhoben. Bodenreform und Industrialisierung verwirklichten es in der materiellen, d. h. sozio-ökonomischen Ordnung, und die gewaltigen Umwälzungen in der Mitte der sechziger Jahre übertrugen es auf die kulturelle Sphäre.
Musik wurde das wichtigste Mittel zur Feier der Kulturrevolution. Aus dem Westen kamen eine Vielzahl von Musikinstrumenten und eine Fülle von Symphonien, die Chinas gegenwärtiger geschichtlicher Situation ebenso entsprachen, wie die vor einem Jahrhundert eingeführten industriellen und militärischen Techniken die Bedürfnisse der damaligen Zeit befriedigt hatten. Ausländische Geigen, Bratschen, Celli, Klarinetten, Hörner und der Konzertflügel erzeugten eine bis dahin unbekannte Klangfülle, Lautstärke und Klangfärbung, wenn sie im Stil von Tschaikowski, Liszt, Rachmaninow oder Smetana orchestriert wurden. In die chinesische Bühnenmusik projizierte der faustisch-prometheische Geist die Hoffnungen, die Wehrhaftigkeit, den Reichtum und die Macht der Proletarierklasse.
Die Chinesen hätten ihre eigene Musiktradition verachtet, erklärte Tschiang Tsching, als wir über die musikalischen Grundlagen der Kulturrevolution sprachen. Sobald sie ein westliches Musikstück hörten, setzten sie gedankenlos voraus, es sei besser als jedes chinesische Werk. Sie überlegten sich auch niemals ernstlich, daß neue Musik komponiert werden könnte. Nachdem China jahrzehntelang westlicher Musik ausgesetzt gewesen war, wurde einigen schließlich die Tatsache bewußt, daß diese Musik eine Funktion des ausländischen Kapitalismus war. Trotzdem, fügte Tschiang Tsching hinzu, ohne sich auf ihren strengen Marxismus zu versteifen, lasse sich von westlicher Musik viel lernen. Generationen chinesischer Musiker, die sich dem Studium ausländischer Instrumente und Kompositionen gewidmet hatten, brauchten dies nicht als demütigend zu empfinden. Ihre Begeisterung für westliche Musik hatte zur Folge, daß China überreich an Musikern war. Es gab unzählige Pianisten, von denen einige sehr gut und vielseitig waren. »China hat mehr Liszts als Liszt«, hieß es deshalb scherzhaft.
Sie habe nicht sonderlich viel westliche Musik gehört, fuhr Tschiang Tsching fort. Doch sie konnte Partituren fließend lesen, nachdem sie sich diese Fähigkeit zu Anfang der sechziger Jahre angeeignet hatte. Seit Jahren sei sie davon überzeugt, daß die Chinesen ihre eigene Musikkultur auf der Grundlage ausländischer Errungenschaften bereichern könnten.
»Mit dem Hammer in der Hand habe ich mich darangemacht«, verkündete sie mit erhobener Faust, »alle überlieferten Konventionen zu zerschlagen.« Ihre Offensive löste in Musikerkreisen heftige Debatten aus. Manche waren bisher der Überzeugung gewesen, eine Symphonie könne nur vier Sätze haben; andere plädierten für acht. Manche wollten nur noch Symphonien spielen lassen. Andere zogen Solistenkonzerte vor oder erklärten die Menschliche Stimme zum wichtigsten Instrument.
Tschiang Tschings musikalische Vorbildung war lückenhaft. Als Schauspielschülerin in Tsinan hatte sie mehrere Instrumente spielen gelernt und drei Monate lang Klavierunterricht bekommen. Obwohl ihre Lehrerin sie persönlich geschätzt hatte, war sie am Klavier sehr streng gewesen und hatte ihrer Schülerin mit Stöcken auf die Handgelenke geschlagen, um deren Tempo zu steuern. Tschiang Tsching hatte diese Klavierstunden gehaßt und war deshalb eigentlich nie über Tonleitern und einfache Etüden hinausgekommen. Vor Präsident Nixons Staatsbesuch im Frühjahr 1972 hatte sie erfahren, daß er ein ausgezeichneter Klavierspieler sei. Deshalb hatte sie nicht gewagt, ihm zu erzählen, daß sie früher auch ein wenig Klavier gespielt hatte. »Sie sind der erste ausländische Gast, dem ich gestanden habe, daß ich dieses Instrument gespielt habe«, sagte sie lachend.
Einige Jahre lang, vor allem nach 1964, besuchte sie verschiedene Konservatorien, hörte sich stundenlang Konzerte an und beobachtete aus nächster Nähe, wie ausländische Instrumente gebaut waren und beherrscht wurden.[17] Nachdem sie gehört hatte, wie Klarinetten, Oboen, Flöten und andere Instrumente in der Kammermusik, in Symphonien und im Solo klangen, bekam sie einen Begriff von der Vielseitigkeit dieser Musikinstrumente und ihrem Potential im Zusammenspiel mit anderen - auch mit chinesischen Instrumenten. Diese Vorstöße in esoterische Musikerkreise seien ihr nicht leicht gefallen, sagte Tschiang Tsching. Sie war sich schmerzlich bewußt, mit welcher Verachtung berühmte Musiker auf sie herabsahen, weil sie keine erwähnenswerte musikalische Vorbildung hatte. Aber sie wagten nicht, Tschiang Tschings Absicht zu kritisieren: die Revolution in die Welt der Musik zu tragen.
Während Tschiang Tsching sich musikalisch weiterbildete, bemühte sie sich, das Interesse der Musiker zu wecken und sie dazu zu verpflichten, die Musik in ein revolutionäres Medium zu verwandeln. Die verbale Zustim417mung der Musiker war leicht zu erlangen - aber dies war bedeutungslos, wie Tschiang Tsching bald feststellte. Li Te-lun (der in Schanghai ausgebildet worden war und in Jenan eine Parteikarriere begonnen hatte), der Dirigent des Zentralen Philharmonischen Orchesters, und sein preisgekrönter Pianist Yin Tscheng-tschung (damals Mitte Zwanzig und Absolvent des Leningrader Konservatoriums) schickten ihr beide einen Brief, in dem sie ihr versicherten, sie wollten unbedingt revolutionäre Musik machen. Aber solche Briefe waren wertlos, wenn ihre Verfasser nicht tatsächlich etwas in dieser Richtung unternahmen. Da Tschiang Tsching die westliche Musik kannte, die sie bewunderten und auf die sie unter keinen Umständen verzichten wollten, spürte sie den verzweifelten Wunsch, gegen die beiden vorzugehen und die ausländischen Konventionen, an die sich so sklavisch hielten, zu zerschlagen. Um ihr Ziel zu erreichen, arbeitete sie solange mit den beiden zusammen, bis diese allmählich begriffen, um welche schöpferischen Synthesen es ihr ging.
Obwohl Li Te-lun, Yin Tscheng-tschung und ihre Kollegen gute Musiker waren, verstanden sie praktisch nichts von Komposition.
Tschiang Tsching erklärte ihnen, bei der Schöpfung revolutionärer Musik sei es unumgänglich, sich sowohl über chinesische als auch über ausländische Konventionen hinwegzusetzen. Oft kam sie unangemeldet zu den Proben des Zentralen Philharmonischen Orchesters. Nachdem sie ihr Urteil abgegeben hatte, kreischte der Dirigent Li Te-lun bisweilen: »Sie schlagen mit einem großen Hammer auf mich ein!« Tschiang Tsching amüsierte sich bei der Erinnerung an diese Szene. Aber Li Te-lun war ehrlich und gutmütig - und wußte, daß ihre scharfe Kritik ihm nützte. Sowohl Li Te-lun als auch Yin Tscheng-tschung hätten sich über Jahre hinweg unbekümmert ausländischen musikalischen Konventionen unterworfen, fügte sie hinzu.
