Wenn du den Tiger nicht in seinem Lager
aufspürst,
wie willst du dann den jungen Tiger
fangen?
Tschiang Tsching zitiert vor den Darstellern der Oper
»Die Rote Signallaterne« ein altes chinesisches Sprichwort.
Dem revolutionären Theater kommt es nicht darauf an, der Masse Unterhaltung zu bieten. Hier geht es in erster Linie darum, die Ideologie in Aktion zu zeigen, den Aufstand der Arbeiterklasse und den Triumph der Führung der Kommunistischen Partei. Dabei werden auch die Höhepunkte der Revolutionsgeschichte dargestellt, gute und schlechte Verhaltensmuster werden dem Volk vorgeführt. Der Gründergeneration, zu der sich Tschiang Tsching rechnete, kam es darauf an, die simplifizierte offizielle Geschichte in eine Mythologie nationalen Ursprungs zu verwandeln und ein neues Pantheon aus Helden und Heldinnen der nationalen Kultur zu schaffen. Solche Ideen wurden dem Volk zum erstenmal durch die revolutionäre Oper und das revolutionäre Ballett vermittelt. Eine weniger deutlich ausgesprochene, aber doch wichtige Absicht war es zu zeigen, daß das physische Überleben im Kriege gegenüber der subtileren Frage nach dem psychischen Überleben den Vorrang hatte - der Frage, wie das Individuum in einer Zeit andauernder Umwälzung seine geistige Gesundheit und seine Selbstachtung bewahren konnte. Für das Theater wie auch für das Leben, das es auf der Bühne darstellte, war das Grundthema der Dramen von Äschylos, der Rachegedanke, von fundamentaler Bedeutung, ein emotionaler Aspekt, der in den politischen Theorien von Marx, Lenin und Mao vernachlässigt worden war.
Die dem neuen Drama zugrundeliegende marxistische materialistische Geschichtsauffassung stellt die Vergangenheit nicht als eine Reihe von willkürlichen Zufällen dar, sondern als eine zu einem bestimmten Ziel führende, zusammenhängende Struktur, und läßt daher die Faszination und den Schrecken der Unsicherheit außer acht. Eine Geschichtsbetrachtung im Sinne einer solchen Erlösungstheorie leugnet die Realität der persönlichen Tragik, eine Vorstellung, die der chinesischen Kultur fremd ist. Im neuen Theater wie in der Politik erleben diejenigen, die für die große Sache sterben, eine Auferstehung als Märtyrer; bei Theateraufführungen und politischen Massenkundgebungen, zu denen das Volk von Zeit zu Zeit aufgerufen wird, werden sie immer wieder von neuem gefeiert.
Das Rollenspiel, das im gesellschaftlichen Leben der Chinesen seit langer Zeit eine fundamentale Bedeutung besitzt, hat die Wirkungsmöglichkeiten des Theaters als eines politischen Instruments gefördert. In dem traditionellen Clansystem übernahm jedes Mitglied der Großfamilie eine Reihe von Aufgaben oder Rollen, die jeweils eine eigene Bezeichnung trugen. Unter dem revolutionären Regime wurden die Rollen innerhalb der Familie durch zahlreiche politische Rollen ersetzt oder verdrängt - durch die Mitgliedschaft in Jugend-, Frauen- und Arbeiterorganisationen, in der Partei, den revolutionären Ausschüssen usw. Gesellschaftliche Beziehungen bestehen daher mehr zwischen den einzelnen Rollen, die reguliert werden können, als zwischen Individuen, die sich aus der Ferne nicht so leicht überwachen lassen.
Diese neue Möglichkeit einer zentral gelenkten Kontrolle der sozialen Beziehungen ist durch die Bühne noch weiter entwickelt worden, wo die von den Schauspielern übernommenen dramatischen Rollen politische Archetypen darstellen sollen. Von der Bühne verbannt ist die alte hierarchische Gesellschaft, die von prächtig kostümierten Aristokraten repräsentiert wurde. An ihre Stelle ist eine Reihe von Arbeiter-Typen getreten, die in stilisierter proletarischer Aufmachung erscheinen. Ihre Hauptfeinde sind die Aristokraten, vor allem die Großgrundbesitzer von einst, und die fremden Eindringlinge, in erster Linie die Japaner. Obwohl der Klassencharakter des revolutionären Theaters und Lebens eine radikale Veränderung erlebt hat, gibt es immer noch die Achtung vor hervorragenden Einzelpersönlichkeiten sowohl im praktischen Leben als auch in der Kunst. Das didaktische Element der traditionellen Oper ist von der modernen Bühne übernommen worden. Tschiang Tschings proletarische Archetypen dienen als Modelle für die gesamte Bevölkerung. Ebenso wie das wirkliche Leben die politische Kunst zu imitieren hatte, so gerieten auch Schauspieler und Publikum in den Sog der rigorosen politischen Dialektik, die Kunst und Leben beherrschte. Eine Schauspielerin, die die weibliche Hauptrolle der Tie-mei in »Die Rote Signallaterne« übernommen hatte, wurde dazu veranlaßt, für die »Rote Fahne« zu schreiben:
- Wenn man als Schauspieler die Rolle eines Helden übernimmt, dann lernt man auch von diesem Helden. Um einen Helden auf der Bühne richtig darzustellen, muß man zugleich von diesem Helden etwas lernen und seine Eigenschaften ins praktische Leben übernehmen ... Um die Maotsetungideen auf der Bühne zu propagieren ... verringere ich einfach den Abstand zwischen mir selbst und den proletarischen Helden im Stück.[1]
Die Schauspieler, die in der alten Gesellschaftsordnung auf der untersten Stufe standen, wurden in der neuen zu den Verkündern der offiziellen Lehre. Früher waren die Darsteller meist Analphabeten, Schmierenschauspieler oder Angehörige von Wanderzirkussen. Es hat allerdings zu allen Zeiten große Künstler unter ihnen gegeben, die Reichtum und soziales Ansehen erwarben. Nach der Befreiung wurden die Theater ebenso wie andere private Einrichtungen allmählich verstaatlicht. Die Schauspieler erhielten Wohnungen, ein festes Gehalt, und man wies ihnen die Bühnen zu, auf denen sie auftreten durften. Doch der Preis für die soziale Sicherheit war die (oft nicht beachtete) Verpflichtung, nur Theaterstücke aufzuführen, deren Texte vom Zentralkomitee genehmigt, später auch zur Verfügung gestellt wurden. Im Gegensatz zu früher, als es den Schauspielern freistand, auf der Bühne zu improvisieren, verlangte man von den »befreiten« Darstellern, daß sie sich wörtlich an den von der Partei genehmigten Text hielten.
Tschiang Tschings frühere Beziehungen zum Theater hatten kaum etwas mit der Rolle zu tun, die sie in der Kulturrevolution übernommen hatte. Inzwischen war sie längst keine Schauspielerin mehr, und in der Öffentlichkeit, auf die sie einen so beherrschenden Einfluß ausübte, gab es keinen offiziellen Nachweis mehr über ihre Karriere als Schauspielerin. Ihr politisches und künstlerisches Talent in Verbindung mit ihrer Beziehung zum Vorsitzenden machte sie eine Zeitlang zur Primadonna auf der Bühne der Geschichte und zur Kommissarin für Kultur (wenn auch nur de facto), deren Aufgabe es war, die Vorbilder zu schaffen, denen die Massen nacheifern sollten. Die Schauspieler, die sie betreute, agierten nicht nur auf der revolutionären Bühne, sondern auch in der revolutionären Geschichte. Bis Mitte der siebziger Jahre sah man überall in den Großstädten und auf dem Lande die riesigen Photos der Kulturhelden und -heldinnen, der neuen Stars des Überbaus. Ihre überdimensionalen Gesichter waren die einzigen, die neben den würdigen Porträts der Gründerväter des Kommunismus, Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao, auftauchten.
Der revolutionäre Heroismus verlangte, daß auf Literatur im eigentlichen Sinne weitgehend verzichtet wurde - dazu gehörte auch ein großer Teil der bedeutendsten klassischen und modernen chinesischen Literatur. Auf der heutigen Bühne ist die gesellschaftliche Satire fast vollständig verschwunden, deren Meister früher das Idol von Tschiang Tsching, Lu Hsün, gewesen war. Die Parteiführung hatte zwingende Gründe, die Satire zu unterdrücken und sie nur als Waffe gegen die offensichtlichen Klassenfeinde - die tyrannischen Grundbesitzer, KMT-Machthaber und japanische Imperialisten - zuzulassen. Bis in die jüngste Zeit beschäftigten sich die Satiriker in erster Linie mit den Armen und den Mächtigen; aber das heutige Regime schützt beide vor Hohn und Spott; die Armen, die mit den Massen gleichzusetzen sind, müssen verherrlicht werden, und die Mächtigen, das heißt die politischen Führer, werden gepriesen. Damit hat Tschiang Tschings Revolutionierung des Theaters die Armen davon befreit, Zielscheibe des Spottes zu sein, und die Mächtigen davor geschützt, daß ihre verhängnisvollen Irrtümer aufgedeckt wurden.
Als Tschiang Tsching die revolutionären Maßstäbe der neuen politischen Ordnung verschärfte, war sie sich der Tatsache bewußt, daß es notwendig sei, im Volk und seinen Führern das heroische Bewußtsein zu aktivieren. Wenn die Massen sich heldenhaft erwiesen, so würde dies von oben belohnt werden. Offenbar genoß sie es auch, daß das Volk sie selbst als Heldin betrachtete. 1966 sagte sie: »Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, Gestalten und Ereignisse zu beschreiben, die dem wirklichen Leben entnommen sind. Noch weniger dürfen wir einen Helden erst dann beschreiben, wenn er gestorben ist. Es gibt in Wirklichkeit mehr lebende als tote Helden.«[2] Im folgenden Jahr wurde sie von revolutionären Studenten der Neuen Peking-Universität als »proletarische Heldin«, die »beste Schülerin« des Vorsitzenden Mao, die »die Strahlen der Roten Laterne« überallhin leuchten läßt, bezeichnet.[3]
Doch gerade die Macht des Vorbilds, die ein großes Publikum von der Bühne und damit vom Zentralkomitee aus manipulierte, war Mao Tse-tung nicht geheuer. Als Anhänger des demokratischen Zentralismus wußte er, daß eine starke Regierung auf die lokale Initiative als Gegengewicht zur zentralen Kontrolle nicht verzichten kann. Auf einer Konferenz der Parteisekretäre im Jahr 1958 schalt er seine Zuhörer:
- Jede Provinz braucht einen oder zwei Männer wie Marx oder Lu Hsün. Ihr solltet Artikel schreiben. Jeder von euch, der jünger ist als sechzig Jahre, sollte schreiben. Jede Provinz sollte Theoretiker ausbilden. Wir bilden Schauspieler, Schauspielerinnen und Maler aus, aber keine Theoretiker. Das ist ein Mangel im System. Ihr verlaßt euch auf die Zentralregierung, aber die Zentralregierung hat euch nie verboten, selbständig etwas zu tun.[4]
Wieviel Initiative würden die Anhänger von Tschiang Tsching zu übernehmen wagen, wenn sie mit mir im Rahmen ihres Tätigkeitsbereichs über sie sprachen?
Bei einem Essen in der Großen Halle bezeichnete Tschiang Tsching ihre revolutionäre Oper »Die Rote Signallaterne« als eine »Tragödie«, die zeige, wie sich Angehörige von drei Generationen einer Familie von den zwanziger Jahren bis zum Krieg mit Japan im Kampf gegen die japanische Aggression »heroisch geopfert« hätten. Die Oper zeige auch »die von unserer Partei geführte 8. Route-Armee«, Untergrundarbeit in den von den Weißen beherrschten Gebieten, bewaffnete Kämpfe und Soldaten der 8. Route-Armee bei der Rettung einfacher Menschen, die außerhalb des Stützpunktgebietes der Armee für die Partei arbeiteten.
Nach dem Essen wurden wir in das wie durch ein Wunder bis auf den letzten Platz gefüllte Tien-tschiao-Theater gebracht, wo die Zuschauer mehr als eine Stunde in glühender Hitze auf uns hatten warten müssen. Ihres großen Auftritts bewußt betrat Tschiang Tsching das Theater. Die erwartungsvolle Stille wurde durch donnernden Applaus unterbrochen. Der Scheinwerferkegel beleuchtete sie von oben. Sie lächelte strahlend, hob die Arme und erwiderte selbst mit Klatschen den Applaus.
Als es im Zuschauerraum dunkel geworden war, plauderte Tschiang Tsching, die links neben mir Platz genommen hatte, mit leiser Stimme über die Krisen bei den Probeinszenierungen an der Oper während der Kulturrevolution. Um ihre Schauspieler vor Vergeltungsmaßnahmen ihrer Feinde zu schützen, brachte sie sie in sicherer Entfernung von Peking unter und blieb dort in ihrer Nähe. Premierminister Tschou rief sie fast täglich an, um sie über die Vorgänge in der Hauptstadt auf dem laufenden zu halten. Im Verlauf von öffentlich abgehaltenen Proben wurde der Text der »Roten Laterne« ständig revidiert und geglättet, und das Stück fand immer mehr Anklang. Am besten gefielen den Zuschauern die dramatischen Posen, die von der alten Oper übernommen worden waren. Manchmal erregten sich die Leute so sehr, daß sie und ihre Mitarbeiter sie beruhigen mußten. Ihr wichtigster Mitarbeiter, Tschien Hao-liang (den sie und das Volk nur Hao-liang nannten) führte Buch über die Fortschritte und schickte regelmäßig Meldungen an die anderen führenden Genossen in Peking. Obwohl der Premier zunächst an dem Erfolg ihres Projekts gezweifelt hatte, kam er, um sich eine neue Version der Inszenierung anzusehen, und erklärte, sie habe ihm gefallen. Allmählich gewannen sie und ihre Leute mehr Selbstvertrauen, und das veranlaßte sie weiterzuarbeiten.
Der Vorhang hob sich. Die drei Hauptdarsteller sind jeweils typische Vertreter ihrer Generation, die die Geschichte der KPCh vor der Befreiung miterlebt haben. Li Yü-ho (gespielt von Hao-liang), ein Weichensteller bei der von den Japanern kontrollierten Eisenbahn, ist der klassische proletarische Held der zweiten Generation. Seine Adoptivmutter, Großmütterchen Li, symbolisiert die erste Generation, und seine siebzehnjährige Adoptivtochter Tie-mei, die während des Eisenbahnerstreiks im Jahr 1923 beide Eltern verloren hat, ist die ansprechende Vertreterin der jüngsten.
