Sie sind verborgen und dulden; sonst tun
sie nichts,
Ein Verband verbirgt den Ort, wo einer
von ihnen lebt.
Sein Wissen von der Welt beschränkt
sich auf die Instrumente, die ihn behandeln.
W. H. Auden, »Surgical Ward«
Später rief sich Tschiang Tsching die fünfziger Jahre in Erinnerung, die Zeit, in der sie zwischen Peking und Moskau hin und her pendelte. Von diesen ständig wechselnden Beobachtungspunkten aus erkannte sie präzise, wohin die Entwicklung führte: Auseinandersetzungen über die medizinische Wissenschaft beeinflußten die Gutachten der sowjetischen Ärzte und damit auch Tschiang Tschings Zukunft. Die aufsehenerregenden Machtkämpfe in der Sowjetunion stellten eine Herausforderung für Chinas revolutionäre Orthodoxie dar. Dann verschärften sich die persönlichen Konflikte zwischen den chinesischen Politikern, die Tschiang Tsching nahestanden, und ihren sowjetischen Gegenspielern, die sich auf Banketten unverschämt aufführten und sich als Verräter erwiesen. Schließlich wurden die dringend benötigten russischen Techniker und die industrielle Ausrüstung aus China abgezogen; die »ewige Freundschaft« war für immer geschändet.
Diese krisenhaften Entwicklungen verstärkten Tschiang Tschings persönliche Befürchtungen. Sie beobachtete die Rivalitäten zwischen ehrgeizigen Männern, erlebte das Aufbrechen unversöhnlicher ideologischer Gegensätze und war Zeugin unabsehbarer Machtkämpfe - und unweigerlich machte sie sich Gedanken über ihre eigene Zukunft. Würden die schlauen Russen Maos Frau als Unterpfand behalten? Würde sie das Schicksal Ho Tze-tschens erleiden? (Ho Tze-tschen lebte mehrere Jahre in einer sowjetischen Heilanstalt und wurde schließlich in eine chinesische Irrenanstalt überwiesen.) Würde sie möglicherweise zugunsten einer anderen Chinesin »ausrangiert« werden? Es gab unendlich viele Möglichkeiten ...
In den fünfziger Jahren waren Tschiang Tschings Person und ihr Name dem chinesischen Volk fast ebenso unbekannt wie ausländischen Beobachtern. Und nur wenige wußten zu der Zeit, als sie zwischen China und der Sowjetunion hin und her flog, daß es um ihr politisches und auch physisches Überleben ging. Anfang der fünfziger Jahre wurde sie in Peking aller hohen Ämter enthoben. Nur noch mit Hilfe von Mao blieb sie im politischen Spiel hinter den Kulissen. Mao war der Mittelpunkt der Welt, die sie durch die Fenster von Tschung-nan-hai sah. Während ihres erzwungenen Aufenthalts in Moskau führte sie das Leben einer hochgestellten Invalidin, die von den Zentren der sowjetischen Macht, der Gesellschaft und der Kultur ferngehalten wurde.
Im Gegensatz zu den Jahren zuvor, als sie auf eigene Faust in China herumreiste, oder zu den Jahren danach, als sie den Boden für eine Kulturrevolution vorbereitete, resümierte Tschiang Tsching die Mitte der fünfziger Jahre hauptsächlich anhand wichtiger politischer Stellungnahmen Maos zu Fragen der Außen- und Innenpolitik. Kein Wunder, daß in diesen Arbeiten die Bedeutung der Tätigkeit Maos und anderer für die inzwischen sechshundert Millionen Chinesen nur höchst unzulänglich zum Ausdruck kam. Die ständige Beschäftigung mit ihrem Gesundheitszustand verringerte Tschiang Tschings Interesse am Zustand der Nation.
Tschiang Tsching berichtete zunächst über den Winter des Jahres 1951. Als sie von Zentralchina nach Peking zurückkehrte, war die Parteiführung damit beschäftigt, die Bewegung gegen die Drei Übel (gegen Unterschlagung, Verschwendung und Bürokratismus) zu organisieren, um die Arbeit der ständig wachsenden Zahl der Staatsbeamten effektiver zu gestalten. Nachdem die Boden- und Ehereform durchgeführt worden war, kehrte Tschiang Tsching in die Hauptstadt zurück, wo ihre kürzlich geleistete Arbeit honoriert wurde. Man übertrug ihr neue Funktionen. Die wichtigste war die einer Leiterin des Sekretariats des Allgemeinen Büros des Zentralkomitees. Doch diese Verwaltungsarbeit war zermürbender und hektischer, als sie erwartet hatte, und schadete ihrem Gesundheitszustand. Sie hatte ständig hohes Fieber, und ihr altes Leberleiden machte sich wieder bemerkbar.
Yang Schang-kun, der Leiter des Allgemeinen Büros des Zentralkomitees, und einige andere, von denen Tschiang Tsching wußte, daß sie ihren Aufstieg in die Führungsspitze mit Mißtrauen beobachteten, schlugen vor, sie solle in Anbetracht ihres schlechten Gesundheitszustands die Stellung als Leiterin des Sekretariats aufgeben und für einige Zeit völlig zurückgezogen leben. Tschiang Tsching brachte diese »Anregungen« (die ihr, nach dem Ton ihrer Stimme zu schließen, höchst unwillkommen waren) beim Vorsitzenden Mao zur Sprache. Dieser schloß sich der Meinung der anderen an. Nachdem er sich vermittelnd eingeschaltet hatte, waren die anderen Politiker aber damit einverstanden, daß sie »auf eigene Faust« weiterarbeitete. Folglich trat sie gegen Ende 1951 nicht nur den Posten der Leiterin ab, sondern auch den der Leiterin des Film-Büros in der Propagandaabteilung. Außerdem trat sie aus der Chinesisch-Sowjetischen Freundschaftsgesellschaft aus.[1] Von diesem Zeitpunkt an hatte sie nur noch eine Stellung inne: als Sekretärin des Vorsitzenden Mao. Doch selbst dieser Posten wurde ihr entzogen, als gewisse Politiker im Namen der Partei erklärten, sie solle zu einer weiteren medizinischen Behandlung nach Moskau fahren. Von der Vorstellung gepeinigt, die Heimat wieder verlassen zu müssen, zögerte sie ihre Abreise bis zum Winter 1952 hinaus. Zu diesem Zeitpunkt war die medizinische Versorgung in China durch die Säuberungsaktionen der Bewegung gegen die Drei Übel beim Personal der städtischen Krankenhäuser völlig zusammengebrochen. Folglich blieb Tschiang Tsching gar nichts anderes übrig, als sich doch wieder ins Ausland zu begeben. Tschiang Tschings Ankunft in Moskau wurde von dem Bewußtsein eines drohenden Unheils überschattet. Da sie heftige Leberschmerzen hatte, brachten die sowjetischen Ärzte sie unverzüglich in den Operationssaal und untersuchten ihre Leber. Doch sie versäumten es, die Flüssigkeit zu entfernen, die sich in der Gallenblase angesammelt hatte. Man entnahm operativ einige Gewebeproben, um eine Diagnose stellen zu können. Verschiedene Therapien wurden angewandt, und dann brachte man sie in den Süden nach Jalta, wo sie elend darniederlag. (Sie konnte sich nur noch vage an die luxuriöse Umgebung und die Gesellschaft in Jalta erinnern.) Um das Fieber zu senken, verabreichte man ihr große Mengen Penicillin (zwanzig Millionen Einheiten pro Injektion), was ihren Zustand weiter verschlechterte. Sie klagte darüber, daß man sie wie ein unmündiges Kind behandelte und ihr keine Bewegungsfreiheit ließ, doch ihre Proteste fruchteten nichts. Während des öden Winters auf Jalta litt sie unter Heimweh, doch die Ärzte erlaubten ihr nicht die Heimreise nach China. Tschiang Tsching vermutete, daß man sie nur deshalb nicht abfahren lassen wollte, weil man sich genierte, sie nicht geheilt zu haben. Schließlich brachte man sie nach Moskau zurück und legte sie in ein gewöhnliches Krankenhaus. Doch glücklicherweise wurde sie später in das großartige Palast-Krankenhaus im Kreml überwiesen. Dieses Krankenhaus, fügte Tschiang Tsching hinzu, sei für hohe Funktionäre reserviert gewesen.[2]
Am Tag vor Stalins Tod (am 5. März 1953) hörte sie im Radio die Nachricht von seinem Schlaganfall. Sie lag zu dieser Zeit in einem Vorstadt-Sanatorium. Die anderen Patienten - es waren überwiegend hohe Funktionäre fragten sich besorgt, welche Veränderungen Stalins Tod in der Struktur des Regierungsapparates - von der wiederum ihre eigene Karriere abhing nach sich ziehen würde, und blieben wie erstarrt am Radio sitzen. Die feierliche Meldung von Stalins Tod stürzte alle Patienten und auch das Personal tagelang in große Aufregung. Zu diesem kritischen Zeitpunkt überschütteten die beiden russischen Sicherheitsbeamten, die Ärzte und auch die Krankenschwestern Tschiang Tsching mit politischen Ratschlägen. Der Tod ihres Führers schien ihnen von allergrößter Tragweite zu sein, so daß sie es für erforderlich hielten, daß auch der Vorsitzende Mao mit anderen führenden Politikern aus aller Welt zum Begräbnis nach Moskau komme. Dies gehe sie gar nichts an, erwiderte Tschiang Tsching. Eine so bedeutsame Entscheidung werde vom chinesischen Zentralkomitee getroffen.
