Die elfte Stunde

Wer die Vergangenheit kontrolliert,
der kontrolliert die Zukunft.
Wer die Gegenwart kontrolliert,
der kontrolliert die Vergangenheit.
George Orwell, »1984«

Im Hinblick auf die Jahre, die sie als junge Ehefrau und unbekannte Parteigenossin in Jenan zugebracht hatte, meinte Tschiang Tsching, Sex sei zunächst ganz reizvoll, doch was das Interesse des Menschen auf die Dauer fessele, sei die Macht. Mit dieser freimütigen Erklärung hatte sie - vielleicht unbewußt - das Wesentliche ihres ungewöhnlichen Lebens zusammengefaßt. Auf eine qualvolle Jugend folgte die Heirat mit dem obersten Führer, und nun, da ihre ehelichen Beziehungen nicht mehr im Vordergrund standen, strebte sie nach persönlicher Macht. Den Status einer führenden Parteifunktionärin hatte sie als einzige Frau ihrer Generation im Verlauf einer Reihe persönlicher Auseinandersetzungen erkämpft. Sie lehrte den Vorsitzenden, sie nicht nur als Frau zu lieben, sondern sie auch als politische Persönlichkeit zu achten, die von keinem Mann in Beschlag genommen werden konnte. Seine Mitarbeiter mußten sie respektieren, denn manchmal verwehrte sie ihnen den direkten Zugang zu ihrem Führer. Sie stellte persönlichen Kontakt zu den Massen her, denen sich Spitzenpolitiker allzu leicht entfremdeten. Sie hielt sich nicht mehr an die revolutionären Normen, die ältere Parteigenossen festgelegt hatten, sondern setzte eigene Maßstäbe, die die Geschichte ihres Landes verändern konnten.
Während unserer Interviews hat Tschiang Tsching einige künftige Entwicklungen vorausgesagt, und diese Prognosen haben sich später bestätigt. Zahlreiche Genossen, die während der Kulturrevolution »streng zurechtgewiesen wurden«, sind inzwischen rehabilitiert. Im April 1973 erschien Teng Hsiao-ping, früher ein mächtiger Gefolgsmann Liu Schao-tschis, wieder an der Oberfläche und bestätigte damit - allerdings nur kurzfristig - die Bereitschaft der Führung, alte Gegensätze auszusöhnen. Das aus den Wirren der Kulturrevolution hervorgegangene Modelltheater überlebte und begann, oft unter großen Schwierigkeiten, den Mythos der jüngsten kommunistischen Geschichte und der fortschrittlichen Gegenwart auf den Provinzbühnen zu beschwören. Man gestattete weiterhin den Kulturaustausch mit dem Ausland, wobei sich auf chinesischer Seite die »Widersprüche verschärften«, was bedeutete, daß die Führer auch künftig der Gefahr einer Ansteckung durch fremde Einflüsse mit äußerster Vorsicht begegnen würden. Während Krankheit und Tod die Reihen der alten Genossen lichteten, dehnte Tschiang Tsching ihre Einflußsphäre vom Bereich der Kultur auf die Außen- und Wirtschaftspolitik aus. Da die alternden Führer jeden Tag unbarmherziger damit konfrontiert wurden, daß Menschen und revolutionäre Ideen vergänglich waren, nutzten sie ihre Verdienste in der Vergangenheit immer unverblümter zu ihrem persönlichen Vorteil. Wie würden sie als einzelne, wie würde ihre Partei und wie würde das Volk, dessen Leben sie verändert hatten, am Ende dastehen - im Urteil einer distanzierten Geschichtsschreibung? Für ausländische Beobachter bleibt Tschiang Tsching eine geheimnisvolle Frau, deren Bild plötzlich ins öffentliche Scheinwerferlicht rückte und wieder verschwand. Ihre persönlichen Ziele (oder die irgendeines anderen politischen Führers, von Mao abgesehen) waren kaum zu erkennen, obwohl aus ihren Selbstdarstellungen hervorgeht, welche Interessen sie seit langem verfolgte und welcher Mittel sie sich dabei bediente. Im Gegensatz zu Mao, dessen Strategie und dessen patriarchalischer Nimbus ihn auf Dauer davon dispensierten, an Banketten, Paraden und Empfängen für ausländische Gäste teilzunehmen, war Tschiang Tsching dazu verpflichtet, bei zahlreichen Staatsakten aufzutreten. Wenn sie bei solchen Anlässen einmal fehlte - was die ausländische Presse zu Meldungen veranlaßte, sie sei in Ungnade gefallen oder gestürzt worden - dann war dies auf ihre Sonderstellung, eine vorübergehende Verstimmung, politischen Druck oder einen angegriffenen Gesundheitszustand zurückzuführen. Jedenfalls arbeitete sie hinter den Kulissen weiter und veröffentlichte unter Pseudonymen Beiträge in der Parteipresse. Es gibt keinen Grund für die Annahme, daß sie die Verfügungsgewalt, die sie über den Bereich von Ideologie und Kultur ausübte (und an der nur wenige Anteil hatten), verlor. Chinas nationale Kultur war nie populärer und nie weniger elitär als in der Folge der Kulturrevolution. Zugleich wurden die darstellenden Künste (zu denen der Sport ebenso gehört wie Theater und Film) strenger von den Staatsorganen kontrolliert als je zuvor. Nie zuvor in der Geschichte wurden Ideen und Bilder und das Verhalten der Massen geschickter aufeinander abgestimmt. Für alle großen Kulturen - die Maya-Kultur, die griechische, römische und amerikanische waren öffentliche Spiele unverzichtbar, ob es sich nun um Kämpfe zwischen Christen und Löwen oder um Ringkämpfe handelte. Die Chinesen haben erst in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts den Wert solcher Veranstaltungen erkannt, doch dann bewiesen sie bei der Nutzung der neuen Möglichkeiten großen Scharfsinn. Juvenal hat einmal gesagt, daß sich die Bevölkerung des kaiserlichen Rom nur für Brot und Spiele interessierte. Im Jahr 2000 wird man die Bewohner Pekings vielleicht nur noch in Bewegung setzen können, wenn man ihnen »Nudeln und Spiele« vorsetzt. Der Circus Maximus in Peking ist das Arbeiterstadion. Seit der römischen Kaiserzeit und seit der Antike in China haben sich die Spielregeln im Kampf auf Leben und Tod verändert. Staatliche Vergeltungsmaßnahmen gegen Kriminelle und widersetzliche Elemente - von Tschiang Tsching seit ihrer Kindheit gefürchtet und beklagt - werden nicht mehr vorgeführt. Gewalt, Mord und erbarmungslose Zweikämpfe, die in begrenzten Bereichen und zu festgelegten Gelegenheiten in den meisten antiken und modernen Kulturen legitimiert waren, sind heute in China aus den öffentlichen Spielen verbannt. In der Revolutionsoper und im Ballett wird die Gewalt nur symbolisch, fast spielerisch ausgedrückt. Beide Bühnenformen pflegen das wu-schu, kriegerische Übungen, die seit jeher bloße Mimesis gewesen sind. Auch in den Sportarenen darf die Aggression nur simuliert werden. Sportarten, die den Kampf Mann gegen Mann vorführen, wie etwa das Boxen oder das Ringen, werden offiziell nicht gefördert. Selbst Hahnen- und Heuschreckenkämpfe wurden untersagt. Der Sport der Einzelkämpfer wurde vom Massensport abgelöst, und im Unterschied zu früheren Zeiten, in denen der Sport eine rein männliche Angelegenheit war, wird heute die Beteiligung von Frauen gefördert. Es gibt sogar Basketball-Frauenmannschaften. Die »Ping-Pong-Diplomatie« hatte durchaus eine politische Bedeutung. Aber das Schlagwort, das für die Chinesen beim Sport zu Hause und im Ausland gilt, heißt: »Zuerst Freundschaft, dann Wettkampf«.