Li Te-lun lernte also, mit Tschiang Tsching zusammenzuarbeiten, und präsentierte ihr im Lauf der Zeit neue Werke von »Meisterkomponisten« aus den Kreisen seiner Musikerkollegen. Dazu gehörten Entwürfe für das Klavierkonzert »Der Gelbe Fluß« und die Symphonie »Schatschiapang« (nach der revolutionären Peking-Oper »Schatschiapang«), die beiden wichtigsten während der Kulturrevolution entstandenen Kompositionen. Die ursprünglichen Fassungen waren durch ausländische Einflüsse beeinträchtigt. Unter Tschiang Tschings Leitung wurden sie überarbeitet, so daß sie schließlich zu den Musterstücken zählten - obwohl sie noch immer unvollkommen waren, wie sie sagte. Das symphonische Arrangement dieser Stücke brachte gewaltige Schwierigkeiten mit sich, denn Tschiang Tsching hatte nicht nur mit der Konzeption der Partituren zu kämpfen, sondern auch mit den Fachleuten, die den Auftrag hatten, die Details zu komponieren, und schließlich sogar mit den Künstlern. Als sie das Konzert »Der Gelbe Fluß« überarbeitete, erwiesen sich die Komponisten und Künstler als unglaublich hartnäckig, wenn es darum ging, die richtige Arbeitsweise zu praktizieren. Die von Tschiang Tsching engagierten Sänger weigerten sich zunächst, aus ihren Berufsverbänden auszutreten und sich der (von ihr geförderten) Chinesischen Musikvereinigung anzuschließen. Deshalb mußte sie »mit einem Hammer auf sie einschlagen«, bis die Musiker auf ihre Linie einschwenkten.
Das Klavierkonzert »Der Gelbe Fluß« basierte auf einer früheren Komposition, der Kantate »Der Gelbe Fluß«, die Hsien Hsing-Hai in Jenan als Chorwerk komponiert hatte.[18] Tschiang Tsching hatte dabei mitgewirkt, denn sie hatte damals an der Lu-Hsün-Akademie gearbeitet. Später entdeckte sie, daß die Kantate bestimmte »ungesunde« Passagen enthielt. Diese waren aus der späteren Fassung - die andere Mängel aufwies, wie sie sich hinzuzufügen beeilte entfernt worden. Persönliche Erfahrungen beeinflußten ihre Auffassung davon, wie die Musik neu entwickelt werden sollte. Da sie den Gelben Fluß während des Befreiungskriegs im Nordwesten mehrmals überquert und seinen Oberlauf erforscht hatte, hatte sie eine lebhafte Vorstellung von Form und Bewegung dieses Flusses. Sie hatte auch an Kämpfen an seinen Ufern teilgenommen. Um Yin Tscheng-tschung auf die Komposition seines Soloparts vorzubereiten, schickte sie ihn mit dem Auftrag los, den Spuren des vom Vorsitzenden Mao geführten Langen Marsches zu folgen. So war er später imstande, den Geist der von der älteren Revolutionärsgeneration im Nordwesten geführten Kämpfe musikalisch auszudrücken.
Unter Tschiang Tschings Anleitung wurde die Tonalität der Kantate »Der Gelbe Fluß«, die sich in ihrer ursprünglichen Form auffällig ausländisch anhörte, verändert. In jedem Stadium der Bearbeitung holten sie und ihr Assistent die Meinungen der Massen ein und änderten dann die Partitur entsprechend ab. Die gleichen routinemäßigen Befragungen in der Öffentlichkeit begleiteten die Komposition der Symphonie »Schatschiapang« und die Peking-Oper-Version der »Geschichte einer Roten Signallaterne«.[19] Beide wurden wiederholt abgeändert, bis sie die gewünschte Wirkung auf die Massen hatten.
Wie Thomas Jefferson im 18. Jahrhundert festgestellt hat, wird die Behauptung »Die Gegenwart gehört den Lebenden« von jeder revolutionären Generation wiederholt, die ihre Verantwortung für das Los ihrer Mitmenschen fühlt. Mao Tse-tungs vergleichbare Parole im 20. Jahrhundert, »Dem Volke dienen«, entstand bei der Beerdigung eines Freundes in Jenan. »Dem Volke dienen« wurde von anderen Parteiführern als wirkungsvolles Schlagwort aufgegriffen und millionenfach in Bildungswesen, Forschung, Gesundheitswesen, Militär und Verwaltung wiederholt. In den sechziger Jahren erklärte Tschiang Tsching diese Parole zum obersten Prinzip der darstellenden Künste.
Bei der Planung und Verwirklichung eines Revolutionstheaters mit Modellcharakter konnte Tschiang Tsching sich nicht auf die praktische Unterstützung Maos verlassen, dessen Begabung sich in Aufsätzen und Gedichten zeigte. Als sie in den sechziger Jahren als Kulturpolitikerin aktiv zu werden begann, gestand er bereitwillig ein, daß sie vom Theater mehr wußte als er. Dennoch kritisierte er sie gelegentlich, wenn sie Meinungen äußerte, die er dem bürgerlichen Stadium des kulturellen Bewußtseins zuordnete. Tschiang Tschings Forderung nach proletarischen Symphonien und Theaterstücken folgte der jahrhundertealten Tradition, klassische Kunstformen zeitgenössischen Interessen anzupassen. Wie das Versmaß dazu dient, den Gedichten Spannung zu verleihen, so dient die klassische Opernform dazu, dem Revolutionstheater Spannung zu verleihen. Die Massen Chinas - die Adressaten der neuen proletarischen Kunst - wurden dadurch an das neue Theater gewöhnt, daß zunächst bestimmte Strukturen aus klassischen und populären Stücken beibehalten wurden. Arien, Tempi, bekannte Vortragsweisen, artistische Einlagen und übertriebene soziale Typologie gaben den neuartigen Inhalten vertraute Formen. Obwohl westliche Neuerungen wie die Vorbühne, realistische Kulissen und Requisiten und der Orchestergraben (für das von der Bühne verbannte größere Orchester) anfangs fremdartig wirkten, entsprach diese Synthese von vertrauten und fremden Elementen eher den Zuschauererwartungen, als es reine Sprechstücke - Dialoge ohne Gesang und Akrobatik - vermocht hätten.
Das Schlagwort »Die Zerstörung muß dem Aufbau vorangehen« wurde während der Kulturrevolution auf die darstellende Kunst wie auf zahllose andere Bereiche angewandt. Der Stil des Dramas wurde von Wortgefechten statt vom Schwerterklang geprägt. Aus der Verwüstung, die Tschiang Tsching und ihre Gefolgsleute anrichteten, indem sie sämtliche unterhaltenden Medien verboten - anfangs vor allem Musik, Schauspiel und Film - ging eine als yang-pan hsi bekannte Auswahl von Musterwerken hervor. Der üblich werdende Gebrauch von yang-pan, d. h. »Muster« oder »Modell«, hatte eine politische Bedeutung. Ende der fünfziger Jahre bezog der Begriff yang-pan sich auf die »Vorführfelder« von Muster-Volkskommunen, die während des Großen Sprungs zur allgemeinen Nachahmung anregen sollten.[20] Auf diese Weise übertrug der Ausdruck yang-pan hsi - »Modelltheater« die Metapher von der Basis auf den Überbau. Dadurch wurde ausgedrückt, das Musiktheater habe nicht anders als die Landwirtschaft einem bestimmten Muster zu entsprechen - und daß dieses Muster sich je nach den Anforderungen der revolutionären Führung und der Zeit verändern könne.
Als die Kulturrevolution 1968 in ihr letztes Stadium trat, waren insgesamt acht Musterwerke geschaffen worden: vier Peking-Opern (»Geschichte einer Roten Signallaterne«, »Schatschiapang«, »Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert« und »Sturm auf das Regiment >Weißer Tiger<«), zwei Ballette (»Das Rote Frauenbataillon« und »Das Weißhaarige Mädchen«), das Klavierkonzert »Der Gelbe Fluß« und eine Reihe figürlicher Tableaus im Stil des chinesischen sozialistischen Realismus: »Hof für die Pachteinnahme«.