Am Tag von Stalins Begräbnis sank das Thermometer in Moskau unter Null. Der Vorsitzende war nicht gekommen, hatte jedoch eine Botschaft übermittelt.[3] Tschiang Tsching, die noch immer intensiv behandelt wurde, hielt mit den anderen Patienten im Sanatorium Wache. Von ihrem Fenster aus beobachtete sie die Trauerprozession auf dem Weg zum Roten Platz. Die Menge zu beiden Seiten der Straße schien außer sich vor Kummer zu sein, was Tschiang Tsching sehr erstaunte. Die Leute benahmen sich wie »Fanatiker« und klammerten sich hilfesuchend aneinander. Tschiang Tsching sagte (und wußte sich darin mit Mao einig), eines von Stalins Versäumnissen sei es gewesen, die Massen nicht besser auf seinen Tod vorbereitet zu haben.
Unter den Politikern, die nach Moskau kamen, um Stalins Sarg das Geleit zu geben, befanden sich auch Klement Gottwald, der die Februar-Revolution in der Tschechoslowakei angeführt hatte, und der polnische Ministerpräsident Boleslaw Bierut. Nach Tschiang Tschings Ansicht befanden sich sowohl Gottwald als auch Bierut in gutem Gesundheitszustand, bevor sie zu Stalins Begräbnis nach Moskau kamen, doch dann seien sie beide an den Folgen des bitterkalten Wetters gestorben. Ebenso verhielt es sich angeblich mit Palmiro Togliatti, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Italiens, und William Z. Foster, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten. Dies sind geradezu phantastische Vermutungen.[4] Offensichtlich wollte Tschiang Tsching damit ausdrücken, daß Mao durch sein Fernbleiben der tödlichen Krankheit, die Stalins Todeszeremoniell verbreitete, entgangen war.
Obwohl Tschiang Tschings zweiter Aufenthalt in der Sowjetunion beinahe ein Jahr dauerte vom Winter 1952 bis zum Herbst 1953 -, war es für sie fast unmöglich, etwas über das Land zu erfahren, da alle Chinesen vom sowjetischen Volk ferngehalten wurden.[5] Kulturelle Veranstaltungen kamen nicht in Frage, und auch sonst gab es für sie keinerlei Unterhaltung. Ihre Lektüre bestand aus Schriften, die von Chinas Diplomaten überbracht wurden, und ihre menschlichen Kontakte beschränkten sich fast ausschließlich auf russische Ärzte, Schwestern und Sicherheitsbeamten. Diese Personen hielt sie für »gute Leute«, obwohl sie vom Geld besessen zu sein schienen. Eine russische Schwester erzählte ihr, daß der bekannte Schriftsteller und Verleger Konstantin Simonow dank seiner Tantiemen und seines Gehalts als Minister ein »Millionär« sei. Seine Frau besitze herrliche Juwelen. Tschiang Tsching stellte fest, daß auch diese Schwester Schmuck getragen habe. Als sie dies zur Sprache brachte, habe die Schwester erklärt, daß man Schmuck nicht als etwas beurteilen dürfe, das politische Bedeutung habe. Es handele sich nur um eine persönliche Vorliebe. Irgend jemand habe an die sowjetische Zeitschrift »Krokodil« geschrieben, um auf die Gewinnsucht der Familie Simonow aufmerksam zu machen, wußte die Schwester zu berichten. Doch diese Angelegenheiten seien so delikat (und weitverbreitet) gewesen, daß »Krokodil« es nicht gewagt habe, solche Leserbriefe zu veröffentlichen.
Die große Bedeutung, die ihre Kontaktpersonen dem Geld einräumten, sei für sie beunruhigend gewesen, sagte Tschiang Tsching. Die Funktionäre, mit denen sie und ihre Begleiter Umgang hatten, erwarteten Geschenke und Trinkgeld für ganz reguläre Dienstleistungen.
Offensichtlich seien Konsumgüter Mangelware gewesen. Nach Tschiang Tschings Ansicht sei die sowjetische Führungsspitze zu tadeln, da sie dem Volk keine ideologischen Anreize geboten habe, um es vom »Raffen« abzuhalten.
Obwohl die Beziehungen zwischen China und der Sowjetunion 1953 noch freundschaftlich waren, begann Tschiang Tsching bereits gewisse feindselige Unterströmungen zu spüren. Da offene Kontakte zwischen Chinesen und Russen »offiziell nicht gern gesehen wurden«, habe sie es sich zum Prinzip gemacht, ganz für sich zu bleiben, wenn sie einmal kräftig genug gewesen sei, um durch die Straßen zu schlendern. Eines Tages habe sie zu ihrer Überraschung gehört, daß ganz in der Nähe die chinesische Nationalhymne gespielt wurde. Ein Russe - er habe keine Ahnung haben können, wer sie war - sei freundlich auf sie zugetreten und habe sie gebeten, dem Vorsitzenden Mao und anderen führenden Politikern ihres Landes seine besten Grüße auszurichten. Kaum hätte er diese Worte ausgesprochen, habe ihn auch schon ein Geheimdienstler am Arm gepackt und weggeführt.
Tschiang Tsching stellte fest, daß die Sowjetunion in den frühen fünfziger Jahren in kultureller Hinsicht pro-amerikanischer und pro-europäischer eingestellt gewesen sei, als die meisten chinesischen Politiker geahnt hätten. Das Volk habe immer noch unter dem Bann der »Aristokraten« gestanden, die sich lieber auf französisch als auf russisch unterhielten, ostentativ europäische Gepflogenheiten kultivierten und sehr auf ihr Äußeres Wert legten. Die gut geführten Krankenhäuser und Sanatorien, in denen sie sich aufhielt, hätten die Bedürfnisse solcher Aristokraten, zu denen viele mächtige Funktionäre des neuen Regimes gehörten, befriedigt. Da sie nichts Besseres zu tun hatten, hätten manche kritisiert, daß Tschiang Tsching zu schlicht aussehe und sich nicht nach der neuesten Mode richte.
Auch das einfache Volk habe mehr als das chinesische Volk auf Stil und Farben geachtet. Sie habe eines Tages von ihrem Krankenhausfenster auf die Straße hinuntergeblickt und eine Frau bemerkt, die einen grünen Hut trug, der nicht zu ihrer übrigen Kleidung paßte. Außerdem habe sie auch einige Männer mit grünen Hüten gesehen. Andere seien sogar ganz in Grün gekleidet gewesen. Kurz darauf habe sie anderen Patienten gegenüber eine Bemerkung über diese merkwürdige Farbe gemacht. »Wissen Sie denn nicht, daß Grün in diesem Jahr die Modefarbe ist?« sei die erstaunte Gegenfrage gewesen. Fast alle Frauen seien geschminkt gewesen, was sie selbst völlig ablehnte, da es nicht zu revolutionären Ideen passe. Aber sie habe niemals eine Bemerkung darüber gemacht, fügte sie hinzu.
Eines Tages stellten einige andere Patienten fest, daß Tschiang Tsching nicht die übliche Krankenhauskleidung trug. Ihre Kleidung hatte einen anderen Schnitt und eine andere Farbe. Sie glich ausgerechnet jenem Grünton, den sie bei vielen Fußgängern auf der Straße bemerkt hatte. Sie erklärte ihren Mitpatienten, daß ihre Kleidung auf eine persönliche Anordnung von Stalin hin angefertigt worden sei. Er hatte irgendwann einmal erfahren, daß die Kleidung, mit der das Krankenhaus die Patienten ausstattete, ihr zu groß war, da sie weitaus zierlicher war als die durchschnittliche Russin. Die Kleidung, die er eigens für sie anfertigen ließ, war von einem ganz bestimmten Grün (seiner Lieblingsfarbe). Die anderen hätten sie nicht nur um die Farbe ihrer Kleidung, sondern auch um ihre schlanke Figur beneidet, erklärte sie mir lächelnd.