Nach der Kulturrevolution vergrößerte sich das Repertoire der von der Partei sanktionierten Massensportarten, und Tschiang Tsching übernahm gelegentlich die Schirmherrschaft bei den Eröffnungsfeierlichkeiten, auffällig nach westlicher Mode gekleidet, so daß sie sich deutlich von ihren Landsmänninnen abhob. Sie saß dann auf einem Ehrenplatz neben ihren Gästen Diplomaten aus wichtigen befreundeten Nationen - und demonstrierte das, was ich an ihr als ungewöhnlich empfand: eine perfekte hoheitsvolle Haltung, eine ausdrucksvolle Mimik und die Fähigkeit, im richtigen Augenblick das Richtige zu tun. Diese öffentlichen Auftritte vor den Massen und vor dem Fernsehen, das ihr Bild bisweilen in der ganzen Welt verbreitete, vermittelten keinen Eindruck von ihrer eigentlichen politischen Arbeit: der beharrlichen Förderung eines nationalen Theaters, das die Vorstellungen und Ideale des zeitgenössischen Lebens gestaltete. Als die Kulturrevolution 1969 und 1970 abflaute, löste sich ihre Gruppe, die diese Massenbewegung seit 1966 geleitet hatte, unauffällig auf. 1971 wurde ein neues Kultusministerium geschaffen, das dem Staatsrat unterstellt war. Sein Leiter, Wu Te, war ein Mann, den Tschiang Tsching bewunderte. Daß er zugleich Bürgermeister von Peking und Chef des Stadtparteikomitees von Peking war (also die gleichen Ämter innehatte wie der gestürzte Peng Tscheng), wies darauf hin, welche Bedeutung seinem neuen Posten zukam. 1974 beging man das zehnjährige Jubiläum der Festspiele der Peking-Oper. Dieses Jubiläum markiert das politische Debüt von Tschiang Tsching. Das revolutionäre Modelltheater wurde begeistert gefeiert und als führende kulturelle Einrichtung anerkannt. Tschu Lan (wörtlich »Erste Welle«), war das Pseudonym eines Parteisprechers, der die kulturelle Arbeit von Tschiang Tsching unterstützte.[2] Er erklärte: »Die vom revolutionären Modelltheater zur Aufführung gebrachten Werke haben unmittelbar eine revolutionäre öffentliche Zustimmung für die Große Proletarische Kulturrevolution geschaffen. Sie sind eine mächtige ideologische Waffe für die Festigung der Diktatur des Proletariats und die Verhinderung einer Restauration des Kapitalismus.«[1] In der Zeit nach dem zehnjährigen Jubiläum bis zu Tschiang Tschings Sturz war es kaum bekannt, daß sie die Initiatorin und Leiterin des Modelltheaters war. Das entsprach der allgemeinen Tendenz, zu leugnen, daß es außer Mao noch andere ideologische oder schöpferische Autoritäten gab. Dies drückte sich auch darin aus, daß Artikel aus der Feder anonymer Verfasser in der Parteipresse zunahmen. Diese Verfasser dienten offenbar jeweils den Interessen eines oder mehrerer politischer Führer. Mit einer rituellen Übertreibung, die außerhalb Chinas unverständlich sein muß, bezeichnete man das neue Theater als »lebende historische Schriftrollen ... strahlende Galerien, welche die heroischen Vorbilder des Proletariats vorführen.« Das letzte in das Repertoire aufgenommene Stück, »Azaleenberg«, wurde gepriesen, weil es die militärische Aufbauarbeit des Vorsitzenden Mao in den zwanziger Jahren zeigte und den Rechtsopportunismus von Tschen Tuhsiu (einem der Gründer der Chinesischen Kommunistischen Partei) sowie die schändliche Politik Lin Piaos denunzierte. Es war das erste historische Drama, das inszeniert worden war, um Lin zu verdammen. Niemand, kein Chinese und kein Ausländer, konnte übersehen, wie kümmerlich das neue Repertoire war, das man nach der Kulturrevolution nur um ein oder zwei Werke ergänzt hatte. Angesichts des Reichtums und der Vielfältigkeit der chinesischen Theatertradition bedurfte dies einer Erklärung. Sie blieb rein defensiv. Die Angriffe gegen die »Dürftigkeit« des kulturellen Angebots seien »ein übler Wind, der von den Klassenfeinden angefacht worden ist; ein Argument, das ein Ausdruck des Klassenkampfs in Literatur und Kunst ist.« So hieß es in der »Roten Fahne«, und dazu wurde erklärt, daß es im wesentlichen nur um den Gegensatz von Qualität und Quantität gehe. Reiche Reaktionäre könnten es sich leisten, große Quantitäten herzustellen, aber die chinesischen Führer hätten sich dazu entschieden, sie niemals um den Überfluß, über den jene verfügten, zu beneiden. Reaktionäre Produktionen müßten sabotiert werden. Man müsse sie scharf kritisieren und »auf den Abfallhaufen der Geschichte werfen«.[3] Die Qualität in den Künsten bezeichnete man metaphorisch als »Wassertropfen, der das Sonnenlicht reflektiert«.[4] Im Namen der dramatischen Tugend beklagte man sich darüber, daß auf der Bühne immer noch »stinkendes Unkraut« wucherte. 1973 hatte man die Theatertruppen in ganz China dazu ermutigt, sozialistische Dramen zu gestalten, die von der Parteileitung genehmigt und schließlich als Modellstücke kanonisiert werden könnten. In diesem Sinne inszenierte man in der Provinz Schansi das Stück »Dreimal den Pfirsich-Berg besteigen«. Oberflächlich betrachtet war es ganz einfach eine neue Oper. Doch das, was in ihr verkündet wurde, entfachte in Peking einen Sturm der Entrüstung. Diese gereizte Reaktion auf versteckte politische Aussagen auf einer Provinzbühne macht deutlich, daß in einer Gesellschaft, in der die Führer und ihre Programme von den politischen Körperschaften und der Presse nicht offen kritisiert werden können, notwendigerweise ein Klima der Verlogenheit entsteht. China hat eine lange Tradition der Unterdrückung jeder Kritik an seinen Beherrschern, und in den autokratischen Epochen des Kaisertums wurde solche Kritik am härtesten bestraft. Offene Kritik in Form von Polemik war unmöglich, aber eine phantastische Literatur und insbesondere historische Dramen konnten abweichenden Haltungen zum Ausdruck verhelfen. Das Regime Mao Tse-tungs folgte der Tradition der Kaiserzeit auch darin, daß es intellektuelle und politische Abweichler bestrafte. Heute erinnern wir uns daran, daß die Parteigänger Mao Tse-tungs zu Anfang der sechziger Jahre den Dramenzyklus von Wu Han über den rechtschaffenen Beamten Hai Jui aus dem 16. Jahrhundert als Angriff gegen die ungerechtfertigte Entlassung von Peng Te-huai durch den Vorsitzenden werteten. Dies war jener prominente General, der Maos Gro.ßen Sprung nach vorn in den späten fünfziger Jahren kritisiert hatte. Das Stück »Dreimal den Pfirsich-Berg besteigen« entsprach insofern den Forderungen der Kulturrevolution, als hier in einem Theaterstück ausschließlich die Geschichte der Chinesischen Kommunistischen Partei gefeiert wurde. Doch die Autoren versetzten die Oper in die Zeit des Großen Sprungs nach vorn, in die unrühmlichste Phase des politischen Werdegangs von Mao. Hinzu kam noch, daß die Ereignisse, die das Theaterstück behandelte, in das Jahr 1964 verlegt wurden, die Zeit kurz vor dem Beginn der Kulturrevolution, als Tschiang Tsching sich auf dem Aufstieg zur Macht befand und Liu Schao-tschi und seine Frau Wang Kuang-mei schon in Mißkredit gerieten. Anfang 1974 verdammte Tschu Lan die Oper aus Schansi als einen »konterrevolutionären« Versuch, das Urteil gegen die bürgerlich-reaktionäre Linie »umzustoßen«. Durch geschickte Anspielungen glorifiziere die Oper die politische Linie von Liu Schao-tschi und Wang Kuangmei in der Provinz Hopeh während der Sozialistischen Erziehungsbewegung. Pferde symbolisierten die rivalisierenden männlichen Führer. Das »kranke Pferd mit dem schwachen Gehirn«, das angetrieben wird, bis es zusammenbricht und vor Erschöpfung stirbt, repräsentiere Mao Tse-tungs Großen Sprung nach vorn. Ein riesiges rotes Pferd mit dem Namen Lao Liu (guter alter Liu) sei eine Anspielung darauf, daß Wang Kuang-mei der Pfirsichgarten-Brigade 1964 persönlich ein Pferd geschenkt hatte. Ausgerechnet diese Gestalt werde als heroisch dargestellt. Die weibliche Hauptrolle der Tschiang Lan verkörpere die negative Haltung von Wang Kuang-mei: die Billigung der Lehren von Konfuzius und Menzius und die Unterstellung, der Klassenkampf liege in den letzten Zügen. Die Oper spiele mit der Theorie, nach der es keinen Konflikt gebe und »das Volk in der Mitte stehe«! Mit anderen Worten, sie negiere das Ethos des Klassenkampfes und die politisch gegensätzlichen Charaktere, die die Modelldramen von Tschiang Tsching beherrschten.[5]
Es gab nur wenige Theaterstücke in der Zeit nach der Kulturrevolution, die von der Parteiführung anerkannt wurden. Zu ihnen gehörte »Ein halber Korb Erdnüsse«, ein kurzes Stück aus der Provinz Tschekiang, das dadurch ausgezeichnet wurde, daß man nach ihm einen Farbfilm drehte. Dieser Film wurde in der Presse überschwenglich gelobt und im ganzen Land gezeigt. Zwar räumten die Sprecher der Partei ein, daß dieses kurze Stück über einen Studenten, der in seiner Freizeit auf dem Feld liegengebliebene Erdnüsse aufsammelt, selbst nach vielen Revisionen noch unvollkommen sei. Aber dennoch zeigten die Äußerungen armer und unterer Mitttelbauern, wie »die Philosophie aus dem Hörsaal der Philosophen befreit und wie Lehrbücher in den Händen der Masse zu scharfen Waffen geworden waren«. Die überzeugende Darstellung des Kampfes zweier Linien zwischen Kommunismus und Kapitalismus auf dem Lande zeige, daß die Universalität des Widerspruchs auch im Besonderen aufgewiesen werden könne, was beweise, daß man »das Große durch das Kleine sehen könne.«[6]
Um die Illusion aufrechtzuerhalten, daß Mao Tse-tung auf dem Gebiet der Kunst wie überall sonst allein zuständig sei und daß die Verwaltung unter seiner Anleitung mit einer Stimme spreche, wurde die entscheidende Rolle, die Tschiang Tsching in der Zensur gespielt hatte, vor der Öffentlichkeit kaschiert. Hätte man öffentlich klargestellt, was in unseren Interviews deutlich zum Ausdruck kam, dann hätte sich gezeigt, daß ihr Einfluß nicht nur den des Vorsitzenden ergänzte, sondern auch mit ihm konkurrierte. Hinweise auf ihren persönlichen Ehrgeiz - dessen man in China immer wieder Frauen mit weltlichen Interessen angeklagt hatte - hätten Tschiang Tsching in kritischen Situationen noch angreifbarer gemacht. Es gab aber auch weniger gefährliche Wege, Ehrenschulden zu begleichen. Im Juli 1974 wurde Tschiang Tsching zum zehnten Jahrestag der Festspiele der Peking-Oper als »Auslegerin der Gedanken von Mao Tse-tung« gepriesen,[7] eine Ehre, die man bisher nur Tschou En-lai und Lin Piao erwiesen hatte. Tschu Lan verkündete in vulgärmarxistischer Manier, aus den Jahrtausenden des Feudalismus und den Jahrhunderten der Bourgeoisie würden sich nur wenige Werke der Nachwelt erhalten. Seit dem Beginn des Imperialismus erlebe man den Niedergang des Kapitalismus, und »die Bühne wurde zur Plattform der modernistischen Schule, des Fauvismus, des Teddy-Boy-Tanzes, des Striptease und anderen entarteten Schunds ... Es gab wohl viele und verschiedenartige Werke, aber alle zeichneten sich dadurch aus, daß sie das Bewußtsein der Menschen vergifteten oder einschläferten«.[8] Die Förderer des Modelltheaters, an der Spitze der mysteriöse Tschu Lan, sahen China in der Vorhut der Weltgeschichte - in den Geburtswehen einer neuen proletarischen Kultur, die an die Stelle der feudalistischen, imperialistischen und bürgerlichen Kultur treten werde. Tschu Lan ging auf den laufenden Feldzug gegen die alten Philosophen ein und behauptete, die ethischen Grundsätze der alten Oper seien den »fanatischen« Lehren von Konfuzius und Menzius entsprungen. Hier stünde der Herrscher über dem Untertanen, der Vater über dem Sohn, der Ehemann über der Ehefrau, und hier gälten die Grundsätze der Fiinf Ständigen Tugenden (Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, Höflichkeit, Weisheit und Aufrichtigkeit), der Dreifache Gehorsam der Frauen (Gehorsam dem Vater und den älteren Brüdern in der Jugend, Gehorsam gegenüber dem Gatten nach der Heirat und Gehorsam gegenüber den Söhnen nach der Verwitwung) und die Vierfache Tugendhaftigkeit (guter Charakter, gute Umgangsformen, gute Erscheinung, gutes Handwerk), »Treue, Kindesliebe, Keuschheit und Rechtschaffenheit« sowie Treue, Selbstbeherrschung, Mildtätigkeit und Liebe.
»Wir leisten nicht nur etwas bei der Zerstörung der alten Welt, sondern auch beim Aufbau einer neuen«, verkündete Tschu Lan im Hinblick auf die »Qualität« der kulturellen Leistungen. Nach zehn mühevollen Jahren habe »das Proletariat« siebzehn revolutionäre Modellwerke für die Bühne geschaffen.
