Die Debatte über den »Traum der roten Kammer«

Seiten voller unnützer Worte
Unter heißen, bitteren Tränen geschrieben;
Alle nennen den Dichter töricht;
Und niemand hört seine geheime Botschaft ...
»Traum der roten Kammer«

»Der Traum der roten Kammer«, ein klassischer chinesischer Roman aus dem 18. Jahrhundert, ist im Westen kaum bekannt. Generationen von Chinesen haben ihn fünf-, zehnoder sogar zwanzigmal gelesen, und seine Interpretation war für sie sowohl ein literarisches Hobby als auch eine Übung zur Schulung der Intelligenz. Tschiang Tschings Kommentare zu »Der Traum der roten Kammer« zeigen, wie gut sie den Roman kennt, und machen deutlich, daß die radikal neue Einschätzung von Literatur und Kunst während der Kulturrevolution ohne sie gar nicht denkbar gewesen wäre. Andere Staatsgründer hätten vielleicht das »Buch verbrannt und die Gelehrten begraben« Gelehrte, die den Figuren eines Romans gleichen, der äußerst anschaulich eine unliebsame Vergangenheit schildert.
Die kommunistischen Führer entschieden sich statt dessen dafür, mit ihm zu leben. Das hatte auch politische Gründe. Die Umdeutung eines literarischen Werkes, das ein untilgbarer Bestandteil der Tradition ist, erregt weniger Aufsehen und ruft weniger Widerstand im Volk hervor als eine drastische Zensur. Zudem korrigiert sich der Roman sozusagen selbst. Die traumartige Erzählung ernüchtert den Leser und weckt Zweifel an der Gesellschaftsordnung, die sie darstellt. Außerdem vertrauten der Vorsitzende und seine Partei auf ihre pädagogischen Fähigkeiten. Sie hofften, das Volk lehren zu können, früheren Deutungen zu mißtrauen und den Roman von einem marxistischen Standpunkt aus zu lesen. Damit man als westlicher Leser Tschiang Tschings Analyse des »Traums der roten Kammer« richtig einschätzen kann, möchte ich zuerst die Handlung skizzieren und ein kurzes Psychogramm der Hauptpersonen geben. Jede Person des Romans gehört einer der beiden Sippen des aristokratischen Tschia-Clans an.
Die eine lebt in dem Herrenhaus Ningkuofu, und die andere in Jungkuofu, einem ebenso großen Haus.[1] In Jungkuofu ist Tschia Sche, der Sohn der Ältesten Witwe, das Oberhaupt der Familie. An der Spitze des Clans in Ningkuofu steht Tschia Tschen. Er nahm diese Position ein, als sein Vater Mönch wurde. Tschia Tscheng, Neffe von Tschia Tschen und ebenfalls Sohn der Ältesten Witwe, hat sich der Familie von Jungkuofu angeschlossen. Tschia Tschens Sohn Tschia Lien ist mit Phönix (Wang Hsi-fen) verheiratet, einer klugen und einflußreichen Frau, die später erkrankt und stirbt. Man macht sie und ihre Machenschaften dafür verantwortlich, daß das Vermögen des Tschia-Clans schließlich von kaiserlichen Beamten konfisziert wird. Tschia Tschengs Sohn, den ihm seine Frau Wang Fu-jen gebar, heißt Pao-yü. Er ist der Held des Romans. Pao-yü soll fleißig studieren und sich auf die Prüfungen des Staatsdienstes vorbereiten, um als hoher Beamter Karriere zu machen. Doch Pao-yü, feinsinnig und gefühlvoll, zieht die Gesellschaft seiner Kusinen und Gesellschafterinnen vor. Eine dieser Kusinen, mit der er seit den Tagen seiner Kindheit gespielt hat und die er anbetet, ist Schwarze Jade, die bezaubernde hypersensible Enkelin der Sippenältesten.[2] Eine andere schöne Kusine, Kostbare Haarnadel, kommt nach Jungkuofu. Sie ist es, die Pao-yü heiraten soll. Als die Hochzeit stattfindet, stirbt Schwarze Jade in der Hochzeitsnacht an gebrochenem Herzen. Pao-yü findet sich in der realen Welt kaum zurecht, so daß diese Heirat für Kostbare Haarnadel kein Glück bringt. Schließlich schafft es Pao-yü, die Prüfungen für den Staatsdienst zu bestehen. Doch bald darauf entsagt er der Welt und wird Mönch. Kostbare Haarnadel bleibt mit einem Kind zurück. In einer so kurzen Zusammenfassung tritt unvermeidlich die Liebesromanze, die nur ein Handlungsfaden des Romans ist, in den Vordergrund. Der Roman ist reich an ausgesprochen individuellen Charakteren und hat lange Zeit die Leser fasziniert, weil er sowohl den Glanz und Luxus als auch die Verkommenheit des Privatlebens einer untergehenden Elite schildert. Diese müßigen Reichen des achtzehnten Jahrhunderts inszenieren das ganze soziale, kulturelle und politische Panoptikum, das die kommunistischen Führer, die einen schlichten bäuerlichen Stil propagieren, das Volk vergessen lassen wollen: religiösen Mythos und Symbolismus, große Landsitze, in denen prunkliebende Reiche wohnen - die Armen werden nur äußerst selten geschildert - Ehrbarkeit und Korruption im öffentlichen Dienst, der Aufstieg großer Familien auf Kosten des Staates, Liebschaften und ungezügelte sexuelle Leidenschaften.
Abgesehen von dem sozialen Panorama behandelt der Roman geschickt metaphysische Gegensätze: äußere Blüte und inneren Verfall, Sinnlichkeit und Leid, Fiktion und Wirklichkeit, Realität und Illusion, Alltag und Traumwelt. Mit kunstvollen Metaphern konfrontiert der Autor diese gegensätzlichen Welten. »Ich habe den >Traum der roten Kammer< fünfmal gelesen«, sagte Mao Tsetung 1964. »Ich bin dadurch nicht beeinflußt worden, da ich es als ein historisches Werk betrachte«.[3] Nachdem Tschiang Tsching lange Passagen über Feen, Jade und Paläste vorgetragen hatte, empfahl sie mir: »Lesen Sie das Buch nicht nur als Roman, sondern auch als ein Geschichtsbuch, das den Klassenkampf schildert.« So wie bei einigen Filmen, die geschichtliche Ereignisse darstellen (»Die geheime Hofgeschichte der Tsching-Dynastie« und »Das Leben Wu Hsüns«), war Tschiang Tsching angeblich die erste, die die politischen Führer auf die Ungereimtheiten der Kritik an dem Roman »Traum der roten Kammer« aufmerksam machte. Wenn Tschiang Tsching und ich viele Stunden über Romane, Dichtkunst, Mythen und Geschichte diskutierten, so lag das keineswegs nur daran, daß sie sich gern als Zensorin betätigte. Bei diesen Gesprächen kamen die beiden Komponenten ihrer Persönlichkeit wieder deutlich zum Vorschein. Eingedenk ihrer öffentlichen Pflichten fühlte sie sich als »literarischer Wachhund«, der seinen Herrn und Meister in Alarmbereitschaft versetzte, da Gefahren vor den Toren lauerten. Doch als Privatperson liebte sie diesen Roman geradezu überschwenglich.