Die Premiere jedes dieser Werke war ein Ereignis von nationaler Bedeutung, über das die Zeitungen ausführlich auf den ersten Seiten berichteten und dessen philosophischer Auslegung sich die Parteizeitung »Rote Fahne« widmete. Die acht »revolutionären klassischen Werke« wurden im Lauf der Zeit um einige Gemälde vermehrt, vor allem um ein - in Stil und Thema westliches - Porträt, das einen jungenhaften Mao Tsetung in blauer Jacke (Anfang der zwanziger Jahre) zeigt, der gerade dabei ist, die Arbeitsbedingungen in den Bergwerken von An-yüan zu untersuchen.[21]
In den Jahren, in denen auf dem Kultursektor weit mehr zerstört als aufgebaut wurde, verteidigte Tschiang Tsching immer wieder ihr neues Modellrepertoire, das sich auf wenige Beispiele und wenige Formen beschränkte. Wenn die neuen Opern weiterhin so zusammengeschustert werden würden, wie dies in der jüngeren Vergangenheit der Fall gewesen sei, bemerkte sie im November 1967 in einer Rede, dann »würden die Leute uns niederschlagen«. Es sei von Vorteil, daß die acht Musterwerke vorerst die Szene beherrschten, denn sie hätten die Kaiser, die Generale und die Bourgeoisie vertrieben. Auch Ballett und Symphonie seien reformiert worden. »Obgleich sie noch immer Mängel aufweisen und in manchen Bereichen verbesserungsbedürftig sind«, sagte sie, »haben sie zumindest Aufsehen hervorgerufen und die Welt schockiert.«[22]
Tschiang Tsching und ihr erfahrener Mitarbeiterstab waren eindeutig die Wegbereiter der radikalen kulturellen Veränderungen: Sie fühlten sich verpflichtet, den weiterhin existierenden Glauben an die bürgerliche Vorstellung vom individuellen Genie zu zerstören und durch das proletarische Ideal einer Kreativität der Massen zu ersetzen. Dieses Ideal war abgeleitet von der leninistischen Auffassung vom demokratischen Zentralismus, der in der Mitte der sechziger Jahre in sämtlichen Bereichen des politischen Lebens durchgesetzt wurde. In ihrer Ansprache »Über die Revolution in der Peking-Oper« im Juli 1964 lobte Tschiang Tsching den Schanghaier Bürgermeister Ko Tsching-schih, weil dieser die Grundvoraussetzung erkannt habe: »Der Schlüssel für das dramatische Schaffen ist eine dreifache Verbindung, die Verbindung der Leitung mit den Fachkräften und den Massen... Zuerst stellt die Leitung das Thema auf. Danach gehen die Autoren des Stücks an Ort und Stelle und sammeln praktische Erfahrungen... Nach der Generalprobe verbessert man nach umfangreicher Kritik und Vorschlägen dieses Stück. So holt man fortwährend Meinungen ein und verbessert das Stück immer wieder.« In unserem Interview acht Jahre später wurde sie deutlicher: »Alle Theaterstücke müssen den Massen vorgelegt werden, damit diese ihre Ansichten äußern können. Die brauchbaren Ansichten werden berücksichtigt, die irrigen werden zurückgewiesen, und die nicht sofort in die Tat umzusetzenden Ansichten werden zunächst zurückgestellt. Das nennen wir demokratischen Zentralisrnus auf breiter Basis.«
Ich erkundigte mich, was mit dem modernen Drama geschehen solle.
Sie habe während der Kulturrevolution versucht, einige moderne Dramen bearbeiten zu lassen, antwortete Tschiang Tsching gereizt, doch sei dies an einem Mangel an Kooperationsbereitschaft gescheitert. Die Autoren, Regisseure und Schauspieler, die das »Rückgrat« der Theaterwelt darstellten, hatten ihre Wertmaßstäbe und ihren Arbeitsstil den dreißiger und vierziger Jahren entlehnt. Doch damals war das politische Klima ein völlig anderes gewesen. Unter den Künstlern gab es einige Parteimitglieder, die in Wirklichkeit Parteifeinde und Kuomintang-Geheimagenten waren. Obwohl diese Berühmtheiten des Theaters wie alle anderen in Höhlen gehaust hatten, als die KPCh sich nach Jenan zurückziehen mußte, hatten sie ihr bürgerliches Luxusleben sofort nach der Rückkehr in ihre geliebten Städte wieder aufgenommen. Dieser luxuriöse Lebensstil machte es ihnen unmöglich, die geistigen Bedürfnisse eines aus Arbeitern, Bauern und Soldaten bestehenden wachsenden Publikums zu befriedigen. Wieviel Energie habe sie nicht schon bei dem Versuch vergeudet, die Einstellung dieser Leute zu ändern!
Doch auf die Dauer sei dies alles vergeblich gewesen.
War es trotz der unveränderten Lebensweise bestimmter Bühnenautoren, die nicht namentlich genannt wurden, möglich, daß andere Autoren moderne chinesische oder ausländische Dramen für revolutionäre Zwecke bearbeiteten?
Das hänge von der Art des Stückes, der Bereitschaft des Autors, die notwendigen Änderungen vorzunehmen, und der Anpassungsfähigkeit der Schauspieler an die neuen Rollen ab, antwortete Tschiang Tsching. Die meisten Bühnenautoren hatten offenbar aufgehört, in ihren Villen ein Drohnendasein zu führen (ganz abgesehen von denen, die nie reich gewesen waren). Wie andere Intellektuelle waren auch sie unter die Massen gegangen, für die sie in Zukunft würden schreiben müssen. Aber das Hauptproblem bei der Entwicklung des modernen Dramas war ein Führungsproblem: Man mußte wissen, wie man zur rechten Zeit den richtigen Druck ausüben konnte. Die führenden Theaterleute unterstützten die Neuentdeckung und Bearbeitung von Schauspielen, »wenn sie sich gute Chancen für sich selbst ausrechnen können«.
Tschiang Tschings Bemühungen um Musterschauspiele begannen zu Anfang der sechziger Jahre während der Sozialistischen Erziehungsbewegung(und der Zeit des Aufstiegs von Lin Piao und des Militärs im allgemeinen). Damals hatte sie gehofft, mehrere neue Bühnenstücke über militärische Themen, die in Auftrag gegeben worden waren, retten zu können. Eines handelte von dem jungen Soldaten Lei Feng (dessen Märtyrertum seit 1963 gefeiert wurde). Ein weiteres schilderte den Langen Marsch der Jahre 1934 und 1935 und ein drittes hieß »Briefe aus dem Süden« (ein politisches Melodrama über den US-Imperialismus in Vietnam). In ihrer ursprünglichen Form waren diese Stücke wertlos, weil die Aufträge an Bühnenautoren ohne praktische Militärerfahrung gegangen waren. Die Schauspieler der ersten Vorstellungen hatten ebenfalls keine einschlägigen Erfahrungen. Sie stolzierten über die Bühne und zeigten städtische Allüren, die nicht das geringste mit der schlichten Lebensweise von Soldaten in der Roten Armee zu tun hatten. Ihre Kunst war von der Politik völlig losgelöst.
Die Übertragung einer Geschichte von einem Genre ins andere, vom Roman in ein Schauspiel, eine Oper oder einen Film (allerdings nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge), sei seit Jahrhunderten praktiziert worden, betonte Tschiang Tsching. Gegenwärtig hielt sie Oper und Film für die lohnendsten Medien. Da die Opernform den Massen vertraut war, waren radikale Veränderungen des Inhalts akzeptabel. Aber Filme waren auf die Dauer billiger, weil Chinas riesige und verstreute Bevölkerung sich mit ihnen am leichtesten erreichen ließ.
Wenn die Übertragung eines Stoffs von einem Genre zum anderen von oben angeordnet wurde, führte dies unweigerlich zu Konflikten, da alle Beteiligten ihren eigenen Willen durchsetzen wollten. Tschiang Tsching erwähnte in diesem Zusammenhang »Die große Mauer«, ein später unter dem Titel »Auf dem Südchinesischen Meer« in eine Peking-Oper umgearbeitetes Drama. Während der Kulturrevolution erklärte sich der Autor bereit, sie das Manuskript prüfen zu lassen. Sie nahm Änderungen vor, und er akzeptierte sie. Aber als sie die überarbeitete Fassung dem Regisseur übergab, begann er, auf »reaktionäre« Weise zu protestieren. Obwohl er sie scheinbar aufforderte, ihn anzuleiten (sie erklärte ihm, wie die schauspielerischen Leistungen zu verbessern seien), ignorierte er ihre Vorschläge. Diese Hartnäckigkeit war für sie der Beweis, daß er ein Konterrevolutionär war.