Die Grundlage des neuen Repertoires seien natürlich die acht Modellwerke, die Tschiang Tsching in der Kulturrevolution geschaffen und inszeniert habe. Heute würden diese Werke durch neun weitere ergänzt durch Teile aus »Die Geschichte einer Roten Signallaterne«, das Klavierkonzert »Der Gelbe Fluß«, die modernen Pekinger Revolutionsopern »Ode an die Drachenfluß-Brigade«, »Das Rote Frauenbataillon« (zunächst ein revolutionäres Modellballett), »Kampf in der Ebene« (ursprünglich ein Film) und »Azaleenberg«, die revolutionären Tanzdramen »Ein Loblied auf das Yimeng-Gebirge« und »Geschwister aus dem Grasland« (entstanden in Jenan) und schließlich durch die Revolutionsoper »Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert«. Die Produktion dieser Werke hatte freilich viel Zeit gebraucht, denn wenigstens fünf von ihnen waren Ausschnitte aus früheren Produktionen oder revidierte Bühnenstücke. Vorausblickend auf das Jahr 1984 (war das ironisch gemeint?) kam Tschu Lan zu dem Schluß: »In den vor uns liegenden zehn bis zwanzig Jahren sollten wir >auf schnellem Roß mit erhobener Peitsche und ohne aus dem Sattel zu steigen< unsere Anstrengungen verdoppeln und weitere neue Kapitel für die Geschichte der proletarischen Literatur und Kunst schreiben.«[9] Im Herbst 1975 genehmigte das neugeschaffene Kultusministerium Aufführungen, die Tschiang Tsching in den Jahren, als hinter ihr die Gruppe für die Kulturrevolution des Zentralkomitees gestanden hatte, auf eigene Verantwortung genehmigt hatte. Mit Unterstützung des Ministeriums wurden noch weitere Filme und Dramen aufgeführt. Alle feierten die gleichzeitig stattfindenden politischen Aktionen, unter anderem die Ausbildung »barfüßiger« Ärzte und die Produktion von Torpedobooten und großen Handelsschiffen. Das Bild des Nationalfeiertags, des ersten Oktobers, wurde nun merklicher als je zuvor von den Schauspielern und Schauspielerinnen, dem neuen heroischen Orden der Gesellschaft, bestimmt. Überall im ganzen Land organisierten die Gemeinden Lesungen von Balladen und Erzählungen, Dialoge und Theateraufführungen Darstellungsformen, die während der Kulturrevolution verpönt gewesen waren. Im folgenden März erschienen an den Zeitungskiosken in Peking fünf Zeitschriften für Literatur und Kunst, die ihr Erscheinen vor zehn Jahren eingestellt hatten. Aufmachung und Format waren gleichgeblieben, aber der Inhalt bestand übereinstimrnend aus einer Preisung des Proletariats und des späten Maoismus. Der bedeutendste Beitrag zur Revolutionsgeschichte auf der Bühne war das aus zehn Akten bestehende Theaterstück »Der Lange Marsch«, das die Allgemeine Politabteilung der VBA produziert hatte. Es war nicht nur das erste längere Sprechtheaterstück (ohne Gesang und Tanz), das nach der Kulturrevolution mit Billigung der höchsten Stellen aufgeführt wurde, sondern es war auch die erste Darstellung dieses bedeutenden Abschnitts in der Geschichte der Chinesischen Kommunistischen Partei. Die Handlung wurde allein von politischen Gesichtspunkten bestimmt. Sie rühmt »den großen Sieg der revolutionären Linie des Vorsitzenden Mao über die von Wang Ming vertretene opportunistische Linie und dann über die rechte Abweichung, das Zurückweichler- und Spaltertum von Tschang Kuo-tao.«[10] Das Problem, den Vorsitzenden auf der Bühne darzustellen, das auch schon früher aufgetaucht war, wurde dadurch gelöst, daß seine Ideen allgegenwärtig waren, seine körperliche Existenz jedoch der Phantasie der Zuschauer überlassen blieb. (Dies entsprach auch dem Regierungsstil Maos seit seiner ideologischen Renaissance in der Mitte der sechziger Jahre.)
In unseren Gesprächen hatte Tschiang Tsching erläutert, daß der Kulturaustausch die internationalen Beziehungen in der Überbau-Sphäre festige. Sie wußte, daß der Kulturaustausch viel riskanter als die üblichen Handelsbeziehungen war, denn dabei setzten die Chinesen ihre aggressive proletarische, moralisch naive und künstlerisch gemischte Kultur der Beurteilung, wenn nicht dem Spott des Auslands aus, während die importierte »bürgerliche« Kultur in Chinas wohlbehütetem proletarischen Reich einen gefährlichen Hunger nach Abwechslung wecken konnte. Die modern erzogenen Chinesen und die alten Kenner erinnerten sich noch ganz gut an die Zeit, als China alljährlich Hunderte von Filmen, Theaterstücken und Büchern beachtlicher Qualität produziert hatte. In den frühen sechziger Jahren hatte man ihnen auch erlaubt, Aufführungen alter und ausländischer Theaterstücke, Konzerte und Filme zu besuchen. Diese tolerante Kulturpolitik fand mit dem Anfang der Kulturrevolution ein plötzliches Ende. Durfte man es sich nun in den frühen siebziger Jahre leisten, wieder ein wenig toleranter zu werden, ohne den Appetit auf mehr kosmopolitische Kost übermäßig anzuregen? Zwei faszinierende Ereignisse im Rahmen des Kulturaustauschs mit dem Ausland standen im Mittelpunkt des Interesses von Tschiang Tsching: Antonionis Filmbericht über China und das Gastspiel des Philadelphia Orchestra in Peking. Die offiziellen Berichte über beide Ereignisse verdeutlichten den beständigen Widerspruch zwischen dem chinesischen Verlangen, Gastfreundschaft zu gewähren, und der Forderung nach kultureller »Reinheit«. Beide Tendenzen waren jetzt nicht weniger stark als im Kaiserreich. Im Frühjahr 1972 besuchte der italienische Filmregisseur Antonioni China als Staatsgast mit dem Auftrag, für das chinesische Fernsehen einen Dokumentarfilm zu drehen. Das Fernsehen hatte sich in den vergangenen Jahren zu einem der wichtigsten Propagandamedien entwickelt. Die Fernseh- und Rundfunkbehörden (Tschiang Tsching behauptete, daß sie diese seit der Zeit der Kulturrevolution kontrolliert habe) luden ihn ausdrücklich dazu ein. Schon vor ihm waren Filmregisseure in China gewesen, und zwar in den dreißiger Jahren, unter anderem Eisenstein und Karmen aus der Sowjetunion und Joris Ivens aus den Niederlanden. (Er hatte im Sommer 1972 erneut in China gefilmt.) Antonionis Film bestätigte die Binsenweisheit, daß ein Gegenstand stets im Auge (in diesem Fall im Objektiv der Kamera) des Betrachters Gestalt annimmt. Der Fehler dieses vier Stunden langen Films des Regisseurs von »Rote Wüste« und einiger flauer naturalistischer Produktionen lag darin, daß er unverkennbar die Handschrift von Antonioni trug. Der Film geriet daher zu einem Zerrbild des proletarischen China. Seine ungeschminkte Darstellung der täglichen Wirklichkeit widersprach der Vorstellung der Partei von Idealbildern und vorgeschriebenen Verhaltensweisen. Was Antonioni hier lässig, unprätentiös, schwunglos, etwas gehässig und träumerisch zeigte, war ein Strom von Impressionen, wie sie jeder Fußgänger haben konnte, der über die Straßen und Plätze Chinas schlenderte. Nachdem der Film in einer privaten Vorführung chinesischen Parteiführern gezeigt worden war und Antonioni Ausschnitte daraus dem ausländischen Fernsehen zur Verfügung gestellt hatte (er wurde im Januar 1973 in Amerika gesendet), nannte ihn ein Kommentar der »Volkszeitung« einen »regelrechten Betrug«, dessen Zweck es sei, »China zu verleumden und anzuschwärzen.« Die in China gebauten großen Handelsschiffe im Hafen von Schanghai kämen nicht ins Bild, dafür aber ausländische Frachter und kleine chinesischen Dschunken. Die Szenen über den Kreis Lin in Schantung durch den der Rote-Fahne-Kanal läuft, auf den die Chinesen so stolz sind, der aber im Film so gut wie nicht zu sehen ist - zeigten »ununterbrochen aufgesplitterte Felder, einsame Greise, erschöpfte Zugtiere, schäbige Hütten«. In einer Szene, in der einige Leute das Schattenboxen - Tai-tschi-tschüan - übten, behauptete Antonioni (fälschlicherweise), die politische Führung wolle diese alte Tradition abschaffen. Zu seinen »grotesken« Motiven gehörten in Teehäusern sitzende Menschen, Frauen mit eingebundenen Füßen, Menschen, die in der Nase bohrten, und andere, die auf die Toilette gingen. Antonioni behauptete, diese Menschen hätten Sehnsucht nach der Vergangenheit. In Wirklichkeit, so meinte die Zeitung, »hassen sie die Vergangenheit aufs äußerste, in der Hunderte Jahre Ungeheuer und Teufel in Menschengestalt wüteten ... Aber das Rad der Geschichte läßt sich nicht zurückdrehen. All diejenigen, die die Geschichte zurückzudrehen versuchen, werden unweigerlich von deren gewaltigem Rad zermalmt werden.« Bei den Aufnahmen von der Brücke über den Yangtse bei Nanking (des Symbols des industrialisierten China) habe er sie »absichtlich« von ungünstigen Winkeln aus gefilmt, so daß sie krumm und unstabil wirke. Daß unter der Brücke ein Paar Hosen zum Trocknen aufgehängt waren, sei eine weitere Verhöhnung. Er habe keine einzige Szene aus dem chinesischen Revolutionstheater aufgenommen, sich aber über die Arie »Erhebe dein Haupt, dehne die Brust« lustig gemacht, die von der Heldin des Revolutionsdramas »Ode an die Drachenfluß-Brigade« gesungen wird. Denn er habe die Melodie als Begleitmusik zu einer Einstellung verwendet, in der ein Schwein den Kopf schüttelt.[11] Enttäuscht über die Kritik aus Peking meinte Antonioni gelassen: »Sie haben ganz einfach nicht verstanden, was ich mit meinem Dokumentarfilm sagen wollte. Sie waren nicht fähig zu begreifen, welche gewaltige Bühne ihr Land darstellt, und zu ermessen, was zahllose Darsteller und achthundert Millionen Statisten in diesem gigantischsten und geheimnisvollsten aller Dramen sagten.«[12]
Als sich die chinesisch-amerikanischen Beziehungen im September 1973 erwärmten, wurde das Philadelphia Orchestra zu einem Gastspiel nach Peking und Schanghai eingeladen. Allerdings unternahm man keinen Versuch, chinesische Musik unter den gleichen Bedingungen in Amerika zu Gehör zu bringen. Was bei dieser Gelegenheit an Diplomatie aufgeboten wurde, ist ebenso wie die darauffolgende Ernüchterung typisch für die paradoxe Haltung Chinas gegenüber Abgesandten aus der Außenwelt. Die Gäste wurden mit ungewöhnlicher Herzlichkeit empfangen, und man brachte unzählige Trinksprüche auf die Freundschaft mit den Ausländern aus, die nach China gekommen waren. Doch sobald die Gäste abgereist waren, äußerte man sich verächtlich über alles, was eine fremde Kultur ins Land bringen konnte. Als das Philadelphia Orchestra offiziell eingeladen wurde, wiesen die Chinesen besonders auf den Umstand hin, daß das Orchester aus dem Geburtsort der amerikanischen Unabhängigkeit stamme und von Eugene Ormandy geleitet wurde, einem Mann, der allein schon durch sein Alter (73 Jahre) und seine Lebenserfahrung Ehrfurcht einflößte. (Nach den chinesischen Klischeevorstellungen vom Westen war der alte Herr mit seinem schneeweißen Haar der perfekte Vertreter seiner Klasse.) Tschiang Tsching hatte mir in einem Interview gesagt, daß in Übereinstimmung mit der allgemeinen politischen Linie die vier Konzerte in Peking und die zwei in Schanghai ausschließlich für die politischen Führer, nicht aber für die Massen bestimmt gewesen seien. Das Publikum bestand aus den führenden amerikanischen Vertretern in Peking und hohen chinesischen Beamten aus Politik und Kultur. Unter den Chinesen fiel besonders Li Te-lun auf, der langjährige Dirigent des Zentralen Philharmonischen Orchesters. Außer ihm waren auch die Hauptdarsteller der Revolutionsoper und des Balletts erschienen - glühende Anhänger von Tschiang Tsching, die unter den Gastgebern den Ehrenplatz einnahm. Was das Philadelphia Orchestra zum Vortrag brachte, war konservativ und bestand überwiegend aus farbiger Programmusik. Unter anderem spielte das Orchester die 5. Symphonie von Beethoven (deren martialisches »Siegesthema« besonderen Anklang fand), die 1. Symphonie von Brahms, »Die Neue Welt« von Dvojak und das Adagio aus Samuel Barbers Streichkonzert. Tschiang Tsching hatte angeblich das Orchester gebeten, auch die 6. Symphonie von Beethoven, die »Pastorale«, zu spielen. Als sie erfuhr, daß das Orchester nicht über die Partitur dieser Symphonie verfügte (und im Gegensatz zu den chinesischen Orchestern nur vom Blatt spielen konnte), schickte sie ein Flugzeug nach Schanghai, um das einzige vorhandene Exemplar der Partitur aus dem Archiv holen zu lassen, so daß das Philadelphia Orchestra bei seinem nächsten Auftritt das Gewünschte bieten konnte. Die Kritiker der offiziellen Parteipresse lobten die klaren musikalischen Klangfarben der »Pastorale«, die sprudelnden Quellen, den Gesang der Vögel, den ländlichen Tanz, das Gewitter und die Schlußapotheose der von der Sonne beschienenen Landschaft.