Als die Japaner in Nordchina einfallen, wird Li Yü-ho ein Geheimschlüssel anvertraut, den er den kommunistischen Guerillas in den Bergen überbringen soll. Ein anderer untergetauchter Kommunist, der von Hatoyama, dem Chef der japanischen Militärpolizei gefoltert wird, verrät Li Yü-ho. Dieser wird nun polizeilich überwacht, bedroht und bestochen, weigert sich aber, auf die Forderungen der Japaner einzugehen. Seine Standhaftigkeit erzürnt Hatoyama, der alle drei Mitglieder der Familie festnehmen und foltern läßt. Li Yü-ho und Großmütterchen Li werden hingerichtet, weil sie den Geheimschlüssei nicht preisgeben wollen. Die überlebende Tochter Tie-mei »verwandelt Schmerz in Stärke« und schwört im Namen der Partei Rache. Mit Unterstützung ihrer Nachbarn überlistet sie die Polizeispitzel und entkommt. Sie ergreift ihren einzigen Besitz, die rote Signallaterne ihres zu Tode gefolterten Vaters, das Symbol der nie endenden Revolution, und erfüllt seinen Auftrag. Stellvertretend für ihren toten Vater bringt sie den Guerillas in den Bergen den Geheimschlüssel und wird dadurch zu seiner revolutionären Nachfolgerin.
Während wir die fünfte Szene erleben, in der Großmütterchen Li eine ergreifende Arie singt und dabei die Geschichte vom Martyrium der einzelnen Mitglieder der Familie Li erzählt (Tschiang Tsching trug ursprünglich den gleichen Familiennamen), stiegen Tschiang Tsching die Tränen in die Augen und liefen ihr die Wangen hinunter. Während sie sich das Gesicht mit einem weißen Taschentuch abtupfte, zählte sie die Namen von sechs Mitgliedern der Familie des Vorsitzenden Mao auf, die »ihr Leben für die Revolution hingegeben haben«. Sie sagte: »Jedesmal, wenn ich diese Opern sehe, muß ich weinen. In seinem Gedicht >Gekommen nach Schao-schan< hat der Vorsitzende Mao geschrieben: >Weil sie sich opfern, opfern zu vielen, erstarkt ihr Wille, / wagt Befehle an Sonne und Mond: schafft neue Tage.<« Wenn ich die Geschichte der Chinesischen Kommunistischen Partei kennenlernen wolle, so fuhr sie nüchterner fort, dann sollte ich mich auf die Prosaschriften und die Lyrik des Vorsitzenden Mao konzentrieren, die davon eine klare Vorstellung vermittelten.
In der Pause gab sie der Dolmetscherin Hsü Erh-wei, die hinter uns saß, ihr Programm und bat sie, den Titel des Dramas »Hung teng tschi« in der englischen Übersetzung aufzuschreiben. Mit großen Druckbuchstaben schrieb sie den englischen Titel hin und gab Tschiang Tsching das Programm zurück, die begeistert jeden einzelnen Buchstaben nachmalte. »Wie spricht man das aus?« fragte sie Hsü. Ihre Augen folgten den Bewegungen der Lippen von Hsü, als sie langsam sagte: »Die Rote Laterne«.
An mich gewandt fragte sie: »Was bedeutet >die<?«
»Eigentlich gar nichts,« warf Hsü dazwischen.
»Dann ist es ein leeres Wort!« schloß Tschiang Tsching und bezog sich damit auf bestimmte bedeutungslose Artikel im klassischen Chinesisch (bei einer anderen Gelegenheit gestand sie, es fiele ihr schwer, diesen esoterisehen Stil zu lesen).
Über die spannungsgeladene Szene, in der Li Yü-ho seine Mutter im Gefängnis besucht, sagte sie: »Da er selbst eben erst aus dem Gefängnis entlassen wurde, müßten seine Kleidung und sein Haar eigentlich unordentlich sein. Weil er aber bald zum Märtyrer werden wird, lassen wir ihn sauber und ordentlich gekleidet, weiß und rein, auftreten, denn er muß ein würdiges Bild abgeben. Wir halten nichts vom Naturalismus.«
In der alten Oper, fuhr sie fort, seien die Schauspieler buchstäblich und im übertragenen Sinn von Gongs und Trommeln überspielt worden. Obwohl diese Instrumente aus der neuen Oper verbannt wurden, übernehmen westliche Schlaginstrumente und dann auch das Klavier (das mit »Die Rote Laterne« in die chinesische Oper eingeführt wurde)[5] die gleichen harten Rhythmen.
Nachdem der Vorhang gefallen war, führte sie uns hinter die Bühne, um die schwitzenden Schauspieler zu beglückwünschen, die sich durch ihren Besuch hochgeehrt fühlten. Sie stellte mir den heroischen Weichensteller Tschien Hao-liang vor und sagte: »Er hat früher als die anderen ein politisches Bewußtsein entwickelt und hat mich bei der Revolutionierung der Peking-Oper unterstützt.« Von Tie-mei, die von der lebhaften jungen Liu Tschang-yü dargestellt worden war, erzählte sie humorvoll, ihr Vater sei in Peking Beamter der KMT gewesen. Als sie jedoch erwachsen geworden sei, habe sie auf eigene Faust beschlossen, der Genossin Tschiang Tsching zu folgen und sich mit ihr an der Revolution zu beteiligen. Der Darsteller von Hatoyama, Yüan Schui-hai, war ein in ganz Asien bekannter Schauspieler. Einige japanische Führer hatten Tschiang Tsching gesagt, in den chinesischen Revolutionsopern seien die Schurken die besten Schauspieler!
Einige Tage darauf fuhr ich in die Außenbezirke von Peking, um die Akademie des Chinesischen Peking-Opernensembles zu besuchen, das »Die Rote Laterne« inszeniert hatte. Ich wurde empfangen von dem respektgebietenden Hao-liang, einem der am besten aussehenden und körperlich robustesten Männer, die mir in China begegnet sind. Mit seinen großen tiefliegenden Augen und der langen, schmalen Nase sah er fast ein wenig europäisch aus. Hemd und Hosen waren elegant geschnitten und aus gutem Stoff. Zusammen mit einer teuren Uhr und Ledersandalen italienischer Machart verriet diese Aufmachung eine gewisse Wohlhabenheit, die man im heutigen China nur selten antrifft.
Auch andere Mitglieder der Truppe sahen gut aus, wenn auch nicht so »nach Theater« wie im alten China oder im Westen. Sittsam nebeneinander aufgereiht saßen sie auf langen Sofas und fächelten sich in der heißen Augustluft mit großen schwarzen Fächern Kühlung zu. Die Fächer sahen alle gleich aus, aber keiner trug eine Inschrift mit den Worten des Vorsitzenden, wie man sie sonst überall fand. Nach einem Gespräch über die Geschichte des Theaters begaben wir uns in das geräumige Studio, wo Arien gesungen und zu Klavierbegleitung Tänze und Gymnastik geübt wurden. Wir machten eine Menge Aufnahmen und kehrten dann wieder in den Aufenthaltsraum zurück. Hier setzte man uns riesige Weintrauben, Pfirsiche und Birnen vor, die die Mitglieder der Akademie selbst gezogen hatten. Damit bewiesen sie, daß sie trotz ihres künstlerischen Talents und ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung nicht »vom Boden getrennt« waren, sondern auch in der landwirtschaftlichen Produktion etwas leisteten.[6]
»Nach der Befreiung begann die revolutionäre Linke, die kulturellen Interessen des einfachen Volkes zu fördern,« begann Hao-liang feierlich. »Aber als man die Revolution in die Peking-Oper trug, gerieten die Vier Bösewichte (Tschou Yang, Hsia Yen, Yang Han-scheng und Tien Han) in Panik und versuchten, den historischen Entwicklungsprozeß aufzuhalten. Vom Kontrollturm des Kultusministeriums aus mißachteten die Vier Bösewichte immer wieder die Anweisungen des Zentralkomitees, die Oper nach den Vorstellungen der Genossin Tschiang Tsching umzugestalten. Als sie und andere darangingen, die Peking-Oper zu revolutionieren, weigerte sich das Kultusministerium, diese Bemühungen öffentlich bekannt werden zu lassen, und nur wenige waren informiert über das, was geschah. So war das Volk Anfang der sechziger Jahre enttäuscht, weil das Theater die neuen gesellschaftlichen Aufgaben, die die Menschen im täglichen Leben übernahmen, nicht unterstützte. Diese Art von Oper brachte niemanden dazu, sein Leben in den Dienst der Revolution zu stellen. Weil das luxuriöse Leben in Palästen, wie es auf der Bühne dargestellt wurde, mit dem Alltag nichts zu tun hatte, nahm das öffentliche Interesse am Theater deutlich ab. Nur noch wenige ältere und ganz alte Leute kamen zu den Aufführungen.«
In der traditionellen Oper stellten die Schauspielerinnen Angehörige der Aristokratie dar, die durch das ehemalige Klassensystem unterdrückt wurden, fuhr Hao-liang fort. In den wenigen Fällen, in denen Arbeiterinnen auf der Bühne erschienen, »sahen sie vulgär aus; ganz im Gegensatz zu heute, denn jetzt sind sie die Heldinnen«. Von der bisherigen negativen Charakterisierung abzukommen und Angehörige der Arbeiterklasse positiv darzustellen, war ungeheuer schwierig. Das erforderte nicht nur radikale Änderungen der Schauspieltechnik, sondern auch einen fundamentalen inneren Wandel im Denken und in den Wertvorstellungen der Schauspielerinnen selbst.
Um ihr schauspielerisches Können zu vervollkommnen, unternahmen alle Mitglieder der Truppe jährliche Reisen aufs Land, wo sie »das Rohmaterial« für künftige Werke sammelten und »ihren Horizont erweiterten«. Im Gegensatz zu den Schauspielern der alten Schule, die ihre gepflegten Hände niemals beschmutzten, arbeiten die Mitglieder dieser Truppe in ihrer Freizeit regelmäßig in der Landwirtschaft.
Bestimmte Elemente der Peking-Oper ließen sich bis auf die Tang- und die südliche Sung-Dynastie zurückführen (vom 7. bis zum 13. Jahrhundert), fuhr Hao-liang fort. Die Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt im kosmopolitischen städtischen Stil der Mandschu, aber die ursprüngliche Peking-Oper war eine Volksoper gewesen und nicht von gelehrten Aristokraten geschaffen worden. Als die Mandschu-Eroberer erkannten, wie beliebt die Oper beim einfachen Volk war, befahlen sie, auch im Palast Aufführungen zu veranstalten. Unter der kaiserlichen Schirmherrschaft verfeinerte sich die »Volksoper« allmählich zu einer »höfischen Oper«, und auf dieser Ebene blieb die historische Entwicklung der Peking-Oper stehen. (Sie blieb freilich die raffinierteste Form der chinesischen Oper und galt für manche als das nationale Schauspiel).
»Natürlich wurden in den von der kaiserlichen Obrigkeit geförderten Opern die Bauernaufstände immer niedergeworfen, doch die bloße Tatsache, daß man etwas von Bauernrevolten wußte, zeigt uns, daß sich die Bauern gegen die Ausbeutung wehrten. Sie verlangten Gleichheit und Gerechtigkeit. Ihre Motive sind klar herausgearbeitet in dem Zyklus von Geschichten, aus dem der Roman >Schui-hu tschuan< (in der Übersetzung von Pearl S. Buck »All Men are Brothers«)[7] entstanden ist. Andere Opern aus der Sung-Zeit behandeln den Kampf chinesischer Patrioten gegen fremde Eindringlinge.«
Ich fragte, ob in naher Zukunft auch traditionelle Opern über historische Themen inszeniert werden würden.
»Das hängt davon ab, wie sich die Lage entwickelt,« antwortete Hao-liang vorsichtig. »Alte Opern können das heutige Leben nicht mehr darstellen. Während die Schwarze Bande und die kapitalistischen Machthaber sich verschworen hatten, der Genossin Tschiang Tsching das Recht auf die Inszenierung ihrer eigenen Opern streitig zu machen, hatte sie keine Zeit für Versuche, alte Opern zu modernisieren. Die Richtschnur sind die Worte des Vorsitzenden Mao, >Laßt hundert Blumen blühen< und >Reißt das Alte aus, um das Neue hervorzubringen<. Es wird sich mit Sicherheit die Gelegenheit ergeben, diese Grundsätze auch auf die traditionelle Oper anzuwenden.«
»In der Revolution segelt man auf stürmischer See,« fuhr Hao-liang fort und folgte mit diesen Worten wieder dem politischen Klischee. »Es gibt seit jeher den Kampf zwischen der korrekten Linie des Vorsitzenden Mao und der konterrevolutionären, revisionistischen Linie von Liu Schao-tschi. In der Peking-Oper war dieser Kampf am härtesten. Vor mehr als dreißig Jahren hat der Vorsitzende Mao die korrekte Linie in seinen Reden bei der Aussprache in Jenan dargestellt. Sein wichtigster Grundsatz war, daß die Kunst dem Volke dienen müsse. Zu den Opern, die in Jenan in Übereinstimmung mit diesen Anweisungen inszeniert worden sind, gehörten >Gezwungen, sich den Rebellen auf dem Liang-Berg anzuschließen< und >Drei Schlachten gegen das Dorf Tschu-tschia<. Warum führen wir sie jetzt nicht auf? Wir haben einfach keine Zeit dafür.«
Ich erkundigte mich nach dem Schicksal der Schriftsteller und Künstler, die ihr Leben damit zugebracht hatten, die modernen Dramen zu verfassen, die Tschiang Tsching in der Kulturrevolution samt und sonders von der Bühne verbannt hatte. Die meisten von ihnen waren aufs Land geschickt worden, um dort an Programmen zum Thema Kampf - Kritik - Umgestaltung mitzumachen. Nach dieser kurzen Auskunft wechselte er das Thema.[8]Man müsse verstehen, daß die modernen Dramen aus den dreißiger Jahren in den fünfziger Jahren Gift verbreitet hätten. »Die Kameliendame« von Dumas und die Liebesabenteuer von Yang Kuei-fei (der sinnlichen kaiserlichen Konkubine aus dem 8. Jahrhundert) lenkten auf gefährliche Weise vom heutigen Leben ab. »Nachdem sich China der Sache des Proletariats verschrieben hatte, mußte das Theater einen weiten Weg gehen, um das Versäumte aufzuholen, und das war nicht leicht.« Hao-liang lächelte etwas verkrampft, und sein Gesicht war von Schweiß bedeckt, während er sprach.
Er dozierte weiter. 1963 stattete die Genossin Tschiang Tsching der Akademie mehrere Besuche ab. Sie hielt Vorträge und erklärte, die Peking-Oper sei in letzter Zeit erstarrt und weigere sich, den historischen Kräften nachzugeben. Wenn diese »Festung des Feudalismus«, diese »widerspenstigste« aller traditionellen Künste so erneuert würde, daß sie den Bedürfnissen der heute lebenden Menschen entspräche, dann würden alle anderen Künste (Literatur, Musik und bildende Kunst) folgen. »Und sie hatte recht!« sagte Hao-liang.