Tschiang Tsching hielt sich immer noch in der Sowjetunion auf, als der Vorsitzende am 15. Juni 1953 dem Politbüro die Generallinie für die Übergangszeit (den Ersten Fünfjahresplan für den Übergang zum Sozialismus) unterbreitete. Tschiang Tsching erfuhr davon über diplomatische Kanäle. Noch immer erhielt sie nicht die Erlaubnis, nach China zurückzukehren. Erst im Spätherbst war es dann soweit. Nach fast einem Jahr hatten es die berühmten sowjetischen Ärzte noch immer nicht geschafft, sie vollständig zu heilen. Als sie wieder in Peking war, litt sie immer noch unter heftigen Schmerzen im Unterleib, so daß sie nicht gehen konnte. Chinesische Ärzte stellten fest die sowjetischen hatten es übersehen - daß sie außergewöhnlich viele weiße Blutkörperchen hatte. Neue Tests ergaben, daß Gallenblase, Leber und Nieren immer noch nicht kuriert waren. Als Tschiang Tsching sich über diese und andere Details ihrer Krankheitsgeschichte ausließ,[6] diskutierte sie mit den beiden Ärzten, die hinter ihr saßen. Sie stimmten meist mit ihr überein und gaben ausführlich Erläuterungen. Ihre Leber habe sich um zwei Finger breit unter dem Brustkorb vergrößert, berichtete sie. Doch ihr Zustand sei dadurch erleichtert worden, daß man die übermäßige Flüssigkeit aus dem Bauch abgezapft habe. Die Entzündung der Gallengänge in der Leber sei durch eine Spezialdiät bekämpft worden. Ihre langwierige Krankheitsgeschichte habe sie gelehrt, daß gewisse pathologische Zustände, die durch Arzneimittel nicht geheilt werden können, durch eine Diät kuriert werden könnten. Mit Vergnügen nannte sie mir einige Hausmittel, die sie selbst erprobt hatte.
Die Zeit zwischen Winter 1953 und 1958 sei die schwerste Zeit in ihrem Leben gewesen, meinte Tschiang Tsching, denn sie sei die meiste Zeit bettlägerig gewesen. Phasen schwerer Krankheit wechselten mit Phasen der Gesundung ab. Auf ihre zwei weiteren Krankenhausaufenthalte in der Sowjetunion in dieser Zeit kam sie erst später zu sprechen.
Im Winter 1953 befand sich ihr »Büro« in ihrem Schlafzimmer in Tschung-nan-hai. Als Schreibtisch benutzte sie ihr Bett mit verstellbarem Kopfteil. Eine dicke Steppdecke schützte sie gegen die winterliche Kälte. Hier arbeitete sie in den nächsten Monaten mehr als in dem ganzen vorhergehenden Jahr. Sie las viel, wobei sie sich auf »den großen politischen Kampf zwischen uns und dem Klassenfeind« konzentrierte, mit anderen Worten: auf den Kampf »zwischen den Sozialisten und der Bourgeoisie«.
Aus Zeitungen, neu erschienenen Büchern und aus ihrer eigenen Bibliothek suchte sie das Material heraus, das sie dem Vorsitzenden zu lesen gab. Dabei wies sie ihn auf die nach ihrer Meinung wesentlichsten Punkte hin. Wenn er an ihrem Bett saß, las sie ihm Zeitungen und Telegramme vor und hielt ihn über die jüngsten Ereignisse auf dem laufenden. Sie stellte auch selbständig Berichte zusammen und beschäftigte sich intensiv mit Problemen, mit denen sie noch kaum vertraut war.
Im Februar 1954 war sie immer noch bettlägerig. In diesem Monat brachen gewisse regionale Unruhen, die seit einiger Zeit Anlaß zu geheimen Nachforschungen gegeben hatten, offen aus. Auf der 4. Plenartagung des VII. Zentralkomitees der Partei, das vom 6. bis zum 10. Februar 1954 tagte, stellte sich heraus, daß Kao Kang und Jao Schu-schih (die das Nordost-Büro bzw. das Ostchina-Büro der Partei seit der Befreiung geleitet hatten) dabei waren, eine Clique gegen die Partei zu sammeln. Während der Plenartagung wurde eine Resolution zur Stärkung der Einheit der Partei angenommen. Erst kürzlich, fügte Tschiang Tsching hinzu, hätten sie und Mao herausgefunden, daß Lin Piao früher zu der Kao-Jao-Clique gehört habe. (Obwohl er damals nicht bloßgestellt worden sei, hätten sie jetzt Beweise für seine Verbindung zu dieser Clique.)
Ebenfalls im Februar 1954 veröffentlichte der Schriftsteller Hu Feng eine Denkschrift von über 300 000 Schriftzeichen, die an die Kommunistische Partei gerichtet war. Dies löste von allen Seiten »wilde Attacken« gegen die Partei aus. A Lung, Lu Ling und Schu Wu, Mitglieder von Hu Fengs »konterrevolutionärer Clique«, verfaßten Briefe, die hitzige ideologische Debatten verursachten. Jede dieser Schmähschriften las Tschiang Tsching unverzüglich, wenn sie auftauchten, doch ihre anhaltende Krankheit hinderte sie daran, alle Kommentare des Vorsitzenden zu diesen Schriften zu lesen. In den folgenden Monaten faßte der Vorsitzende diese Kommentare jedoch in Aufsätzen zusammen. Sie dienten als Munition für den Gegenangriff, den Mao im Mai und Juni 1955 einleitete.
Obwohl Tschiang Tsching in unserer Unterhaltung auf Hu Fengs Anklageschrift nicht näher einging, verdient diese es doch, näher dargestellt zu werden, denn sie trifft den Kern des latenten Konflikts zwischen Schriftstellern und Politikern in der Volksrepublik China. Hu Feng wurde 1903 in Hupeh geboren. Seine Vorliebe für moderne Auffassungen führte ihn in den späten zwanziger und den frühen dreißiger Jahren nach Japan. Seit 1934 arbeitete er in der Liga Linker Schriftsteller in Schanghai und schloß sich Lu Hsüns Kreis an. Obwohl er offenbar nie ein Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen ist, bezeichnete er sich selbst als Marxisten. Er nahm den unorthodoxen Standpunkt ein, daß der »individuell kämpfende Geist« des Künstlers wertvoller für den schöpferischen Prozeß sei als zentral entwickelte Parolen, die den »Klassenkampf« darstellten. Hus Konflikt mit Mao datiert von der Aussprache in Jenan (1942), wo er sich zum Sprecher einer Gruppe von Schriftstellern aus Schanghai machte (Ting Li'ng, Hsiao Tschün, der Dichter Ai Tsching und andere), die auf einem gewissen Maß an intellektueller Unabhängigkeit von parteigebundener Orthodoxie in der Kultur bestanden. Anfang der fünfziger Jahre unterhielt er enge Kontakte zu einflußreichen Leuten aus den Verlegerkreisen von Schanghai. Im Juli 1954 - vielleicht handelt es sich um jenes Ereignis, das Tschiang Tsching in das Frühjahr 1954 verlegte - einer Ruheperiode, was die Beziehung der Partei zu den Intellektuellen betrifft, unterbreitete er dem Zentralkomitee einen langen Bericht, in dem er Chinas gegenwärtige intellektuelle Sterilität auf die dogmatische Führung und auf den »scholastischen Marxismus« zurückführte. Damit meinte er, daß nur wenige, von der Partei Auserwählte die marxistische Theorie erläutern dürften. Selbstverständlich hatte er nichts gegen die Umerziehungsversuche der Partei, die einigen widerspenstigen Individuen galten. Er beklagte lediglich die brutale Unterdrückung des schöpferischen Geistes.
Die Auswirkungen dieser Affäre, die Hu Feng der Nation unterbreitet hatte, waren schwerwiegender, als aus der Erwiderung der Partei zu ersehen war. Die Probleme, an die Hu Feng gerührt hatte, hatten jahrelang geschwelt, bis sie sich schließlich wieder entzündeten. Behandelte die Partei den Oberbau (Literatur und Bewußtsein) auf die gleiche Weise wie die ökonomische Basis (Land und Arbeit)? Würde man am Ende mit begabten Schriftstellern - und selbst mit den glühenden Sozialisten des alten Regimes wie mit reichen Großgrundbesitzern umspringen, sie als »Klassenfeinde« etikettieren und ausrotten? War Maos Herrschaft so totalitär, daß sie Schriftstellern das Recht verwehrte, geistige Arbeit zu leisten und neue Ideen zu entwickeln? Oder sollten die Gebiete der Literatur wie Ackergebiete aufgeteilt und an Arbeiter, Bauern und Soldaten verteilt werden, damit diese auf eigene Faust den Boden bestellten und, falls überhaupt etwas wuchs, Ideen züchten könnten?