Tschiang Tsching begann, über die Diskussion um den wahren Autor des Romans und dessen Bedeutung zu sprechen - ein vielschichtiges und problematisches Thema.[4] Obwohl einige detaillierte Angaben, die sie machte, und ihre Beurteilung der politischen Bedeutung des Romans fragwürdig waren, vertrat sie entschlossen die neue Linie der Kritik. Und zweifellos waren manche Tendenzen der neuen Literaturkritik von ihr inspiriert. Bestimmte Interpretationen, die sie in einem Monolog von mehreren Stunden vortrug, wurden Bestandteil der offiziellen Linie, die in dem Jahr nach unserem Interview[5] propagiert wurde. Rätselhaft an diesem Roman ist bereits seine Herkunft. Wie hat er seine endgültige Fassung erhalten? Stammt der Roman von mehreren Autoren? Wie authentisch sind die überlieferten Manuskripte? Bis zu welchem Grad bietet der Roman eine zuverlässige Darstellung der historischen Verhältnisse und Personen? Als Autor der ersten acht Kapitel wird allgemein Tsao Hsüe-tschin (1715?-1763) genannt, ein Sprößling einer reichen und einflußreichen Familie, der die Leitung der kaiserlichen Brokatfabrik in Nanking während der Herrschaft von Kang-hsi, dem zweiten Mandschu-Kaiser, anvertraut war. Unter Kang-hsi erreichte die Dynastie den Höhepunkt ihrer Macht, und kurz darauf begann der Abstieg. Gleichzeitig verlor die TsaoFamilie ihr Vermögen und die Gunst des Kaisers. Mit dem Tschia-Clan des Romans ist eindeutig die Tsao-Familie gemeint. Der Roman berichtet, daß die Tschias vom Kaiser mit zwei riesigen Landgütern belohnt worden sind, und im Verlauf der Handlung stellt ihre schönste Tochter eine noch engere Verbindung zum Hof her, indem sie zur kaiserlichen Gemahlin erwählt wird. Im weiteren Verlauf der Erzählung wendet sich das Glück von der Familie ab.[6]
Die marxistische Attacke gegen den »Traum der roten Kammer« begann fünf Jahre nach der Übernahme der Macht. Wie die anderen Werke der Literatur- und Theatertradition und des Films war der Roman in den ersten Jahren der Volksrepublik China allen Interessenten zugänglich. Erst nachdem Tschiang Tsching von ihrer zweiten Reise in die Sowjetunion zurückgekehrt war, wurden der Roman und seine zeitgenössischen Interpreten vor der Nation angeprangert. Zuvor hatte es schon gewisse Warnzeichen gegeben.
Nach Stalins Tod (1953) wurde in der Sowjetunion nicht mehr jede Form nichtproletarischer Literatur unterdrückt, was dann zum politischen »Tauwetter« führte. Das bedrohliche Nachspiel - die Ermutigung chinesischer Dissidenten - konnte nicht ignoriert werden. Sollte man Hu Fengs brüske Ablehnung der partei-offiziellen Orthodoxie als Ankündigung zunehmender Überheblichkeit auf seiten der Intellektuellen und Künstler einschätzen? Nicht nur in der Welt der Literaten, deren Zentrum Schanghai war, sondern auch in der Hauptstadt mehrten sich die Anzeichen für einen Drang nach Unabhängigkeit, der für die Führung bedrohlich war. Im Winter 1953 bestritten Kao Kang und Jao Schu-schih, kampferfahrene Genossen, die jahrelang in ihren Provinzen ungewöhnliche Vorrechte genossen hatten, Maos persönliche Vorherrschaft über den Staat und seine Kompetenz festzulegen, was für die nationale Entwicklung Vorrang hatte. Daß Kao und Jao im Frühling 1954 öffentlich angegriffen wurden, mußte man als Omen ansehen.
Tschiang Tsching erklärte, daß sie nur begrenzten Zugang zu ausländischer Literatur hätte, da sie keine fremden Sprachen lesen könne. Doch ihrer Meinung nach konnte keines der Bücher des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, die sie in Übersetzungen gelesen hatte, mit dem »Traum der roten Kammer« verglichen werden, was die subtile Analyse menschlicher Beziehungen betraf. Unter den ausländischen Schriftstellern bewunderte sie besonders Mark Twain, einen »Fortschrittlichen«, der ganz bewußt die ungerechten sozialen Verhältnisse seiner Zeit geschildert hatte. Alle Hauptpersonen seiner Erzählungen gehörten dem Kleinbürgertum an und bemühten sich nach Kräften, auf der sozialen Leiter emporzuklimmen. Ebenso verhalte es sich mit dem Helden aus Dickens' »Große Erwartungen« und mit Julien, dem Helden aus Stendhals »Rot und Schwarz«, der eine militärische Karriere anstrebt. Sein Schwiegervater möchte ihm einen Titel kaufen und stattet ihn mit einer Armbanduhr und anderen Symbolen bürgerlichen Wohlstands aus. Wie abstoßend sie dieses kleinbürgerliche Thema des sozialen Aufstiegs auch fand, Tschiang Tschings Bewunderung für Stendhal wurde dadurch nicht gemindert. »Rot und Schwarz« sei »unsterblich« und werde immer einen wichtigen Platz in der Weltliteratur einnehmen, da es die politische und ökonomische Situation Europas zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts beschreibe. Dieses Buch schildere nicht nur die Kämpfe zwischen Staat und Kirche, sondern auch die mörderischen Auseinandersetzungen innerhalb dieser beiden Institutionen. Ähnlich wie altmodische Kritiker des »Traums der roten Kammer«, so schmälerten gewisse revisionistische Kritiker in Frankreich die historische Bedeutung von »Rot und Schwarz«, indem sie dieses Werk als eine Liebesgeschichte bezeichneten. Was Stendhal selbst beträfe, so sei er natürlich »unverbesserlich reaktionär«. In einer Kleinstadt geboren und auch dort aufgewachsen, habe er ganz Europa im Dienst der »Dynastie« bereist. Doch diese Seite seines Lebens erhöhe andererseits den Wert des Buches als eines authentischen Spiegels der zeitgenössischen politischen Szenerie.