Er erinnerte sich, wie Tschiang Tsching die Schauspieler herausgefordert und ihnen zugerufen hatte: »Wollt ihr die Revolution? Wenn ihr euch entschließt, euch zu ändern und an der Revolution zu beteiligen, wie würdet ihr dann positive Arbeiter, Bauern und Soldaten darstellen?«
1963 hatten sie noch keine Vorstellung davon, welche Signalwirkung von der Oper oder der Genossin Tschiang Tsching bei der Geburt der Großen Proletarischen Kulturrevolution ausgehen würde. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, was eine »Kulturrevolution« bedeutete. Es war undenkbar, daß ein neuer Kurs in der Kunst zu einem Klassenkampf führen könnte, der die ganze Nation ergriff. Das gelang nur, weil Tschiang Tsching sie davon überzeugte, daß sie von Klassenfeinden in die Irre geführt und von der alten Oper »betrogen« worden seien. Sie verkündete: »Um revolutionär zu handeln, müßt ihr zuerst revolutionär sein.«
Hao-liang lachte laut auf, als er sich daran erinnerte, wie sein politisches Bewußtsein zum erstenmal erwachte. 1963 spielte er den Vizemarschall der Armee. »Um befördert zu werden, mußte ich meinen Vorgesetzten, den Marschall, mit einem vergifteten Pfeil ermorden. Nach einem ihrer unerwarteten Besuche im Theater kam Genossin Tschiang Tsching wütend hinter die Bühne. >Sie sind zwar ein großartiger Schauspieler, aber ich konnte Ihnen nicht applaudieren, weil Sie die Rolle eines selbstsüchtigen und egoistischen Mannes übernommen haben, der nur vorankommt, wenn er andere vernichtet.< Dann wandte sie sich an die ganze Gruppe und stellte die Grundsatzfrage: >Was ihr eßt, wird von Bauern produziert; die Kleider, die ihr tragt, werden von Arbeitern erzeugt; die Grenzen werden von der VBA verteidigt. Wenn ihr nicht die Arbeiter, Bauern und Soldaten verteidigt, wo bleibt dann euer Gewissen?<«
Beim Verfassen neuer Texte schrieb Tschiang Tsching sie nicht selbst nieder, sondern beauftragte Berufsschriftsteller, sie nach ihren Angaben herzustellen. Nach diesem Verfahren ging sie immer vor. Die Geschichte für »Die Rote Laterne« fand sich in zwölf verschiedenen Versionen in anderen Opernhäusern der Provinz, aber keine von ihnen eignete sich für den Stil der Peking-Oper. Tschiang Tsching gab auch die Anregung für ein Theaterstück mit dem Titel: »Angehörige der VBA helfen bei der Flutkatastrophe in Peking« und für den Text von »Das Rote Frauenbataillon«. Weil sich »kapitalistische Machthaber« eingemischt hatten, dauerte die Inszenierung der »Roten Laterne« ein ganzes Jahr. Ein anderes Ensemble bekam den Text für »Das Rote Frauenbataillon« und machte ein Ballett daraus. Nach endlosen Revisionen wurde »Die Rote Laterne« schließlich zu einer »Modelloper«. »Doch die persönlichen Opfer, die dafür gebracht wurden, waren hoch: das Blut der Genossin Tschiang Tsching und die energische Unterstützung des Vorsitzenden Mao und des Premiers Tschou. Wir sind ihnen zu großem Dank verpflichtet,« fügte Hao-liang demütig hinzu.
Zu Beginn gaben gewisse »kapitalistische Wegbereiter« in der Truppe scheinheilig vor, daß auch sie »Die Rote Laterne« als revolutionäres Drama auf die Bühne bringen wollten. Ihre Heuchelei zeigte sich erst, als es darum ging, die Rolle des Weichenstellers Hao-liang in positiver Weise umzugestalten. Sie wußten, daß die Genossin Tschiang Tsching die charakterlichen Schwächen von Li Yü-ho ausmerzen wollte - seine Sentimentalität und seinen Hang zum Alkohol - aber die Opposition wollte ihn nicht zum Helden machen, sondern verlangte die Gleichberechtigung der Darsteller aller drei Generationen.[9] Diese Leute behaupteten, dadurch ergäbe sich eine harmonischere Darstellung der Arbeiterklasse. In Wirklichkeit wollten sie nur die Rolle der Tochter Tie-mei herausheben und sie als Symbol der jüngeren Generation in den Vordergrund stellen. Aber er und Tschiang Tsching bestanden darauf, daß auch die Generation deutlich gezeichnet würde, die die folgende erzeugt hatte (nämlich Tschiang Tschings Generation), weil damit der Grundsatz der revolutionären Nachfolge zum Ausdruck kam.
Die Bürokraten, die an den direkten und regelmäßigen Kontakten Tschiang Tschings mit der Truppe Anstoß nahmen, versuchten dagegen, das proletarische Image von Li Yü-ho zu »verunstalten«. Sie versahen ihn mit einem Buckel und zwangen ihn, ein schlampiges Kostüm und einen ungepflegten Bart zu tragen. Dazu erklärten sie: »Das ist naturalistisch. Alte Weichensteller sehen so aus.«
Bis zum Vorabend der Kulturrevolution war er gezwungen, diese abstoßende Rolle zu spielen. Nach Auflösung des alten Kultusministeriums[10] mußte sich die Truppe in einem anstrengenden Schulungskursus dem Prozeß Kampf - Kritik - Umgestaltung unterziehen. Erst damals lernten die Schauspieler Tschiang Tsching wirklich kennen.
Sie nahm jetzt an allen Proben teil, und es blieb kaum etwas von der ursprünglichen Fassung übrig. Alles wurde verändert: der Text, die Artikulation, die Kostüme, die Auftritte und die gesamte Struktur. Manchmal wurde sie von Yao Wen-yüan begleitet, dessen Kommentare die Schauspieler für sehr treffend hielten. Damals hielt sich Genosse Yao Wen-yüan meist in Schanghai auf, wo er neben seiner übrigen schriftstellerischen Tätigkeit auch die Überarbeitung der Oper »Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert« überwachte. Als Genossin Tschiang Tsching in Schanghai arbeitete, nahmen sie die Genossen Tschang Tschun-tschiao, Ko Tsching-schi und Yao Wen-yüan in Schutz. In Peking stellten sich der Vorsitzende Mao, der Premier Tschou und Genosse Kang Scheng hinter sie. Während der ganzen Zeit der sehr anstrengenden Überarbeitungen und Proben konnten die Schauspieler nie vergessen, daß diese drei Führer hinter ihr standen.
Dank all dieser Bemühungen gelang es hier zum erstenmal, im chinesischen Theater Angehörige der Arbeiterklasse auf die Bühne zu stellen, die stark, attraktiv und klug waren. Um zu zeigen, worin die Veränderungen bestanden, zitierte Hao-liang die dritte Szene der gegenwärtigen Fassung, die vor einem Haferbreiverkaufsstand auf einem Trödelmarkt spielt. Als eine Lastwagenladung japanischer Militärpolizisten eintrifft, versteckt Li Yü-ho den Geheimcode für die Kommunisten in seinem Eßgeschirr und übergießt ihn mit einem stinkenden Haferbrei, dessen Geruch die Polizisten von seiner Spur abbringt. Aber vor Jahren hatten »kapitalistische Machthaber« diese Szene herausgeschnitten und behauptet, sie sei dumm und abstoßend. Nachdem Tschiang Tsching an die Macht gekommen war, nahm sie die Szene wieder auf, um zu zeigen, wie schlau Li Yü-ho war und wie die Arbeiter auf dem Trödelmarkt zusammenhielten.
»Genossin Tschiang Tsching kämmte alles mit dem Staubkamm durch«, meinte Hao-liang. In der ursprünglichen Fassung der fünften Szene versteckt Li Yü-ho seine Tochter Tie-mei, da er fürchtet, sie könnte während der japanischen Besatzung verlorengehen. Die dabei zum Ausdruck kommenden engen persönlichen Beziehungen störten Tschiang Tsching, und sie änderte den Text so um, daß der Vater sich in erster Linie von revolutionären Gesichtspunkten leiten ließ.
Besondere Aufmerksamkeit schenkte sie den Bewegungen der Schauspieler. »Wenn du sitzt, dann sitze gut; wenn du stehst, dann stehe gut«, pflegte sie ihnen zu sagen. »Jede Bewegung muß geformt sein.« Als bei der Szene »Kampf auf dem Hinrichtungsplatz« die Choreographie festgelegt wurde, sprang Tschiang Tsching auf die Bühne, machte den Schauspielern jeden Schritt vor und zeichnete dann ein Diagramm auf den Boden.
»Die neue Oper ist kein Zufallsprodukt,« betonte Tschiang Tsching nachdrücklich, »sondern ein Kunstwerk.« Die Kostüme sollten »die Wirklichkeit überhöhen«, aber dabei dürfte der Idealismus nicht übertrieben werden. Damit meinte sie, daß der »gewöhnliche Realismus«, bei dem proletarische Helden in alter Arbeitskleidung auftreten, künstlerisch nicht zu rechtfertigen sei, daß man jedoch neuen Kleidern wiederum nicht ansieht, wie schwer die Arbeit ist. Es kam zu lebhaften Diskussionen über das Anbringen von Flicken an den Kostümen für »Die Rote Laterne«.
Die Kostümschneider, die sie übernommen hatte, waren darin ausgebildet, Seidenstoffe für die Aristokraten zu besticken und elegante Anzüge und Kleider für die Bourgeoisie herzustellen. Als sie die ersten Kostüme für die Armen nähten, befestigten sie die Flicken auf den Vorderseiten der Jacken und zeigten damit, daß sie keine Ahnung hatten, wo ein Arbeiter seinen Anzug abwetzt. Tschiang Tsching forderte sie auf, die Flicken an den Ellbogen, an den Knien und an den Kragen anzubringen, dort, wo die Kleidungsstücke am meisten beansprucht werden. Dabei sollten die Flicken sauber und anständig aussehen. Ebenso wichtig seien, wie sie sagte, die Farbkombinationen. Arbeiter dürften nur ganz bestimmte Farbtöne tragen, meist unauffällige und dunkle. Nur die junge Heldin Tie-mei durfte in einer auffallenden roten Jacke im volkstümlichen Stil auftreten und eine hübsche Haarnadel tragen, die Tschiang Tsching für sie ausgesucht hatte.
Tschiang Tsching beaufsichtigte auch die Komposition der musikalischen Partitur. Für die achte Szene, den »Kampf auf dem Hinrichtungsplatz«, bei der Rhythmus und Tonalität der alten Peking-Oper erhalten blieben, schrieb sie selbst die Musik und die Texte. Als Tie-mei die Hinrichtung ihres Adoptivvaters und der Großmutter Li mitansehen muß, singt sie das wawa tiao, den klassischen Gesangsstil eines Menschen, der zum Erwachsenen herangereift ist.
Tschiang Tsching erklärte den Schauspielern, die Oper müsse die militärischen Prinzipien des Vorsitzenden Mao demonstrieren, denn in der Schlußszene werden die Regeln der Kriegskunst, das sogenannte wu-schu gezeigt. Im Tanz mußten die Überraschungsangriffe und andere Taktiken des Guerillakrieges zum Ausdruck kommen, durch die der Feind schließlich geschlagen wird. Die Oper endet mit einem positiven Ausblick: Der bewaffnete Kampf geht weiter, und das militärische Stützpunktgebiet wird vergrößert. »Sie sehen, wie bereitwillig wir zu ihren Instrumenten geworden sind«, schloß Hao-liang mit einem strahlenden Lächeln.
Zu den »bereitwilligen Instrumenten« gehörte auch die lebhafte Schauspielerin Liu Tschang-yü, die erzählte, sie sei noch sehr jung und leicht zu beeinflussen gewesen, als sie die Genossin Tschiang Tsching kennenlernte. Bei unserem Interview wirkte sie sehr aufgeschlossen und gleichzeitig sehr bestimmt. In allem, was sie sagte, spürte man die ritualisierte Selbstkritik der privilegierten Jugend, die in der Kulturrevolution nach proletarischen Maßstäben gezügelt worden war.
Liu Tschang-yü erklärte, sie habe in der neunten Szene, in der sie vom Tode ihres Adoptivvaters und der Großmutter Li erfährt, ein Klagelied im Stil der alten Oper gesungen. Tschiang Tsching habe diese Interpretation nicht gefallen und sie habe erklärt, man könne nicht nur von Schmerz, sondern auch von Zorn überwältigt werden. Beide Gefühle müßten sofort umgesetzt werden, und die Stimme der Sängerin müsse Zorn und Entschlossenheit zum Ausdruck bringen.
Obwohl es bitter gewesen war, diese Kritik der Genossin Tschiang Tsching zu hören, hatte sie Liu gezeigt, was an ihrer ideologischen Einstellung falsch war: Sie hatte die emotionale Dynamik der Arbeiterklasse noch nicht begriffen. Immer wieder rief ihr Tschiang Tsching zu: »Wo bleibt dein Gewissen? Wenn du die Revolution auf der Bühne darstellen willst, dann mußt du selbst eine Revolutionärin sein.« Und der Vorsitzende Mao hatte gesagt: »Um Lehrer zu sein, mußt du zuerst Schüler sein.« Bei der Inszenierung dieser Oper sei der Genosse Hao-liang ihr Lehrer gewesen, erklärte Liu Tschang-yü. Er hatte sie aufs Land geschickt, damit sie eine Zeitlang mit Arbeitern, Bauern und Soldaten zusammenlebte. Dort war sie so lange geblieben, bis sie gelernt hatte, diese Menschen mit Begeisterung darzustellen und der ganzen Welt zu beweisen, daß sie jetzt auf der Seite des Proletariats stand.
An unserem ersten Abend in der Oper lehnte sich Tschiang Tsching über mich hinweg, stieß Yao Wen-yüan an und sagte ihm, er solle für mich eine Aufführung von »Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert« arrangieren und für den folgenden Tag Interviews mit den Darstellern vorbereiten. Sie versicherte mir, die Orchestermusik zu diesem Stück sei die beste von all ihren Modellinszenierungen. Etwas mehr als eine Woche später war ich in Schanghai und sah eine Aufführung dieser sehr dynamischen und optisch eindrucksvollen Oper. Die Interviews mit den Schauspielern fanden im obersten Stockwerk des Tsching-tschiao-Hotels statt, wo ich auch untergebracht war. Der leitende Mann war Tung Hsiang-ling, ein Tschiang Tsching treu ergebener Schauspieler, der seit mehr als zehn Jahren den Helden Yang Tze-jung spielte. Er stellte mir den musikalischen Direktor, Hsia Fei-yün, vor, einen zierlichen Mann, der sich über die Partitur der Oper recht vorsichtig äußerte. Sie war aus dem Klavierkonzert »Der Gelbe Fluß« entwickelt worden. Die Oper war zuvor während der Kulturrevolution von Tschiang Tsching inszeniert worden, jedoch stammte der Text, der die Entwicklung des Widerstandskrieges schilderte, von Nie Erh, der in den dreißiger Jahren in Schanghai Texte für Schlager und Filmmusik geschrieben hatte. Hsia Fei-yün erklärte, gewöhnlich würden die Verse nicht gesungen, sondern in großen Schriftzeichen rechts neben der Bühne auf eine Leinwand projiziert (das gleiche geschah auch in der Oper, selbst wenn die Texte gesungen wurden). Das Klavierkonzert war das erste, in dem Parteiparolen nach Melodien von Volksliedern in Musik gesetzt und von einem Orchester im westlichen Stil gespielt wurden. Die erfolgreiche Kombination der pi-pa (eines der Laute oder der Gitarre ähnlichen Instruments), der Fünftonleiter und westlicher Harmonien ermutigte das Ensemble, bei der Musik für den »Tigerberg« eine ähnliche Synthese auszuprobieren. Es war die Idee von Tschiang Tsching, chinesische Schlaginstrumente und westliche Harmonien miteinander zu verbinden - wie sie glaubte, jeweils das Beste aus beiden Kulturkreisen.[11] Sie vergrößerte daher die Anzahl der chinesischen Schlaginstrumente und führte ausländische Saiteninstrumente ein: vier erste Violinen, drei zweite Violinen, zwei Bratschen, ein Cello und einen Baß. Zu den Bläsem kamen eine Oboe, eine Klarinette, zwei Trompeten, zwei Hörner und eine Tuba hinzu. Außerdem wurden westliche Kesselpauken eingesetzt. Früher saßen acht Musiker mit ihren Instrumenten - vier Schlaginstrumenten und vier Streichinstrumenten, deren Rhythmus von der Trommel bestimmt wurde - auf einer Seite der Bühne. Nun wurde das erweiterte Orchester - dreißig Musiker und ein Dirigent - von der Bühne verbannt. Nie zuvor hatte es in der chinesischen Oper ein solches musikalisches Volumen und eine so große Flexibilität gegeben.