Im Januar 1955 begann die endgültige Verdammung von Hu Feng, Chinas Symbolfigur für intellektuelle Redlichkeit, der in sowjetischen und osteuropäischen Staaten viele Leidensgenossen hatte.[7] Ältere Schriftsteller, die vor der Befreiung zu Ansehen gekommen waren, unter ihnen Pa Tschin, Lao Sehe, Ai Tsching und Kuo Mo-jo, ließ die Partei aufmarschieren, um sie gegen ihren Kollegen einzusetzen. Dies taten sie, indem sie Briefe und Aufsätze in der »Volkszeitung« veröffentlichten und Hu Fengs Ruf besudelten. Doch war der Vorwurf, Hu Feng sei »konterrevolutionär«, übertrieben, da jeder Beweis dafür fehlte, daß er Prinzipien des Marxismus angegriffen oder versucht hatte, das Regime zu gefährden. Seine öffentliche Selbstkritik vom Mai 1955, die die Partei von ihm gefordert hatte, wurde nicht akzeptiert. Einen Monat später beschlagnahmte man die Privatkorrespondenz zwischen Hu Feng und seinen Freunden und veröffentlichte sie gemeinsam mit einer offiziellen Kritik in der »Volkszeitung« und anderen Blättern. Einige haben die nachfolgende Zeit der Säuberungsaktionen unter den Intellektuellen, die auf ähnliche Weise geistige Unabhängigkeit demonstriert hatten, als »Herrschaft des Terrors« bezeichnet.[8]
Tschiang Tschings Stellungnahme zu diesen demütigenden Heimsuchungen von Schriftstellern - von Persönlichkeiten, die sie in ihrer Jugend verehrt hatte - entsprach der herrschenden Ideologie und ließ jede humanitäre oder philosophische Sensibilität vermissen. Obwohl sie es nicht direkt sagte, ging es Mao und ihr in dieser Angelegenheit in erster Linie um die Erhaltung ihrer Macht. Tschiang Tsching betonte, daß die literarischen Provokationen, welche die kulturelle Führungsrolle des Vorsitzenden in Frage stellten, zeitlich mit der Auflehnung der moskautreuen Militärmachthaber Kao Kang und Jao Schu-schih und der Verschlechterung der Beziehungen zur Sowjetunion zusammenfielen.
Den sich anbahnenden Konflikt mit den Russen erkannte Tschiang Tsching weniger an der Kursänderung der Tagespolitik, von der sie 1954 und 1955 ausgeschlossen war, als daran, daß es häufig zu einem Mißbrauch des Protokolls und zu bösen Zänkereien zwischen den Männern an der Spitze kam. Als es ihr gesundheitlich wieder besser ging, so daß sie aufstehen konnte, stellte sie fest, daß die russischen Politiker zwischen Moskau und Peking hin und her reisten, um sich irgendwelche Vorteile zu verschaffen und weil sie auf eine günstige Gelegenheit zur Einmischung lauerten. Diese Staatsbesuche wurden zunehmend peinlich und sinnlos.
Chruschtschow (der Tschiang Tsching niemals in seinem Land empfing) besuchte China dreimal. Der Anlaß für den ersten Besuch, der vom 29. September bis zum 2. Oktober 1954 dauerte, waren die Festlichkeiten anläßlich des Fünften Jahrestages der Gründung der Volksrepublik China. Der zweite Besuch - vom 30. Juli bis zum 3. August 1958 - hatte keinen besonderen Anlaß. Jedenfalls konnte Tschiang Tsching sich nicht an einen solchen erinnern. Der Vorwand für den letzten Staatsbesuch vom 30. September bis zum 4. Oktober 1959 war die Feier anläßlich des Zehnten Jahrestages der Volksrepublik China. Doch Chruschtschows Anwesenheit stand unter keinem glücklichen Stern.
Ihre einzige Begegnung mit ihm fand 1954 statt. (Bei seinem zweiten und dritten Staatsbesuch wurde sie durch ihre Krankheit daran gehindert, ihn zu treffen.) Sie erinnerte sich daran, daß sie zwischen den Parteiführern auf der Rednertribüne am Tor des Himmlischen Friedens gestanden hatte, um von dort aus die Paraden und Demonstrationen und das Feuerwerk zu betrachten. Tschou En-lai, der immer Wert auf gesellschaftliche Umgangsformen legte, machte eine Bewegung, um Tschiang Tsching Chruschtschow vorzustellen. Doch als der Vorsitzende Mao bemerkte, was Tschou vorhatte, stand er auf, ging zu Tschiang Tsching hinüber (sie zeigten sich öffentlich so gut wie nie Seite an Seite) und führte sie rasch von der Rednertribüne hinunter.[9] Von der Menschenmenge unbeachtet verfolgten sie dort gemeinsam das Feuerwerk. Diese Erinnerung hielt Tschiang Tsching hoch in Ehren.
Maos Geste sei bedeutsam gewesen, erklärte Tschiang Tsching, denn sein Entschluß, diese Begegnung zu verhindern, zeige, daß Mao den sowjetischen Parteichef schon 1954 verabscheut habe. Chruschtschow habe sich ihnen gegenüber schlecht betragen. Die Chinesen hätten gewußt, daß er sich hinter ihrem Rücken über sie lustig mache und die KPCH die »patriotische Partei« und die »Kinderpartei« nenne. Im September 1959 reiste Chruschtschow in die USA, wo er auch die Vereinten Nationen besuchte. Bei einer Ordentlichen Sitzung habe er seinen Schuh ausgezogen und eine Rüpelszene aufgeführt. Danach sei er nach China gekommen, und hier habe er sich ähnlich schlecht benommen. Bei einem Staatsbankett ihm zu Ehren habe er die Chinesen als »Gockel, die gern kämpfen« bezeichnet, und auch sonst habe er sich ungebührlich verhalten. So habe man ihn in China in Erinnerung.
Während im Herbst 1954 Tschiang Tschings Genesung langsam fortschritt, fanden in der chinesischen Führungsspitze entscheidende Veränderungen statt. Auf dem Ersten Nationalen Volkskongreß der Volksrepublik China am 15. September 1954 hielt Mao eine Eröffnungsrede, in der er die Partei als das Herz und die größte Stärke des Staates und den Marxismus-Leninismus als seine theoretische Basis bezeichnete. Kurz darauf wurde Mao zum Staatspräsidenten der Volksrepublik gewählt (und die erste Verfassung verabschiedet).
Fünf Jahre nach der Verabschiedung des Bodenreformgesetzes von 1950 widmete sich der Vorsitzende wieder den ernsten Problemen der Landwirtschaft. Er hielt den Zeitpunkt für gekommen, ein neues Organisationsmodell, die Genossenschaft, einzuführen. In jenem Sommer leitete er die Kampagne ein, die die Landbevölkerung dazu bringen sollte, die halbsozialistisehen Genossenschaften in vollsozialistische umzuwandeln. Um die Begeisterung der Massen für eine weitere mühsame Veränderung zu wecken, mußte er die verschiedenen regionalen Parteisekretäre erst instruieren, wie diese Umgestaltung zu bewerkstelligen war. Am 31. Juli 1955 berief er eine Versammlung der Sekretäre der Provinz-, Kreis-und Stadt-Parteikomitees ein und hielt eine Ansprache über die mannigfaltigen Probleme bei der Gründung solcher Genossenschaften. Bei dieser Versammlung stieß er auf einen Widerstand, den er »Rechtsopportunismus« nannte. Liu Schao-tschi war der Führer dieser Fraktion. Daß Mao damals Liu und seine Gefolgsleute herausgefordert hatte, sollte weitreichende Konsequenzen haben.[10]
Um das Volk in der Genossenschaftsbewegung auf seine Seite zu ziehen, bereitete Mao im September 1955 [11] die Veröffentlichung eines Buches unter dem Titel »Der sozialistische Aufschwung im chinesischen Dorf« vor.[12] Er verfaßte für die erste dreibändige Ausgabe ein Vorwort und Anmerkungen zu mehr als hundert Artikeln. Diese Artikel hatte man Leute schreiben lassen, die in den verschiedenen Phasen der Genossenschaftsbewegung, die allmählich an Boden gewann, beteiligt gewesen waren. Auf einer Erweiterten Sitzung des 6. Plenums des VII. Zentralkomitees, das vom 4. bis 11. Oktober 1955 abgehalten wurde, ließ der Vorsitzende Kopien der Artikel verteilen, die bereits den Repräsentanten der Provinz-, Stadt- und Kreis-Parteikomitees vorgelegt worden waren. Er bat um Stellungnahmen und um weitere schriftliche Beiträge.
Als diese Beiträge eintrafen, schrieb der Vorsitzende das Vorwort gegen Ende Dezember um und gab ihm seine endgültige Form. Der bedeutendste Artikel des Buches - »Der Parteisekretär leitet, und die ganze Partei arbeitet bei der Gründung und Verwaltung der Genossenschaften mit« - gehöre zu seinen Lieblingsartikeln, sagte Tschiang Tsching. Im Vorwort lobte er die Wang Kuo-fan-Genossenschaft - ursprünglich eine »Arme Genossenschaft« aus dem Kreis Tsun-hua in Hopeh - für die Sparsamkeit, die sie in ihrer Organisation und in ihren Produktionstechniken über drei Jahre hinweg bewiesen hatte.