Weckten die akustischen Impressionen Beethovens, die er zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Gegend von Wien empfangen hatte, romantische sozialistische Vorstellungen von der chinesischen Landschaft im 20. Jahrhundert? Zum Abschied spielten die Amerikaner den »Marsch der Arbeiter und Bauern« und Tschiang Tschings Meisterwerk, das Klavierkonzert »Der Gelbe Fluß«. Ihr Schützling Yin Tschengtschung übernahm dabei den Solo-part. Ohne die Begleitung der ihm vertrauten Orchesters (die Pekinger Philharmonie gab während der ganzen Zeit dieses Gastspiels kein Konzert) spielte Yin als Zugabe seine Version einer typisch amerikanischen Melodie - »Home on the Range«. Am Ende des dritten Pekinger Konzerts schenkte Tschiang Tsching Mr. Ormandy einige Bücher aus ihrer Privatsammlung, mit der Bemerkung, es handele sich um hundert Jahre alte Einzelbände. Auf den letzten Seiten eines Bandes seien chinesische Noten abgedruckt, die, wie sie meinte, Mr. Ormandy nicht werde entziffern können. Als junge Mädchen hätten sie und ihre Freundinnen westliche Noten als »Bohnensprossen« bezeichnet. »Nachdem ich mich schon seit Jahrzehnten nicht mehr mit den Bohnensprossen beschäftigt habe«, meinte sie philosophisch, »sind aus uns etwas rohere Ackerfrüchte geworden.«[13]
Für die Konzerte wurde ein Rahmen aus höflichen diplomatischen Umgangsforinen geschaffen. Doch diese freundliche Fassade verschwand, wie dies in China üblich ist, sofort nach der Abreise der Gäste. Die traditionelle Neigung, China als Mittelpunkt der Welt zu betrachten, hatte sich durch das neue proletarische Bewußtsein von der eigenen Unfehlbarkeit noch verstärkt. Sie zwang die Führer dazu, ihre Fremdenfeindlichkeit erneut unter Beweis zu stellen und die »bürgerliche« Musik der Ausländer in klassenkämpferischen Tönen zu verdammen. Wahrscheinlich hatten eifrige chinesische Musiker, die im westlichen klassischen Repertoire ausgebildet worden waren, aus der Begeisterung der Führer für die Konzerte Ormandys geschlossen, daß das strenge Verbot, ausländische Musik zu hören, zu spielen oder zu lehren, aufgehoben werden würde. Das war ein Irrtum. Die sozialistischen Ahnen hatten einen ähnlichen Hochmut auf kulturellem Gebiet nicht gekannt. Selbst der Proletkult in Moskau in den Jahren nach der Revolution begründete keine derart starre Frontstellung gegen fremde Einflüsse. Wie man weiß, bewunderte Marx Shakespeare und Balzac, und Lenin liebte Puschkin, Tschernyschewski und Beethoven. Die chinesischen Führer assoziierten im Frühjahr 1974 die klassische Musik mit der Entstehung des Kapitalismus und die impressionistische und moderne Musik mit seinem Verfall. Damit widersprachen sie der kurz zuvor (von wem?) aufgestellten These, daß (»bürgerliche«) Musik im Hinblick auf die gesellschaftlichen Klassen neutral sei. Der weise Konfuzius, dessen Philosophie im Jahr zuvor wiederentdeckt worden war, nur um scharf angegriffen zu werden, wurde beschuldigt, die Musik zur Erweckung sanfter, harmonischer Gefühle empfohlen zu haben. Damit leugnete er die Widersprüche und den Klassenkampf. Nun behauptete Tschu Lan, der Chor in der 9. Symphonie von Beethoven, der verkündet, daß alle Menschen Brüder seien, und die Strophen enthält: »Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!«, propagiere »humanitäre bürgerliche« Ideen. Die Werke des »bürgerlich impressionistischen« Komponisten Debussy seien »voll von dekadenten, kraftlosen Stimmungen des fin de siécle«.[14]
Grob zusammengefaßt meinte diese Kritik folgendes: »Gegenwärtig zielt die Tendenz der Anbetung des Ausländischen und Wiederbelebung des Alten auf die Verneinung der Großen Proletarischen Kulturrevolution ab, im Bemühen, dem Rad der Geschichte in die Speichen zu greifen und die Praktiken der Revisionistischen Linie für Literatur und Kunst wiederzubeleben. Diese Tendenz hat ihre ideologischen Wurzeln in der >Theorie von der menschlichen Natur<« [15]
Gewisse (ungenannte) Persönlichkeiten wurden von Tschu Lan der blinden Verehrung ausländischer bürgerlicher Werke beschuldigt. Er warf ihnen vor, in der Wachsamkeit gegenüber der kulturellen Infiltration durch den Imperialismus und den Sozialimperialismus nachgelassen zu haben. Zwar müsse man nicht allem »Fremden« abschwören, doch sei die westliche klassische Musik vom Klassenstandpunkt aus zu beurteilen. Denjenigen, die sich vor allem Fremden kriecherisch im Staub wälzten, müsse man Einhalt gebieten. Es sei notwendig, das Angebot kritisch zu prüfen und dabei dem Grundsatz zu folgen: »Das Alte in den Dienst der Gegenwart stellen, das Ausländische für China nutzbar machen.« Die musikalische Gastfreundschaft von Tschiang Tsching war offenbar ein Fehlschlag gewesen. Hatte sie nun Tschu Lan beauftragt, diese beißende Kritik zu schreiben? Oder hatte dies ein Gegner veranlaßt? Der Musikkritiker der »New York Times«, Harold Schonberg, der das Philadelphia Orchestra nach China begleitet hatte, berichtete für die andere Seite mit der gleichen Schonungslosigkeit. Als die Amerikaner aufgefordert wurden, das Klavierkonzert »Der Gelbe Fluß« zu spielen, bezeichneten sie es als »gelbes Fieber«. Der Wirbelwindvirtuose Yin Tscheng-tschung habe sich trotz seiner Ausbildung in den kommunistischen Hauptstädten nicht um den Taktstock von Mr. Ormandy gekümmert. Die Partitur sei bestenfalls »Filmmusik, eine aufgewärmte Mischung aus Rachmaninow, Khatchaturian, Spätromantik, bastardisierter chinesischer Musik und Höhepunkten aus Filmmusiken von Warner Brothers.«[16]
Soviel über »Ausländisches, das China nutzbar gemacht wird«.
Die wichtigste Frage, die auch Tschiang Tsching ständig beschäftigte, war die nach ihrem Platz in der Geschichte. War sie in erster Linie die Gattin des Begründers einer neuen Ordnung? Oder nahm sie selbst eine führende Stellung ein, die sie auch nach dem Tod Maos behalten würde? Oder hatte sie beide Aufgaben übernommen, wobei sich der Schwerpunkt je nach den Umständen auf die eine oder andere Aufgabe verlagerte? Wenn man sich daran erinnert, welche Funktionen sie in den siebziger Jahren übernommen hat und wie sie sich in die philosophische Diskussion in der Presse eingeschaltet hat, dann kann man daraus vielleicht auch auf ihre Absichten schließen. Während der Kulturrevolution wurde Tschiang Tsching in das Politbüro aufgenommen, und man verlieh ihr den Titel »nationale Führerin«. Ihr Einfluß beschränkte sich aber auch weiterhin fast ausschließlich auf die Führer und ihre eigenen Gefolgsleute. In der Öffentlichkeit ließ sie sich nur selten sehen. Gelegentlich begrüßte sie ausländische Gäste, unter anderem Präsident Nixon,[17] den britischen Premierminister Edward Heath, Erzbischof Makarios von Zypern und zahlreiche afrikanische Würdenträger. Aber sie gewährte ihnen keine bedeutsamen Interviews und äußerte sich nicht zu Fragen der nationalen Prioritäten, der Außenpolitik oder der Handelsbeziehungen. Die Zuständigkeit in diesen lebenswichtigen Bereichen lag auch weiterhin ausschließlich bei dem Vorsitzenden Mao, bei Ministerpäsident Tschou, beim Ersten Stellvertretenden Ministerpräsident Teng Hsiao-ping und bei Außenministers Tschiao Kuan-hua. Aber als Frau des Staatschefs (die Bezeichnung »First Lady« trifft hier vielleicht nicht zu) übernahm Tschiang Tsching die Aufgaben der Gastgeberin gegenüber den Damen der ausländischen Gäste in China.