Aber Genossin Tschiang Tsching ließ sich nicht leicht zufriedenstellen, meinte Hsia Fei-yün. Als man ihr die erste Probepartitur vorlegte, kritisierte sie die Musik, »weil sie noch immer zu sehr von der Tradition geprägt« sei. Sie verlangte, daß die schrillen Töne des klassischen Stils vermieden würden, weil sie die Stimmen der Sänger übertönten. Damit sich das Publikum in erster Linie mit den proletarischen Charakteren beschäftigte, sollten die Musiker die Beziehungen zwischen Orchester und Sängern so auffassen wie die zwischen Gastgeber und Gästen. Das Orchester sollte die menschlichen Stimmen begleiten, sie aber nicht übertönen.[12]
»Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert« spielt im Winter 1946 in der Mandschurei und stellt den Beginn des Befreiungskrieges dar. Im Gegensatz zur »Roten Laterne«, wo es um dramatische Situationen im Parteiuntergrund geht, zeigt der »Tigerberg« den Kampf zwischen der VBA und der »Bergspitzenmentalität« der Banditen. Ein Verfolgungstrupp der VBA stößt tief in die bewaldeten Berge vor, um die örtliche Bevölkerung gegen die Banditen zu mobilisieren. Diese stehen unter dem Kommando des »Geiers«, des selbsternannten Königs des Tigerberges, der sowohl von der KMT als auch von den Amerikanern unterstützt wird. Yang Tze-jung, das schneidige Symbol der VBA, führt einen Aufklärungstrupp, der erkunden soll, wie der Tigerberg mit strategischen Mitteln erobert werden kann (d. h. der von Lin Piao angewandten Guerillataktik wird gegenüber einem Frontalangriff - der konventionellen Taktik Liu Schao-tschis - der Vorrang gegeben).
Während des Aufstiegs auf den Berg erkundigt sich Yang Tze-jung nach den Leiden der örtlichen Bevölkerung (und weckt damit das Bewußtsein der Unterdrückung). Er nimmt die Hilfe des Jägers Tschang und seiner Tochter, der klugen reizvollen Tschang Pao, in Anspruch, die den Banditen des Geiers, den Mördern ihrer nächsten Verwandten, Blutrache schwören. In der prächtigen Verkleidung eines Banditen, mit weißem pelzbesetzten Mantel, einer Weste aus Tigerfell und einer Mütze aus Fuchspelz dringt Yang Tze-jung in das Lager der Banditen ein und gewinnt das Vertrauen des Geiers. Hier bereitet er alles für die Einnahme des Banditenschlupfwinkels durch die Armee vor. Beim Fest der Hundert Hühner in der Halle des Tigers verführt Yang die Banditen zu einer wüsten Orgie. Unfähig, sich zu wehren, werden sie von den Soldaten der VBA niedergemacht. Ihre Ankunft auf Skiern kommen sie von den Berghängen herab - ist eine der glänzendsten realistischen Szenen, die es im zeitgenössischen chinesischen Theater gibt.
Wie in anderen modernen chinesischen Opern wird auch hier der ideologische Kampf mittels historischer Anspielungen symbolisch dargestellt. Nach der Niederlage der Japaner im August 1945 und dem Rückzug der Sowjetunion aus der Mandschurei trat Lin Piao als Befehlshaber der VBA an die Stelle von Peng Tschen, der damals Sekretär des Ostchina-Büros war, und wurde zum starken Mann im Nordosten. Während der Kulturrevolution, als Lin Piao in hohem Ansehen stand, empfahl diese Oper angeblich die Methode des von Lin Piao geführten »Volkskrieges« gegenüber der Methode von Peng Tschen - der »gegen den Pulvergeruch gerichteten Theorie«.[13] Yang Tze-Jung stellt daher in dieser Rolle zwei verschiedene Aspekte dar. Auf der einen Ebene ist seine Rolle »eine konzentrierte Darstellung der zahllosen Helden im wirklichen Leben«,[14]auf der anderen stellt er die politische Lauf bahn von Lin Piao dar.[15]
Doch nach dem Sturz von Lin Piao im Jahr 1971 läßt sich die Handlung der Oper so interpretieren, daß sie die Verschwörung Lins zum Sturz Maos vorwegnimmt und davor warnt. Die Eroberung des Banditenstützpunkts mit strategischen Mitteln durch Yang TzeJung und die Ermordung des Geiers, des Königs des Berges, könnte den Versuch Lin Piaos symbolisieren, Mao zu töten und die Macht in Partei und Staat zu ergreifen. In seinem Brief an Tschiang Tsching vom 8. Juli 1966 bekennt Mao: »Immer war ich der Ansicht, daß sich der Affe zum Großkönig ernennt, wenn es in den Bergen keinen Tiger gibt.«
Ebenso wie Tschien Hao-liang wurde Tung Hsiang-ling zum Bühnenstar und gewann politischen Einfluß, nachdem er Tschiang Tsching während der Kulturrevolution und danach gefolgt war. Bei unserem Gespräch hatte er sich schon abgeschminkt, und auf seinem flachen Gesicht zeigten sich scharfe Züge. Er war schon etwa 45 Jahre alt, hatte jedoch einen energiegeladenen, straffen und beherrschten Körper. Er lächelte herausfordernd und ein wenig hinterhältig - neben all den anderen offenen Gesichtern wirkte das erfrischend.
»Die moderne Oper, die heute unter dem Titel >Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert< bekannt ist, wurde 1958 vom Schanghaier Peking-Opernensemble uraufgeführt,« begann Tung und fuhr dann ungeduldig fort. »Damals beherrschte die revisionistische Linie von Liu Schao-tschi die Künste. Obwohl Yang Tze-jung ein proletarischer Held ist, ließ er sich vor der Kulturrevolution nicht von den Banditen unterscheiden. Alle Schauspieler trugen die gleichen verrückten Kostüme. Heute trägt der Banditenhäuptling h Geier den zerbeulten Hut, den früher Yang Tze-jung getragen hat. Früher bediente sich Yang der >schwarzen Sprache< (der Unterwelt), tanzte zu >gelber Musik< (eine Imitation westlicher Schlager) und hielt eine Pfeife in der Hand. Die Regisseure zwangen ihn, seine proletarische Würde zu verleugnen, und er mußte sich vor dem Geier unterwürfig >um achtzig Grad< verbeugen. Bei der Orgie im Banditenlager war der Platz des Geiers in der Mitte der Bühne, wo er von seinen Männern umringt stolz dastand, während Yang Tze-jung, der damals von einem viel älteren und weniger kräftigen Mann gespielt wurde, als ich es bin, sich bescheiden in eine Ecke der Bühne verkriechen mußte.«
Nachdem Tschiang Tsching 1963 diese sogenannte moderne Oper gesehen habe, fuhr Tung Hsiang-ling fort, sei sie hinter die Kulissen gekommen und habe erklärt, sie halte das Stück für wertlos. Unter ihrer Anleitung begann im folgenden Jahr die Überarbeitung. Sie nahm der Rolle des Yang Tze-jung alles Unappetitliche und verwandelte ihn in ein bewunderungswürdiges Symbol des Proletariats. Der Geier und seine Banditen wurden an die Peripherie der Bühne verwiesen.
Die Schauspieler, denen sie ihre neuen Rollen zuwies, hatten keine Ahnung von der eigentlichen Bedeutung der großen Veränderungen, die sie bis zu den Festspielen der Peking-Oper im Juni 1964 durchgesetzt hatte, zu denen jede Provinz außer Taiwan eine Abordnung schickte. Nachdem die Inszenierung von Tschiang Tsching als eine Darstellung des militärischen Denkens des Vorsitzenden Mao, wie er es im Nordosten entwickelt hatte, anerkannt worden war, erhoben sich die Lakaien Liu Schao-tschis und beschlossen, aus Yang Tze-jung einen gefährlichen Banditen zu machen. Der Stellvertretende Minister für Kultur und Stellvertretende Leiter der Propagandaabteilung, Lin Mo-han, setzte sich energisch dafür ein. [16] Er befahl dem Bühnenschriftsteller Lin Han-piao (ein Pseudonym), die Oper entsprechend der Linie Liu Schao-tschis umzuarbeiten.
Die Anhänger Liu Schao-tschis brachen bald darauf ihren Frontalangriff gegen die moderne Peking-Oper ab und eröffneten einen »akademischen« Angriff (gemäß den Februar-Thesen von 1966). Diese Attacke richtete sich nicht nur gegen die Modernisierung, die bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt werden konnte, sondern auch gegen die revolutionäre Substanz. Darüber konnten sie jedoch keine Kontrolle ausüben. Geschickt lenkten sie die Aufmerksamkeit vom ideologischen Kern der Oper ab, indem sie nur ihre »künstlerische Form« kritisierten. Da es die Handlung erforderlich machte, daß sich Yang als Bandit tarnte, sagten sie, er solle in seiner Verkleidung um der künstlerischen Wirkung willen noch schlimmer aussehen als die richtigen Banditen. Dieser Vorschlag brachte die für Tschiang Tsching so eminent wichtigen Fragen der Klassen und der Ideologie völlig durcheinander.
Vor der Kulturrevolution besuchte die Genossin Tschiang Tsching oft den Bürgermeister von Schanghai, Ko Tsching-schih, und trug ihm ihre Gedanken über die philosophischen Voraussetzungen vor, die ihrer Ansicht nach für die Reform der Oper unerläßlich waren. Dabei vertrat sie die Auffassung, daß Theorie und Praxis einander ergänzen und unterstützen müßten (das alte chinesische philosophische Thema von den Beziehungen zwischen Denken und Handeln). Praxis führe zur Erkenntnis, sagte sie, und die Erkenntnis fördere die Praxis. Sie wies auch darauf hin, daß bei der Darstellung von Helden auf der Bühne die Musik, der Text, der Dialog, der Tanz, die Kostüme und die Regie der Theorie der »drei wichtigsten Gesichtspunkte« entsprechen müßten. Erstens kam es darauf an, positive Gestalten zu schaffen. Zweitens mußten unter diesen positiven Gestalten die Helden deutlich erkennbar sein. Und drittens sollten unter den Helden die Haupthelden hervortreten. Diese Theorie wurde später in all ihren Musterwerken in die Praxis übernommen.[17]
Da Tschiang Tsching während der Kulturrevolution mit anderen Staatsgeschäften stark überlastet war, konnte sie zu dieser Zeit nur selten und fur kurze Zeit nach Schanghai kommen. Das Ensemble von Tung Hsiang-ling schickte ihr regelmäßig Berichte über die erzielten Fortschritte in Form von Tonbändern und Schallplatten nach Peking. Später sagte sie den Schauspielern, sie habe sich diese Aufnahmen während der Mahlzeiten immer wieder vorgespielt und jede Einzelheit darin registriert. Weil es ihr vorrangiges Anliegen war, Botschaften zu verkünden, war ihr die Sprechweise besonders wichtig, und sie legte Wert darauf, daß bestimmte Schlüsselworte stark betont würden. Sie erwähnte das Wort »Haß«, das dem Feind energisch und dramatisch entgegengeschleudert werden sollte.
»Ihr müßt die in ihr Gegenteil verkehrte Menschheitsgeschichte wieder umkehren,« zitierte sie den Vorsitzenden Mao. Damit meinte sie, daß Menschen, und zwar einzig und allein Menschen die treibende Kraft in der Geschichte seien. Sie dürften keine Marionetten oder Spielzeugsoldaten sein. Um ihre Auffassungen zu illustrieren, empfahl sie die Lektüre des Aufsatzes des Vorsitzenden »Über die Koalitionsregierung«. Aber, so berichtete Tung, in der Kunst interessierte sie sich weniger für die kritische Theorie. Ihre Anregungen bezogen sich mehr auf die Praxis, und darin war sie unerschöpflich. »Es gelang ihr sogar, meinen Stil zu verjüngen!« Tung lachte, als er sich daran erinnerte. Er war darauf spezialisiert, alte Männer darzustellen. Wenn er auf die Bühne kam, dann fing er ohne Rücksicht auf die jeweilige Rolle automatisch an, gebückt zu gehen und herumzustolpern. Die Genossin Tschiang Tsching fand das entwürdigend. »Wenn sie mich in dieser Haltung erwischte, strich sie mit den Fingern an meinem Rücken entlang und sagte: >Steh gerade. Dein Yang Tze-jung ist nicht besser als Tschu-ko Liang.[18] Überwinde den veralteten Stil. Steh aufrecht da und sing mit kräftiger Stimme!<« Außerdem sollte er jetzt nicht mehr das alte seidene Gewand, sondern einen prächtigen, mit Pelz besetzten Mantel tragen. Als Yang Tze-jung mit zwei Fingern eine Bewegung ausführte, mit der er andeuten wollte, wie er dem Geier einen Dolch ins Herz stieß, sagte sie ihm, er solle drei Finger nehmen, weil das bedrohlicher wirke.
Auch ließ sie sich nicht durch musikalische Konventionen beeindrucken. Nach den Regeln der alten Oper war es unmöglich, daß ein Darsteller zwei verschiedene Singstile verwendete, einen zarten (erh-huang) und einen kräftigen (hsi-pi). Auch durften beide Stile nicht gleichzeitig im selben Auftritt verwendet werden. Um starke Gefühle zart auszudrücken, kombinierte Tschiang Tsching beide Ausdrucksweisen in einer Arie. Gefühle sollten subtil artikuliert werden, verlangte sie. Nur unter besonderen Umständen, etwa wenn der Darsteller schwor, er werde den Banditen Geier begraben oder die Kommunistische Partei gegen alle Widerstände unterstützen, dürfe er den kräftigen Stil allein verwenden.
Der künstlerische Stil mußte eine gesellschaftliche Aussage haben. Deshalb gab sie die klassische Ansicht auf, daß am Schluß musikalischer Phrasen die Töne tiefer werden müßten, um ein Wort abzurunden. Der Entschluß zum Handeln ließe sich, so lehrte sie die Sänger, am besten dadurch ausdrükken, daß die Töne höher wurden.