»Der sozialistische Aufschwung im chinesischen Dorf« erschien zu einem Zeitpunkt, der für die chinesische Parteiführung und ihre Wirtschaftsplanung kritisch war, und sollte als Beweis für den Kampf zweier Linien betrachtet werden. Was hat den Vorsitzenden bewogen, ein solches Buch zusammenzustellen? Tschiang Tsching behauptete, die verschwörerischen Aktivitäten von Kao Kang und Jao Schu-schih, deren Clique zum erstenmal im Februar 1954 bloßgestellt worden war, hätten das Buch veranlaßt. Doch Kao und Jao waren nicht etwa auf sich allein gestellt, sondern wurden von den sowjetischen Revisionisten unterstützt. Sie waren also in Wirklichkeit Kollaborateure. Einige kämpften offen »an der Front«, andere heimlich hinter den Linien. Kao Kangs Ehrgeiz war es, Vorsitzender des Ministerrats zu werden - eine Institution nach »sowjetischem Muster«.[13]
Als am 25.Januar 1956 eine Sitzung der Obersten Staatskonferenz stattfand, legte der Vorsitzende ein Vierzehn-Punkte-Programm für die landwirtschaftliche Produktion der Jahre 1956 und 1957 vor. Am 5. April 1956 brachte die »Volkszeitung« den Leitartikel »Über die historischen Erfahrungen der Diktatur des Proletariats« und am 29. Dezember 1956 einen zweiten unter demselben Titel - beide Artikel seien wohlbekannt, sagte Tschiang Tsching.[14]
Auf einer Erweiterten Sitzung des Politbüros (vom 25. bis zum 28. April 1958) hielt der Vorsitzende Mao die Rede »Über die Zehn Großen Beziehungen«, die für Chinas Regierungsform von grundlegender Bedeutung sind.[15]
1956 nahmen die kulturellen Auseinandersetzungen, die Peking aus eigener Kraft unter Kontrolle halten wollte, plötzlich weltweite Ausmaße an. Würden die Meldungen parteifeindlicher Herausforderungen durch Intellektuelle in Osteuropa die Machtstellung der KPCH unterminieren? Um diese Gefahr zu bannen, berief der Vorsitzende zum 2. Mai 1956 eine Sitzung der Obersten Staatskonferenz ein und gab die Parole aus »Laßt hundert Blumen blühen, laßt hundert Schulen miteinander wetteifern« (eine Aufforderung zur freien Meinungsäußerung, welche auch die Freiheit einschloß, die Partei zu kritisieren). Auf dem VIII. Parteitag der KPCH, der vom 15. bis 20. September in Peking abgehalten wurde, signalisierte Maos Eröffnungsrede, daß die Hundert-Blumen-Bewegung eine große Kampagne einleiten sollte.[16] Danach, sagte Tschiang Tsching, »begannen die Klassenfeinde zu Hause mit den sowjetischen Revisionisten gemeinsame Sache zu machen«. Die Ereignisse in Polen und Ungarn von 1956 hatten die Klassenfeinde zu Hause dazu inspiriert, alle möglichen westlichen Irrtümer und konterrevolutionären Meinungen zu äußern.[17] Aufsätze, Romane und andere literarische Produkte, die im Jahr der Hundert-Blumen-Bewegung rasch hintereinander veröffentlicht worden seien, zeigten dies mehr als deutlich. Nach Tschiang Tschings Ansicht gehörten zu den verderblichsten Schriften Tschin Tschao-yangs Aufsatz »Der breite Weg des Realismus« und Wang Mengs Erzählung »Ein junger Neuankömmling in der Organisationsabteilung«.[18] Im Winter 1956 wurde Tschung Tien-feis Artikel »Gongs und Trommeln in der Filmindustrie« (er wies darauf hin, wie gering die Kassenerfolge der sozialistischen Filme seien) unter dem Pseudonym Tschu Tschu-tschu gedruckt. Er führte zu hitzigen Erwiderungen.[19] Im Februar 1957 veröffentlichte der bekannte Soziologe Fei Hsiaotung seinen Aufsatz »Der Vorfrühling der Intellektuellen.«[20]Diese und andere üble Machwerke seien während der »wilden Attacken gegen die Partei im März 1957« verbrochen worden. Angriffe von Intellektuellen hätten sich überall in den Städten auf den Wandzeitungen gefunden. Der Vorsitzende reagierte darauf mit seiner Rede vor der Obersten Staatskonferenz »Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk«. Diese Rede wurde unter demselben Titel am 18.Juni 1957 als Aufsatz veröffentlicht. Ihr Ziel sei es gewesen, die Klassenanalyse voranzutreiben und die Berichtigung jener Intellektuellen vorzubereiten, die in den Monaten zuvor bürgerlichen Widerstand gegen den Sozialismus und gegen die Diktatur des Proletariats geleistet hatten.
Am 12.März 1957 sprach der Vorsitzende auf der Landeskonferenz der KP Chinas über Propagandaarbeit. Seine dort gehaltene Rede wurde später als Broschüre veröffentlicht. Nach den verräterischen Angriffen der bürgerlichen Rechten gegen die Partei wurde am 27. April 1957 die Berichtigungsbewegung gegen die Rechten offiziell vom Zentralkomitee angekündigt. Im Mai gab der Vorsitzende die Direktive aus: »Die Lage ändert sich.« Das Thema der zukünftigen »sozialistischen Erziehung« behandelte er in einer Rede vom 8. Juni. Am selben Tag und am 10. desselben Monats veröffentlichte die »Volkszeitung« Leitartikel des Vorsitzenden unter dem Titel »Wozu ist das gut?«. Diesen Leitartikeln, die den Gegenangriff gegen die Rechten einleiteten, folgte ein anderer Aufsatz des Vorsitzenden (»Die Lage hat sich stabilisiert«), der den Gegenangriff in das ganze Land hineintrug.
Die Berichtigungsbewegung müsse auch im internationalen Zusammenhang gesehen werden, fuhr Tschiang Tsching erregt fort. Ihre Ursachen seien nicht nur in China, sondern auch in den polnischen und ungarischen Ereignissen zu suchen,[21] die erst ein Jahr zuvor die sozialistische Weltöffentlichkeit erschüttert hätten. Die Beziehung zwischen der Berichtigungsbewegung und den polnischen und ungarischen Ereignissen sei von Tschou En-lai vor Tausenden von Zuhörern bei der 4. Sitzung des Nationalen Volkskongresses am 26. Juni erläutert worden. Dort habe Tschou die schamlosen Täuschungsmanöver einiger sozialistischer Parteien des Auslands in der Folge der Rebellionen von Intellektuellen gegen die Parteiautorität aufgedeckt. Auf Tschous Bericht folgte Maos Vorgehen gegen die Hauptstörenfriede innerhalb Chinas. Am 1. Juli 1957 veröffentlichte er einen Artikel in der »Volkszeitung« unter dem Titel »Die bürgerliche Ausrichtung der >Wen-hui pao<, (Literaturzeitung) muß kritisiert werden!«[22]
Nachdem das Schlimmste vorüber war, fuhren Tschiang Tsching und Mao nach Nanking, um Versammlungen einzuberufen. Doch die hochsommerliche Hitze war so drückend, daß sie dort nur kurze Zeit blieben und dann in nördlicher Richtung nach Tsingtao weiterreisten. Dort herrschte aber die gleiche glühende Hitze. Alle, einschließlich Tschiang Tsching, zogen sich Erkältungen zu. Der Vorsitzende machte sich Sorgen wegen ihrer Gesundheit und bestand darauf, daß sie nach Peking zurückkehrte. Dies tat sie dann auch.
Bevor Mao Tsingtao verließ, gab er einen Überblick über die Lage, wie sie sich im Sommer 1957 darstellte, erläuterte die Grundsätze der Bewegung gegen die Rechten und entwickelte eine Strategie, wie man sie zu einer nationalen Bewegung erweitern könnte. Was Tschiang Tsching eine »sozialistische Erziehungsbewegung« nannte, wurde am 8. August vom Zentralkomitee im einzelnen festgelegt. Fünf Tage später wurde diese Kampagne gemeinsam mit der Berichtigungsbewegung überall in der Volksrepublik in Gang gesetzt.
Die Reaktion der Massen erfolgte rasch. Das Volk, fest entschlossen, sich Geltung zu verschaffen, brachte überall große Wandzeitungen an. Die Presse diskutierte die Bedeutung dessen, was der Vorsitzende gesagt hatte. Als die Auseinandersetzungen, die in der Stadt begonnen hatten, auf das Land übergriffen, »war die revolutionäre Lage ausgezeichnet«.
Gegen Ende 1957 hatte der Vorsitzende auf diese Weise die Kontrolle über das kulturelle Leben des Landes gewonnen. Die Filme wurden allerdings immer noch im Geist der dreißiger Jahre produziert, obwohl die damaligen Zustände sich geändert hatten und besser vergessen werden sollten. Als die bedenklichsten Filme (obwohl das Volk sie liebte) erschienen Tschiang Tsching Hsia Yens »Der Laden der Familie Lin« von 1959 und Ko Lings »Stadt ohne Nacht« von 1958.[23] Die Regisseure konnte sie jedoch erst zur Zeit der Kulturrevolution zur Rechenschaft ziehen. Beide Filme erschienen ihr in politischer und ökonomischer Hinsicht suspekt, da »sie versuchten, die Diktatur des Proletariats zu schwächen, indem sie den Klassenfeind priesen und zugleich versuchten, kapitalistische Unternehmen zu etablieren. Außerdem bemühten sie sich, die Genossenschaften in der Landwirtschaft zu unterminieren, indem sie die Rückkehr zur individuellen Bewirtschaftung propagierten.«
Während die Aufmerksamkeit aller auf die Verfolgung der Dissidenten gerichtet war, erlitt Tschiang Tsching einen weiteren schweren Rückfall, der sie völlig außer Gefecht setzte. Sie hatte ständig hohes Fieber und verlor schnell an Gewicht. Ihre Ärzte trafen ein, um sie zu untersuchen. Der Gynäkologe diagnostizierte Gebärmutterhalskrebs.