Ein anderer großer Roman, den Tschiang Tsching lange bewundert hatte, war »Kin-ping meh«, ein Buch, das aus der Ming-Zeit stammte und von einer Stadt in Schantung handelte, die an die blühenden Handelszentren erinnerte, die Tschiang Tsching als Kind gekannt hatte. Die Beschreibungen sexueller Vorgänge sind so drastisch, daß den meisten Leuten jahrhundertelang die ursprüngliche, von anstößigen Stellen nicht gereinigte Ausgabe unzugänglich war. Sie habe sich strikt geweigert, die gesäuberte, entschärfte Fassung zu lesen, berichtete Tschiang Tsching, denn sie könne literarische Verfälschungen in keiner Form tolerieren(!). »Ich bin schon ein halber Experte, was den »Traum der roten Kammer( betrifft«, erklärte Tschiang Tsching. Sie hatte das Buch zuerst am Anfang der fünfziger Jahre auf seinen politischen Gehalt hin überprüft.
Es lohnt sich, den Hintergrund der anhaltenden Debatten über diesen Roman zu schildern, da auf diese Weise gewisse »widerspenstige Personen« plastischer werden, mit denen sich die politischen Führer jahrelang auseinandersetzen mußten.[7]
Es begann 1954, als Tschiang Tsching sich zu Hause allmählich erholte. Sie blätterte einige Journale durch und stieß im Septemberheft der Zeitschrift »Literatur, Geschichte und Philosophie« auf einen Artikel über den Roman »Der Traum der roten Kammer« - eine Publikation der Universität von Schantung. Die Verfasser, Li Hsi-fan und Lan Ling, zwei offensichtlich talentierte Studenten, von denen bisher niemand etwas gehört hatte, setzten sich mit der Interpretation von Professor Yü Ping-po auseinander, die kürzlich veröffentlicht worden war. Dieser Literaturhistoriker hatte seine Karriere mit einer allgemein anerkannten »bürgerlichen« Auslegung des Romans begründet. Tschiang Tsching gab den Artikel unverzüglich dem Vorsitzenden zu lesen, und Mao gab ihr dann recht, daß der Artikel es wert sei, einer größeren Leserschaft zugänglich gemacht zu werden. Er bat sie, die Pekinger »Volkszeitung« damit zu beauftragen, Li Hsi-fans Artikel abzudrucken. (Während unseres Gesprächs erwähnte Tschiang Tsching den Mitautor Lan Ling kaum.) Die leitenden Redakteure der »Volkszeitung« waren einverstanden. Nun begann Tschiang Tsching auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Sie erfuhr, daß Li Hsi-fan seinen Beitrag zuerst der »Literaturzeitung« (der größten Literaturzeitschrift, die in Schanghai erschien und von Hu Feng, Ting Ling und anderen herausgegeben wurde) angeboten hatte. Die »Literaturzeitung« hatte ihn jedoch zurückgewiesen. Danach hatte er seinen kritischen Artikel der Pekinger »Volkszeitung« zugesandt, doch auch diese hatte ihn abgelehnt. Erst als Tschiang Tsching die Redakteure dieser Zeitung im Namen des Vorsitzenden darum bat, waren sie bereit, Li Hsi-fans Beitrag zu drucken. Warum hatte die »Volkszeitung« sich beim erstenmal geweigert, den Artikel zu veröffentlichen? Dies sei auf die Macht gewisser prominenter Personen und die literarischen Doktrinen, die sie immer noch vertraten, zurückzuführen. Es sei »kein Geheimnis«, daß Yü Ping-po und Hu Schih derselben Clique angehörten.[8] Li Hsi-fans Artikel habe beide an ihrer »empfindlichsten Stelle (eine Umschreibung für bürgerliche Politik) getroffen. Ihr Einfluß, in den zwanziger Jahren begründet, war jedoch noch so stark, daß die neue Literaturwissenschaft, die Lis Artikel repräsentierte, ohne Tschiang Tschings Fürsprache in der Pekinger »Volkszeitung« keine Chance gehabt hätte. Sie war noch immer Rekonvaleszentin, als sie sich in die Pekinger Redaktion der »Volkszeitung« begab, um sich für Lis Artikel einzusetzen. Dann erschien sie auf einer Sitzung der Propagandaabteilung des ZK und übergab den Artikel Tschou Yang und Hu Tschiaomu, die den Vorsitz führten. Sie lasen ihn flüchtig durch und sagten mit verächtlicher Ironie: »Das ist von ganz unwichtigen Leuten geschrieben worden. Wie können es solche kleinen Nummern überhaupt wagen, eine andere kleine Nummer - Yü Ping-po - zu kritisieren?« Tschiang Tsching war wütend, verriet ihnen zu jenem Zeitpunkt aber noch nicht, daß die Pekinger »Volkszeitung« den Artikel veröffentlichen wollte. Auf ihre Veranlassung hin sandte der Vorsitzende am 16. Oktober 1954 dem Politbüro und anderen Regierungsbüros den »Brief zur Frage der Studien über den >Traum der roten Kammer<« und berief eine Versammlung ein, um alle Seiten des Problems zu besprechen.
Tschiang Tsching, die an der Versammlung teilnahm, erinnerte sich noch gut an seine Worte. Mao sprach über die Fehler der »großen bürgerlichen Unterdrückung der kleinen Leute« und über die »bürgerliche Unterdrückung aufstrebender Leute«. Was dies für den Roman bedeutete, war nicht schwer zu begreifen. Yü Ping-po und Hu Schih gehörten natürlich zu der gleichen Clique von idealistischen »bürgerlichen Unterdrückern«. Zugleich wußte man von den Ixitern der Propagandaabteilung und des Kultusministeriums - Tschou Yang und Lu Ting-i - daß sie lange Zeit die Untersuchung von Hu Schih und Yü Ping-po bewundert hatten. Wenn man diese Autoren nun angriff, würde das bewirken, daß einige Führer ihr Gesicht verlieren würden. Als Hu Schih und Yü Ping-po diese Untersuchung in den zwanziger Jahren schrieben, »monopolisierten« sie die seltene Sechzehn-Kapitel-Ausgabe und die Achtzig-Kapitel-Ausgabe des Romans mit dem Ergebnis, daß »die Massen keine Möglichkeit mehr hatten, sie zu lesen«. Inzwischen befinden sich die Originalexemplare dieser beiden seltenen Editionen in öffentlicher Verwahrung; alle anderen Exemplare sind Photokopien. Das Original der Achtzig-Kapitel-Ausgabe wird in der Pekinger Staatsbibliothek aufbewahrt. Tschiang Tsching lieh sie sich einmal aus und bat, eine Kopie anzufertigen. Als gewisse »bürgerliche Autoritäten« von ihrer Bitte erfuhren, griffen sie Tschiang Tsching scharf an. Warum? Weil diese Leute die Originalausgaben für ihre eigenen Zwecke monopolisieren wollten. Die späteren Kritiken haben unterschiedlichen Wert.