Tungs Lieblingsstelle in der Oper war die fünfte Szene, in der er zum Revolutionshelden heranreift und »die Morgensonne in seinem Bewußtsein erstrahlt«. Das kam in einem Tanz zum Ausdruck, den Tschiang Tsching persönlich entworfen hatte. In der ersten Fassung bestieg Yang den Berg zu Fuß. 1965 sagte ihm Tschiang Tsching, er solle auf einem Pferd hinaufreiten, um auf diese Weise heldischer zu erscheinen. In der alten Oper war das Pferd, das auf der Bühne nur durch Pantomime dargestellt wurde, ein sanftes Tier, und der Schauspieler wurde symbolisch aufs Pferd gehoben. Tschiang Tsching hielt jedoch nichts von der pantomimischen Andeutung, wie sie fruher üblich gewesen war, sondern wollte dramatische Aktionen. Also kombinierte sie moderne Choreographie mit traditioneller Akrobatik. Als gute Reiterin (Tung selbst hatte keine Erfahrung im Reiten) demonstrierte sie die Gesten, mit denen er zeigen sollte, wie er ein imaginäres Pferd bestieg und wie ein Held davongaloppierte, während er das widerspenstige Tier in Schach hielt.
Tung Hsiang-ling sprang auf und spielte uns vor, wie Tschiang Tsching die Szene demonstriert und wie er sie imitiert hatte. Sie hatte ihm gesagt: »Um in einer Pantomime zu zeigen, wie man ein kräftiges Pferd besteigt, mache einen raschen Schritt vorwärts und springe in die Luft. Dabei spreize die Beine. Wenn das Pferd beim Anblick des Tigers zu Boden stürzt, dann deute das durch ein Spreizen der Beine auf dem Boden an. Gleite am Schluß nicht einfach vom Pferderücken. Das vermittelt den Eindruck von Schwäche. Zum Absitzen springe über den Kopf des Pferdes.«
Nachdem sie die verfilmte Fassung der Oper aus dem Jahr 1969 gesehen hatte, sagte sie, der Pferdetanz gefalle ihr immer noch nicht. In ihrem Reitstall in Peking experimentierte sie mit den verschiedensten Arten des Auf-und Absitzens. Als sie nach Schanghai zurückkam, sagte sie ihm: »Artistik verlangt Übertreibung. Um ein großes, aber nur in der Vorstellung vorhandenes Pferd zu besteigen, hebe das Bein so hoch wie möglich. Beim Absitzen springe nicht über den Kopf des Pferdes, sondern setze dich seitlich hin, hebe ein Bein, dann das andere, und springe hinunter. Lande aber nicht auf den Fußsohlen, sondern auf den Zehenspitzen. Das wirkt majestätisch.«
Gleich nach dieser Szene zieht Yang Tze-jung die Pistole und schießt den Tiger durch den Kopf. Der Banditenhäuptling fragt ihn, ob er den Tiger getötet habe. Yang antwortet kühl: »Er ist meiner Kugel in den Weg gelaufen.«
Die Genossin Tschiang Tsching lege großen Wert auf die äußere Erscheinung, fuhr Tung fort. Sie lehrte die Schauspieler, wie man mit Hilfe der Kostüme bestimmte körperliche Eigenschaften betonen und andere kaschieren kann. »Ihr war aufgefallen, daß ich für eine Heldenrolle verhältnismäßig klein bin. Deshalb riet sie mir, das Kostüm so anfertigen zu lassen, daß der Gürtel recht hoch saß. So sahen meine Beine länger aus, und ich wirkte auf der Bühne größer.«
Tung erzählte, sie habe sich mehr um jeden einzelnen Schauspieler gekümmert, als man dies von einem politischen Führer erwarten könnte. Wenn er früher die Rolle des Yang Tze-jung spielte, trug er die Pistole vorn am Gürtel. Sie riet ihm: »Trag sie an der Seite. « Warum? Sie erklärte das so: »Wenn ein Mann die Pistole lange Zeit vor dem Bauch trägt, dann kann dies innere Schäden in der Gegend des Beckens hervorrufen.«
Das Zentralkomitee wurde laufend über die Umgestaltung der Oper unterrichtet, ebenso der Vorsitzende Mao. Anfang Juli 1967 kam er nach Schanghai, um sich eine Vorstellung anzusehen. Er kritisierte nur die literarische Form. Eine Zeile in der fünften Szene wurde auf seine Veranlassung folgendermaßen geändert: »... und führen den Frühling herbei, um die Welt der Menschen zu verändern.« (Der revolutionäre Optimismus wurde dadurch stärker betont). Außerdem sagte er, solle der klassische Ausdruck fur »Offiziersuniform« durch das moderne Wort ersetzt werden. Noch nach zwei Jahren verbesserte Tschiang Tsching die Aussprache Tungs bei dem Wort »Frühling«, damit sein »gesellschaftlicher und politischer Inhalt« stärker zum Ausdruck käme.
Tung Hsiang-ling stellte uns Tschi Schu-fa vor, eine schüchterne, mädchenhaft aussehende Schauspielerin Ende Zwanzig, die die Tochter des Jagers Tschang Pao darstellte. In eine einfache Bluse und eine Hose gekleidet, glich sie in keiner Weise der lebhaften Tschang Pao mit der leuchtendroten Jacke und dem dicken schwarzen Zopf, der energisch auf ihrem Rücken aufund abwippte. Ebenso wie auf der Bühne klang ihre Stimme auch jetzt klagend, ernst und sehr hoch.
Alles, was Tschi Schu-fa über sich sagte, entsprach den Vorstellungen vom idealen Künstler der Kulturrevolution. Sie sagte, sie sei gegen persönlichen Ruhm, weigere sich, die »Blutsaugerklasse« in Gestalt von Kaisern, Ministern und schönen Frauen darzustellen, und verdammte die bürgerliche Einstellung, nach der die Kunst ein Selbstzweck sei. Die Genossin Tschiang Tsching hatte sie gelehrt, daß sie ihre natürliche Scheu überwinden und militant werden müsse. Ebenso wie Lu Hsün sollte sie den Geist des Ochsen in sich pflegen. Nur die Starrköpfigkeit eines Büffels ermöglichte es den Schauspielern, die verhärteten Konventionen der alten Peking-Oper zu zerschlagen.
Indem sie die Rolle von Tschang Pao als beispielhaft herausstellte, begann die Genossin Tschiang Tsching, die Darstellung von Frauen auf der Bühne zu revolutionieren. Alle für die feudale Klasse bezeichnenden Gesten sollten abgeschafft werden. Tschi Schu-fa hob die Hand und bog zierlich ihre Finger, um zu demonstrieren, wie die Schauspielerinnen der alten Oper die Geste der »Orchideenfinger« zeigten. Sie sagte, das sähe dumm und affektiert aus, und ballte dann die Hand zur Faust mit der militanten Miene, die sie sich inzwischen angeeignet hatte.
In der alten Oper durften die Frauen ebenso wenig wie in der früheren Gesellschaft ihre Zähne zeigen. Wenn sie lächelten, verdeckten sie den Mund mit den Händen, während ihre »Wasserärmel« den Körper verbargen. Heute lächelt jeder ganz offen. Kleinen Mädchen wurden die Füße eingebunden, und sie wurden zu Krüppeln mit »Dreizoll-Lilien«. Wenn Schauspielerinnen keine vorschriftsmäßig kleinen Füße hatten oder wenn Schauspieler Frauen darstellten, imitierten sie den üblichen Gang der Frauen, indem sie kleine Stelzen trugen oder mit grotesken Schritten über die Bühne trippelten. »Heute ist es den Frauen gleichgültig, wie groß ihre Füße sind, und wir können uns natürlich bewegen. Früher bedeckten wir die Augen, wenn wir weinten.« Wenn Tschi Schu-fa bei den ersten Aufführungen die Arie sang, in der sie erzählte, wie ihre Mutter von den Banditen ermordet worden war, brach sie in Tränen aus, setzte sich'hin und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Tschiang Tsching sagte ihr, das sei kein proletarisches Weinen. Sie richtete sich auf, wandte das Gesicht einem imaginären Publikum zu und zeigte, wie ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen. »Menschen aus der Arbeiterklasse setzen sich nicht hin und nehmen nicht den Kopf in die Hände, wenn sie weinen,« sagte Tschiang Tsching. »Wenn sie weinen, bleiben sie aufrecht stehen.«
Tschi Schu-fa sollte sich jedoch nicht an ihrem Kummer festklammern, verlangte Tschiang Tsching. »Konzentriere dich darauf, den Kummer in Haß zu verwandeln, den Haß in Empörung und die Empörung in den Entschluß zu kämpfen.« Wenn Tschi bei der Interpretation ihrer Rolle auch nur das geringste Selbstmitleid zeigte, sah Tschiang Tsching sie böse an und sagte: »Zeige nur Klassenhaß, Klassenempörung und die Entschlossenheit der Klasse zu kämpfen ... Wenn du dich auch Tag und Nacht danach sehnst, daß die Sonne aufgeht, so mußt du doch bis zum bitteren Ende kämpfen. Du mußt entschlossen sein, alle Wölfe zu vernichten. Wir erziehen die Menschen dazu, den Kopf hoch zu tragen und nie zu vergessen, daß Schönheit weniger wichtig ist als Wille und Kraft.«
Tschi Schu-fa war nur im Falsettgesang ausgebildet worden, der für aristokratische Frauen und Feen typischen Tonlage. Als die Genossin Tschiang Tsching sie 1964 in die Lehre nahm, lernte sie von ihr, das Falsett mit der natürlichen Stimme in den tiefen und mittleren Tonlagen zu kombinieren. Das reine Falsett sollte nur noch in den hohen Tonlagen gesungen werden. Nur eine volltönende Stimme sei imstande, Rachedrohungen auszustoßen.
Immer wieder sagte ihr Tschiang Tsching, daß der Gesang niemals der eigenen Befriedigung dienen dürfe. »Du singst für die Arbeiter, Bauern und Soldaten.« Auch dürfe der Schauspieler nie mit seinen persönlichen Fähigkeiten glänzen, denn damit lenkte er das Publikum von der gemeinsamen Leistung ab. »Persönlicher Hochmut hat auf der revolutionären Bühne keinen Platz«, sagte sie.
Bei den früheren Fassungen des »Tigerbergs« war die Szene, in der die Soldaten der VBA mit Skiern zur Rettung Tungs herbeieilen, nur mit akrobatischen Mitteln aufgeführt worden. Ein so »extremer Manierismus« gefiel Tschiang Tsching nicht, weil die Arbeiter, Bauern und Soldaten das nicht verstehen könnten. Um die Massen zu interessieren, ließ sie realistische Kulissen aufstellen und bediente sich einer beweglichen Bühne und einer dynamischen Beleuchtung. Aber die »Reaktionäre«, die sich verzweifelt darum bemühten, auf einer kahlen Bühne den reinen Symbolismus zu bewahren, bekämpften jede Neuerung. Sie stellte sich diesem Kampf mit großer Energie und ließ sich in ihren Plänen nicht beirren. Sie kombinierte alte und moderne Tanzstile und kostümierte die Männer mit weißwollenen Umhängen, die prächtig im Winde flatterten und so den Eindruck vermittelten, daß sie über die Berghänge herabsausten. Tschiang Tsching erklärte der Truppe, daß dieses »kollektive Bild« der Soldaten auf Skiern »zeige, wie Menschen ihr Leben für die Sache der Revolution aufs Spiel setzten«.
Über ihre Rolle sagte Tschi Schu-fa, bis zur neunten Szene sei sie nur die einfältige Tochter eines Jägers, die keinen Funken »spontanen revolutionären Bewußtseins« besitze. Was sie in eine Kämpferin, eine bewußte proletarische Heldin verwandelte, die entschlossen war, für die Befreiung der Menschheit zu kämpfen, war die Erfahrung, die sie gewann, als sie die Miliz beim Exerzieren und beim Singen zur Begleitung des militärischen Signalhorns erlebte. Tschiang Tsching sagte ihr, wenn sie in einer Arie das Proletariat verherrlichte, dann müsse sich das Tempo der Musik verlangsamen, und ihre Stimme müsse fest und ruhig klingen. Wenn sie jedoch gelobte, alle Wölfe zu töten, dann solle sie das Tempo erhöhen und in großer Erregung singen.
»Die Begleichung von Blutschuld« gehört zu den wichtigsten, aber am wenigsten gefeierten Themen des chinesischen revolutionären Theaters und der Politik, deren Ausdruck es sein will. Der Zusammenhang zwischen dem persönlichen Leben und den Gefühlen Tschiang Tschings und ihrem Modelltheater ist niemals öffenlich erwähnt worden. Tschang Paos Leidenskatalog »Fragen nach der Bitterkeit« stellt vielleicht den Schmerz Tschiang Tschings über den Verlust von Familienmitgliedern dar - natürlich nicht nur ihrer eigenen - und ihr Verlangen, frei zu reden und sich wie ein junges Mädchen zu kleiden. Die Rachegefühle sind allgemein und persönlich zugleich. Tschang Pao singt:
Der Geier mordete die Großmutter und entführte Mutter und Vater; / Onkel Ta-schan im Tschiapi-Tal nahm mich auf; / Der Vater floh und kam zurück, / Aber die Mutter stürzte sich von der Klippe zu Tode. / O geliebte Mutter! / In den Bergen suchen wir Zuflucht; / Aus Furcht, ich könnte in die Hände jener Teufel geraten, / Verkleidete mich Vater als Knaben und sagte, ich sei stumm. / Tagsüber jagten wir in den Bergen, / Nachts dachten wir an Großmutter und Mutter. / Wir blickten auf Sterne und Mond / Und sehnten uns nach der Zeit, / Wenn die Sonne scheinen wird über diesen Bergen; / Wenn ich wieder frei reden darf, / Mich wieder kleiden wie ein Mädchen; Wenn wir endlich die Blutschuld begleichen. / O hätte ich doch Flügel, ich nähme ein Gewehr Und flöge auf den Gipfel und tötete alle jene Wölfe.
»O Vater!« ruft sie und wirft sich in des Vaters Arme. Yang Tze-jung erwidert leidenschaftlich:
Paos Bericht von den Verbrechen der Banditen, / Randvoll mit Blut und Tränen, / Weckt meinen fürchterlichen Zorn. / Unterdrückte Menschen müssen überall blutige Rache nehmen / An den Unterdrückern. / Nach Rache rufen sie; / Auge um Auge, Blut um Blut.
Nach der Oper ist das Ballett die zweitwichtigste Form des revolutionären Theaters. Die Peking-Oper, eine nationale Tradition, stellt historische Episoden vom Standpunkt der herrschenden Klasse aus dar. Heute sind an die Stelle der Kaiser, Minister und Generäle, die hoch über der Masse des Volkes standen, die Vertreter der Partei und der VBA getreten, die den Anspruch erheben, für das ganze Proletariat zu sprechen. Da Männer noch immer die neue herrschende Klasse der »proletarischen Diktatoren« anführen, ohne im übrigen das Monopol zu beanspruchen, ist die Oper auch weiterhin in erster Linie eine von Männern beherrschte Kunstform. Frauen übernehmen wichtige Nebenrollen und erweisen sich als besonders geeignet, »revolutionäre Nachfolger« darzustellen. Das Ballett, das in jeder Hinsicht weniger mit der chinesischen Geschichte verhaftet ist, bleibt im Stil lyrischer und im Inhalt mythischer. Da im Ballett seit jeher Frauen dominierten, drücken sie jetzt ihre Auflehnung gegen die Unterdrückung durch den Tanz dramatischer aus als dies in der chinesischen Oper geschieht.