Tschiang Tsching erinnerte sich, daß sie 1955 zu einer Generaluntersuchung in die Sowjetunion geschickt worden war. Diese Reise erwies sich jedoch als nutzlos, da die sowjetischen Ärzte in jener Zeit nicht an die »Zelltheorie« glaubten.[24] Folglich lehnten sie die Diagnose ab, die von den chinesischen Ärzten vor Tschiang Tschings Abreise gestellt worden war. 1956 stellten die chinesischen Ärzte fest, daß die erkrankten Zellen die Haut des Gebärmutterhalses überwucherten. Nach Meinung der Ärzte gab es zwei mögliche Behandlungsmethoden: Operation oder Bestrahlung. Da die früheren Operationen (die durch ihr Leberleiden nötig geworden waren) Verwachsungen im Unterleib zur Folge hatten, die ihr immer noch Schmerzen bereiteten, wollte Tschiang Tsching von einer weiteren Operation nichts wissen. Also blieb nur die Bestrahlung übrig. Man verwendete sowohl Radiumträger als auch Kobalt 60. Die Bestrahlungen mit Radium waren eine Strapaze, die - noch stärkere - Kobalt-60-Behandlung war geradezu unerträglich. Da sie diese Therapie nicht aushielt, waren die Ärzte völlig ratlos. Sie schlugen Tschiang Tsching vor, nach Moskau zurückzukehren und sich erneut von den sowjetischen Ärzten behandeln zu lassen. Obwohl Tschiang Tsching schwer krank war und sie dies genau wußte, konnte sie die Vorstellung nicht ertragen, China wieder verlassen zu müssen und nicht zu wissen, was während ihrer Abwesenheit geschah. Also wehrte sie sich erbittert gegen die Entscheidung der Ärzte. Doch auch andere, die nichts von Medizin verstanden, mischten sich ein und drängten sie dazu, unverzüglich abzureisen. Zum ersten Mal setzten es der Vorsitzende Mao und das Zentralkomitee durch, daß eine Gynäkologin Tschiang Tsching in die Sowjetunion begleiten konnte. Diesem gemeinsamen Beschluß konnte sie nichts entgegensetzen. Sie kapitulierte und fuhr ein viertes Mal nach Rußland.
Sie erinnerte sich, daß sie völlig entnervt und mit hohem Fieber in Moskau ankam. Sie machte sich keine Illusionen über ihre schreckliche Krankheit, und auch nicht darüber, daß die Hoffnung auf Heilung nur gering war. Nachdem sie im Krankenhaus untersucht worden war, wollten die russischen Ärzte sie nicht dabehalten, da sich der Zellenbestand ihrer weißen Blutkörperchen auf 3 000 verringert hatte - eine Nebenwirkung der Strahlentherapie. Dadurch war die Infektionsgefahr gefährlich erhöht worden. Sie selbst, ihre Gynäkologin und ihre anderen Begleiter erklärten empört, daß die Ärzte geradezu verpflichtet seien, sie aufzunehmen, solange sie Krankenbetten in ihrem Hospital hatten. Man gab nach, und zum erstenmal wurde ihr gestattet, die chinesische Ärztin bei sich zu behalten. Um den Gebärmutterhalskrebs zu bekämpfen, habe man ihr eine »Überdosis« Kobalt 60 gegeben, beschuldigte Tschiang Tsching die russischen Ärzte. Sie verlor ständig das Bewußtsein und war überzeugt, daß ihr Knochenmark verletzt war. Sie erhielt nun Bluttransfusionen, doch dadurch stieg ihr Fieber noch weiter an. Daraufhin brach man die Therapie ab. Die sowjetischen Ärzte waren an einem toten Punkt angelangt. Sie vermuteten, daß die frische Luft der Moskauer Vorstädte für Tschiang Tsching zuträglicher sei als die Luft in der Innenstadt. Also verlegten sie ihre Patientin in ein Vorstadt-Sanatorium, wo sie nicht mehr die Verantwortung für sie trugen.
In jenem Winter herrschte bittere Kälte, und man behandelte sie nicht gerade schonend. Die Ärzte des Sanatoriums versuchten, sie zu »heilen«, indem sie Tschiang Tsching ins Freie brachten, wo eine Kälte von zwanzig Grad unter Null herrschte. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren, und ihre Sehkraft ließ nach. Sie sah alles verschwommen und verzerrt. Sie schwankte so sehr, daß sie ohne Stütze nicht aufrecht stehen konnte. Um sich »abzuhärten«, versuchte sie, Übungen zu machen, so schwach sie auch war. Doch Willenskraft allein konnte den extremen körperlichen Kräfteverlust nicht ausgleichen. In Tschiang Tschings Erinnerung verwandelte sich der alptraumhafte Winter unbemerkt in den Frühling und der Frühling in den Sommer. Nach längerer planloser Behandlung verkündeten ihr die Ärzte mit Grabesmiene, daß sie an Rachitis leide. Tschiang Tsching lachte, als sie sich daran erinnerte, daß im Norden der Provinz Schensi in den dreißiger und vierziger Jahren viele Genossen an derselben Krankheit gelitten hatten. Ihre Ursache vermutete man im Jod- und Kalzium-Mangel. Doch in Tschiang Tschings Fall hatte man die Rachitis deswegen diagnostiziert, um einen Vorwand zu finden, sie loszuwerden und in das städtische Krankenhaus zurückbringen zu lassen.
Die Ärzte in der Stadt setzten nun die mächtigsten Waffen gegen den Krebs ein. Sie ertrug drei Runden von Kobaltbestrahlungen. Die massive Dosierung schwächte ihren gesamten Organismus so sehr, daß sie ständig mit Sauerstoff beatmet werden mußte. Als sie zum viertenmal unter der Sauerstoffmaske lag, fiel sie in ein Koma. Deutlich erinnerte sie sich an das abrupte Erwachen, an die Angst, ersticken zu müssen, an die Angst vor dem Tod. Sobald sie genug Energie aufbringen konnte, stellte sie zwei Forderungen. Erstens sollte man die Behandlung mit Kobalt abbrechen, und zweitens wollte sie nach China zurückgebracht werden. Diese Forderungen aufzustellen war einfach, sie in die Tat umzusetzen, stand auf einem ganz anderen Blatt. Die Ärzteschaft in der Sowjetunion war strikt hierarchisch aufgebaut. Das bedeutete, daß es so gut wie unmöglich war, einen Arzt oder Professor dazu zu bewegen, auf eigene Verantwortung zu handeln, wenn nicht die Zustimmung seiner Vorgesetzten vorlag. Tschiang Tsching lag schon wieder im Koma, bevor ein Professor zur Stelle war, der zu diesem Zeitpunkt ihren Fall übernehmen konnte. Als sie unter der Sauerstoffmaske wieder zu sich kam, völlig benommen und schweißüberströmt, erklärte sie, daß es ihr sehnlichster Wunsch sei, nach Hause zu fahren, doch keiner hörte ihr zu. Da sie zu schwach war, um zu essen, verschlimmerte sich ihr Zustand weiterhin. Die Ärzte des städtischen Krankenhauses wußten sich nicht mehr zu helfen und ließen Tschiang Tsching wieder in das Vorstadtsanatorium transportieren, wo sie außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs war.[25]
Sie erklärte heftig, daß der Vorsitzende Mao während all dieser Monate genau gewußt habe, daß sie unbedingt nach China zurückkehren wollte. Er war jedoch auch stets über alle Details der medizinischen Gutachten unterrichtet, die die russischen Ärzte anfertigten. Als Ministerpräsident Tschou zu Verhandlungen nach Moskau kam,[26] besuchte er sie im Krankenhaus. Er war es, der ihr die Anweisung Maos übermittelte, sie solle so lange in Moskau bleiben, bis sie sich eindeutig auf dem Weg der Besserung befinde. Bei seinem Besuch im Krankenhaus unterhielt sich Tschou En-lai mit den Ärzten und ließ sich Tschiang Tschings Krankengeschichte berichten, um sich selbst ein Bild davon zu machen, wie es um sie stand. Nachdem er erfahren hatte, wie sie diagnostiziert und behandelt worden war, war er wütend über die Maßnahmen, die ergriffen bzw. nicht ergriffen worden waren. Tschiang Tsching fügte hinzu, daß Tschou natürlich hauptsächlich deshalb nach Moskau gekommen sei, um mit Chruschtschow zu verhandeln. Jene langwierigen und äußerst ermüdenden Diskussionen veränderten seine gesamte Einstellung.