Ein zeitgenössischer Kritiker namens Tschou Ju-tschang schrieb ein Buch mit dem Titel »Neue Überprüfung des >Traums der roten Kammer<«[9] Sein Standpunkt glich dem der Gruppe um Hu Schih, doch Tschou Jutschang hatte die Archive des Tsching-Hofes zur Verfügung gehabt. Trotz gewisser Mängel seiner Untersuchung ist das Buch es immer noch wert, gelesen zu werden. Als Tschou Jutschang während der Kulturrevolution angegriffen wurde, versuchte Tschiang Tsching ihn zu schützen. (Sie fügte rasch hinzu, daß sie dies bis jetzt niemandem gegenüber zugegeben habe.) Zum Werk selbst bemerkte Tschiang Tsching, daß der »Traum der roten Kammer« so lebendig wie die Geschichte selbst sei, obwohl er die Form eines Romans habe. Das soziale Panorama ist umfassend. Unter den drei- bis vierhundert Personen des Romans konzentrierte sich der Autor auf etwa zwanzig. Jene zwanzig, die er in den Mittelpunkt stellte, sind die Herren, und der Rest sind die Sklaven, die von dem Abfall dieser Herren leben.[10] Die Achtzig-Kapitel-Ausgabe sei ungeheuer wertvoll, meinte Tschiang Tsching, da sie zahlreiche Randbemerkungen des Autors Tsao Hsüe-tschin enthalte. Diese Notizen zum Roman seien in historischer Hinsicht bedeutsam. Da Tsao aus der Perspektive der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts geschrieben habe, seien seine Ansichten natürlich reaktionär. Dennoch sollten die Leser unserer Tage erkennen, daß seine Ideen für die damalige Zeit recht fortschrittlich waren. Alle literarischen Werke müßten im Hinblick auf den historischen Hintergrund einer Epoche, in der sie verfaßt wurden, diskutiert werden, fuhr Tschiang Tsching fort. Tsao schrieb den »Traum der roten Kammer« im Alter von ungefähr zwanzig Jahren. Während der folgenden zehn Jahre überarbeitete er das Buch immer wieder. Nachdem Tschiang Tsching seine Notizen in verschiedenen Editionen studiert hatte, erkannte sie wie andere vor ihr, daß Tsao eine Fortsetzung oder einen zweiten Teil des Romans vorbereitet hatte. Da er ohne Erben gestorben war, fiel der zweite Teil in die Hände einiger Leute, die ihn sich angeblich nur ausleihen wollten, ihn aber nie mehr zurückgaben. Auf diese Weise ging das Original der Nachwelt verloren. Tsaos Anmerkungen zeigen, daß die Erzählung in der Fortsetzung einen tragischen Verlauf nehmen sollte: Die Familie verliert die Gunst des Kaisers, ihr Vermögen wird konfisziert, und jene, die in großem Stil gelebt haben, müssen als Bettler ihr Dasein fristen. Nachdem das Original des zweiten Teils verlorengegangen war, arbeiteten andere Autoren eigene Fassungen aus. Die letzten vierzig Kapitel der heute bekannten vollständigen Hundertzwanzig-Kapitel-Ausgabe werden Kao E zugeschrieben. Dieser hat sie allerdings nicht signiert (und dadurch zugelassen, daß manche seine Arbeit für Tsaos Original hielten). In Kao Es Version wird Pao-yü ein tschü-jen (das heißt, er besteht die Beamtenprüfung für einen Provinzposten), verläßt Heim und Kind und wird Mönch.[11]
»Tsao Hsüe-tschin versuchte nicht, die Gesellschaft zu verändern«, sagte Tschiang Tsching und kehrte damit zur strengen marxistischen Deutung zurück, »sondern er versuchte nur, sie erträglich zu machen.« Er sei zwar vom bürokratischen System enttäuscht gewesen, sei jedoch nie soweit gegangen, den Sturz der Dynastie, die für alles verantwortlich war, zu befürworten. Er habe lediglich versucht, die bestehenden Zustände zu verbessern. Doch sogar unter dieser Voraussetzung sei »Der Traum der roten Kammer« der Schwanengesang der Feudalherrschaft gewesen. Und dabei habe ausgerechnet Tsao behauptet: »Der Roman - das sind Worte ohne Wahrheiten.«[12]
Die Schauplätze, die Charaktere und die Sprache des Romans seien mit Bedeutungen beladen, die oft falsch verstanden würden, erklärte Tschiang Tsching. Die Vertreter der beiden Familien von Ningkuofu und Jungkuofu stellen in vieler Hinsicht Gegensätze dar - Ningkuofu den Osten, Jungkuofu den Westen. Die Familien fungieren wie politische Parteien: Jungkuofu ist patriarchalisch, Ningkuofu matriarchalisch. Die patriarchalische und die matriarchalische Familie kämpfen darum, Pao-yü zu halten, doch am Schluß verlieren ihn beide. Die ersten fünf Kapitel sind nach Tschiang Tschings Ansicht lange mißverstanden worden, doch der Vorsitzende Mao habe Klarheit geschaffen. Er habe gesagt, daß man diese Kapitel in Hinblick auf den Klassenkampf und aus der Perspektive derer, die gelitten haben und gestorben sind, lesen müsse. Hunderte von Personen sind durch komplexe Familienbande und durch Herr-KnechtBeziehungen miteinander verbunden. Die meisten Bewunderer dieses Romans identifizieren sich mit dem jungen Herren Pao-yü, mit Schwarze Jade und Kostbare Haarnadel, seiner Kusine und seiner zukünftigen Ehefrau.
Alle Hauptpersonen werden in den ersten fünf Kapiteln vorgestellt, und Aufbau und Grundthema der Geschichte werden durch »das Lied von Hao und Liao« im ersten Kapitel angedeutet. Tschiang Tsching sang vor:

Nach Erlösung sollte jeder streben,
Ehrgeiz reicht nur fürs irdische Leben,
Wo sind die Großen der vergangenen Tage?
Sie liegen alle unter dem Rasen im Grabe.[13]

Sie entschuldigte sich dafür, daß sie nicht das ganze Lied vortragen konnte. Vom Anfang bis zum Ende des Romans wählt der Autor durchweg symbolische Bezeichnungen und Namen. In Anspielung auf den Taoismus sagte er, daß die wahre Geschichte versteckt sei und eine falsche vorgeschoben werde: Im Traum trifft Pao-yü einen zweiten Pao-yü, der hier noch den Beinamen tschen hat, was soviel wie »wahr« bedeutet, während der echte Paoyü den Beinamen tschia trägt, was »falsch« bedeutet. Dieses Wechselspiel zwischen tschen und tschia setzt sich in den Namen und Bezeichnungen des ganzen Romans fort. Tschiang Tsching zitierte aus dem Kommentar zum »Lied von Hao und Liao« und wies darauf hin, daß diese Zeilen, wie auch die folgenden, häufig von Ausgabe zu Ausgabe variieren.

Elende Hütten und verlassene Paläste,
Wo einst sich trafen muntere Gäste:
Zugige Winkel, wo Unkraut und Weiden nun gedeihen,
Waren einst bevölkert von lärmenden Festesreihen,
Vergoldete Balken stolzer Häuser sind mit grauem Spinngeweb bekränzt,
Doch die ärmste Hütte mit herrlichem Musselin erglänzt.[14]

In dem Gespräch über die mythischen, übersinnlichen und traumähnlichen Gehalte des Romans wies Tschiang Tsching auf eine bestimmte Episode hin. Eine alte Frau, Liu Lao-Iao, betritt Ta-kuan-yüan, den Palastgarten in Jungkuofu, wo ihre reichen Verwandten leben. Die Gartenanlage spiegelt den Plan des Himmels wider, den der Autor das »Traumland der großen Leere« nennt. Die Geschichte stellt die Obereinstimmung zwischen dem Garten und dem Himmel und zugleich die Möglichkeit zur Flucht aus der Realität in die Irrealität dar.
Ursprünglich wuchs im Himmel Gras (das man sich als weiblich vorstellen muß), und Paoyü lebte einst als Gott im Himmel. Dieser Gott hatte Mitleid mit dem Gras und begoß es jeden Tag (ein gebräuchliches Sexualsymbol in den chinesischen Schriftzeichen). Das Gras reagierte darauf und sagte, daß »sie« es dem Gott mit ihren Tränen zurückzahlen wolle, wenn sie ein menschliches Wesen auf Erden würde. Tschiang Tsching erklärte mir die Bedeutung vieler Zeilen und längerer Abschnitte. »Weiße Knochen«, sagte sie, »beziehen sich auf Kostbare Haarnadel« (obgleich Kostbare Haarnadel sowohl in der gegenwärtigen Fassung als auch in Tsaos Original am Leben bleibt; vermutlich meinte Tschiang Tsching Schwarze Jade, die stirbt). »Mit Silber und Gold gefüllte Truhen« bedeuteten, daß ein Mächtiger zum armseligen Bettler werde, den jeder schmäht und schlecht behandelt - dies müsse sich wohl auf Pao-yü beziehen. Weniger klar sei, auf wen sich die folgenden Zeilen beziehen: »Einer seufzt über des anderen kurzes Leben und weiß nicht, daß auch er bald gehen wird.« Doch die Zeilen »Ein Richter, dessen Hut zu klein für seinen Kopf ist, trägt am Ende gar den schweren Holzkragen eines Verurteilten«, verweisen eindeutig auf den Bruder von Kostbare Haarnadel, Hsüe Pan, der zwar eine gute Erziehung genossen hat, aber fast zum Räuber wird. Tschiang Tsching hielt beim fünften Kapitel inne und zitierte Abschnitte aus der berühmten Episode, in der die Fee der Desillusion Pao-yü ein bebildertes Buch mit zwölf Liedern überreicht, von denen jedes anschaulich eines der zwölf Mädchen von Tschinling beschreibt, die im Roman auftauchen. Tschiang Tsching erklärte, dies ereigne sich im Himmel, der in diesem Buch Land der Illusion heiße. Es gebe im Himmel zwei Bücher, von denen das eine orthodox und das andere ein Ergänzungsband sei. Der Ergänzungsband gehöre in die Tsching-wen-Tradition, und Tsching-wen (Gute Absicht) sei der Name von Pao-yüs schönster, aber vom Unglück verfolgter Ehrendame, die einen tragischen Tod stirbt. Tschiang Tsching rezitierte:

Selten steht der Mond am nächtlichen Himmel frei,
Und Tage voller Schönheit gehen viel zu rasch vorbei.
Verstand, der kühn und edel blitzt,
Aber in niedriger Hülle gefangen sitzt,
Nur Haß kann dir dein Charme und Geist gewinnen,
Ermordet gehst du schließlich dann von hinnen,
Die edle Fürsorg' deines Herrn war ganz umsonst.[15]

Ein Gemälde, das dem folgenden Gedicht vorausgeht, zeigt zwei verdorrte Bäume, an denen ein Jadegürtel hängt. Unter einem Schneehaufen liegt eine goldene Haarnadel.

Die eine zog an Tugenden das große Los,
Die andre hatte seltene Geistesgaben,
Der Jadegürtel hängt im Walde über dem Moos,
Die goldene Nadel ist im Schnee begraben.[16]

Der »Jadegürtel im Wald« spiele auf Schwarze Jade an, und die »goldene Nadel, die im Schnee begraben ist«, auf den Namen Kostbare Haarnadel. Die Jade- und Gold-Symbolismen fänden sich im ganzen Roman. Auch Pao-yü werde durch Jade charakterisiert, und das Sprichwort, daß es zwischen Gold und Jade keine gute Ehe geben könne, werde durch die unbefriedigende Heirat zwischen Kostbare Haarnadel (Gold) und Pao-yü (Jade) versinnbildlicht.
»Den Mädchen des Ningkuofu-Clans«, fuhr Tschiang Tsching fort, »von denen jede auf ihre Art etwas Besonderes ist, war ein tragisches Schicksal bestimmt.« So wird z. B. Tschin Kotsching, die Schwiegertochter von Tschia Tschen, dem Familienoberhaupt der Ningkuofu, von diesem verführt, worauf sie sich erhängt. Warum habe sie dies getan? Weil sie gewußt habe, erklärte Tschiang Tsching, daß Tschia Tschens Frau, Wang Fu-jen, und zwei ihrer Gesellschaftsdamen Zeugen dieses Vorfalls geworden seien. Die beiden Gesellschaftsdamen seien so entsetzt gewesen, daß sich die eine umgebracht habe und die andere in ein Nonnenkloster geflohen sei. Es komme dem Autor bei dieser Darstellung von Sexualakten, von Flucht und Selbstmord darauf an zu zeigen, daß nichts Gutes dabei herauskomme, wenn Mitglieder der Herrenklasse und der dienenden Klasse, die empfänglich füreinander sind, in einer nicht streng geordneten Hausgemeinschaft zusammenlebten. Häufig werde behauptet, daß die üblen Dinge immer in Ningkuofu passierten, aber in Wirklichkeit ereigneten sie sich meist in Jungkuofu. Eine eindrucksvolle Beschreibung der Clans (der Tschia-Familie und der ebenso großen Schih-, Wang- und Hsüe-Familien), die die damalige Gesellschaft beherrschten, werde im vierten Kapitel gegeben:

Schreit hipp hurra
Für die Nanking Tschia!
Sie wiegen ihr Gold
Mit Gefäßen aus.
Der Ah-fang-Palast
Berührt schon die Wolken.
Doch die Nanking Schih
Beherbergte er nicht.
Der König der Meere
Kommt eilends herbei,
Wenn er zu wenig goldene Betten hat
Zu den Nanking Wang.
Die Nanking Hsüe
Die sind so reich!
Wer ihr Geld zählt
Braucht einen ganzen Tag ...[17]