Die strahlendste Erscheinung unter ihnen war Imelda Marcos, die Gattin des Präsidenten der Philippinen, jener strategisch so wichtigen asiatischen Nation, deren Beziehungen zu China recht gespannt waren. Imelda Marcos, eine ehemalige Schönheitskönigin, international bekannt für ihr makelloses Äußeres, ihre Anteilnahme an humanitären Angelegenheiten außerhalb ihres Landes und ihren Machthunger, wurde im September 1974 von Tschiang Tsching empfangen. Senora Marcos, die gefürchtet hatte, Tschiang Tsching werde sich als radikale Ideologin gebärden, berichtete, die Gastgeberin sei »sanft und sehr feminin« gewesen. Ihr gemeinsamer Berührungspunkt bestehe darin, daß sie »Frauen des Ostens« seien, und dies setzte sie merkwürdigerweise mit »Aufgeschlossenheit« gleich.[18] Der Besuch fand nach dem Watergate-Skandal statt, und Senora Marcos berichtete, Tschiang Tsching habe gesagt: »Nixon ist ein tapferer Mann.« Er habe die Politik der Entspannung eingeleitet. »Seine Vorzüge überwiegen bei weitem seine Schwächen.«[19] Tschiang Tsching unterhielt Senora Marcos in königlichem proletarischen Stil, führte sie in die Oper und besuchte mit ihr moderne Fabriken und das am Stadtrand von Tientsin gelegene Dorf Hsiao-tschin-tschuang.
Tschiang hatte hier nach historischen Vorbildern[20] eine fortschrittliche Musterbrigade ins Leben gerufen. Das Dorf wurde von etwa sechshundert Bauern bewohnt, die eine Produktionsbrigade bildeten, und war jetzt in ein winziges Utopia proletarischer Kultur verwandelt worden. Tschiang Tsching zeigte ihrem Gast das einfache Zimmer und das Bett, das sie benutzte, zu der Zeit, als sie ihre Untertanen darin unterrichtete, wie man proletarische Gedichte, Romane, Lieder, Tänze und Opern schuf. Eines ihrer Ziele war die soziale und politische Gleichstellung der in diesem Dorf lebenden Frauen.[21] Wenn der revolutionäre Eifer dieser gewöhnlichen Leute, die zu Darstellern im täglichen Schauspiel der Gegenwart geworden waren, bewahrt wurde und sich auf andere übertrug, dann würden sie die Schöpfer einer neuen nationalen Geschichte sein, einer Geschichte, in der »Millionen von Helden die Diktatur des Proletariats verwirklichen«. In der Kulturrevolution habe sich gezeigt, meinte Tschiang Tsching, daß die Frage der revolutionären Nachfolge bei den Massen ebenso wichtig sei wie an der Spitze. Doch das vielgepriesene Modell von Hsiao-tschin-tschuang konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es den führenden Genossen vorbehalten war, in dieser wie in jeder anderen Frage »die öffentliche Meinung zu schaffen.« Wie sonst konnten die Angehörigen der sozialistischen Dynastie, die mit Mao an die Macht gekommen waren, ihren Platz in der Geschichte sichern und die richtige Regierungsform an kommende Generationen weitergeben?
In unseren Interviews sagte Tschiang Tsching mehrere Male, sie habe ihre Genossen immer wieder aufgefordert, die Geschichte zu studieren. Das müsse jedoch in der richtigen Weise geschehen, also unter der Anleitung der führenden Genossen. Gegen Ende des dritten Viertels des 20. Jahrhunderts wurde die Geschichtsschreibung den Historikern, die meist mit offizieller Billigung gearbeitet hatten, abgenommen. Nun wurde sie zum exklusiven Privileg der Führer. Deren Auffassungen wurden der Öffentlichkeit auf drei verschiedenen Wegen bekannt gemacht: entweder von Mao direkt oder unter dem Pseudonym eines bedeutenden Führers beziehungsweise einer Gruppe von Führern oder unter dem Namen einer neuentdeckten Begabung aus den Massen, deren Arbeit von der Führungsspitze inspiriert war. Die Frage, weshalb Dynastien zerfallen, wenn ihr Begründer gestorben ist, ließ Mao keine Ruhe. Er und seine engsten Mitarbeiter beschäftigten sich mit der Geschichte, um zu lernen, wie man die periodischen Rückschläge nach einem bestimmten historischen Zyklus verhindern konnte. In den siehziger Jahren wurde die Erforschung der chinesischen Geschichte durch die Partei fortgesetzt. Man legte dabei die Maßstäbe der marxistischen Dialektik an.[22] Die chinesische Geschichte ist schriftlich besser belegt als die aller anderen alten Kulturen. Dies war ein langfristiges Unternehmen, aber die Motive, die es veranlaßten, blieben aktuell. Die Verbrechen Lin Piaos an den Führern und am Volk wurden dadurch »erklärt«, daß man ihn mit dem »rückschrittlichen« Konfuzianismus in Verbindung brachte. Man behauptete, die Partei lasse sich von einem »progressiven« Legalismus leiten, der nun als historischer Vorläufer des Kommunismus anerkannt wurde. Der chinesische Legalismus strebte wie der Kommunismus für seinen Herscher eine fast absolute Machtvollkommenheit an. In beiden Systemen übernahm der Herrscher die Rolle des Vaters, und er behandelte die Massen wie seine Kinder. Nur der Staat war dazu berechtigt zu bestimmen, was richtig und was falsch ist. (Man ließ keine anderen weltlichen oder religiösen oder persönlichen moralischen Maßstäbe gelten.) Die soziale Kontrolle wurde durch ein starres System von Belohnung (Ruhm und Wohlergehen) und Strafe (Schande und Schmerz) und gegenseitiger Bespitzelung gesichert. In beiden Systemen waren die Landwirtschaft und die Landesverteidigung die wichtigsten Bereiche; deshalb standen Bauern und Soldaten über dem Handel und der Kaufmannsklasse.
Während der Kampagne gegen Lin Piao wurde dieser mit Konfuzius in Verbindung gebracht jenem chinesischen Weisen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., der von späteren Dynastien verehrt und zum Hauptgegner des Legalismus erklärt worden war. Nun wurde er als der Strohmann der gegen das Regime Maos gerichteten Opposition angegriffen. Eine Beziehung zwischen ihm und Lin Piao war kaum glaubhaft, denn Lin Piao hatte während seines ganzen Lebens, in dessen Verlauf er 35 Jahre lang ein überzeugter Verfechter revolutionärer Ideen gewesen war, niemals konfuzianische Lehren verkündet (weder hatte er hierarchische Prinzipien höher gestellt als den Grundsatz der Gleichheit noch die Harmonie höher bewertet als den Klassenkampf). Er hatte sie auch nicht praktiziert. Ganz im Gegenteil, er war das lebende Symbol des bewaffneten Kampfes, ein Fachmann auf dem Gebiet der Guerillataktik und ein Held des Befreiungskrieges. Als Tschiang Tsching bei unseren Interviews über ihn sprach, erwähnte sie mit keinem Wort seinen Konfuzianismus. Auch in den geheimen Dokumenten, die kurz darauf von der Parteizentrale herausgegeben wurden, war keine Rede davon. Erst 1973, zwei Jahre, nachdem er angeblich versucht hatte, seine Genossen zu ermorden, wurde der konfuzianische Aspekt in die Angelegenheit hineingebracht. Im Januar wurde er nicht beschuldigt, ein Ultralinker zu sein (was Tschiang Tsching behauptet hatte), sondern als Rechtsabweichler bezeichnet.[23]
So war sein Tod in der Äußeren Mongolei nur der Anfang. Jetzt mußte noch sein verklärtes Bild aus dem Bewußtsein von achthundert Millionen Chinesen getilgt werden. Dafür gab es einen Präzedenzfall. Als vor sechs Jahren der einzige andere Mann, der Maos Erbe hätte werden können, Liu Schao-tschi, gestürzt wurde, war der Haß gegenüber der Sowjetunion in China so groß, daß es genügte, ihn als »chinesischen Chruschtschow« zu bezeichnen. Lin Piaos Schwierigkeiten begannen später, zu einem Zeitpunkt, als die Führer rückwärts blickten, um mit Hilfe der Lehren der Vergangenheit vorwärts zu kommen. Daher stellten seine Feinde die Verbindung zwischen ihm und Konfuzius her. Diese willkürlichen Kombinationen von Menschen und Ideen, Vergangenheit und Gegenwart wurden dann geschickt in eine das ganze Volk erfassende Bewegung zur Verdammung von Lin Piao und Konfuzius verwandelt. Man bekämpfte die »restaurativen« Werte, die angeblich gleichermaßen zwei Männer kennzeichneten, zwischen denen 2500 Jahre lagen. Es bildete sich eine ritualisierte Alltagssprache heraus, die beide Idole zerstören sollte: den angeblich überwundenen Feudalismus und den angeblich unangreifbaren Revolutionär. Die Idee stammte, wie behauptet wurde, von Mao selbst, und Tschou En-Iai war der öffentliche Initiator.[24]
Tschiang Tsching scheint aber nicht nur die einzige Nutznießerin dieser Entwicklung gewesen zu sein. Sie war es auch, die in erster Linie die öffentliche Meinung organisierte. Von nationalchinesischen Agenten auf dem chinesischen Festland beschaffte Dokumente deuten darauf hin, daß sie Beweismittel gegen Lin Piao an militärische Eliteverbände im ganzen Land verteilen ließ - an jene Verbände, die früher unter seinem Kommando gestanden hatten. Außerdem lieferte sie allen, die ihm einmal treu ergeben gewesen waren, die Argumente, mit deren Hilfe sie ihn verdammen und sich selbst retten konnten.[25]
Vermutlich war auch Tschiang Tsching die Person, die das Büro für Kritik an Konfuzius und Lin Piao leitete. Monatelang wurde Lin Piao beschimpft und mit Konfuzius und dem Philosophen Menzius in einen Topf geworfen. Zu den Beschuldigungen gehörte auch die Behauptung, Lin sei ein Vertreter des männlichen Chauvinismus. Obwohl nur Konfuzius und Menzius zu diesem Thema schriftliches Beweismaterial hinterlassen hatten, beschuldigte man alle drei, den Aufstieg der Frauen zur Macht zu hintertreiben.[26] Während die postumen Verleumdungen weitergingen, stieg das Ansehen von Tschiang Tsching zwischen Herbst 1974 bis Frühjahr 1975 gewaltig und ebenso das Ansehen früherer Kaiserinnen. Wer hätte vergessen können, daß während der ganzen vieltausendjährigen chinesischen Geschichte Frauen ihren sozialen Aufstieg am schnellsten dadurch schafften, daß sie die Gemahlin des Kaisers wurden?