Natürlich war sie überglücklich, den Ministerpräsidenten zu sehen, denn sie versuchte nach Kräften, über die politische Lage in der Heimat und im Ausland auf dem laufenden zu bleiben. Er hätte auch eine Menge zu berichten gehabt, doch gab es seiner Meinung nach für sie nur eine Medizin Zerstreuung. Eines Tages brachte er bei seinem Krankenbesuch Frau Borodin [27] und Tscheng Yen-tschiu mit, den berühmten Opernsänger (und Spezialisten für traditionelle Opern sowie für Frauenrollen). Beide hatten darauf bestanden, sie zu besuchen.[28] Einige andere gesellten sich zu ihnen, und alle blieben eine ganze Weile da. Tschou En-lai konnte selbstverständlich nicht ständig bei ihr sein, weil er mit Chruschtschow verhandeln mußte. Um sie zu zerstreuen, führte Tscheng Yen-tschiu Pantomimen auf und demonstrierte, daß die Mitglieder der KPCH jeweils Anhänger einer der beiden dramaturgischen Richtungen waren. Entweder folgten sie der orthodoxen Schule von Mei Lan-fang (1893-1961, ein noch berühmterer Spezialist für Frauenrollen in der traditionellen Oper), oder sie folgten seinem, Tscheng Yen-tschius Stil, der eine Neuerung (innerhalb der traditionellen Darstellung weiblicher Rollen) bedeutete.
Sie tauschten bis spät in den Abend hinein lustige Bemerkungen über Leute, die sie gut kannten, und über politische Angelegenheiten aus. Als ihre Besucher langsam hungrig wurden, verließen sie das Krankenhaus, um auswärts zu speisen, da man das Krankenhausessen Gästen nicht guten Gewissens anbieten konnte. Etwas später am gleichen Abend kamen Tschou En-lai und einige Begleiter und schimpften auf Chruschtschows Halsstarrigkeit während der Verhandlungen. Er sei durch nichts von seinem Standpunkt abzubringen, klagte Tschou. Tschiang Tsching war furchtbar verlegen, weil sie auch diesem Besuch nichts anbieten konnte. Die übliche russische Verpflegung - grobes Brot, Fisch und Eier - die ihr aufs Zimmer gebracht worden war, eignete sich ihrer Ansicht nach schlecht zur Bewirtung hoher Gäste. Tschou En-lai machte es jedoch gar nichts aus, und er gab sich größte Mühe, sie gut zu unterhalten. Er hatte ihr einen Brief von seiner Frau, Teng Yingtschao, mitbringen sollen, vergaß aber völlig, ihn ihr zu geben, wie sich Tschiang Tsching noch genau erinnerte. Aus Versehen nahm er den Brief dann bis nach Indien mit und brachte ihn von dort nach China zurück, bevor er sich endlich wieder daran erinnerte.
Was den Schauspieler Tscheng Yen-tschiu anging, so hätte sie ihn und seine Ideen in späteren Jahren gut gebrauchen können. Sie erwähnte ihre wiederholten Bemühungen, Tschou En-lai und Mao dazu zu bewegen, ihn gegen ihre gemeinsamen Feinde zu beschützen. Als Tscheng Yentschiu zum erstenmal angegriffen wurde (in den späten fünfziger Jahren), versuchte Tschou En-lai, sich schützend vor ihn zu stellen, hatte jedoch letztlich keinen Erfolg damit. 1958 wurde er von den Vier Bösewichten »zu Tode schikaniert«. Warum quälten sie ihn? Weil sein Stil eine Erneuerung darstellte, während der seines Rivalen Mei Lan-fang orthodox war. Je länger Tschiang Tschings Aufenthalt in der Sowjetunion dauerte, desto mehr verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand. Um ihr Blutbild zu verbessern, bekam sie zusätzliche Transfusionen. Bevor der Kampf gegen den Krebs begann, war ihr Blutbild gar nicht schlecht (ungefähr 240 000), doch im Verlauf der Bestrahlungstherapie sank es auf 70 000 ab. Nach den Transfusionen hatte sie ein eigenartiges Gefühl der Kälte und Empfindungslosigkeit, und schließlich stellte sie fest, daß sie die eine Körperhälfte nicht mehr bewegen konnte. Diese halbseitige Lähmung versetzte die russischen Ärzte in Schrecken. Tschiang Tsching hatte das Gefühl, ihr Schädel würde platzen - die Schmerzen waren höllisch. Das Fieber flammte wieder auf. Immer wieder bat sie darum, nach China zurückkehren zu dürfen, und schließlich ließen die Ärzte sie ziehen. Auf dem Rückflug hatte sie am ganzen Körper subkutane Blutungen.
Aus dem inneren Abstand heraus, den sie mit der Zeit gewonnen hatte, machte Tschiang Tsching einige beiläufige Bemerkungen über die Außenpolitik. Obwohl China keine reiche Nation war, setzte es doch seine beschränkten Mittel dafür ein, unterdrückte Länder und Völker zu unterstützen. Der Vorsitzende erklärte seinen Landsleuten häufig, daß sie der Jugend, die später einmal die Nation leiten würde, zwei Dinge beibringen müßten: »Spielt nicht die Waffenlieferanten« und »Erzwingt keine Rückzahlung!« Die Führungsspitze folgte immer noch diesen Regeln. China mußte das unterdrückte Volk der Nordvietnamesen unterstützen, weil es an der Front kämpfte. Wenn die Nordvietnamesen nicht kämpften, dann würde der Feind die Chinesen angreifen. Das gleiche galt für Korea. Chruschtschows Verhalten sei wirklich unerhört gewesen, sagte sie mit einpörter Stimme. Im September 1955 stattete der westdeutsche Bundeskanzler Adenauer der Sowjetunion einen Besuch ab. Bei der Gelegenheit erklärte Chruschtschow, das größte Problem der Weltpolitik sei die »gelbe Gefahr«, wie er China nannte. Er forderte Westdeutschland auf, ihm dabei zu helfen, mit den Chinesen fertig zu werden. Im Verlauf der chinesischen Revolution halfen die Russen China nur wenig. Während des Koreakrieges gewährte ihnen Stalin ein Darlehen von dreihundert Millionen US-Dollar zu beträchtlichen Zinsen. Als Chruschtschow an die Macht gekommen war und die Ereignisse in Polen und Ungarn im Jahre 1956 seine Position gefährdeten, kamen ihm die Chinesen unverzüglich zu Hilfe. Sie versorgten ihn auch mit Abhandlungen und Berichten über die historischen Erfahrungen proletarischer Länder.
Chruschtschows Chinabesuch im Herbst 1959 diente nach außen hin dem Anlaß, den Tag der Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober mitzufeiern. Dieser Besuch war eine unerfreuliche Angelegenheit. Chruschtschow kündigte an, daß er alle russischen Experten aus China abziehen würde, und drängte die chinesische Führung, alle Schulden zu begleichen. Diese Eröffnungen kamen sehr ungelegen, denn die späten fünfziger Jahre waren für China in jeder Hinsicht besonders schwierig. Trotz dieser Ankündigung erwartete Chruschtschow allen Ernstes, daß sie ständig Kotaus vor ihm machen sollten! Er konnte nicht wissen, daß die Chinesen einfach den Gürtel enger schnallten, nachdem die Sowjets ihre Experten (an die 1300 im Juli 1960) zurückgeholt hatten. Außerdem gab es nach Abzug der russischen Experten und ihrer technischen Hilfsmittel auch keinen gleichwertigen Warenaustausch. Die Sowjets wollten ursprünglich in China ein Rundfunksystem einrichten. Wären sie mit diesem Vorschlag durchgedrungen, dann hätten sie die Möglichkeit gehabt, das ganze Kommunikationssystem Chinas zu kontrollieren. Die Russen hatten auch angeboten, eine gemeinsame Flotte aufzubauen, die es ihnen ermöglicht hätte, sowohl die chinesischen Küsten als auch die Binnenschiffahrt zu beherrschen. Der Vorsitzende stimmte diesem zweiten Vorschlag nur unter der Bedingung zu, daß die Chinesen dafür zahlten. Er erklärte Chruschtschow: »Dies ist eine Frage des Prinzips: sonst werdet ihr uns alles wegnehmen.«[29]
Chruschtschow sei »ein großer Dummkopf« gewesen, meinte Tschiang Tsching. »Wir werden in die Berge gehen«, hatte der Vorsitzende einmal zu Chruschtschow gesagt. Diese philosophische Bemerkung bezog sich auf ihre Meinungsverschiedenheiten. Chruschtschow war jedoch »so dumm«, daß er nicht begriff, was Mao meinte. Chruschtschow hatte es auch nicht verschmäht, »Guerillamethoden« im Kampf gegen seinen Feind einzusetzen.[30]
Solange die Russen noch freien Zugang zu China hatten, schafften sie viele wertvolle Mineralien aus dem Land, darunter auch Titan. Dies entdeckte Tschiang Tsching bei ihrer ersten Reise auf die Insel Hainan (vor der Südküste Chinas), weil sie dort Nachforschungen durchführen wollte, die mit ihrer Kulturarbeit zusammenhingen.[31] Dort interviewte sie zwei ehemalige Kämpfer aus dem Japankrieg und machte einige Photos, um den Bericht über die militärischen Manöver zu ergänzen, die 1939 während der japanischen Besatzung durchgeführt worden waren. Diese tropische Insel war weitaus üppiger und schöner, als sie es sich hätte träumen lassen. Der Dichter der SungDynastie Su Tung-po war ebenfalls von Hainan entzückt gewesen. Er und andere Romantiker nach ihm nannten die Insel das »Ende der Welt« (schih-mo).