Tatsächlich, fuhr sie ruhiger fort, sei die Führung am Scheitern der Versuche, Schauspiele zu retten, schuld gewesen. Die Führungsspitze mußte erkennen, daß die Leute, die schon immer die Bühne beherrscht hatten - Autoren, Regisseure und Schauspieler - vom Theater völlig geprägt waren. Da sie keine »praktische Erfahrung« hatten, verfehlten ihre Vorstellungen die Strukturen und Motive im Leben gewöhnlicher Menschen. Dazu kam noch, daß manche Theaterleute ganz einfach faul waren und sich weigerten, neue Aufgaben zu übernehmen.[23] Jüngere Menschen waren im allgemeinen leichter umzuformen. Die Führung war sich jedoch immer mehr dessen bewußt, daß es darauf ankam, die älteren, erfahrenen Autoren, Regisseure und Schauspieler zu ermutigen, im Getümmel nicht den Mut sinken zu lassen, sondern unter Beachtung der neuen Bedingungen weiterzuarbeiten.
Anfang der sechziger Jahre unterstützte niemand Tschiang Tschings Bemühungen, das Drama auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. Unter allen führenden Männern, die sie kannte, war nur Ko Tsching-schih bereit, sie zu unterstützen. Nachdem ihr Versuch, ein Theaterstück mit dem Titel »Eine neue Generation« selbst zu bearbeiten, fehlgeschlagen war, übergab sie das Manuskript Ko Tsching-schih, mit der Aufforderung, seine Autorität als Bürgermeister einzusetzen und das Stück in einer revidierten Fassung von einem Schanghaier Ensemble aufführen zu lassen. Aber auch in der neuen Version waren die gegensätzlichen Charaktere nicht deutlich genug herausgearbeitet, d. h. die politisch fortschrittlichen Charaktere erhoben sich niemals für jedermann sichtbar über die schlechten. Weitere Probleme ergaben sich im Zusammenhang mit der Gestaltung realistischer Bühnenbilder, die mit der Tradition der leeren Bühne brachen. Außerdem, fügte Tschiang Tsching hinzu, bezogen die erfahrenen Schauspieler, die lernen sollten, proletarische Charaktere zu verkörpern und auf ihr elitäres Repertoire zu verzichten, weiterhin die absurd hohen Gagen aus der Vergangenheit. Als die Führung auf diese Ungerechtigkeit aufmerksam gemacht wurde, gerieten die Schauspieler in Panik. Sie fürchteten, arbeitslos zu werden, was höchst unwahrscheinlich war. Aber selbst nach 1968, als Schauspieler gemeinsam mit Akademikern und Beamten in 7. Mai-Kaderschulen [24] geschickt und in ländlicher Umgebung politisch geschult wurden, bezogen sie immer noch die gleichen überhöhten Gagen. Damit sei Ministerpräsident Tschou nie einverstanden gewesen, bemerkte Tschiang Tsching.
Sie hatte oft Vorwürfe einstecken müssen, weil sie sich für Theaterstücke eingesetzt hatte, an denen scheinbar nichts zu retten war. Tschiang Tsching erwähnte in diesem Zusammenhang den von der Volksbefreiungsarmee herausgebrachten Einakter »Der Mann, der die Truppe führt«. Nach der Premiere wurde sie von Mitarbeitern angerufen. Diese empfahlen ihr dringend, sich das Stück selbst anzusehen. Sie besuchte eine Vorstellung in Begleitung des Literaturkritikers Tschen Ya-ting, der gleichzeitig Stellvertretender Leiter der VBA-Kulturabteilung war. Tschiang Tsching war mit den Gestalten dieses Stücks nicht einverstanden, da deren politische Haltung unklar (weder absolut gut noch schlecht) war. In der Pause fragte sie Tschen Ya-ting, ob die auf der Bühne dargestellten Soldaten als »individuelle« oder »universelle« Charaktere zu verstehen seien. War der Hauptdarsteller, dessen Rolle ihr mißfiel, »typisch« für Chinas Militär?
Obwohl »Der Mann, der die Truppe führt« als Theaterstück problematisch war, glaubte Tschiang Tsching, mit ihm einen brauchbaren Filmstoff gefunden zu haben. Nachdem die Filmproduktion während der Kulturrevolution fast völlig zum Stillstand gekommen war, benötigte sie nämlich dringend Drehbücher für neue Produktionen. Sie unterbreitete ihren Plan Ministerpräsident Tschou. Dieser forderte sie prompt auf, auf den bevorstehenden Filmfestspielen (vermutlich im Jahr 1965) eine Rede über die geplante Verfilmung dieses Stücks zu halten. Diese Nachricht überraschte den Vorsitzenden, und er durchkreuzte Tschiang Tschings Plan. Er hatte das Theaterstück ebenfalls gesehen und kritisierte es jetzt als »liberal«. Seiner Überzeugung nach würde selbst eine revidierte Filmversion noch irreführend sein. Mao hatte, so meinte Tschiang Tsching, deutlicher als jeder andere erkannt, daß das Soldatenleben in diesem Stück verzerrt dargestellt war - keineswegs »typisch«. Dieser Vorfall, sagte sie, beweise erneut, daß die Reform des Theaters im Endeffekt in den Verantwortungsbereich der Führung falle. Aus der Perspektive der Führenden stelle sich noch immer die grundsätzliche Frage: Werden die Schriftsteller sich mit den Arbeitern, Bauern und Soldaten vereinigen?[25]
Einige wenige Theaterstücke zu militärischen Themen waren realistisch genug, um in Opern, Spielfilme oder historische »Dokumentarfilme« (im chinesischen Sprachgebrauch phantasievolle Rekonstruktionen geschichtlicher Ereignisse, im Unterschied zu Wochenschauen oder Originalaufnahmen) umgearbeitet werden zu können. Tschiang Tsching nannte als gutes Beispiel »Kampf in der Ebene«, ein Stück über den Guerillakrieg mit realistischen Szenen aus dem Tunnelkrieg gegen die Japaner. Diese Szenen würdigte sie besonders, da sie schon selbst durch solche von den Massen gegrabenen Tunnels gekrochen war (sie wurden für künftige Eventualitäten instandgehalten). Aber »Partisanen der Ebene«, ein Stück über ein ähnliches Thema (dessen Verfilmung ich sah), verfehlte diesen Realismus.
Ich fragte Tschiang Tsching, welche Aussichten für eine Wiederaufführung ausländischer Theaterstücke in China bestünden.
Solche Aufführungen hätten ihrer Meinung nach keinen Sinn, antwortete sie. Ausländische Stücke seien selbstverständlich in den dreißiger Jahren beliebt gewesen, und die vorliegenden Übersetzungen hätten nicht ausgereicht, um den Bedarf zu decken. Deshalb seien eine ganze Anzahl von Stücken Bühnenversionen ausländischer Filme gewesen. Der japanische Film »Kindermord« und ein irischer Film, der so ähnlich wie »Schließ deinen Koffer ab« geheißen habe, seien auch in Theaterfassungen erschienen (in beiden hatte Tschiang Tsching die Hauptrolle gespielt). Die erfolgreichsten Aufführungen, unter anderem Ibsens »Nora«, Ostrowskis »Das Gewitter« und Gogols »Der Revisor«, seien jedoch nach den Originaltexten inszeniert worden. Die chinesischen Interpretationen seien hervorragend gewesen, viel besser, als es Aufführungen mit europäischen Schauspielern hätten sein können.
In letzter Zeit war versucht worden, altchinesische Sagenkreise (die seit Jahrhunderten Opernthemen geliefert hatten) ins revolutionäre Theater aufzunehmen. Einige »bürgerliche Bühnenautoren« hatten Teile von »Die Geschichte der drei Reiche« zu einer modernen Oper verarbeitet. Aber Text, Musik und Regieanweisungen waren im Laufe der Jahre ständig revidiert worden, so daß das Endergebnis kaum noch Ähnlichkeit mit dem Original aufwies. Vom Standpunkt der Führung aus war so etwas unerwünscht.