Daß im heutigen China das Recht der Frauen, politische Macht auszuüben, ganz anders als früher beurteilt wird, zeigt sich auf fast unmerkliche, doch bezeichnende Weise. Man hat das materielle und literarische Erbe der Vergangenheit sondiert, um es den Interessen der Gegenwart nutzbar zu machen. In allen chinesischen Museen befinden sich Ausstellungen, die nach politischen Erfordernissen gestaltet worden sind. Die Besucher der antiken Nordwest-Stadt Sian werden routinemäßig in das Museum geführt, das um das angeblich 6000 Jahre alte Dorf Pan-po aus der jüngeren Steinzeit herum errichtet worden ist. Dieses Dorf wurde 1953 entdeckt, fünf Jahre später ausgegraben und erregte nach der Kulturrevolution erneut das Interesse der Partei. Die »primitive kommunistische« Gesellschaft, die hier angeblich einmal existiert hat, wird unter Berufung auf verschiedene Ausgrabungsstücke als matriarchalisch bezeichnet. Die Frauen beschäftigten sich in erster Linie mit der Landwirtschaft und schufen damit die Existenzgrundlage, während die Männer auf die Jagd gingen, also eine untergeordnete Aufgabe übernahmen. Die Kinder wurden von der Mutter aufgezogen und trugen ihren Namen, was sich etymologisch durch das Schriftzeichen hsing ausdrückt, das aus den Wortelementen für »Frau« und »Geburt« zusammengesetzt ist. Trotz der vaterrechtlich geprägten chinesischen Geschichte bedeutet das Wort hsing auch noch heute soviel wie »Zuname«. Die vorgeschichtliche matriarchalische Gesellschaftsordnung lebt als ein Mythos weiter, der in der Revolutionsgeschichte neu belebt worden ist[27] und bildet - wenigstens symbolisch - das Gegengewicht zu der »konfuzianischen« Geschichtsauffassung, nach der es den Frauen nicht gestattet ist, den Ahnenkult im Haus zu vollziehen oder sich am öffentlichen Leben und am Staatskult zu beteiligen. Wenn die Achtung vor dem Matriarchat erneuert werden sollte, stand dann nicht ein politischer Kurswechsel in Aussicht? In seiner Jugend hatte Mao Tse-tung die abenteuerlichsten Rebellen und Banditen der Geschichte bewundert; als alter Mann studierte er etablierte Gesellschaftsformen und nahm sich den ersten Kaiser der Tschin-Dynastie, Tschin Schih Huang-ti, zum Vorbild. Dieser Kaiser hatte im 3. Jahrhundert v. Chr. gelebt und war der einzige wirkliche legalistische Herrscher Chinas. Die konfuzianische Lehrtradition hatte ihn über mehr als zwei Jahrtausende als Tyrannen betrachtet. Dieses Urteil wurde 1974 revidiert. Es erschienen zahlreiche gelehrte und polemische Aufsätze über Tschin Schih Huang-ti, von einem Autor, der sich hinter dem Pseudonym Lo Sze-ting verbarg wahrscheinlich ein für Mao schreibender Historiker. Obwohl dieser legalistische Kaiser, der den Beinamen »der Einiger« trug, da er der Herrschaft der Kriegsherren ein Ende bereitet hatte, nach konfuzianischer Auffassung als übermäßig streng galt, meinte Lo Sze-ting, er sei nicht streng genug gewesen. Er habe nicht alle seine reaktionären Feinde beseitigt (nur 460 konfuzianische Gelehrte wurden lebendig begraben), und daher hätten sie sich schließlich gegen ihn erhoben, die Macht seines Nachfolgers unterhöhlt und jenen langwierigen Streit entfacht, der erst mit der Begründung der Han-Dynastie beendet wurde. Der Begründer der Han-Dynastie, Liu Pang, der als Sohn eines Bauern geboren worden war, vertrat dann die Interessen der ehemaligen Grundherren. Er übernahm aber auch - und darauf wies Lo Sze-ting besonders hin - den legalistischen Regierungsstil von Tschin Schih Huang-ti.[28]
Daß sich die Kommunistische Partei darum bemühte, nach und nach mit der Geschichte Chinas, insbesondere mit dem Legalismus ins reine zu kommen, war verständlich. Wie die Tschin-Regierung die Massen mobilisiert hatte, um gewaltige öffentliche Bauten zu errichten (wie etwa die große Mauer), so setzte auch die Kommunistische Partei die Volksmassen für die Verteidigung, die Umbettung großer Flüsse und den Bau von Brücken und Kanälen ein. Beide Regimes verdammten Geister, Magie und Gespenster, und beide lehnten eine übermäßige »Buchgelehrsamkeit« ab. Mao, der alles tat, um das Bewußtsein der Massen und die Intellektuellen unter seine Kontrolle zu bringen, lobte die Legalisten dafür, daß sie Bücher verbrannt und Gelehrte lebendig begraben hatten. Durch die Wiederbelebung des Interesses für Tschin Schih Huang-ti, durch Aufsätze und archäologische Ausgrabungen[29] provozierte Mao aber auch indirekt die Frage, ob sein eigenes Regime von ebenso kurzer Dauer sein würde wie das von Tschin Schih Huang-ti, der fünfzehn Jahre regiert hatte. In unseren Gesprächen erklärte Tschiang Tsching: »Die Führer verschleiern oder verzerren die Geschichte nie.« Es war jedoch deutlich zu erkennen, daß sie die Geschichte zu ihrem politischen Vorteil nutzten. Auch Tschiang Tsching sah sich gezwungen, sich ihren Platz in der Geschichte zu sichern, indem sie in einseitiger Weise auf die Vergangenheit Bezug nahm. In denselben Jahren, in denen die negative Einschätzung Tschin Schih Huang-tis in ihr Gegenteil verkehrt wurde, revidierte man auch die konfuzianische Verachtung der weiblichen Herrscher. Die neue, von der Partei inspirierte Geschichtswissenschaft zeigte, daß zur Zeit der frühen und späteren Han-Dynastien (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) wenigstens sechs verwitwete Kaiserinnen Hof gehalten und wichtige Regierungsfunktionen übernommen hatten. Einige von ihnen hatten sogar weiterregiert, nachdem der Thronfolger volljährig geworden war. Dieser hatte sich auf repräsentative Aufgaben beschränkt.[30] Die revolutionären Analysen der Obergangszeit zwischen der Tschin-Dynastie und der Han-Dynastie stellten die aus dem Volk hervorgegangene spätere Kaiserin Lü als verehrungswürdiges Bindeglied heraus. In ihrer Jugend war sie als Guerillaführerin hervorgetreten. Sie hatte an der Seite des Banditen Liu Pang gegen die Konfuzianer gekämpft. Nachdem Liu Pang Kaiser geworden war, heiratete er sie, und nach dem Tod ihres Gatten und Sohnes wurde sie selbst Kaiserin. Während ihrer achtjährigen Regierungszeit kam es gegen den Widerstand der konfuzianischen Opposition zu einer legalistischen Renaissance.[31] Indem die Historiker des Chinas der Gegenwart sie als Beispiel hinstellten, unternahmen sie den Versuch, die historische Rolle der Frauen aufzuwerten.[32] Lu Hsün stellte einmal die Frage: »Als Wu Tse-tien Kaiserin wurde, wer hätte es da gewagt zu sagen: »Männer sind mehr und Frauen sind weniger wert?«[33] Mehr als zwölf Jahrhunderte lang war die »Usurpatorin« Wu Tsetien Gegenstand der offiziellen und der inoffiziellen Geschichtsschreibung und von Anekdoten, und schließlich wurde diese faszinierende Gestalt zur Heldin moderner Dramen und Schauerfilme. Aber erst 1974 entschloß sich die führende Gruppe in China, Wu Tse-tien und ihr legalistisches Regime als leuchtende Vorbilder hinzustellen. Wu Tse-tien war die Tochter eines kleinen Grundbesitzers und kam im Alter von vierzehn Jahren als Konkubine niedrigen Ranges in den Palast des zweiten Kaisers der Tang-Dynastie, Tai Tsung. Dort nahm sie aber sehr bald den ersten Rang ein. Als der Kaiser starb, zog sie sich in ein Nonnenkloster zurück und blieb dort, bis sein Sohn, der Kaiser Kao Tsung, sie zurückholte. In Anerkennung ihrer literarischen Fähigkeiten setzte er sie als Hofbeamtin ein. Weniger als ein Jahr später ließ er sich von seiner Frau scheiden und heiratete Wu Tsetien. Das empörte seine konfuzianischen Ratgeber, denn sie standen auf der Seite seiner ersten Frau, die aus einer berühmten Adelsfamilie stammte, und verachteten Wu Tse-tien wegen ihrer niedrigen Herkunft. Sie bezeichneten sie als »eifersüchtige« Frau und verglichen sie mit den schlimmsten Konkubinen der chinesischen Legenden. Wenn der Kaiser sich von ihr betören lasse, dann werde das mit der »Unterjochung der Nation« enden. Im Sinne des klassischen konfuzianischen Frauenhasses prophezeiten sie: »Wenn Wu Tse-tien Kaiserin wird, dann geht die Tang-Dynastie unter.« Doch im Gegensatz zu diesen pessimistischen Voraussagen ließ sich Wu Tse-tien nicht vom Luxus des Lebens im Kaiserpalast blenden, sondern unterstützte den Kaiser mit legalistischen Methoden bei seinen Staatsgeschäften. Sie blieb fast ein halbes Jahrhundert an der Macht und wurde während dieser Zeit von den Reaktionären ständig als »tyrannisch und frivol« angegriffen. Man behauptete, bei der Verhängung von Strafen folge sie nur ihren Launen. Doch in den Augen ihrer kommunistischen (und legalistischen) Bewunderer »beherrschte sie die Welt durch die Anwendung von Lohn und Strafe.« Durch die von ihr eingeleitete Regierungsreform begünstigte sie plebejische Grundbesitzer gegenüber den Feudalherren und der alten Aristokratie. Sie förderte junge Talente entsprechend den Leistungen, die bei schriftlichen Examina und kriegerischen Spielen nachgewiesen wurden. Außerdem sorgte sie für eine Umverteilung des bäuerlichen Landes. Daß sie die weniger Mächtigen förderte und den Legalismus im politischen, wirtschaftlichen, ideologischen und kulturellen Leben durchsetzte, hatte zur Folge, daß die Widersprüche zwischen den reaktionären und fortschrittlichen Klassen immer deutlicher hervortraten. Nach dem Tod von Kao Tsung weigerte sich die weise Herrscherin abzudanken. Überzeugte Konfuzianer schlossen sich gegen sie zusammen. Sie stellte eine Armee von 300 000 Mann auf. Diese Armee marschierte nach Süden und nahm die von den Rebellen verteidigte Festung nach einer Belagerung von fünfzig Tagen ein. Im Jahr 684 bestieg sie als selbsternannte »Heilige Kaiserin« den Thron und begründete die Tschou-Dynastie, ein Interregnum in der Ära der Tang-Dynastie. Zu dieser ungewöhnlichen Nachfolgeregelung erklärte ein Sprecher der Kommunistischen Partei: »Schon die Tatsache, daß eine Frau es gewagt hat, den Thron zu besteigen, war eine deutliche Kritik an den Lehren von Konfuzius und Menzius.«
Nach der Auffassung der kommunistischen Autoritäten gehörte auch die Verbesserung des Status der Frauen zu den Reformen von Wu Tse-tien (die ersten Legalisten waren allerdings keine Feministen). Wu Tse-tien führte Examina für Frauen ein und erlaubte denjenigen, die diese Prüfungen bestanden, in Gruppen zu dritt oder zu fünft in den Palast zu kommen und an den Staatsbanketten teilzunehmen. Zwar änderte dieses Zugeständnis nichts an den Lebensbedingungen der Frauen, die in der Landwirtschaft oder anderswo schwer arbeiten mußten, und auch nichts am feudalistischen System. Aber »das Auftreten von Frauen bei Staatsbankelten widerlegte die Lehre, daß >die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen eine der wichtigsten Regeln der Staatsräson ist<.« Zum erstenmal in der Geschichte durften Frauen als Zivilbeamtinnen in den vierten und fünften Rang aufsteigen. Doch am Ende des zweiten Jahrzehnts ihrer Regierungszeit ließ sich die Heilige Kaiserin vom Luxus und den Extravaganzen der Buddhisten betören, die sie gegen die Konfuzianer unterstützt hatten. Ihre Tschou-Dynastie ging unter, und die Konfuzianer gewannen schrittweise ihre Macht wieder zurück. Welche Bedeutung die Legende von der Kaiserin-Witwe, die zur Herrscherin wurde, für die Gegenwart haben würde, sollte sich nach dem Tod von Mao Tse-tung erweisen.