Tschiang Tsching begleitete ihren Monolog über den Roman durch temperamentvolle Handbewegungen. Die Hitze des späten Abends war mörderisch. Einmal - sie unterbrach dabei ihre Ausführungen nicht - nahm sie ein weißes Frottéetuch vom Tisch und band es sich fest um den Kopf. Einige Sekunden drückte sie es fest an den Kopf, um die Schweißtropfen aufzusaugen. Dann band sie es wieder ab, legte es weg und fuhr sich durch die Haare.
Zu anderen Zeiten (während sie sprach oder am Mittagstisch saß) fuhr sie sich rasch mit ihrem grün-weißen Plastikkamm durch das Haar. »Ich trage die Haare gern kurz geschnitten - dann wird mir nicht so heiß«, erklärte sie heiter, wenn auch mit entschuldigendem Unterton (worauf ich mich fragte, ob sie dabei wohl an die Pagenfrisur oder an die Korkenzieherlocken dachte, die sie in ihrer glanzvolleren Schanghai-Zeit bevorzugt hatte).
Bei Tisch rezitierte sie lange Passagen aus Gedichten, unterbrach sich und machte persönliche Bemerkungen zu dem Dienstmädchen, das unser Essen auftrug. Gedankenverloren nahm Tschiang Tsching einmal eine große weiße Leinenserviette vom Schoß, band zwei Zipfel hinter dem Nacken zusammen und klemmte die beiden anderen unter ihren Teller, wodurch sie zwischen ihrem Kinn und dem Tisch eine schiefe Ebene herstellte. Ohne ein Lätzchen, sagte sie lachend, sähen ihre Kleider bald so schmutzig aus wie die eines Babys.
Die stundenlange konzentrierte Unterhaltung über die elegante, auf Äußerlichkeiten ausgerichtete Welt des »Traums der roten Kammer« schien ihre weibliche Eitelkeit zu wecken. Einmal machte sie über die Schulter hinweg eine Kopfbewegung zu einer Begleitperson, die ihr daraufhin sofort eine große längliche Pappschachtel brachte. Wie ein Schulmädchen kichernd, hob Tschiang Tsching den Deckel und holte wie durch Zauberei einen langen schwarzen Faltenrock nach dem anderen heraus.
»Ich liebe Röcke«,[18] verkündete sie, während sie jeder ihrer Begleitpersonen (außer mir) einen reichte. »Vor allem im Sommer sind sie so praktisch.«
Da ich noch nie gesehen hatte, daß solche eindeutig ausländischen Kleidungsstücke im revolutionären China getragen wurden, fragte ich sie, woher diese Röcke stammten.
»Aus dem Freundschaftsladen!« Es war ihr gleichgültig, daß offiziell nur Ausländer in diesen Freundschaftsläden einkaufen durften. Als ich mir diese nicht gerade eleganten Kleidungsstücke genauer ansah, bemerkte ich, daß die chinesischen Modeschöpfer sich eine überholte Mode zum Vorbild genommen hatten: die der drallen russischen Matronen aus den fünfziger Jahren.
Als sich am nächsten Tag Tschang Ying, Tschiang Tschings beiden Dolmetscherinnen und meine zwei Begleiterinnen zu unserem Interview trafen, trug jede von ihnen ihren neuen schwarzen Rock, und man sah ihre bleichen Beine, die nie der Sonne ausgesetzt gewesen waren. Ohne die gewohnten Hosen ließen sich die Genossinnen unbeholfen und gehemmt auf den Stühlen nieder und schoben die Falten, die sich in ihrem Schoß bauschten, von einer Seite zur anderen.