Literarische und musikalische Originalwerke sollten nur mit Genehmigung der Führung bearbeitet und für das revolutionäre Theater eingerichtet werden - und auch dann nur äußerst sorgfältig. Dabei drohte stets die Gefahr, daß Effekte erzielt wurden, die den gewünschten entgegengesetzt waren. Als Tschiang Tsching und andere Mitglieder der Lu-Hsün-Akademie für Literatur und Kunst sich in der Wildnis von Jenan daran machten, revolutionäre Musik zu komponieren, hatten sie keine Vorbilder, kein musikalisches Erbe, aus dem sie hätten schöpfen können. Auch ausländische Musikliteratur stand ihnen kaum zur Verfügung. Deshalb behalfen sie sich mit Volksmusik: Sie sammelten alte Volksweisen, spielten sie auf eigenen Instrumenten und schrieben neue, politische Texte. Aber das war riskant, da die durch solche Melodien bei den Zuhörern hervorgerufenen Assoziationen nicht immer bekannt waren. Einige Musiker, mit denen Tschiang Tsching zusammengearbeitet hatte, hatten beispielsweise das Pech gehabt, Melodien zu übernehmen, zu denen es obszöne Texte gab. Trotzdem hatten sie nicht aufgegeben und nur die Texte geändert. Aber Tschiang Tsching war sich darüber im klaren gewesen, daß es nicht zu vermeiden war, daß sich lüsterne Assoziationen bei den Zuhörern einstellten. Sie selbst sei nie an der Bearbeitung solcher Obszönitäten beteiligt gewesen, stellte sie steif fest.
Dann kam Tschiang Tsching wieder auf das Sprechtheater - ein aus dem Westen importiertes Genre - zurück. Sie sagte, daß die zu bearbeitenden Stücke sich in drei Kategorien einteilen ließen. Zur ersten Kategorie gehörten alle, die offen konterrevolutionär und deshalb hoffnungslos seien. Die Theaterstücke der zweiten Kategorie wiesen gute Motive auf. Sie seien jedoch so primitiv dargestellt, daß eine Bearbeitung sich nicht lohnte. Auch die Stücke der dritten Kategorie enthielten gute Motive. Diese seien aber so subtil ausgeführt (ohne daß die moralische Bedeutung von Maske, Musik und Kostüm offensichtlich würde), daß die meisten Zuschauer die in ihnen enthaltene Lehre nicht begriffen. Stücke aus dieser Kategorie seien am schwierigsten zu bearbeiten.
Ein Beispiel für die erste Kategorie war ein Theaterstück der Dramatikerin Lan Kuang, die einst dem Ensemble des Schanghaier Kunsttheaters für Kinder angehört hatte (»das mit den Trotzkisten verbunden war«, fügte Tschiang Tsching verächtlich hinzu).
Als Tschiang Tsching in der Schanghaier Kulturszene nach Stücken gesucht hatte, die bearbeitet werden konnten, wurde ihr Lan Kuangs »Der letzte Akt« empfohlen. Das Stück spielte in den dreißiger Jahren. Damals hatte die Kuomintang alle politischen Demonstrationen unterdrückt und die revolutionären Schriftsteller und Künstler dazu gezwungen, im Untergrund zu arbeiten. Tschiang Tsching hatte diese Ära mit ihrer kulturellen Subkultur in schmerzlicher Erinnerung. Aber dieses Theaterstück war, wie sie bei einer Aufführung erkannte, auf gefährliche Weise irreführend, da es eine »Parabel von feindlichen Geheimagenten« war. Heutzutage sei ein Stück, dessen »Helden« feindliche Agenten seien, die den Staat bedrohen, den Massen nicht mehr zumutbar (weil sie nur markante Verteidiger der KPCh sehen dürfen). Unmittelbar nach der Vorstellung berichtete sie dem Schanghaier Bürgermeister Ko Tsching-schih, Lan Kuangs Stück sei erbärmlich schlecht. Er ließ es sofort vom Spielplan absetzen.
Ying Schen-tschens kürzlich erschienener Roman »Jugend in den Flammen der Schlacht« warf ähnliche Probleme auf. Er handelte von mehreren KPCh-Verrätern, die in den früher von der Kuomintang kontrollierten Weißen Gebieten arbeiteten. Ying Schen-tschen mußte seinen Roman mehrmals überarbeiten, um ihn auf den jeweils aktuellen politischen Stand zu bringen. Der Roman wurde verfilmt und später vom Autor als Schaohsing-Oper, in der alle Rollen von Frauen gespielt werden, auf die Bühne gebracht. Aber Frauen, die Männer spielen, »verderben ihre Erscheinung«, wandte Tschiang Tsching ein. Und in dieser Schaohsing-Version wurden selbst die japanischen Imperialisten von Chinesinnen dargestellt. Das fand Tschiang Tsching so abscheulich, daß sie das Theater während der Vorstellung verließ. Während der Kulturrevolution wurde Ying Schen-tschen schließlich zu dem Geständnis veranlaßt, daß es reaktionär gewesen sei, »in unserer Zeit« eine Schaohsing-Oper zu schreiben.
»Azaleenberg« entstand in Schanghai als Theaterstück und wurde unter Leitung anderer bearbeitet. (Den Hintergrund bildet ein denkwürdiges Ereignis in der Geschichte des chinesischen Kommunismus: der Herbsternte-Aufstand des Jahres 1927.) Später versuchten einige selbsternannte »Revolutionäre«, aus dem Stück eine Peking-Oper zu machen Tschiang Tschings bevorzugtes Medium. Aber diese Version fiel durch, weil sie nach Tschiang Tschings Meinung »keinen wahrhaft proletarischen Stil« hatte. Die »proletarischen Helden«, die von diesen Leuten zusammengestoppelt wurden, seien nicht von alten Bettlern zu unterscheiden gewesen.
Die Kulturrevolution zeigte der Führung, daß sich zwar die meisten Theaterstücke, aber nicht alle Bühnenautoren retten ließen. Doch China war groß, und ein Mangel an Talenten war gewiß nicht zu befürchten. Niemand (am wenigsten erfahrene Schriftsteller und Künstler) konnte mehr irgendeinen Bereich als seine Domäne beanspruchen - nicht einmal im Bereich der Kultur. Die gegenwärtige Aufgabe des Zentralkomitees in der Theaterreform bestehe darin, als »Verarbeitungsbetrieb« zu dienen. Das Klavierkonzert »Der Gelbe Fluß« war ein Musterbeispiel für eine Musik, die »durch Komiteebeschluß geschaffen« werden konnte - durch Beschluß des ZK oder zumindest seiner Sachverständigen.
Wenn es so schwierig war, das Sprechtheater auf das erreichte revolutionäre Niveau zu bringen - wie stand es dann mit der traditionellen Oper, die jahrhundertelang großen Zulauf hatte?
Tschiang Tsching begann mit einigen Bemerkungen über die esoterischen und elitären Aspekte einiger älterer Opernformen. In ihrer Jugend in Schantung waren viele Kun-tschü-Opern (aus Sutschou stammende konfuzianische Opern für Kenner) aufgeführt, aber nur schwach besucht worden. In den Kun-tschä-Theatern waren nur die ersten Reihen besetzt: hauptsächlich von Professoren und anderen Intellektuellen, die ständig ihre Libretti studieren mußten, um überhaupt zu wissen, was auf der Bühne vorging. Auch in den Pekinger Theatern saßen die Liebhaber in den ersten Reihen und ließen die übrigen Reihen leer (obwohl die dortige Oper weniger esoterisch war und oft bekannte geschichtliche Ereignisse darstellte).
Schanghai bot früher weitere lokale Opern-Varianten. Dazu gehörten die Tien-tsching-Oper, welche bestimmte Merkmale der Tientsin- und der Peking-Oper kombinierte, und die Tsching-kun-Oper, welche mehrere lokale Stilrichtungen in sich vereinigte.