Zu einem amerikanischen Besucher, der im Spätherbst 1975 nach China kam, sagte ein Chinese: »Photographieren Sie die Wasserbüffel jetzt, denn in fünf Jahren gibt es keine mehr.«[34] Zwar war die Landwirtschaft immer noch die Existenzgrundlage des revolutionären China, doch in den siebziger Jahren bemühte man sich zunehmend darum, sie zu mechanisieren und die Industrialisierung voranzutreiben. Dieser Prozeß war während der Kulturrevolution verlangsamt worden. Im Januar 1975 erhob sich Ministerpräsident Tschou zum letztenmal vom Krankenbett, um vor dem Nationalen Volkskongreß zu sprechen. In seiner Ansprache verkündete er das Ziel, »bis 1980 ein unabhängiges, relativ selbständiges System der Industrie und der Volkswirtschaft insgesamt« und »noch in diesem Jahrhundert einen modernen und mächtigen sozialistischen Staat aufzubauen«. Gegen Ende des Jahres 1975, als man von Tschiang Tschings Modelltheater nicht mehr allzu viel hörte, wandte sie sich der Landwirtschaft zu. Seit der Zeit der Bodenreform hatte sie sich nicht mehr mit den Problemen der Landwirtschaft beschäftigt, und damals fast völlig unbemerkt. Nach dem Ende der Kulturrevolution pries man die Tatschai-Brigade in der von Trockenheit heimgesuchten Provinz Schansi vor der ganzen Nation als Muster für eine autarke und hochproduktive Landwirtschaft, die ihr Soll auch unter den ungünstigsten Voraussetzungen erfüllte. Bei den Eröffnungsfeierlichkeiten der in den Medien groß herausgestellten Landeskonferenz über das Lernen von Tatschai in der Landwirtschaft (Mitte September) sprachen Teng Hsiaoping und Tschiang Tsching (die es nicht gewohnt und der es vielleicht auch unangenehm war, in derselben Arena wie er aufzutreten) vor ungefähr 3700 Delegierten. Sie sprachen von der Notwendigkeit, »die materiellen Grundlagen der Diktatur des Proletariats zu festigen« - dadurch, daß nicht weniger als vier Millionen Arbeiter aufs Land geschickt wurden, die unfruchtbares Land bewässern und dadurch ertragsfähig machen sollten.[35]
Tschiang Tsching krempelte die Ärmel hoch und begann, an der Seite des berühmten Bauernführers Tschen Yung-kuei aus Tatschai, der vor zwei Jahren ins Politbüro gewählt worden war, unter den erstaunten Augen von Teng Hsiao-ping einen Graben auszuheben. Auf diese Weise im Frühjahr die Erde zu lockern entsprach einem Ritual, dem sich die Herrscher zu allen Zeiten unterworfen hatten.
Die Außenpolitik war bisher ausschließlich von einer kleinen Gruppe älterer Genossen, die sich des besonderen Vertrauens des Vorsitzenden erfreuten, bestimmt worden. Dieser Bereich lag offensichtlich auch außerhalb der Einflußsphäre von Tschiang Tsching (und der meisten anderen Frauen). Doch im Frühjahr 1975 gab es erste Anzeichen dafür, daß sich dieser Zustand änderte. Im März hielt Tschiang Tsching eine leidenschaftliche und provozierende Ansprache zum Thema der fundamentalen Schwierigkeiten in den Beziehungen Chinas zur Außenwelt.[36] Sie begann mit der Feststellung, daß sie in der Außenpolitik eine »Außenseiterin« sei, die »ganz von unten anfangen« müsse.
»Nur unter der richtigen Linie des Vorsitzenden Mao wagen wir den Kampf und fürchten uns weder vor Eindämmung noch Blockade ... Bei der großen Unordnung auf der Welt haben wir nie nachgelassen, unseren revolutionären Grundsätzen treuzubleiben. Der Marxismus-Leninismus und die Gedanken Mao Tse-tungs bestehen in ihrem innersten Kern darin, an der Lehre vom Klassenkampf festzuhalten und die Diktatur des Proletariats herbeizuführen. Das Endziel der Revolution ist die Begründung einer kommunistischen Gesellschaft auf der ganzen Welt ... Für die heutige geschichtliche Periode haben wir aufgrund ihrer Merkmale den Standpunkt eingenommen, daß >Staaten Unabhängigkeit wollen, Nationen die Befreiung wollen und Völker die Revolution wollen.< Das Hauptgewicht unserer diplomatischen Arbeit haben wir darauf gelegt, schwarze Freunde, kleine Freunde und arme Freunde zu gewinnen. Die wissen unsere Freundschaft zu schätzen und bemühen sich, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Wenn wir auch keine Weißen, Großen und Reichen zu Freunden haben, so sind wir doch nicht allein. Bei der UNO-Abstimmung über unsere Zulassung zur Weltorganisation hatten die Großmächte ein lautes Geschrei erhoben und die anderen mit Drohungen zu beeinflussen versucht, aber unsere kleinen Freunde waren stärker an Zahl und hatten eine durchdringendere Stimme. So kamen wir schließlich doch in die UNO, und da standen plötzlich auch große Länder vor unserer Tür, um uns zu besuchen.«
Dann sprach sie davon, wie Nixon an die Tore Chinas gekommen war (vielleicht der größte diplomatische Erfolg Chinas in der Gegenwart). Über den amerikanischen Außenminister Henry Kissinger äußerte sie sich weniger freundlich. Bei seinen Gesprächen mit den Chinesen habe er erklärt, die Vereinigten Staaten wollten den asiatischen Raum im Pazifik »aufgeben«. (Wußten das seine Landsleute?) Diese Absicht beurteilten die Chinesen nach dem Grundsatz »Eins teilt sich in zwei«. Dann fuhr sie fort: »Wir glauben, daß Kissinger sich niemals von den Kriterien eines kapitalistischen Staatsmannes wird lösen können. Sein Standpunkt ist grundsätzlich durch das Bestreben eingeschränkt, die Interessen seiner Klasse zu wahren. Daher kann er die vielfältigen Widersprüche, die sich aus der komplizierten Lage der heutigen Welt ergeben, weder verstehen noch lösen. Wie alle früheren Staatsmänner der reaktionären Klasse ist auch Kissinger ein Abenteurer und Defätist ... Die Vereinigten Staaten müssen in die Welt der Wirklichkeit zurückkehren und sich nicht dadurch verzetteln, daß sie in die Souveränität und die Interessen anderer Länder einzugreifen versuchen. Kissinger brachte die Forderung nach einem Gleichgewicht der Macht zur Sprache. In Wirklichkeit bedeutet das, daß er die Widersprüche zwar erkannt hat, aber nicht bereit ist, den steinigen Weg des Kampfes zu gehen, um die Widersprüche unter den neuen Verhältnissen zu lösen. Im Gegenteil, er hat bei der Behandlung der Widersprüche eine ausweichende Haltung eingenommen. Mit einem Wort: Das ist Vogel-Strauß-Politik.« Das Verhalten chinesischer Staatsangehöriger im Ausland zu kontrollieren und sie vor der Korruption durch die Versuchungen im Ausland zu schützen, war, wie Tschiang Tsching einräumte, für die Kommunisten nicht weniger schwierig als seinerzeit für die Konfuzianer. Es sei riskant, in Zeiten ideologischer Säuberungen diplomatische Missionen ins Ausland zu schicken, wie etwa kürzlich während der Kampagne gegen Konfuzius und Lin Piao. Man dürfe von den Diplomaten nicht erwarten, daß sie sich ebenso benähmen wie die Menschen in der Heimat. »Man kann nicht auf die Straßen von New York oder Paris gehen und dort Wandzeitungen mit kritischen Bemerkungen über den (chinesischen) Außenminister oder den Botschafter aufhängen.« Tschiang Tsching zitierte ein altes Sprichwort: »Steht ein General an der Front im Kampf, so braucht er den Befehlen seines Herrschers nicht mehr zu gehorchen.« Dieses Sprichwort gelte aber heute nicht mehr. Die Beamten im Auswärtigen Dienst dürften sich nicht den Einflüssen der kollektiven Führung zu Hause entziehen, erst recht nicht in der heutigen Zeit mit ihren zahlreichen Kommunikationsmitteln. Heute bestehe stets die Möglichkeit, zu telegraphieren, zu telefonieren und im Flugzeug zu reisen. Es gebe Botschaften, Konsulate und Handelsvertretungen, die jeden Tag telegrafierten und telefonierten, aber dabei nur geschäftliche Dinge zur Sprache brächten und politische Fragen (was wohl hieß: ideologische Abweichungen in den Auslandsvertretungen) außer acht ließen. In ihrer Arbeitswut überträfen sie sogar die bürgerlichen Diplomaten und Monopolkapitalisten. Es gäbe Botschaften in Ost- und Zentralafrika, die sich ein halbes Jahr lang in keiner Weise politisch geschult und keinen einzigen Bericht über ihre politische Arbeit oder zu der laufenden Kampagne geschickt hätten. »Der Vorsitzende Mao hat ihnen gesagt: >Bittet oft um Anweisungen, macht mehr Berichte, habt keine Angst vor dem Ärger, der daraus entstehen kann, und kehrt wenn nötig immer wieder nach Peking zurück!<« Die Parteizentrale müsse alle chinesischen Botschaften »fest im Griff« haben, fuhr sie fort und erklärte, ganz im Sinne des Legalismus, die gegenseitige Verantwortlichkeit müsse erzwungen werden. Chinesische Staatsbeamte im Ausland dürften nie den Anschein erwecken, daß sie einer bestimmten Fraktion angehörten. Nach außen hin müßten sie den Eindruck vollkommener Einigkeit vermitteln. Allerdings dürfe auch niemand unterstellen, daß ein Botschafter, der für die Einheitsfront arbeite, indem er an kapitalistischen Banketts teilnehme, sich dadurch der bürgerlichen Korruption aussetze. »Da sie Menschen der verschiedensten Art kennenlernen, müssen sie ihre revolutionäre Wachsamkeit verstärken.« Als Staatsfrau hatte sie viel gelernt.