In China ist der Aufstand gegen die Reinheit und »Tyrannei« des klassischen Balletts gegenüber der Entwicklung im Westen um mindestens ein halbes Jahrhundert zurückgeblieben. 1909 schockierte Sergej Diaghilew Paris mit seinem Russischen Ballett. Bald rebellierte auch Martha Graham mit dem künstlerischen Barbarismus ihres modernen Tanzes gegen den Schönheitskult des Balletts. Mit der Wiederbelebung des Volkstanzes in den Broadway-Musicals begann Agnes De Mille, den Tanzstil durch vielfältige regionale Varianten zu bereichern. Parallel zu diesen modernistischen, populistischen, kosmopolitischen und manchmal auch nur kommerziellen Bestrebungen gab es die Experimente von Moisejew in der Sowjetunion, des Folklorico in Mexiko und des Inbal in Israel. Chinas revolutionäre Änderung der Technik des Balletts und die Entdeckung der Volkstänze von Minderheiten stammen aus jüngster Zeit.
Jahre vor der Befreiung gab es in Schanghai für Reiche und für Ausländer Eurythmie, eine Reihe von Ballettschulen, die sich jeweils um einen Meister gruppierten, Tanzgruppen im Stil von Hollywood, den Tanz in Vergnügungslokalen und mit Taxigirls und häufige Gastspiele ausländischer Truppen. Am Vorabend der Kulturrevolution war alles mit Ausnahme des klassischen Balletts verboten. Tschiang Tsching gefiel das Ballett zwar als tänzerische Bewegung, aber sie lehnte es als Ausdruck unerwünschter ausländischer Kultur ab. Tänzerinnen in rosafarbenen Ballettröckchen, die sich als sterbende Schwäne gebärdeten, waren ihr zuwider. Ihr Aufruf gegen die Tyrannei des klassischen Balletts brachte ihr die Feindschaft von Rechten und Linken ein. Die einen waren entschlossen, das klassische Ballett beizubehalten, wollten aber die revolutionäre Realität davon fernhalten, die anderen waren dafür, es ganz zu verbieten. Keine der beiden Gruppen wollte jedenfalls den Versuch unternehmen, es politisch zu verwerten. Anhänger Liu Schao-tschis drohten angeblich, sie würden den Ballerinen die Beine brechen, die zur Verherrlichung der chinesischen Revolution tanzen wollten.
Tschiang Tschings politische Macht, die von Mao Tse-tung gestützt wurde, ermöglichte es ihr jedoch, das Ballett am Leben zu erhalten, um es nach Maos Grundsatz zu modernisieren: »Laßt das Alte dem Neuen und das Fremde dem Chinesischen dienen.« Aus der chinesischen Oper übernahm man die Akrobatik, den Gesang, die übertriebene Mimik und den starren Gesichtsausdruck. Aus der Volkskunst stammten die rhythmische Musik, die Choreographie und die farbenfreudigen Kostüme. Aber die Beinarbeit, die Pirouetten und Arabesken wurden dem klassischen Ballett entlehnt. Die Instrumentation imitierte die Programmusik des 19. Jahrhunderts oder gängige Filmmelodien, die den Chinesen schon seit Jahrzehnten durch ausländische Filme vertraut waren.
Tschiang Tsching sagte mir, die Revolution des Balletts bedeute, daß sie und ihre Mitarbeiter »gegen die Fesseln des russischen Klassizismus ankämpften, die die chinesischen Tänzer seit Jahrzehnten versklavt hatten.« Stalin sei für die Erhaltung der »bürgerlichen Klassiker verantwortlich, die den Widerstreit zwischen Gut und Böse demonstrieren.« Die sowjetischen Führer nach ihm seien der gleichen absurden »Politik« gefolgt und hätten ein Tier - einen schwarzen Schwan - zur Hauptfigur von »Schwanensee« gemacht!
Im Gegensatz dazu beruhte »Das Rote Frauenbataillon« (das Ballett erlebte im Oktober 1964 seine Premiere) auf historischen Vorgängen. Der Schauplatz der Handlung war die Insel Hainan vor der Küste Südchinas. Das Ballett zeigt den politischen Widerstand der Angehörigen der Li-Volksgruppe. Alle ethnischen Minderheiten im alten China wurden unterdrückt. »Wie Tiere«, sagte Tschiang Tsching, seien sie behandelt worden. Schon vor meinem ersten Zusammentreffen mit Tschiang Tsching hatte ich dieses kühne und freche Ballett in Peking gesehen. Die heiße tropische Insel Hainan war augenscheinlich sowohl aus politischen als auch aus ästhetischen Gründen als Schauplatz der Handlung ausgewählt worden. Hainan, das fast so groß ist wie Taiwan, ist sehr reich an natürlichen Bodenschätzen. Es wurde erst im April 1950 von den Kommunisten befreit, nachdem es den Nationalisten nicht gelungen war, die Unterstützung der Amerikaner für ihren Anspruch zu gewinnen.[19] Das Gegenstück zu der Insellandschaft im »Roten Frauenbataillon« ist die rauhe Gebirgsgegend im nordwestlichen Binnenland, wo das Ballett »Das Weißhaarige Mädchen« spielt. Ebenso wie die Oper folgt auch das Ballett dem marxistisch-leninistischen und maoistischen Gedanken vom Gesetz der ausgesparten Mitte. Positive Personen sind entweder von Anfang an Helden oder werden es durch die Befreiung. Negative Personen haben keine Wahl; sie müssen vernichtet werden, damit es Sieger geben kann. Zwischen den positiven und negativen Gestalten gibt es nichts, keine »Mittelcharaktere«, wie die Chinesen sagen. In der alten und neuen Oper wie auch im neuen Ballett werden positive und negative Gestalten durch konventionelle Masken und konventionelle Bewegungen voneinander unterschieden. Ein Held betritt stolz und feierlich die Bühne, mit erhobenem Arm und geöffneter Hand. Er wendet sein »gutes Gesicht« direkt dem Publikum zu. Aber ein Schurke humpelt gebückt auf die Bühne. Sein aschfahles oder geschwärztes Gesicht wendet er von den Zuschauern ab.
Das Rote Frauenbataillon« beginnt in einem Kerker, wo die schöne Sklavin Wu Tsching-hua (eindeutig eine positive Gestalt) von Nan Pa-tien, der die schurkischen Großgrundbesitzer des alten Südens verkörpert, an einen Pfosten gefesselt worden ist. Während sie ein zorniges Lied singt, befreit sie sich von den Fesseln und verteidigt sich mit Gewalt gegen die Wächter, die ihr den Fluchtweg abschneiden wollen. Ein junger Kurier der Roten Armee findet sie und bringt sie zu seiner Einheit, die von dem gutaussehenden Hung Tschang-tsching, einem Vertreter der Partei, geführt wird. Er veranlaßt sie, Zuflucht beim Frauenbataillon zu suchen, das sich, angespornt von den Rachegefühlen Wu Tsching-huas, aufmacht, um das prächtige Landhaus von Nan Pa-tien zu stürmen. Wu Tsching-hua ermordet den Tyrannen. Die Befreiung des Dorfes wird mit einem schwungvollen Volkstanz der Li-Leute gefeiert. Am Schluß gelobt Wu Tsching-hua, dem Beispiel des Helden Hung Tschang-tsching nachzueifern und das Wort Maos zu ihrem Leitspruch zu machen: »Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.«
Tschiang Tsching erklärte mir, als sie die Inszenierung dieses Balletts Anfang der sechziger Jahre in Angriff genommen habe, seien bis dahin noch niemals mit einem Ballett militärgeschichtliche Ereignisse dargestellt worden, und kaum jemand habe sie bei diesem Vorhaben unterstützen wollen.[20] Um sich darauf vorzubereiten, sei sie Ende 1963 allein auf die Insel Hainan gereist und habe sich dort die umfangreichen militärischen Anlagen angesehen. Von dort ging sie nach Schanghai, um persönlich die Einstudierung des Balletts zu übernehmen. Die Lage war gefährlich, denn einige mächtige Persönlichkeiten im Bereich der Kultur hatten schon geplant, ihre Bemühungen um das revolutionäre Ballett zu sabotieren, das sie 1964 auf die Bühne bringen wollte. Um sich die Zustimmung der politischen Führer zu sichern, hatte sie Premierminister Tschou zur Probe einer ersten Fassung eingeladen, und er war dieser Einladung gefolgt. Die schwachen Stellen, auf die er hinwies, hatte man geändert. Um die Tänzer mit dem militärischen Leben vertraut zu machen, wollte sie sie für ein paar Monate zu einer Einheit der VBA schicken. Kaum hatte sie diese Anweisung erteilt, ordnete Tschou Yang in seiner Eigenschaft als hoher Beamter im Kulturministerium an, daß ausgerechnet ihre Truppe nach Hongkong gehen sollte, um dort »Schwanensee« aufzuführen! Sie war wütend, konnte aber nichts dagegen unternehmen. Der Bürgermeister von Schanghai, Ko Tsching-schih, der sich sicher auf ihre Seite gestellt hätte, war erkrankt. Sie wandte sich deshalb an Premierminister Tschou und schoß »eine ganze Salve von Beschuldigungen gegen eine gewisse Person« ab, die ihre Bemühungen um das Ballett sabotiere. Sie nahm an, er wisse, wer gemeint sei, und bat dann den Premier, ihr den Namen dieser Person zu nennen. Er habe keine Ahnung, sagte Tschou. Doch bald entstanden im Kulturbereich so große Spannungen, daß niemand mehr behaupten konnte, er wisse nichts davon, daß Tschou Yang sich ihrer Reform des Balletts widersetzt habe (angeblich hatte er »Das Rote Frauenbataillon« höhnisch als »einen am Daumen lutschenden Säugling in Windeln« und als »häßliche Schwiegertochter« bezeichnet).[21]
Trotz des Widerstandes von Tschou Yang und der Verachtung, die er ihrem Experiment gegenüber bewies, fuhr sie mit der Modernisierung des Balletts fort und begleitete es schließlich auf einer Tournee in die großen Städte. Nach der Rückkehr nach Peking besuchte sie mit Premier Tschou noch einmal eine Vorstellung, die aber stark umgearbeitet worden war. Daß er von einer »wirklichen Revolution« sprach, freute sie. Nachdem der Vorhang gefallen war, ging sie mit dem Premier hinter die Bühne, um die Tänzer und Musiker zu beglückwünschen, die während des Kampfes um die Neuschöpfung treu zu ihr gehalten hatten.
Immer noch machte sie sich Sorgen darum, ob diese aus chinesischen und westlichen Elementen bestehende Synthese des Tanzes bei den Massen ankommen würde. Während der Sitzung des Nationalen Volkskongresses im Winter 1964 lud sie einige Delegierte zu einer Vorstellung ein, darunter Arbeiter aus dem Industriezentrum Wuhan. Bei der Aufführung hörte sie, wie ein Arbeiter sagte, daß er früher nie verstanden habe, was das Ballett eigentlich bedeute. Jetzt habe er es begriffen. Tschiang Tsching war außerordentlich erleichtert.
Um den Delegierten den Gegensatz zwischen dem klassischen und dem revolutionären Ballett zu demonstrieren, ließ sie die Truppe aus Schanghai zuerst »Das rote Frauenbataillon« und dann das alte Standardballett »Schwanensee« aufführen. Bei der zweiten Aufführung protestierten einige Arbeiter laut, und einige von ihnen baten, das Theater verlassen zu dürfen. »Wir sind überzeugt, daß >Das Rote Frauenbataillon< viel besser ist,« versicherten sie (allerdings hat Tschiang Tsching mir gegenüber nie erwähnt, daß die Arbeiter es unter solchen Umständen wahrscheinlich nie gewagt hätten, eine andere Meinung zu haben). Der erste Tänzer Liu Tsching-tang, der sie regelmäßig über die Reaktion des Publikums unterrichtete, bestätigte ihren Eindruck und sagte, die Oper sei im allgemeinen positiv aufgenommen worden.
Zwei Tage bevor ich Tschiang Tsching kennenlernte, interviewte ich im Peking-Hotel Mitglieder der Truppe aus Schanghai, die seit 1964 ausschließlich »Das Rote Frauenbataillon« aufgeführt hatte. Der Tschiang Tsching treu ergebene Liu Tsching-tang war der Hauptsprecher. Er erzählte mir, Anfang der fünfziger Jahre hätten russische Lehrer und ihre Privatschüler in China das Monopol für die Ausbildung an den Ballettschulen gehabt, während eine Elite chinesischer Berufstänzer die Volkstänze gepflegt hätte. 1954 richtete die Partei in Peking eine Tanzschule ein, deren Ziel es war, chinesische Ballett- und Volkstanzlehrer auszubilden, die nicht nur Schüler aus der städtischen Oberschicht, sondern auch Angehörige der armen Landbevölkerung unterrichten sollten. Aber noch Mitte der fünfziger Jahre war es das Bestreben aller Ballettänzer, »die berühmten ausländischen Balletts« zu beherrschen. Sie begannen mit kleinen Ausschnitten, etwa dem Tanz der kleinen Schwäne aus »Schwanensee«, Passagen aus »Giselle« und aus Byrons »Korsar«. Allmählich erweiterten sie das Repertoire und beherrschten schließlich diese und andere ausländische Balletts vollständig.
Der »einseitige Abzug« aller sowjetischer Experten im Jahre 1960 war für das Ballett in China ein schwerer Schlag. Halb ausgebildete Lehrer und Schüler mußten ohne fremde Hilfe weitermachen. Doch gerade weil sie nun gezwungenermaßen auf sich selbst angewiesen waren, wurden sie zu Abwandlungen angeregt, und dadurch wurde auf lange Sicht das Entstehen des heutigen »revolutionären Balletts« möglich. Unmittelbar nach dem Abzug der Sowjets trennte sich eine Gruppe von Lehrern von dem ursprünglichen Pekinger Institut für Tanz und richtete in Schanghai eine Zweigstelle ein. Noch 1962 und 1963 inszenierten beide Truppen ausschließlich »ausländische bürgerliche Klassiker«. Ungläubig lachend erklärte eine Tänzerin, Victor Hugos »Glöckner von Notre Dame« und Alexander Puschkins »Quelle der Tränen« hätten einmal zu ihren besten Inszenierungen gehört.
Als Genossin Tschiang Tsching 1963 zum erstenmal an das Pekinger Institut für Tanz kam, gab sie nicht vor, etwas vom Ballett zu verstehen. Ihre Mission war rein politischer Natur. Aber die Tänzer wußten, daß sie während der vergangenen zwei Jahre für ihre Arbeit in der symphonischen Musik und der Oper große Anerkennung gefunden hatte. »Schatschiapang« war bereits zur Modelloper, Symphonie und zum Film umgearbeitet worden. Die Umarbeitung des klassischen ausländischen Balletts war die nächste Phase. Tschiang Tsching war entschlossen, auch hier alles auszumerzen, was an die feudalistische Klasse erinnerte, und Technik und Inhalt neu zu gestalten.