Auch dort war der Besuch schlecht. Um zu verhindern, daß diese Ensembles nach der Befreiung bankrott gingen, zahlte der Staat ihnen Subventionen von 200 bis 300 Yüan pro Jahr. Aber selbst, wenn Freikarten ausgegeben wurden, kam nur wenig Publikum. Hätte sie eine Freikarte bekommen, hätte sie sich ebenfalls geweigert, eine Vorstellung zu besuchen, erklärte Tschiang Tsching nachdrücklich - offenbar in der Absicht, damit die Entbehrlichkeit und Unbeliebtheit des von ihr zerstörten nationalen Theaters zu belegen. Obwohl die meisten Kuntschü-Opern reaktionär und vielleicht auch konterrevolutionär seien, ließen sich einige ihrer Stilmittel noch heute nutzen. Und einige alte Kun-tschü-Melodien hätten in neuen Opern Verwendung gefunden.
Die von Tschiang Tsching geförderten Modellopern kombinierten mehrere lokale Formen. Sie erinnerten an die Schanghai-Oper (die schon in den dreißiger Jahren Hollywood zu imitieren begann) und die Huai-Oper, die sich, ebenfalls in Schanghai entwickelt hatte. Andere Werke, die in den nächsten Jahren auf die Bühne kommen sollten, enthielten Elemente verschiedener Varianten der Peking-Oper (im Stil von Schantung, Kweitschou und der Inneren Mongolei).
Tschiang Tsching erinnerte sich an einen nicht angekündigten Besuch in der Aufführung einer Peking-Oper zu Anfang der sechziger Jahre. Damals hatte sie gerade begonnen, die verschiedenen Opernformen zu begutachten. Das Publikum war wie gewöhnlich nur spärlich erschienen und von der Bühne aus deutlich zu erkennen. (Im alten Theater wurde der Zuschauerraum nicht verdunkelt.) Als der berühmte Schauspieler Ma Tschang-li [26] sie sah, vergaß er plötzlich seinen Text und stand sprachlos da. (Daran erinnerte sie sich mit gespieltem Erstaunen.) Damals war die Qualität der Aufführungen schon so schlecht, daß es kein Wunder war, daß niemand mehr hinging. Weder junge Chinesen noch »ausländische Freunde« seien noch gern in die Oper gegangen, stellte Tschiang Tsching fest.[27] Eine Ausnahme war allerdings ihre Tochter Li Na. Diese war früher eine Opernliebhaberin gewesen. Als gebildete Frau konnte sie die geheimnisvolle Sprache und den subtilen Symbolismus der traditionellen Oper würdigen.
Die meisten Chinesen konnten jedoch nichts damit anfangen - auch nicht mit den »Wasserärmeln« der Frauen, den wallenden Bärten und den anderen historischen Details (analog dem Elisabethanischen Theater, der Commedia dell'arte und natürlich der von den kulturellen Eliten des Westens geschätzten Großen Oper).
Die Entwicklung einer völlig neuen Kunstrichtung ohne Rückgriff auf frühere Formen sei fast unmöglich, stellte Tschiang Tsching fest; sie erfordere peinlich genaue und unermüdliche Arbeit. In dem Bemühen, aus alten Kunstformen neue zu entwickeln, seien die Chinesen auf die gleichen Probleme gestoßen wie die Europäer, die sich von der »höfischen Kunst« lösen wollten und dann feststellen mußten, daß sie weiterhin von ihr abhängig waren. Bei der Wiederverwendung alter Melodien habe die Führung sich von dem Grundsatz leiten lassen, daß Worte und Musik untrennbar miteinander verbunden seien: Seit Menschengedenken seien alle Gedichte Balladen - geschrieben, um gesungen zu werden. Aus diesem Grund enthält das revolutionäre Ballett »Das Rote Frauenbalaillon« Arien aus klassischen Opern. Und die revolutionäre Oper »Ode an die Drachenflußbrigade« sei für traditionelle Instrumente geschrieben worden.
Tschiang Tsching äußerte die Vermutung, Ausländer könnten die Neubearbeitung alter Werke für neue Zwecke als eigenartig empfinden. Aber die Chinesen wüßten, daß sie nicht das einzige Volk waren, das dies tat. Die Historiker müßten begreifen, daß diese neuartigen Opern, deren Elemente aus verschiedenen kulturellen Traditionen stammten, auf realen geschichtlichen Ereignissen basierten - auf der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas. Um sich auf die Entwicklung von Musterwerken vorzubereiten, hatte Tschiang Tsching auch zahlreiche militärgeschichtliche Bücher gelesen. »Mit solchen Zielen vor Augen«, erklärte sie lebhaft, »bereiteten ich und die gewöhnlichen Leute (lao pai hsing) uns vor, noch einmal loszuziehen und Krieg zu führen«.
In der Mitte der sechziger Jahre wurden in den Filmateliers die gleichen Verwüstungen wie im modernen Theater und in der Oper angerichtet. Und bis 1967 wurden alle Filme aus den Kinos zurückgezogen. Tschiang Tsching machte sich nicht die Mühe, einzelne Filme zu zensieren oder sie bearbeiten zu lassen. Musik und Drama können auch losgelöst von der mündlichen Tradition als Literatur überleben. Sie müssen nicht aufgeführt werden. Aber Filme sind wie Gemälde oder Skulpturen transportierbare Gegenstände. Waren die Filme einfach vernichtet oder für die Zukunft eingelagert worden? Auf diese Frage gab es keine Antwort.
Nach ihrem Erfolg mit den Festspielen der Peking-Oper im Jahre 1964 begann Tschiang Tsching mit der Planung eines Filmfestivals, das ein Jahr später stattfinden sollte. Ihr Ziel war es auch diesmal, die Unzulänglichkeiten der gegenwärtigen Filmproduktion vor einem nationalen Forum aufzuzeigen und neue Richtlinien zu erlassen. Ihre Bemühungen wurden von Anfang an durch Kulturkommissar Tschou Yang und seine Phalanx von Filmproduzenten behindert. Im Jahre 1966 konnte die »Rote Fahne« jedoch berichten, Tschiang Tsching habe »das Todesurteil über die kapitalistische Herrschaft in den Filmkreisen gesprochen«. »Kreative Monologe« wurden als »nihilistisch und dekadent« verurteilt. Das »bürgerliche System der Konzentration auf den Regisseur« wurde abgeschafft und durch das »Parteisystem des demokratischen Zentralismus« ersetzt.[28] Während der hitzigen Diskussion, die inzwischen von Maos Gefolgsleuten beherrscht wurde, wagte es kein Organ der KPCh oder der Roten Garde, zu schreiben - sei es in guter oder in böser Absicht - daß Tschiang Tsching, die neue Beherrscherin der Filmkunst, einst ein Filmstar gewesen war.
Filmschauspieler, Produzenten und Regisseure waren von ihr kaltgestellt oder vernichtet worden. Wie wollte sie in diesem zutiefst demoralisierten Sektor einen neuen Anfang machen, vertrauensvoll mit Technikern zusammenarbeiten und die loyalen Talente um sich scharen, die sie brauchte, um die Kameras wieder surren lassen zu können?
Gute Filme zu machen sei noch mühsamer, als die Oper zu reformieren, sagte Tschiang Tsching. Die Produktion eines Films warf vielfältige, auch technische Probleme auf, und Tschiang Tsching hatte keine eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiet. Ihre Versuche, die Industrie zu kontrollieren, wurden fast überall von ihren Gegnern abgeblockt. Ein Beispiel dafür: In Pao-ting in der Provinz Hopeh befand sich eine Entwicklungsanstalt, in der wertvolle Negative eines von ihr genehmigten Filmprojekts lagerten. Während der Kulturrevolution versuchte sie, die Kontrolle über dieses Labor und sein Filmarchiv zu behalten. Aber der Feind (Lin Piao und Konsorten) verabscheute ihre Projekte so sehr, daß er versuchte, das Archiv mit Handgranaten zu zerstören. Wäre dieser Anschlag geglückt, dann wären alle ihre neuen Filmarbeiten verloren gewesen. Da es ihr nicht gelungen war, die sich immer wieder ereignenden Sabotageakte zu unterbinden, wandte sie sich hilfesuchend an Tschou En-Iai. Doch auch ihm gelang es nicht, den ständigen Behinderungen einen Riegel vorzuschieben.