Als Tschiang Tsching eines Tages durch einen kaum besiedelten Teil der Insel wanderte und die Landschaft photographierte, stolperte sie über einen Haufen aus grauem, mehligem Material. Verlegen stand sie wieder auf, wischte den Staub von ihren Kleidern und fragte ihre Führer, was für eine eigenartige Substanz dies sei. »Titan«, erwiderten sie. Da sie wußte, daß dies ein wertvolles Mineral war, forschte sie weiter. Einige Inselbewohner erzählten ihr, daß vor kurzem eine Gruppe von Russen auf die Insel gekommen sei und Anspruch auf das Titan erhoben habe. Wie reagierten die Inselbewohner darauf? Sie blieben standhaft und weigerten sich, den sowjetischen Forderungen nachzugeben.[32] Tschiang Tsching stellte bei ihren weiteren Nachforschungen fest, daß Hainan ausgedehnte Titanvorkommen hatte.
An Breschnew war sie weniger interessiert. Auch seine Vorstellungen enthielten viele Irrtümer, sagte sie brüsk. Mit seiner »Doktrin der begrenzten Souveränität«, die auch »Sozialimperialismus« genannt werden könnte, sei letztlich nur das Recht gemeint, sich rücksichtslos über andere hinwegsetzen zu dürfen. Die Sowjets glaubten, daß nur ihre Partei wahrhaft patriotisch sei, während alle anderen bloße »Kinderparteien« seien. War das Marxismus? Konnte man eine solche Theorie in den Werken von Marx oder Lenin nachlesen? Breschnew war »der größte Clown der Welt!« Folglich versprachen die Chinesen den Russen keinerlei Unterstützung mehr. Der Vorsitzende Mao erklärte seinem Volk, man müsse diejenigen unterstützen, die ihrerseits China unterstützten. Sowohl die Regierung der USA wie auch die revisionistische Sowjetregierung dienten den Interessen ihrer jeweiligen Rüstungsindustrie. Wie aber sollten diese Rüstungsindustrien ohne Kriege Profit machen?
Dieser Aspekt der internationalen Beziehungen erinnerte sie an einen Film über den chinesisch-indischen Grenzkonflikt (Oktober 1962). Der Film handelt von einem indischen Soldaten, der Geld zusammenspart, um in seine Heimat in Indien zurückkehren zu können, sobald der Krieg vorbei ist. Irgendwie geht ihm im Getümmel des Kampfes das Geld verloren, worauf er in Tränen ausbricht. Ein chinesischer Soldat findet das Geld und gibt es ihm zurück, worüber der Inder ganz außer sich vor Begeisterung gerät.
Nach dieser Abschweifung kam Tschiang Tsching noch einmal auf Chruschtschow zu sprechen. Er war schuld am Ausbruch des chinesisch-indischen Grenzkrieges, denn er hatte die Inder angestachelt, den Kampf gegen die Chinesen aufzunehmen, damit sie ihr Territorium vergrößern konnten. Chruschtschow erklärte den Indern, daß die Chinesen nicht zurückschlagen würden. Wie unrecht er hatte! Generalleutnant Kaul von der indischen Armee entging der Gefangennahme durch die Chinesen nur dadurch, daß er, als einfacher Soldat verkleidet, floh. Es stand außer Frage, daß sich die Chinesen bis nach Neu-Delhi durchgekämpft hätten, wenn sie den Krieg fortgeführt hätten. Aber sie entschlossen sich anders. Sie zogen ihre Truppen zurück und schickten alle indischen Kriegsgefangenen nach Hause. Auch die militärische Ausrüstung, die sie vorübergehend beschlagnahmt hatten, ging an Indien zurück. Doch die Chinesen wußten, daß sie es leicht bis nach Neu Delhi geschafft hätten, wiederholte Tschiang Tsching. Im Verlauf des chinesisch-indischen Krieges wurde deutlich, daß das indische Volk unterdrückt wurde, obgleich Indien seit kurzem ein unabhängiger Staat war. Das indische Volk kämpfte gegen die chinesischen Streitmächte nur deshalb, weil es von der Regierung dazu gezwungen wurde. Frau Gandhi huldigte wie ihr Vater Nehru einem Großmacht-Chauvinismus.[33]
Schwierigkeiten mit den Sowjets gab es immer wieder, wie der Kampf um die Insel Tschenpao bewies (2. März 1969). Dieser Kampf wurde auf chinesischer Seite vorbildlich von Sun Yü-kuo geführt, einem noch ganz jungen Mann, der »genau wußte, wie man kämpft.«
Seine Tapferkeit wurde mit dem Posten eines Delegierten beim IX. Parteitag (April 1969) belohnt.
Um zu illustrieren, wie der Vorsitzende Mao den russischen Revisionisten gegenüber Demokratie praktizierte, erzählte Tschiang Tsching, daß die sowjetischen Hetztiraden gegen China in der chinesischen Presse veröffentlicht würden. In der Sow'etunion werde dagegen niemals eine chinesische Kritik an den Sowjets publiziert. Als Präsident Nixon vom 22. bis 29. Mai 1972 die Sowjetunion besuchte, gaben die Chinesen keine Meinungsäußerung dazu ab, obwohl die amerikanische Regierung eben zu dieser Zeit Vietnam mit einem Bombenhagel eindeckte. Natürlich wußte man, daß Nixon »ein alter Streiter im Kampf gegen den Kommunismus« war. Und doch war er auch der erste amerikanische Präsident, der China je besuchte. Er war es, der den ersten Schritt auf eine chinesisch-amerikanische Freundschaft hin machte. Doch sei er bei diesem und anderen Anlässen von seinem eigenen Volk kritisiert worden, bemerkte Tschiang Tsching halb ironisch, halb bedauernd.[34]
Die Chinesen stellten fest, daß Nixon seinen Standpunkt radikal ändern konnte. China, das er als »expansionistisch« zu bezeichnen pflegte, sah er später als »nach innen gerichtet« an. China mußte ständig auf der Hut sein, was die wechselnden Phasen von Nixons Außenpolitik betraf. Hätte der Vorsitzende Mao den abrupten Wechsel in Nixons Politik nicht so genau registriert, wie hätte er dann je Nixon einladen können, als Weltreisender, als Tourist oder in einer sonstigen Eigenschaft, die ihm gerade genehm war, nach China zu kommen?
Beim Thema »Nixon« zog Tschiang Tsching eine klare Linie zwischen ideologischem Engagement - Haß auf den amerikanischen Imperialismus und politischen Konventionen Respekt vor Nixon als dem Präsidenten einer Weltmacht zu einer Zeit der Entspannung. Als Erwiderung auf einige böse Bemerkungen, die ich über Amerikas Außenpolitik in Indochina machte, gab sie schnippisch zu bedenken: »Wenn Präsident Nixon nicht nach China gekommen wäre, dann säßen Sie jetzt nicht hier.«
Ihr Leben konzentrierte sich vor allem auf die öffentlichen Angelegenheiten ihres Landes, was sich auch auf ihr Privatleben auswirkte. Tschiang Tsching erklärte, daß sie und Mao sehr einfach lebten. Die meiste Zeit verbrachten sie mit Lektüre, der Analyse der Tagesereignisse und mit Schreiben. Kaum je unternahmen sie und der Vorsitzende etwas gemeinsam, und fast nie gingen sie als Privatpersonen auswärts essen. Seit sie in Peking lebten, hatten sie nur wenige Male in Restaurants gegessen, was sie früher, in jüngeren Jahren, leidenschaftlich gern getan hatte. Der Vorsitzende achte kaum darauf, was er esse, sagte Tschiang Tsching lachend. Er aß rasch und war normalerweise schon satt, wenn der letzte Gang aufgetragen wurde. Er vergaß immer, daß es noch einen letzten Gang gab, und wenn dieser dann kam, hatte er das Interesse am Essen verloren. Diese Gewohnheit Maos erinnerte sie an Wang An-schih, den Premierminister der Sung-Dynastie, von dem bekannt war, daß er immer nur jene Gerichte aß, die ganz nah an seinem Platz standen, ohne auf die übrigen zu achten, die sich weiter entfernt auf dem Tisch befanden. Als Wang An-schihs Frau dem Koch erzählte, daß Wang immer jenes Gericht aß, das ihm am nächsten stand, glaubte der Koch, eben dies sei sein Lieblingsgericht. Er kam gar nicht auf die Idee, daß es nur an dem »Standort« liegen könnte.[35] Als Tschiang Tsching Mao diese Geschichte erzählte, lachte er amüsiert und sagte: »Das sind also deine Geschichtskenntnisse, und damit ziehst du mich auch noch auf.«