Anfang der sechziger Jahre hatte man aus einem Theaterstück mit dem gleichen Thema den Film »Das Rote Frauenbataillon« gemacht. Tschiang Tsching sagte den Tänzern, der Film sei zwar mißlungen, sie sei jedoch überzeugt, sie könnte daraus ein revolutionäres Ballett machen. Deshalb unternahm sie Ende 1963 die Reise auf die Insel Hainan. Hier besichtigte sie nicht nur die militärischen Einrichtungen, sondern studierte gründlich die Topographie, das Klima, die Bäume, die Blumen, die Farben und die Kultur der Inselbewohner, des LiStammes. Außerdem interviewte sie die Leute über die Geschichte des in den Jahren 1930 bis 1931 aufgestellten Frauenbataillons. Trotz der Behinderungen durch Tschou Yang kehrte sie sehr zuversichtlich nach Peking zurück und ließ die Akademie schließen. Damit mußten alle in Vorbereitung befindlichen Inszenierungen aufgegeben werden. Aus den Mitgliedern der Akademie suchte sie sich die wenigen Leute aus, auf die sie sich verlassen konnte, und stellte aus ihnen die »schöpferische Gruppe« zusammen. Diese Gruppe, zu der auch Schriftsteller, Musiker, Choreographen, Bühnenbildner und Hauptdarsteller gehörten, schickte sie nach Hainan (nachdem sie sich der Unterstützung Tschou En-lais versichert hatte). Dort sollten sie aus der lokalen Kultur »Rohmaterial« auswählen.
Die Gruppe setzte sich aus Nordchinesen zusammen, die das tropische Klima nicht vertragen konnten. Außerdem war die Bevölkerung der Insel über das Eindringen der Leute verärgert. Aus Streitgesprächen innerhalb der Gruppe über die richtige politische Interpretation des Tanzes wurde ein regelrechter Krieg, was um so peinlicher war, als man die Künstler bei einer VBA-Einheit untergebracht hatte, die für die Verteidigung Hainans verantwortlich war. Bei dem Versuch, aus den Erfahrungen des Lebens in Kasernen künstlerische Anregungen zu gewinnen, lernten sie vor allem, daß »politische Macht aus den Gewehrläufen kommt.«
Auf der Suche nach historischer Authentizität sprachen die Tänzer mit einigen älteren Frauen, die noch selbst in dem Roten Frauenbataillon gekämpft hatten. Diese Frauen schilderten ihnen, wie das in dem Ballett unter dem Namen Wu Tsching-hua auftretende junge Mädchen von der Familie des Großgrundbesitzers als Dienstmädchen ausgebeutet worden sei. Als sie flüchtete, sei sie noch ein Kind gewesen. Eine andere Frau, die ähnliches erlebt hatte, sagte, die Flucht vor ihrem tyrannischen Grundherrn sei ihr erst nach fünf oder sechs Versuchen gelungen. Dann sei sie bei der VBA untergekommen.
Liu Tsching-tang sagte, manche Leute, besonders Ausländer, hätten die falsche Vorstellung, in diesem Ballett ginge es in erster Linie um Frauen. In Wirklichkeit sei die Zentralfigur der Held Hung Tschang-tsching (den er darstellte), und nicht die Frau Wu Tsching-hua!
Die Kulturrevolution hatte in der Tat das klassische Ballett vernichtet. Seit 1963 durfte diese Truppe jedoch nur ein einziges Werk aufführen, eben »Das Rote Frauenbataillon«. Ich fragte, ob man jetzt mit der Inszenierung anderer revolutionärer Balletts rechnen könne.
Das Ballett »Ein Loblied auf das Yimeng-Gebirge«, das 1971 probeweise zum erstenmal aufgeführt worden war, wurde, wie Liu Tsching-tang mir sagte, noch überarbeitet. Es sollte später in das Modellrepertoire aufgenommen und verfilmt werden. Die Premiere fand 1973 in Peking statt. Der Schauplatz war die Halbinsel Schantung, wo während des Befreiungskrieges zwei Stützpunkte der Revolutionsarmee lagen. »Ein Loblied auf das Yimeng-Gebirge« sollte zeigen, in welch einzigartiger Weise Mao Tse-tung den Guerillakrieg und den Volkskrieg kombiniert hatte - die Armee, die sich im Volk wie der Fisch im Wasser bewegte. Um sich darauf vorzubereiten, reiste die Truppe nach Schantung, wo die Tänzer ihre eigene »Fisch-Wasser-Beziehung« zur Bevölkerung pflegten. Die Operntruppe am Yimeng-Berg stellte den Tänzern ihre Bühne zur Verfügung, damit sie Ausschnitte aus dem neuen Ballett vorführen konnten. Die Schauspieler aus Schantung, die sich offensichtlich dadurch geschmeichelt fühlten, daß die Tänzer aus Peking versuchten, ihr Leben auf der Bühne darzustellen, brachten ihrerseits eine Oper mit dem gleichen historischen Thema zur Aufführung. Die erste Inszenierung des Balletts wurde vor mehr als 40 000 Zuschauern aufgeführt, die zum Teil von weither angereist kamen. Kinder kletterten auf Bäume, um die Vorgange auf der Bühne aus der Vogelperspektive zu sehen. Liu Tsching-tang beurteilte die Schwächen und Stärken des Balletts nach der Reaktion des Publikums: Lauter Beifall bedeutete, daß eine Szene gelungen war; herrschte Schweigen, so hieß dies, daß die Künstler sich noch mehr um soziale und regionale Authentizität bemühen mußten.
Ein Tänzer meinte, die Aufnahme des klassischen Balletts in früheren Jahren sei »sehr kühl« gewesen. Nur wenige alte Leute hätten sich dafür interessiert. Da die Tänzer wußten, daß die Massen sich nicht für ihre Arbeit erwärmen konnten, war auch ihr eigenes Interesse nicht sehr groß. »Wir sind der Genossin Tschiang Tsching dankbar dafür, daß sie uns mit Wärme und Begeisterung für unsere Arbeit erfüllt hat.«
Als Tschou En-lai und Edgar Snow 1936 eine Höhlenstadt nördlich von Jenan besuchten, erschien am Rande einer steilen Klippe plötzlich eine völlig nackte verrückte Frau. Als sie die Männer sah, stieß sie Flüche aus und floh. Später erfuhr Snow, daß ihr persönliches Schicksal diese Frau in den Wahnsinn getrieben hatte. Ihre ganze Familie war durch eine Seuche umgekommen.[22]
Man hörte immer wieder, daß Frauen in Zeiten des Aufruhrs und sporadischer Revolten durch unerträgliche Verhältnisse in Wahnsinn verfallen waren. Solche Begebenheiten verwandelten sich in eine moderne Mythologie. Eine der bekanntesten Legenden entstand aus Gerüchten über ein weißhaariges Mädchen. Ihre Geschichte wurde zu einer Oper, einem Film und einem Ballett verarbeitet. An den verschiedenen Versionen läßt sich der Wandel in der Haltung der Kommunistischen Partei gegenüber dem menschlichen Körper, der Sexualität, der unehelichen Geburt, der romantischen Liebe und der Möglichkeit der politischen Befreiung ablesen.
In der ursprünglichen Volksoper »Das Weißhaarige Mädchen«, die 1944 an der Lu-Hsün-Akademie inszeniert wurde,[23] ist die Heidin Hsi-erh die Tochter eines alten Bauern, der seine Pacht nicht bezahlen kann. Zur Strafe nehmen ihm der Gutsbesitzer und sein Lakai die Tochter. Das treibt den Vater zur Verzweiflung und zum Selbstmord. Hsi-erh wird gezwungen, als Magd im Hause des Gutsbesitzers zu dienen. Er vergewaltigt sie, und die Frauen machen ihr das Leben zur Hölle. Als sie schwanger wird, versucht der Gutsbesitzer, sie zu ermorden. Aber sie flieht in die Berge, wo sie einen Sohn gebiert, der an Hunger stirbt. Aus Mangel an Salz und Sonnenlicht wird ihr Haar vorzeitig weiß (berichtet die örtliche Überlieferung). Dorfbewohner, die die gespenstische Gestalt sehen, als sie im Tempel geopferte Lebensmittel stiehlt, halten sie für einen Geist. In der Opernfassung von Jenan, die von Tschou Yang,[24] Tschang Keng und anderen genehmigt wurde, entflieht Hsi-erh einer »feudalen« Gesellschaft, um am Schluß von Angehörigen der 8. Route-Armee (Maos Roter Armee) und der Kommunistischen Partei gerettet zu werden.
In dieser einfachen Provinzoper sind Hsi-erh, ihr Vater Yang Pai-lao und der Gutsherr Huang Schih-dschen archetypische Gestalten, und ihre Namen haben eine bittere symbolische Bedeutung. Hsi-erh heißt »Freude«, Yang Pai-lao »vergebliche Mühe« und Huang Schi-jen »Barmherzigkeit der Welt«. Eine weitere Person ist der gutaussehende junge Ta-tschun (»Großer Frühling«), der in dem verwahrlosten totenblassen Mädchen seine ehemalige Verlobte erkennt. Nach ihrer glücklichen Wiedervereinigung schließt sie sich der 8. Route-Armee an. Als die Oper in Jenan aufgeführt wurde, gerieten die Bauern beim Auftritt des Grundbesitzers in solchen Zorn, daß sie sich erhoben und riefen: »Scha! Scha!« (Bringt ihn um!)
Damals sagte man, die Oper zeige, »wie die alte Gesellschaft die Menschen in Geister verwandelt und die neue Gesellschaft Geister zu Menschen macht.« (Während der Kulturrevolution gab man diese Deutung auf, weil sie Ausdruck von Aberglauben und fehlendem Klassenbewußtsein sei.) Da das Thema immer noch sehr beliebt war, entstand danach 1950 ein »naturalistischer« Film. Die Hauptrolle spielte Tien Hua, ein von den Schauspielern der 8. Route-Armee ausgebildetes Bauernmädchen. 1951 wurde der in verschiedenen Ländern gezeigte Film mit dem Stalinpreis zweiter Klasse ausgezeichnet.[25] Obwohl die Handlung während des Befreiungskriegs gegen Japan spielt, tritt in dem ganzen Film kein einziger Japaner auf. Doch die Nachfahren der imperialistischen Generation in Japan waren von der grausigen, aber romantischen Geistergeschichte so fasziniert, daß in Japan ein Ballett daraus geschaffen wurde. Es wurde zuerst 1957 und dann Anfang der sechziger Jahre in Peking aufgeführt.[26] Damals begann Tschiang Tsching mit der Arbeit an ihrer eigenen Fassung und machte daraus ein »proletarisches Ballett«, das von allen romantischen und naturalistischen Elementen gereinigt und mit der Klassenkampfideologie durchtränkt werden sollte. In getrennt geführten Interviews erklärten sowohl sie als auch ihre Anhänger vom Ballett, daß man in der revolutionierten Fassung die Vergewaltigung, die Geburt und den Tod des Kindes gestrichen habe, um neue und positive Vorstellungen und einen alles überstrahlenden »Glanz« zu erzeugen. Die erotischen Beziehungen zwischen Hsi-erh und Ta-tschun traten in den Hintergrund, und im Finale wurden die Größe der 8. Route-Armee und des Vorsitzenden Mao in bombastischer Weise gefeiert.
Dieses Ballett, das so eng mit der Geschichte der chinesischen Revolution verknüpft ist, hat auf Ausländer in der verschiedensten Weise gewirkt. 1973, als Tschiang Tsching mir die neueste Filmfassung des »Weißhaarigen Mädchens« im Austausch gegen »The Sound of Music« schickte, schrieb der Musikkritiker der »New York Times«, Harold Schonberg, über die Aufführung des Balletts, die er in Schanghai gesehen hatte:
- Für westliche Augen ist das Ballett alles andere als revolutionär. Es ist ein naives, unschuldiges Propagandamärchen, das sich in erster Linie auf das russische Ballett stützt und den westlichen Tanzstil übernommen hat. Hier und dort werden chinesische Elemente eingeführt; Volksinstrumente, die Pentatonalität und sogar einige Mikrotöne. Aber auch das klingt irgendwie russisch ... Die meisten westlichen Zuhörer würden die Musik zu »Das Weißhaarige Mädchen« als Filmmusik bezeichnen. Jedenfalls finden sich darin sämtliche Klischees.[27]
An einem Spätnachmittag im August lernte ich die Truppe kennen, die dieses provozierende Ballett in der schönen, im europäischen Stil errichteten Akademie am Stadtrand von Schanghai einstudiert hatte. Lin Yang-yang, ein treuer Anhänger der Kulturpolitik von Tschiang Tsching, Ballettmeister und zugleich politischer Kommissar der Truppe, übernahm die Erklärungen. Er war witzig und kannte sich mit Ausländern aus. 1960, begann er seinen Bericht über die politische Geschichte des Ensembles, war die Tanzgruppe der »jüngeren Brüder« nach Schanghai gekommen, nachdem sie sich von den »älteren Brüdern« am Institut für Tanz in Peking gelöst hatte. Während der vergangenen zehn Jahre war es dieser Gruppe, der bis dahin nur reiche Mädchen angehört hatten, die es sich leisten konnten, bei ausländischen Tanzmeistern Unterricht zu nehmen, gelungen, das Volk für ihre Kunst zu interessieren. Heute wurden die Schüler und Schülerinnen ausschließlich von chinesischen Tanzlehrern unterrichtet.
Genossin Tschiang Tsching war es, die in erster Linie den Beginn des kulturellen Kampfes ausgelöst hatte, in dessen Verlauf sich das Ballett von einer »bürgerlich klassischen Kunst« in eine »chinesische Volkskunst« verwandelt hatte. Ihr Hauptgegner war Lui Schao-tschi, der Verteidiger der »heiligen Felder der Großgrundbesitzer und der Bourgeoisie«. Ebenso wie Lin Mohan, der Stellvertretende Vorsitzende der ehemaligen Propagandaabteilung, und Tschen Pei-hsien, der Sekretär des städtischen Parteikomitees von Schanghai, pflegte Liu Schao-tschi zu sagen, es sei absurd zu glauben, ein ausländischer Tanz, das Ballett, könnte von fremden sozialen und politischen Elementen gereinigt und dazu verwandt werden, die gegenwärtige chinesische Wirklichkeit darzustellen. Diese drei Männer und andere arbeiteten zusammen, um die Mitglieder des Balletts dazu zu bringen, sich der sorgfältigen Neubearbeitung des Stoffs durch Tschiang Tsching zu widersetzen.