Nur um Tschiang Tsching zu ärgern, stifteten »Lin Piao und seine Umgebung« einige Filmtechniker dazu an, den Spielfilm, den sie entwickeln ließ, so zu verändern, daß er einen unnatürlichen rötlichen Farbton bekam. Diese Sabotage der Filmentwicklung provozierte schließlich offene Kämpfe in der Bevölkerung des Kreises Pao-ting.
Einmal lud Tschiang Tsching drei Kameramänner und Regisseure ein, sie zum Sommerpalast zu begleiten, wo sie einen Tag lang filmen wollten. Als Übungsobjekt diente ihnen Tschiang Tschings Schützling, der international bekannte Tischtennismeister Tschuang Tse-tung. Als sie einige Tage später erneut zusammenkamen, um die Ergebnisse zu vergleichen, stellte sich heraus, daß in den Filmen der anderen die Rot- und Grüntöne fehlten, während ihr privat entwickelter Film völlig natürliche Farben aufwies. Nach Tschiang Tschings Überzeugung war dies ein weiterer Beweis für Sabotage in der Entwicklungsanstalt.
»Na, Genossin Tschiang Tsching, haben Sie's schon geschafft, neue Filme zu drehen?« fragten Lin Piao und seine Leute grinsend, während sie hektisch arbeitete. Sie wußten, daß sie Mißerfolge hatte, und ihre Stichelei war genau das, was Tschiang Tsching am wenigsten ertragen konnte.
Ihre Filmprojekte seien weiterhin auf raffinierte Weise sabotiert worden, stellte sie fest. Dies habe bereits die bevorstehenden Kämpfe angekündigt.
Andere Länder hätten in der Filmkunst große Fortschritte gemacht, und die Chinesen könnten viel von ihnen lernen, bemerkte Tschiang Tsching mehrmals. Hätten wir mehr Zeit gehabt, hätten wir uns gemeinsam einige ihrer Lieblingsfilme ansehen können. Sie erwähnte besonders den mexikanischen Film »Kaltes Herz«. Obwohl der Filminhalt reaktionär war, weil er den Kolonialismus verniedlichte, waren die technischen Probleme von Licht und Farbe hervorragend gelöst. Die führenden Genossen hatten allerdings nie die Originalversion gesehen, denn Tschiang Tschings drei Kopien waren chinesisch synchronisiert. Eine Kopie lagerte beim Zentralkomitee, die zweite in Schanghai und die dritte mit Sondererlaubnis in Peking (möglicherweise in ihrem eigenen Filmarchiv).
Als Tschiang Tsching dazu kam, eigene Filme zu machen, war das Hauptproblem, geeignete Talente zu finden. Sie mußte Schauspieler dazu überreden, ihre Karriere - wenn nicht sogar ihr Leben - zu riskieren, um ihrer neuen revolutionären Linie zu folgen. Schauspieler seien »willensstark« und nicht leicht auf eine andere Seite zu ziehen, sagte sie. Ein Beispiel dafür war der Schauspieler Tung Hsiang-ling, der gegenwärtig die Rolle des Helden in der revolutionären Oper »Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert« spielte. (Sie kam an dieser Stelle vom Thema ab, indem sie berichtete, seine ältere Schwester, Tung Tschih-ling, trete ebenfalls in Peking-Opern auf. Deren Privatleben sei früher geradezu berüchtigt gewesen eine »komplizierte Geschichte«. Auch der Bruder habe sich in seiner Jugend einen Ruf als Herzensbrecher gemacht.)
Tung Hsiang-ling war ihr zuerst aufgefallen, als sie in Peking und Schanghai nach Talenten suchte. Nur wenige unter den Schauspielern, die sie begutachtete, verfügten zugleich über Jugend, gutes Aussehen und Talent für Gesang, Schauspiel und Tanz. Hsiang-ling war wegen seiner Stimme bekannt, aber Tschiang Tsching wußte nicht, ob er auch tanzen konnte. Um ihn auf die Probe zu stellen, gab sie ihm eine Nebenrolle in »Geschichte einer Roten Signallaterne«, einem Stück, das damals gerade in eine revolutionäre Oper umgearbeitet wurde. Seine Schwester spielte die Großmutter Li, und ihre Leistung war höchst beeindruckend. Aber sie sei hingegangen, um Hsiangling zu begutachten, sagte Tschiang Tsching. (Sie entschuldigte sich für diese neuerliche Abschweifung. )Tung Hsiang-lings Auftritt gefiel ihr. Nach der Vorstellung besuchte sie ihn in seiner Garderobe, um ihn zu fragen, ob er ein Amateur oder ein Berufsschauspieler sei.[29] Tung war so überrascht, daß er nur hervorbrachte, er liebe die Peking-Oper und beherrsche Salti (was eine Voraussetzung dafür war, es mit der Opernakrobatik aufnehmen zu können). Diese peinliche Begegnung, die Tschiang Tsching jetzt komisch erschien, überzeugte sie davon, daß er ein vielversprechender Schauspieler war.
Um ihn besser beurteilen zu können, bat sie Tschang Tschun-tschiao, ihren guten Freund in Schanghai, sich mit Hsiang-ling in Verbindung zu setzen und ihn auszuhorchen. Von Tschang erfuhr sie, daß er ein guter Sänger und Tänzer war. Vor allem war er bereit, seine beruflichen und politischen Bindungen zu lösen und exklusiv mit Tschiang Tsching zusammenzuarbeiten.[30] Sie war begeistert und belohnte ihn mit der Rolle des Yang Tzejung, des Helden der Musteroper »Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert«, mit deren Neubearbeitung sie damals intensiv beschäftigt war.
Als die »schlechten Elemente« der 16. Mai-Clique entdeckten, daß der hochgeschätzte Tung Hsiang-ling sich auf Tschiang Tschings Seite geschlagen hatte, faßten sie den Plan, ihn zu »ergreifen« - in ihre Obhut zu nehmen - um ihn daran zu hindern, mit ihr zusammenzuarbeiten. Tschiang Tsching, die sich in die Defensive gedrängt sah, teilte diesen Elementen mit, der Schauspieler Tung Hsiang-ling, der bisher nur seinem eigenen »Tung-Stil« treu gewesen sei, habe sich jetzt ihr verpflichtet, um Revolution zu machen. Niemand dürfe ihren Schauspieler anrühren! warnte sie streng.
Doch die 16. Mai-Elemente taten weiterhin alles, um Tung Hsiang-ling das Leben schwerzumachen. Ihre Strategie bestand darin, ihn nach Peking einzuladen, nachdem sie zu erkennen gegeben hatten, daß er dort besondere Gefälligkeiten von ihnen erwarten könne. Was vielleicht für seine Schwester galt, die als Schauspielerin leicht durch dieses oder jenes zu verführen war, traf nicht auf Hsiang-ling zu - er hatte mehr Charakter. Nach einiger Zeit nahmen er und sein Opernensemble die Einladung nach Peking an. Tschiang Tsching wollte ihnen dort einige Filme vorführen und Probeaufnahmen machen, die sie beaufsichtigen würde. Aber ihre Gegner sorgten dafür, daß die Schauspieler die gewöhnlich für ihre Berufsgruppe vorgesehenen Annehmlichkeiten entbehren mußten. Tschiang Tsching hörte, daß ihre Unterkunft und das Essen miserabel seien.
Nach ihrer Rückkehr nach Peking meldete sie diese Schikanen dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten Hsie Fu-tschih (der auch für die öffentliche Sicherheit zuständig war). Sie fuhren gemeinsam zu dem Filmatelier, in dem das Ensemble untergebracht war, inspizierten die Schlafsäle und sorgten für bessere Unterkünfte, schmackhafteres Essen und Busse zur Personenbeförderung. Tschiang Tsching vergewisserte sich persönlich, daß die Schauspieler die warmen Mahlzeiten bekamen, ohne die ihre Stimmen gelitten hätten.