Tschiang Tsching erzählte, daß sie ihrer Tochter Li Na im Kindesalter den »Traum der roten Kammer« geschenkt und ihr beigebracht habe, wie der Roman korrekt zu lesen sei: vom Standpunkt des Klassenkampfes aus. Und der Vorsitzende habe den jugendlichen Mitgliedern der Kommunistischen Partei erklärt, daß sie sich nicht auf das Offensichtliche- die Liebesgeschichte - konzentrieren sollten. Bei ihrer Lektüre sollten sie vielmehr auf das Thema des Klassenkampfes achten und die Tatsache im Auge behalten, daß mehr als zwanzig Personen des Buches in diesem Kampf sterben. Hunderte von anderen fristeten ihr Dasein nur mit Hilfe dessen, was ihnen von den Reichen gegeben werde. Solange eine Dienstmagd die Gunst ihres Herrn genieße, könne sie es sich leisten, eine eigene Meinung zu haben. Doch sobald sie seine Gunst verliere, werde sie zugrunde gehen.
Von seinem idealistischen Standpunkt aus habe Yü Ping-po phantasievolle und willkürliche Erklärungen für die Ereignisse und die Beziehungen der Romanfiguren ersonnen. Für seine Interpretation des Kapitels mit der Oberschrift »Eine Abendgesellschaft zu Ehren von Paoyüs Geburtstag« habe Yü sogar eine Zeichnung angefertigt, die zeigen sollte, welche Romanfiguren an welchem Platz saßen. Doch diese Anordnung sei nur sein Phantasieprodukt gewesen. Dann habe er etwas völlig Lächerliches behauptet: Die beiden weiblichen Hauptpersonen, Schwarze Jade und Kostbare Haarnadel, seien die beiden Seiten einer Person. Woher habe Yü das wissen wollen? Er sei wirklich rein subjektiv gewesen! Bei sorgfältiger Lektüre zeige sich, daß Kostbare Haarnadel und Schwarze Jade zur Aristokratie gehörten. Allerdings stehe Kostbare Haarnadel an der Spitze dieser Gesellschaftsschicht, während Schwarze Jade eine Waise sei, die im Haus von Kostbare Haarnadel lebe. Unter diesen Umständen versuche Kostbare Haarnadel natürlich, Schwarze Jade zu schikanieren. Schwarze Jade sei sehr treuherzig. Sie versuche zwar, sich zu wehren, könne es jedoch nicht ertragen, einem anderen ein Leid zuzufügen.
Der Autor schwärmte von der Schönheit von Kostbare Haarnadel - von ihrer zarten weißen Haut, ihren roten Lippen, ihren Augen, die zwei Aprikosen glichen, ihrem flachen Gesicht . »Natürlich würde man so ein Gesicht nach heutigen Maßstäben häßlich finden«, fügte Tschiang Tsching hastig hinzu. Die detaillierte Beschreibung von Schwarze Jade sei eher kritisch. Der Autor lobte nie ausdrücklich ihre Schönheit, sondern sprach von ihren langen schwarzen Augenbrauen und den Augen, die geschlitzt seien wie die eines Phönix. Sie atme beim Laufen hastig - »wie wenn man die Hand auf einen Windhauch legt.« Der Unterschied im Charakter der beiden Mädchen kommt auch in der Beschreibung ihrer Zimmer zum Ausdruck - durch die Augen der alten Frau, Liu Lao-Iao, gesehen. Der Raum von Schwarze Jade ähnelt dem eines Knaben, da er mit Büchern gefüllt ist. Damals war das nicht üblich gewesen.
Kostbare Haarnadel habe gewisse intellektuelle Ambitionen. Einmal versuche sie, eine Prüfung im Kaiserpalast zu bestehen.[19] Doch Schwarze Jade sei diejenige, die wie ein Knabe aufgezogen und unterrichtet worden sei. In ökonomischer Hinsicht stehe die eine Frau oben, die andere unten. Schwarze Jade stehe unten, da sie eine Proletarierin ohne Vermögen sei. Natürlich seien ihre Vorstellungen aristokratisch, aber das müsse im Hinblick auf ihre Zeit verstanden werden. Kostbare Haarnadel stamme dagegen aus einer reichen Kaufmannsfamilie, die mit der kaiserlichen Sippe blutsverwandt sei.[20] Trotz dieser fundamentalen Unterschiede habe Yü Ping-po auf seiner Behauptung beharrt, daß die beiden Frauen lediglich zwei Seiten ein und derselben Person seien.
Alle Personen aus Tsao Hsüe-tschins Roman gehörten zur aristokratischen Schicht. Doch zwei der wichtigsten, Pao-yü und Schwarze Jade, rebellierten gegen diese Klasse. Obwohl Tsao sie als rebellisch schildere, kritisiere er zugleich ihre unbotmäßige Haltung: Pao-yü benehme sich schlecht, und Schwarze Jade verärgere die anderen. Doch Kostbare Haarnadel preise er immer aufs höchste. Sie sei anmutig, habe viel Geld und setze dieses Geld ein, um Menschen zu »kaufen«. In dieser Hinsicht bringe sie es fertig, sich wie ein »Geheimagent« zu verhalten. Man könne nicht abstreiten, daß Pao-yü auf seine (beschränkte) Weise ein echter Rebell sei. Eigenartigerweise behaupte er, daß alle Bücher außer den Vier Büchern (»Buch der Gespräche«, »Große Lehre«, »Innehalten der Mitte« und »Menzius« - die Klassiker schlechthin) wahr seien.[21] Vom klassischen Erbe gelangweilt, weigere er sich, sein Heim zu verlassen, um ernsthafte Schriften zu studieren und die Regierungskunst zu erlernen. Dies sei nur eine von vielen Arten, wie er sich dem Beamtenstand widersetze. Er behaupte, daß der lockende Ruhm das einzige Motiv jener Beamten sei, die dem Kaiser gute Ratschläge geben wollten. In der Tat seien einige ehrgeizige Beamte so weit gegangen, vor den Augen des Kaisers Selbstmord zu verüben, nur um ihre Namen berühmt zu machen. Pao-yü erkenne, daß die Generäle seiner Zeit kein wirkliches Interesse am Leben des Kaisers hätten und daß Gardisten, Soldaten und andere allein deshalb in den Krieg zögen, um Ruhm zu erlangen und befördert zu werden.
Im Gegensatz zu Kostbare Haarnadel habe Schwarze Jade kein Geld, das der Rede wert sei. Sie bekomme lediglich eine bescheidene monatliche Unterstützung von ihrer Großmutter. Doch auch dieses Geld behalte sie nicht nur für sich. Eines Tages nehme sie diesen Betrag und einige andere persönliche Habseligkeiten und verteile sie unter bedürftigen Menschen.[22] Wenn Schwarze Jade und Pao-yü heutzutage lebten, würde man sie vermutlich als »UltraRechte« bezeichnen, sagte Tschiang Tsching trocken. Doch das wäre ungerecht! Bewerte man die beiden nämlich in ihrem historischen Milieu, so lasse sich nicht leugnen, daß sie gegen den Feudalismus opponierten. Selbst in ihrer romantischen und leidenschaftlichen Liebe seien Schwarze Jade und Pao-yü Rebellen gegen die feudale Aristokratenklasse. Das sei doch wundervoll!
»Meine Interpretation der ersten fünf Kapitel ist vielleicht nicht völlig korrekt. Schließlich bin ich nur ein Halb-Experte, was den >Traum der roten Kammer< betrifft«, meinte Tschiang Tsching. Dieses Buch müsse mit der Methode des dialektischen Materialismus analysiert werden. Alle Themen, die es behandle, entwickelten sich aus der Grundfrage, wie man das kulturelle Erbe übernehmen solle. Hu Schih und Yü Ping-po hielten das Werk für einen Schlüsselroman - für eine Biographie lebender Personen. Aber sei es nicht besser, es als einen Roman mit biographischem Charakter zu verstehen? Enthalte der Roman nicht tiefe allgemeine Einsichten in die chinesische Gesellschaft? Sei er nicht ein Beispiel von kritischem Realismus mit einem Zusatz von Romantizismus? Oder sei er etwa lediglich eine Volkslektüre, die so unwichtige Dinge beschreibe wie die Liebesromanzen bestimmter Personen? Sollten wir nicht erkennen, daß sich Pao-yü und Schwarze Jade wie Rebellen verhalten? Seien Schwarze Jade und Kostbare Haarnadel wirklich die beiden Seiten ein und derselben Person? Falls es so sei, könnten wir dann das Thema des zwiespältigen Charakters mit dem philosophischen Lehrsatz in Beziehung setzen, daß ein Argument immer zwei widersprüchliche Seiten habe - daß »eins sich in zwei teilt«?
Nach Tschiang Tschings Meinung rebelliert Schwarze Jade gegen die Feudalklasse, während Kostbare Haarnadel diese Schicht unterstützt. Dieser Gegensatz verursacht letzten Endes den Tod von Schwarze Jade. Hu Schihs und Yü Ping-pos Auseinandersetzung hatte außerhalb der KPCh stattgefunden. Dennoch hatten ihre Ansichten nach 1960 die Einstellung der Partei zur Literatur beeinflußt und damit weitere Auseinandersetzungen über das literarische Erbe ausgelöst.
1962 oder 1963 hatte Tschiang Tsching bei der Durchführung mehrerer kultureller Projekte in Schanghai mit dem Leiter der Propagandaabteilung im Parteikomitee für die Region Ostchina (Hsia Tscheng-nung) zu tun, einem Mann, der damals für einen »guten Genossen« gehalten worden war. Erst später hatte sich herausgestellt, daß man ihm nicht hatte trauen können.

Eines Tages hatte sie sich mit ihm über den historischen Hintergrund des Romans unterhalten, und dabei hatte er ihr erzählt, daß ein Garten mit dem Namen Takuan-yüan (wie im Roman) in Peking entdeckt worden sei. Die Experten sind sich darin einig, daß der Ort der Handlung des Romans tatsächlich Nanking ist. Wenn das stimme, sagte Tschiang Tsching zu ihm, dann solle man den Titel »Traum der roten Kammer« in »Der Reisebericht von Tsao Hsüe-tschin« umbenennen. Hsia Tscheng-nung habe jedoch nicht begriffen, was sie damit gemeint habe, sagte Tschiang Tsching sarkastisch.
Tsaos Roman wurde als Angriff gegen die herrschende Klasse empfunden, so daß er offiziell auf die Liste »der verbotenen Bücher« gesetzt wurde, solange das Kaisergeschlecht an der Macht war. Diese Zensur machte das Buch für das große Publikum nur noch interessanter. Die Leute waren so begierig darauf, die unzensierte Originalversion zu besitzen, daß sie mehrere Unzen Silber für eine Kopie bezahlten. Da das Buch über einen größeren Zeitraum hinweg so häufig handschriftlich kopiert wurde, unterscheiden sich die verschiedenen noch vorhandenen Exemplare voneinander. Doch die durchdringende Wirkung des Originals ist bis heute nicht verlorengegangen. Während der Tao-kuang-Periode (1821-1851) und zur Zeit des Opiumkrieges (1839-1840) hielt ein hoher Beamter den »Traum der roten Kammer« für eine Droge, die man exportieren könne, um fremde Völker zu verdummen so wie Opium von den britischen Imperialisten eingeführt worden war, um das chinesische Volk zu verdummen.