Sie wollte zum Beispiel die revolutionäre Initiative des Helden Ta-tschun besonders dadurch herausstellen, daß sie zeigte, wie er den Kampf gegen die örtlichen Despoten und den japanischen Imperialismus organisierte. Aber die Revisionisten verlangten, daß sich Tatschun in erster Linie um seine Herzensangelegenheiten kümmerte und die Heldin Hsi-erh umwarb. Damit stellten sie die Liebe über die Revolution. In der Szene in der Berghöhle, wo Ta-tschun Hsi-erh nach vielen Jahren wiedersieht, sollte er ihr zum Zeichen, daß er sie erkannte, ein Nähzeug zeigen, das er ihr früher einmal geschenkt hatte. Nach dem Willen der Revisionisten sollte er einen erotisch angehauchten Tanz aufführen und vor lauter Liebe in Ohnmacht fallen. Am Schluß sollte ein Duett aufgeführt werden, das zeigte, wie das Paar ein idyllisches Leben auf dem Lande begann. Bei den Gruppentänzen sollte nur die Produktion und nichts Politisches gefeiert werden (auch nichts, was sich besonders auf die Person Maos bezog). Tschiang Tsching widersetzte sich diesem »friedlichen Finale«, weil es, wie sie sagte, die Theorie vom Ende des Klassenkampfes propagierte. Wenn auch der Grundbesitzer Huang Schih-jen und die Dorfdespoten am Schluß gestürzt worden seien, so habe Ende der dreißiger Jahre doch der größte Teil ihres Landes ebenso wie die übrige Welt noch auf die Befreiung gewartet, erklärte sie den Tänzern. Hsi-erh und Ta-tschun sollten deshalb ihre Liebesbeziehung hintanstellen und sich an die noch nicht beendete Arbeit für die Revolution machen.
Über sich selbst erzählte Lin Yang-yang: »Da ich in der neuen Gesellschaft geboren und aufgewachsen war, fehlte mir das wahre Engagement für die Arbeiterklasse, und auch diese Tänzerinnen (die pflichtschuldig zuhörten und nur darauf zu warten schienen, daß der Meister den Finger hob) wußten damals nichts von der wirklichen Welt. Um sich von den elitären Vorstellungen zu befreien, die sie in der Akademie entwickelt hatten, mußten sie turnusmäßig in industrielle und landwirtschaftliche Betriebe gehen und dort lernen, wie man die Sorgen einfacher Menschen im Tanz darstellen kann. Die meisten Tänzer und Musiker litten unter der >Kluft zwischen den Generationen<. Da sie nach der Befreiung aufgewachsen waren, kannten sie nur materielle Annehmlichkeiten und wußten, daß die Sicherheit des Staates nicht gefährdet war. Jetzt mußten sie die Bedeutung der Armut, des Exils und der Existenzbedrohung kennenlernen.«
Die Musiker des Balletts berichteten, wie aus der alten Volksoper von Nord-Schensi das stark westlich beeinflußte heutige symphonische Arrangement entstanden war. Die Genossin Tschiang Tsching habe sie gelehrt, die Kraft des in der neuen Synthese gefundenen musikalischen Ausdrucks auf den Rachegedanken zu konzentrieren, das fundamentale Thema der Handlung. Sie hatte auch die Beziehungen zwischen Musik und Tanz umgekehrt. Sie hatte gesagt, beim klassischen Ballett sei die Musik das primäre Element gewesen und der Tanz ihr Ausdruck, aber beim revolutionären Ballett sei der Tanz die Hauptsache. Im Tanz sollten die heroischen Gestalten in den führenden Rollen deutlich werden und in den Vordergrund treten. Als die Truppe im April 1972 auf eine Tournee nach Nord-Korea und Japan ging, wurde sie von Premier Tschou und Tschiang Tsching verabschiedet. Sie erinnerte die Tänzer und Tänzerinnen daran, daß sie technisch noch keineswegs perfekt seien, und ermahnte sie, ihre Bewegungen exakter auszuführen. Hsi-erh sollte die Beine bei der Pirouette noch mehr heben. Die Musiker sollten stets daran denken, daß sie nicht zu laut spielen durften, weil die alte chinesische Musik mit ihren schrillen Tönen nichts für fremde Ohren sei. Dabei sagte sie (das gleiche hatte sie schon den Musikern an der Oper gesagt: »Die Musik ist der Gast, nicht der Gastgeber.«
Auch Lin Yang-yang benutzte Vergleiche und erklärte, beim klassischen Ballett habe man die menschliche Stimme weder als Solo noch im Chor gehört. Aber das chinesische Publikum, das vor allem mit der Oper vertraut war, empfand eine Bühne als »nackt«, wenn es keine Gesangseinlagen gab (nackte Schenkel und Netztrikots, wie man es im Ausland kannte, wirkten ebenfalls zu nackt, meinten andere). In das revolutionäre Ballett hatte man daher die Solostimme und den Chor aufgenommen, die an dramatischen Stellen mächtig anschwellen, damit das Publikum mitgerissen wird, wie es die Führer beabsichtigen. Wenn zum Beispiel der Vater Yang Pai-lao in der ersten Szene vom Gutsherrn getötet wird, drückt die Arie der Hsi-erh (die hinter der Bühne von einer Opernsängerin gesungen wird) ihren Kummer und ihre Entrüstung aus.
Um die Klangfülle zu erhöhen, hat man europäische Instrumente ins Orchester aufgenommen, aber die chinesischen Instrumente spielen die Leitmotive der einzelnen Rollen (wie z. B. in »Peter und der Wolf«) und erzeugen hochdramatische Wirkungen. Wenn zum Beispiel Hsierh von ihrem Vater eine Rolle Garn geschenkt bekommt, sich der Ausbeutung widersetzt oder an ihre früheren Leiden denkt, verleiht das Blasinstrument pan-hu ihren leidenschaftlichen Gefühlen Ausdruck. Das san-hsien, ein Instrument mit drei Seiten, verkündet mit düsteren Tönen das Nahen des Grundbesitzers Huang Schih-jen. Die heroische Gestalt von Ta-tschun wird durch eine Reihe von Schlaginstrumenten akustisch symbolisiert. Bei ländlichen Szenen ertönen Bambusflöten.
Im ersten Teil der Bühnenaufführung und des Films tanzte die Ballerina Mao Kuei-fang die Rolle der Hsi-erh. Eine zweite Tänzerin löste sie bei den anstrengenden Szenen ab, die in den Bergen spielen. Diese selbstbewußte, aber unprätentiöse Primaballerina ist wahrscheinlich das Idol von Millionen junger Mädchen ihrer Generation, die von ihren Führern unaufhörlich ermahnt werden, nicht nach persönlichem Ruhm zu streben. Sie sah aus wie die meisten chinesischen Tänzerinnen, die trotz ihres harten Trainings nie zu muskulös oder sehnig wirken. Das ungewöhnlich lange Haar trug sie als Krone um den Kopf gelegt. Obwohl sie im kulturellen Leben Chinas eine prominente Rolle spielte, ist weder sie noch irgendeine andere chinesische Tänzerin, die durch das Feuer der Kulturrevolution gegangen ist, zu einem Star geworden wie die Fonteyn oder die Plisetzkaja.
Auch sie wurde gebeten, ihre Geschichte zu erzählen. Als sie zum erstenmal in der Szene auftrat, in der sie von ihrem Vater rotes Garn geschenkt bekommt, habe ihre Gleichgültigkeit die Bauern, die die Probeaufführung beurteilen sollten, empört. Erst nachdem sie eine Zeitlang bei armen Bauern gelebt hatte, verstand sie, welche Freude man einem jungen Mädchen mit etwas rotem Garn machen konnte, und erst dann konnte sie diese Freude auch ausdrücken. In der Szene, in der sie auf den Zehenspitzen durch einen Gebirgsbach tanzt, bemühte sie sich um ausgefallene pantomimische Gebärden. Die Bauern protestierten. »Wenn du viel durchgemacht hast, dann kannst du nicht mehr graziös sein!« Darauf wurden die Choreographie und ihre Bewegungen kühner.
Das chinesische Ballett hat vom klassischen Ballett den Spitzentanz und die Grundschritte übernommen, jedoch mit gewissen Modifizierungen. Die chinesische Arabeske ist absichtlich weniger romantisch. Genossin Tschiang Tsching lehnte die zu häufige Verwendung der Gebärde der »Orchideenfinger« (Daumen und Mittelfinger bilden einen Kreis) und der graziös nach oben gewandten Handflächen ab, berichtete Mao Kuei-fang. Um Entschlossenheit und Empörung zum Ausdruck zu bringen, ballten die Tänzerinnen die Fäuste. »Orchideenfinger« durften nur ausnahmsweise gezeigt werden wie etwa in der Szene, wo Hsi-erh sich aus den dunklen Berghöhlen vorsichtig den Weg zu der Lichtung ertastet und mit den Händen aus einem Gebirgsbach Trinkwasser schöpft. Bei ihrer Geburtstagsfeier darf Hsi-erh im Élevée auf Zehenspitzen verharren, während Ta-tschun sich zu erkennen gibt und seine Maske fallen läßt.
Im großen und ganzen studierte Tschiang Tsching lieber heftige Bewegungen ein, die den Haß gegen die Feudalherren und den Entschluß, Rache zu üben, ausdrückten.
Lin Yang-yang sagte, im revolutionären Ballett verwende man Solos und Duette nur selten, weil sie Ausdruck des Individualismus seien und romantische Gefühle darstellen. Im klassischen Ballett verbreiteten Solotänzer die Aura persönlicher Noblesse und führten Schritte und Sprünge vor, mit denen sie alle anderen Tänzer der Gruppe übertrafen. Die Zartheit, mit der sie die Ballerina behandelten, war Ausdruck ihrer Herablassung gegenüber der Frau. Im revolutionären Ballett ist ein Racheakt die einzige Rechtfertigung für das Solo eines Tänzers. Wenn zum Beispiel der Grundherr Hsi-erh ihrem Vater entreißt, führt Ta-tschun ein großartiges, aus Pirouetten und Spagats bestehendes Solo auf, um seine Klassenbrüder aufzufordern, mit ihm an dem tyrannischen Feudalherrn Rache zu nehmen.
Die Ballerina im klassischen Ballett steht oft im Mittelpunkt, und der Solotänzer nimmt ihr gegenüber nur den zweiten Rang ein. Lin meinte, daß diese Beziehung den Chinesen seltsam vorkomme. Ihr neues Ballett bemühe sich um die Gleichberechtigung der männlichen und weiblichen Hauptdarsteller. Die romantischen Tendenzen, an denen sich früher die chinesischen Revisionisten ergötzt hatten, seien jetzt nicht mehr so deutlich zu spüren.
In der ursprünglichen Fassung des »Weißhaarigen Mädchens«, der Oper aus Jenan, wurden alle Familienmitglieder des Grundbesitzers negativ gesehen. Während der Kulturrevolution wurde dieser Aspekt des Stückes geändert, und nur die Matriarchin, die Mutter des Grundherrn, ist eine böse Frau. Die anderen weiblichen Angehörigen sind die Opfer ihrer Tyrannei. Die älteste Magd zeigt aufrichtiges Mitgefühl mit dem Leiden von Hsi-erh. Die Matriarchin ist nicht nur in diesem Ballett die einzige böse Frau, sondern überhaupt die einzige negative weibliche Gestalt auf der neuen Modellbühne. Diese abstoßende Frau werde nur deshalb noch gezeigt, weil die heutige Jugend nicht mehr unter dem alten Familiensystem und den Schwiegermüttern zu leiden habe. Dieses Ballett sei deshalb die einzige (!) Möglichkeit für die Jugendlichen, zu sehen, wie böse Frauen früher waren.
Das Ansehen der proletarischen Klasse wurde wesentlich gestärkt, als Tschiang Tsching verlangte, der Vater Yang Pai-lao solle seine defätistische Haltung aufgeben und Würde zeigen. Als der Vater in der ersten Fassung damit bedroht wurde, daß man ihm seine Tochter nehmen werde, duckte er sich vor dem Feudalherrn und nahm sich mit Gift das Leben. Tschiang Tsching verlangte von ihm, er solle sich dem Grundherrn stolz entgegenstellen, ihm mit seinem Schulterstock (früher ein Zeichen der Schande, heute das stolze Symbol des Arbeiters) drohen und kämpfend sterben.
Hsi-erh war nun nicht mehr nur die schwache junge Frau, der Unrecht geschah, sondern verteidigte sich militant und rachedurstig gegen die Angriffe des Grundherrn mit einem der großen Kerzenleuchter, die er in seiner Wohnung aufgestellt hatte.
Um Haß- und Rachegefühle zum Ausdruck zu bringen, übernahm man Schritte aus chinesischen Nationaltänzen, wie sie in Opern verwendet wurden, in das Ballett. Während das Haar von Hsi-erh durch die Entbehrungen in der Verbannung allmählich seine natürliche Farbe verliert und zunächst grau und dann weiß wird, tanzt sie mit kräftigen Bewegungen, die an das moderne westliche Ballett erinnern. Die Tänzer haben den »Entengang« mit den nach außen gewendeten Fußspitzen des klassischen Balletts durch den militärischen Marschtritt ersetzt. In seinem Solotanz, mit dem Ta-tschun die anderen Bauern auffordert, an dem Feudalherrn Huang Schin-jen Rache zu nehmen, verbindet er Pirouetten aus dem Ballett mit dem in der Oper gezeigten Spagat. Tänzer und Tänzerinnen nehmen auch die in der alten Oper üblichen starren dramatischen Posen ein. In der ersten Opernversion kämpften die Bauern mit Schwertern und Speeren. Heute tanzen sie mit Gewehren - und sogar mit Handgranaten - weil sie modern sind.
»Madame Witke,« sagte Tschiang Tsching in einem persönlichen Gespräch zu mir, »Sie haben ein paarmal gesagt, Kunst und Literatur in unserem Lande seien >fortschrittlich< (meine Bemerkungen hatten sich auf die Tatsache bezogen, daß sich die Kunst auf allen Gebieten so offenkundig bemühte, sozialistisch und kommunistisch zu werden). Wir haben aber trotzdem das Gefühl, daß das künstlerische Niveau unserer Arbeit nicht dem hohen Ansehen entspricht, dessen wir uns heute erfreuen.«
Sie erwähnte in diesem Zusammenhang besonders die neue Fassung des »Weißhaarigen Mädchens«, das Ergebnis jahrelanger mühsamer Umarbeitungen. Tschiang Tsching und ihre Gefolgsleute hatten beabsichtigt, weitere Verbesserungen anzubringen, aber die Clique um Lin Piao, deren Manipulationen hinter den Kulissen unentdeckt blieben, bis es fast zu spät war, hatte dies sabotiert.
Einige Anhänger von Lin, die für eine Umarbeitung des »Weißhaarigen Mädchens« verantwortlich gemacht wurden, übertrieben das romantische Element. In ihrer Version blieb Hsi-erh so lange in den Bergen, daß der Eindruck entsteht, sie habe sich dem Klassenkampf entzogen. Seit dem Sturz von Lin Piao bemühte sich Tschiang Tsching immer noch, die Bedeutung der erotischen Beziehungen zwischen Ta-tschun und Hsierh herunterzuspielen. Sie glaubte, diese letzte Korrektur werde dazu beitragen, daß das Publikum noch mehr Verständnis für die politische Bedeutung des Balletts bekäme.
Sie gab jedoch zu, daß alle diese Modellarbeiten ihre Schwächen hätten. Und doch fänden hier die chinesischen Massen nicht nur eine Darstellung ihrer Revolution, sondern man könnte von dem neuen Repertoire auch behaupten, daß fremde Traditionen in der Musik und im Theater keiner anderen Nation so kühn integriert worden seien wie hier. Das ganze Ausmaß dieser revolutionären Arbeit werde die Welt erst später zu würdigen wissen.