Später sollte »Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert« verfilmt werden. Während der Aufnahmen schalteten ihre Feinde plötzlich den Strom in den Filmateliers ab und sorgten dafür, daß keine warmen Mahlzeiten mehr geliefert wurden. Tschiang Tsching war wütend und beschloß, ihr Projekt unter militärischen Schutz zu stellen. Auf ihr Ersuchen hin wies Ti Fu-tsao vom Staatsrat sofort die VBA-Einheit 8341 (Maos in Peking stationierte Leibwache) an, die Schauspieler zu beschützen.
Da Tschiang Tsching nicht mit erfahrenen Drehbuchautoren, Produzenten, Regisseuren und Schauspielern zusammenarbeiten konnte (die meisten von ihnen waren in Ungnade gefallen), blieb ihr nichts anderes übrig, als vertrauenswürdige Darsteller aus Oper und Ballett auszuwählen und zu versuchen, Filmschauspieler aus ihnen zu machen. Die damit verbundenen Probleme waren erschreckend. Die Schauspieler waren es gewohnt, mit der für die Opernbühne nötigen Kühnheit und Übertreibung zu spielen. Diese Posen wirkten aber im Film lächerlich. Der »Revisionismus«, dem sie in der Vergangenheit ausgesetzt gewesen seien, habe sie »schreckliche Dinge« gelehrt, behauptete Tschiang Tsching, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Und da sie in der Zeit nach der Befreiung aufgewachsen waren, hatten sie wenig Gelegenheit gehabt, sich die richtige Schauspieltechnik aus ausländischen Filmen anzueignen. Als die Schauspieler erstmals vor die Jupiterlampen und Kameras traten, waren sie sichtlich befangen, und Tschiang Tsching mußte sie aufmuntern. »Ihr braucht keine Angst vor einem Mißerfolg zu haben«, versicherte sie ihnen, »die Parteiorganisation steht hinter euch.« Um ihre Ausbildung zu Filmschauspielern zu beschleunigen, ließ sie ihnen mehrere ausländische Filme aus ihrem privaten Filmarchiv vorführen. Dabei sollten sie sich fragen: »Wovon können wir lernen, und wo können wir Fehler vermeiden?«
Tung Hsiang-ling war einer der ersten bekannten Schauspieler, der auf Tschiang Tschings Linie einschwenkte, um Revolution zu machen. Andere folgten rasch.
Zu ihnen gehörten Liu Tsching-tang, der hervorragende Ballettänzer, dem sie die Hauptrolle in »Das Rote Frauenbataillon« gab, Tschien Hao-Iiang, der Star von »Die Geschichte einer Roten Signallaterne«, und Tan Yüan-schou, der die Hauptrolle in »Schatschiapang« spielte. Als der berühmte Ma Tschang-li zu ihr stieß, belohnte Tschiang Tsching ihn mit einer großen negativen Rolle - der des japanischen Gendarmen in »Schatschiapang«. Sie war sich jedoch ständig bewußt, daß die Künstler, die loyal zu ihr hielten, in ständiger Gefahr schwebten. Lin Piaos 16. Mai- Clique verfolgte ihre Mitarbeiter unaufhörlich. Es gelang Tschiang Tsching, Liu Tsching-tang, Tschien Hao-Iiang und Tan Yüan-schou stets rechtzeitig zu warnen und sie vor Brutalitäten zu schützen. Doch der alte Ma Tschang-li wurde überfallen und verprügelt.
Mit diesen und anderen Schauspielern, deren Karriere sie eine neue Richtung gab, setzte Tschiang Tsching ihre Filmexperimente fort. Andere Akteure stießen später zu ihr. Männer mit großer literarischer Begabung - Tschien Hao-liang, Liu Tsching-tang und Yü Hui-yung [31] - überredete sie dazu, ihr bei der Abfassung von Drehbüchern zu helfen. Dies war für alle eine völlig neue Aufgabe. Aber ihre Unerfahrenheit als Drehbuchautoren, die mangelhaften schauspielerischen Leistungen vor der Kamera und bösartige Behinderungen von seiten ihrer Feinde führten dazu, daß Tschiang Tsching während der Kulturrevolution nicht einmal einen einzigen guten Spielfilm zustandebrachte.
Da sie schnelle Erfolge sehen wollte, wandte sie sich dem Fernsehen zu: dem Medium, das ihre Werke der größtmöglichen Zahl von Zuschauern nahebringen konnte. Tschiang Tsching begann mit einer sorgfältigen Analyse aller Programme des staatlichen Fernsehens. Dann legte sie den Verantwortlichen eine Liste von Punkten vor, die ihrer Meinung nach zu kritisieren waren. Ihre Beurteilungen zwangen die führenden Funktionäre, das technische Personal und die Schauspieler dazu, an die Öffentlichkeit zu treten und in den genannten Punkten Selbstkritik zu üben. Tschiang Tsching lobte sie daraufhin herzlich und forderte sie auf, sich mit ihr zusammenzuschließen, um die Revolution ins Staatsfernsehen zu tragen. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis die Verantwortlichen einsahen, daß es richtig war, ihre Musterwerke in Rundfunk und Fernsehen zu übertragen und weitere revolutionäre Programme einzuführen. Die erste Fernsehproduktion von »Schatschiapang« und die Produktion weiterer Musterwerke war sehr aufregend für Tschiang Tsching. Um ihre Freude mit anderen zu teilen, lud sie zahlreiche Filmschaffende und Darsteller der Peking-Oper in die Große Volkskongreßhalle ein, um ihnen zu demonstrieren, wie man vom Fernsehen lernen könne. Diese Feier zeigte der Öffentlichkeit, daß sie eine weitere Blockade die von den widerstrebenden Chefs des Fernsehens errichtet worden war durchbrochen hatte. »Ich habe ihr Monopol zerschmettert!« frohlockte sie.
Was den Film betraf, so produzierten sie und ihre Mitarbeiter nach drei Mißerfolgen in drei Jahren endlich eine annehmbare Fassung der Oper »Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert«. Alle Szenen wurden in Peking gedreht, obwohl die meisten Darsteller und das Bühnenpersonal ihre Wohnungen in Schanghai (wo das Ensemble entstanden war) beibehielten. Die Schauspieler identifizierten sich mit dem Projekt in Peking so, daß sie es häufig ablehnten, von Tschiang Tschings Erlaubnis Gebrauch zu machen und ihre Familien in Schanghai zu besuchen. Sie bestanden darauf, bei Tschiang Tsching in Peking zu bleiben, bis diese mit dem Film zufrieden war.
Selbst jetzt, meinte Tschiang Tsching, seien die Filme mangelhaft. Die Farbabstimmung sei unzulänglich, und die Kameraführung müsse verbessert werden. Die Schauspieler wirkten auf der Bühne noch immer erheblich besser als auf der Leinwand.
Um die tiefgreifenden menschlichen Wandlungen der sechziger Jahre zu verstehen, müsse ich begreifen, sagte Tschiang Tsching, daß diese Darsteller - ebenso wie ihre weniger berühmten Kollegen, die sich entschlossen, ihrer Linie bei der Reform des Theaters zu folgen - in der alten Gesellschaft aufgewachsen seien. Als Tschiang Tsching sie kennenlernte, waren sie ideologisch keineswegs fortschrittlich. Doch wichtig sei nur, daß sie ihre Botschaft erfaßt hätten und ihr durch unruhige, gefahrvolle Jahre gefolgt seien. Die großen Risiken, die sie auf sich nahmen, hätten ihren Gesinnungswechsel beschleunigt. Und da die Lage sich wieder entspannt hätte, seien sie ihr und ihrer Lehre treu geblieben.
Um mir zu zeigen, wie diese revolutionären Veränderungen ermöglicht worden waren, vermittelte mir Tschiang Tsching Gespräche mit Tschien Hao-liang, Tung Hsiang-ling und anderen führenden Schauspielern und Tänzern. Diese Künstler würden mir, wie sie sagte, nun ihre Seite der Geschichte erzählen.