Manches an Tschiang Tschings Lebensstil in Kanton erinnerte noch entfernt an die Szenerie des achtzehnten Jahrhunderts, die in unserer Vorstellung noch so lebendig ist - mit ihren Gärten, Gedichten und anmutigen jungen Frauen. Obwohl Tschiang Tsching sich nicht in dem berühmten Garten aus dem »Traum der roten Kammer«, dem Ta-kuan-yüan, ergehen konnte, verfügte sie während ihres Aufenthalts in Kanton über etwas Vergleichbares: über einen großen Orchideenpark, der sich von ihrem Haus bis zum Perlfluß erstreckte. Am Ende unseres überraschenden morgendlichen Zusammentreffens, bei dem sie sich mit der Kulturrevolution beschäftigt hatte, schlug sie vor, den Ort zu wechseln. Warum sollten wir unser Interview am Nachmittag nicht in den Orchideengarten verlegen?
Wir trafen nacheinander in dem tropischen, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Park ein. Tschang Ying führte meine Begleiter und mich über verschlungene Pfade, an Hunderten von Orchideengewächsen vorbei, und zeigte uns die außergewöhnlichsten Arten. Wir kamen durch halbmondförmige Tore, durchschritten Miniatur-Gärten, die auf kunstvolle Weise »naturalistisch« angelegt waren, stießen auf schlichte Teepavillons und überquerten auf sanft geschwungenen Brücken künstliche Bäche und Teiche. Um die Idylle zu vervollständigen, fehlten nur noch Gelehrte in langen Gewändern und kauernde junge Diener. In einiger Entfernung stand ein größerer PavilIon. Tschiang Tsching saß, in schimmernde Seide gehüllt, auf der Veranda und blickte auf einen Lotosteich.
Als wir näherkamen, begrüßte sie uns heiter. Sie thronte auf einem bequemen Korbsessel und ließ sich in ihrer »Arbeit« nicht stören. Aus einem Korb holte sie seltene Orchideenpflanzen heraus und legte sie auf Löschpapier, das über leichte Holzrahmen gespannt war, die von ihren Sicherheitsbeamten gebastelt worden waren. Sie befestigte die Orchidee auf einem Rahmen, legte einen zweiten darüber und schnürte beide an den vier Ecken zusammen. »Sie können mich ruhig dabei photographieren«, sagte sie, während sie weiterarbeitete, lachte und munter plauderte. Also photographierte ich sie. Trotz der hellen Nachmittagssonne richtete ein Leibwächter starke Scheinwerfer auf sie. Doch plötzlich erschien ihr diese Szene wohl unpassend und frivol. Sie trat an das Terrassengeländer und stellte sich vor dem Hintergrund des wunderschönen Lotosteiches mit ernster Miene in Positur.
»Nun bin ich an der Reihe«, sagte sie dann. Sie trat zu ihren wertvollen Schweizer Photoapparaten, die auf der anderen Seite der Veranda aufgebaut waren. Als sie mit der Rolleiflex, die auf einem Stativ stand, zu arbeiten begann, legte sie sich ein altes himmelblaues Samttuch über den Kopf, machte rasch einige Aufnahmen und gab unter dem Tuch hervor mit gedämpfter Stimme Anweisungen. Sie reichte die großen Kassetten mit den Negativen ihrem Sicherheitsbeamten (der auch für das Entwickeln und Vergrößern verantwortlich war, wie sie erklärte). Alle Anwesenden mußten sich vor der Kamera aufstellen oder hinsetzen.
Frisch aufgegossener Tee aus Orchideenblüten lockte uns ins Innere des Pavillons. Dort waren Vögel in phantasievollen Käfigen zu bewundern. Exotische Blüten wurden uns aus dem Garten gebracht, und wir saßen träge in unseren Sesseln und plauderten. Dann schlug Tschiang Tsching einen kleinen Rundgang auf der Terrasse vor. Goldfische in allen Regenbogenfarben flitzten unter uns im Wasser hin und her.
Irgendeine Bewegung der schimmernden Fische brachte sie vom Thema ab und erinnerte sie an Pferde. Sie sprach von der Lust und der Spannung, sie zu zügeln und anzutreiben. Von den Pferden kam sie auf die Menschen zu sprechen und auf die Kunst, sich bei jemandem einzuschmeicheln und ihn für sich zu gewinnen. »Wie steht's bei mir?« fragte ich mutwillig, als wir uns über die Balustrade lehnten. Wir brachen beide in Gelächter aus. Dann brachte sie das Gespräch auf den Abend.
»Ziehen Sie sich vor dem Essen um. Warum tragen Sie eigentlich nichts Buntes? Und wieso haben Sie ausgerechnet etwas Schwarzes angezogen, obwohl Sie wußten, daß ich Farbaufnahmen machen würde?« Ich erklärte ihr, daß mir meine Begleiterinnen Yü und Tschen dunkle Kleidung empfohlen hatten.
»Sie sollten nie auf andere hören«, erwiderte sie. »Treffen Sie Ihre Entscheidungen selbst! Ziehen Sie an, was Sie möchten, und fühlen Sie sich wohl darin.«
Als wir uns am Abend wiedersahen, trug Tschiang Tsching immer noch das Kleid aus Naturseide. Ich trug eine rotweiß gepunktete Bluse und weiße ausgestellte Hosen, was ihr zu gefallen schien. Einige Stunden später - es war gegen Mitternacht - ging sie wieder zu ihrem Photoapparat, der inzwischen im Haus aufgebaut worden war. Um eine natürliche Umgebung vorzutäuschen, befahl sie Hsiao Tschiao, im Hintergrund einige große Palmkübel zu arrangieren. Wieder wurde helles Scheinwerferlicht eingeblendet. Bevor sie neue Aufnahmen machte, strich sie mir über mein lockiges, zerzaustes Haar. »Es ist rebellisch, ohne revolutionär zu sein«, sagte ich. Sie lachte und wartete, bis ich mir die Haare gebürstet hatte.
Als sie wieder unter ihrem himmelblauen Samttuch hervorkam, griff ich nach meiner Nikon. »Farbe?« fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte einen Schwarzweißfilm eingelegt. Sie erinnerte mich daran, daß ihr Farbaufnahmen lieber seien. Ich sagte, daß ich es nicht vergessen habe, und fügte hinzu, daß ein Schwarzweißfilm besser geeignet sei, die Details der äußeren Erscheinung und auch die Nuancen des Charakters einzufangen. Sie sagte nichts dazu, doch ihr gewöhnlich sehr ausdrucksvolles Gesicht verhärtete sich. Als ich durch den Sucher blickte, stellte ich erneut fest, daß sie viel glaubwürdiger und einnehmender wirkte, wenn sie nicht auf die Nachwelt schielte.
Als ich später über ihre intensive Beschäftigung mit dem »Traum der roten Kammer« - und über ihren Wunsch, mich daran teilhaben zu lassen - nachdachte, wurde mir etwas klar. Auch in ihren eigenen Vorstellungen hatten sich Wahrheit und Dichtung, Geschichte und Literatur, Vergangenheit und Gegenwart vermischt. Letzten Endes war die Propaganda, von der sie lebte, nichts anderes als dieses Gemisch.

Texttyp

Gesellschaftskritik