Gegen Ende 1975 wurde die revolutionäre Erbfolge durch eine Reihe von Todesfällen beschleunigt. Im Dezember starb Tschiang Tschings alter Genosse, der Sicherheitschef Kang Scheng. Am achten Tag des neuen Jahres erlag Tschou En-lai, Tschiang Tschings besonnener Kampfgefährte, einem Krebsleiden. Teng Hsiao-ping, den man nach zehn Jahren Schande zurückgeholt hatte, damit er im Auftrag des todkranken Ministerpräsidenten innen- und außenpolitische Angelegenheiten regeln konnte, leitete die eine Woche dauernden Beisetzungsfeierlichkeiten. Die Zeremonien, die über einen chinesischen Satelliten in alle Länder übertragen wurden, boten seltene Eindrücke von den Überlebenden, die nun in aller Stille ihre neuen Plätze in der Hierarchie einnahmen. Tschou En-lais Witwe, Teng Ying-tschao, mit kummervollem, aschfahlen, aufgedunsenen Gesicht, umarmte und küßte die älteren und einige jüngere führende Genossen, die vortraten, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Tschiang Tsching ging mit ernstem Gesicht auf Teng zu, und beide Frauen hielten sich für einen Augenblick an den Armen fest. Die Leitung der Beisetzungsfeierlichkeiten für den Ministerpräsidenten waren für Teng Hsiao-ping das letzte politische Amt unter Mao. Im selben Frühjahr erlebte die Kulturpolitik von Tschiang Tsching einen neuen Höhepunkt - nachdem der pragmatisch eingestellte und an kulturellen Fragen weniger interessierte Teng Hsiao-ping sie schamlos verunglimpft hatte. In der Ausgabe der »Roten Fahne« vom März 1976 schrieb der Sprecher Tschiang Tschings unter dem Pseudonym Tschu Lan: »Zustimmung oder Ablehnung des revolutionären Modelltheaters - vor allem darum geht es in dem Kampf zweier Klassen und zweier Linien in Literatur und Kunst.«[37]
Die zweite nationale Kampagne gegen den »unverbesserlichen kapitalistischen Wegbereiter« Teng Hsiao-ping kam ins Rollen. Diesmal nahmen die Massen jedoch eine andere Haltung ein. Beim traditionellen Tsching-Ming-Fest zur Totenehrung, die 1976 auf den 5. April fielen, versammelten sich fast 100 000 Menschen auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens. Die zu Ehren des verstorbenen Tschou En-lai veranstaltete Demonstration artete in Aufruhr aus. Es kam zu Gewaltanwendung und Beschimpfungen. Autos wurden in Brand gesetzt, und mehr als tausend Menschen wurden verhaftet. Die Parteizentrale bezeichnete diese nicht vorgesehenen Demonstrationen in ihrer Presse als »konterrevolutionär«. Sie seien gegen den Vorsitzenden Mao und die führenden Genossen des Zentralkomitees gerichtet. Die Schleifen an den Kränzen, die zu Ehren von Tschou niedergelegt worden waren, trugen zum Teil Inschriften, die sich gegen weibliche Herrscherinnen richteten, unter anderem gegen Indira Gandhi und die Kaiserin-Witwe Tze Hsi. Am schmerzhaftesten war jedoch das Gedicht, das viele aktuelle Anspielungen auf die Historie enthielt:

Mein Blut weih ich dem gefallenen Helden )Tschou En-lai?)
Mit hochgezogenen Augenbrauen zieh' ich das Schwert.
China ist nicht mehr das alte,
Das Volk ist auch nicht mehr so dumm wie einst.
Die feudale Gesellschaft des Kaisers Tschin Schih Huang gehört für immer
der Vergangenheit an.
Wir bekennen uns zum Marxismus-Leninismus,
Und jene Schreiberlinge, die dem Marxismus-Leninismus die Quintessenz
nehmen, sollen sich zum Teufel scheren![38]

Am 20. April hieß es in einem Leitartikel der »Volkszeitung«: »Sie (die Verfasser der Protestgedichte) beschuldigen die Diktatur des Proletariats, sich nicht von dem Feudalismus von Tschin Schih Huang-ti zu unterscheiden.« Hier ging es um die Frage, ob Tschin Schih Huang-ti ein guter oder ein schlechter Herrscher gewesen war. Die Demonstranten vertraten die Auffassung, die sie in der Schule gelernt hatten: daß nämlich Tschin Schih Huang-ti ein Tyrann gewesen sei. Vergaßen - oder mißachteten - sie Mao Tse-tungs revolutionäre Bewunderung für den Begründer der Tschin-Dynastie, weil er nie Skrupel gehabt hatte, bejahrte Patriarchen und ihre veraltete Moral über Bord zu werfen? Seit alten Zeiten glauben die Chinesen, daß der Niedergang einer Dynastie und ein unmittelbar bevorstehender Machtwechsel durch Naturkatastrophen angekündigt würden.[39]
Im April 1976 fiel in der Provinz Kirin ein riesiger Meteor, der größte, der je von Menschen entdeckt und geborgen wurde. Im Juli und August wurde Nordchina von drei gewaltigen Erdbeben erschüttert. Große Teile von Peking wurden verwüstet, und die nahegelegene Industriestadt Tangschan wurde fast völlig zerstört. Da die Erde wochenlang nicht zur Ruhe kam, verließen Millionen ihre Häuser und kampierten auf den Straßen. Ausländische Beobachter schätzten die Zahl der Toten auf 665 000 und die der Verletzten auf über 775 000. Demnach handelte es sich um das zweitgrößte Erdbeben in der Geschichte. Ebenso bemerkenswert wie die Zahl der Opfer und die metaphysischen Sinnbezüge dieser Naturkatastrophen war die heitere Gelassenheit, mit der sie in der chinesischen Presse behandelt wurden. Weder trauerte man um die Toten, noch wurde jemals die Zahl der Opfer bekanntgegeben. Ebenso wie die revolutionäre Kunst beschäftigte sich auch die revolutionäre Berichterstattung nur mit der lichten Seite des Lebens. Sie forderte die Menschen auf, »Kummer in Stärke zu verwandeln«. In Tschiang Tschings Musterdorf Hsiao-tschintschuang, das in unmittelbarer Nähe der schwer getroffenen Stadt Tientsin lag, wurde während der ganzen Dauer des Erdbebens das revolutionäre Routineprogramm mit Tanz und Gesang nicht abgesetzt. Die Zeitungen geboten der Bevölkerung im ganzen Land, diesem Beispiel zu folgen. Von dieser revolutionären Romantik abgesehen - die Notstandsmaßnahmen wurden vom Stellvertretenden Vorsitzenden Hua Kuo-feng hervorragend organisiert. Die Parole hieß: »Trotzt dem Erdbeben und besiegt die Katastrophe!« Ein Leitartikel in der »Volkszeitung« vom 1. August trug die Überschrift: »Der Mensch kann den Himmel besiegen.« (War das kein Aufbegehren gegen den alten Fatalismus?) Während der Zeit des Erdbebens im Juli starb der Kampfgenosse Maos und Mitbegründer der Roten Armee, Tschu Te, im neunzigsten Lebensjahr.
Mao Tse-tung selbst hatte sich den Massen seit dem 1. Mai 1971 nicht mehr gezeigt. Allerdings war er im letzten Vierteljahrhundert mit Hilfe der Nachrichtenmedien zum populärsten Herrscher der chinesischen Geschichte geworden. Am 9. September starb er.

Die Trauerfeierlichkeiten dauerten acht Tage. Bei den vom Fernsehen übertragenen Zeremonien, die kürzer waren als die für Tschou En-lai veranstalteten, erschien Tschiang Tsching erschöpft, den Kopf in ein schwarzes Tuch gehüllt. Auf der Schleife ihres Kranzes standen die Worte: »Deine Schülerin und Kampfgefährtin Tschiang Tsching.«
Der letzte politische Führer, der sich als Maos Waffengefährte bezeichnet hatte, war Lin Piao gewesen. Im Gegensatz zu Teng Ying-tschao spielte Tschiang Tsching bei der Beisetzung nicht die Rolle der Witwe. Sie hatte schon lange deutlichen Abstand zum Vorsitzenden gewahrt. Am 18. September wurden im ganzen Land drei Schweigeminuten für Mao abgehalten. Flugzeuge, Schiffe und Fabriken standen still. Bei der Frage, was mit Maos sterblichen Überresten geschehen sollte, muß es unter denen, die um seine Nachfolge rivalisierten, zu Meinungsverschiedenheiten gekommen sein. Schließlich wurde bekanntgegeben, der Vorsitzende sollte in einem Kristallsarkophag beigesetzt werden, und um diesen Sarkophag sollte ein Mausoleum errichtet werden.
Der neue starke Mann in China war der hochgewachsene, kräftig gebaute Hua Kuo-feng, den man nach dem Sturz von Teng Hsiao-ping häufig im Kreis der höchsten Parteifunktionäre gesehen hatte. Man wußte nur wenig über diesen einfachen Mann aus Schansi. Nach 1955 hatte er in Maos Provinz Hunan als Parteifunktionär rasch Karriere gemacht, und nach 1971 hatte er zu den Mitarbeitern von Tschou En-Iai in Peking gehört. Bevor ein Monat nach dem Tod Maos vergangen war, hatte Hua erreicht, was niemand vorhergesagt hatte. Er wurde Parteivorsitzender und behielt seine Ämter als Ministerpräsident, Leiter der Militärkommission, Parteisekretär von Hunan und Minister für Öffentliche Sicherheit. Weder verkündete er eine eigene Doktrin, noch bediente er sich eines besonderen Jargons, wie es die chinesischen Herrscher der Vergangenheit getan hatten. Er hatte auch nicht die intellektuelle Ausstrahlung und die Weltläufigkeit eines modernen politischen Führers. Doch er hatte bewiesen, daß er ein geschickter Politiker war; allerdings war er ein unbeschriebenes Blatt. Mitte Oktober hatte Hua die Presse fest in der Hand. Damit besaß er die Macht, der Öffentlichkeit einen unwiderlegbaren Bericht vorzulegen, in dem stand, wie er am 7. Oktober den Parteivorsitz übernommen hatte. Er zögerte nicht, seine Rivalen zu entmachten (oder einem Gegenschlag vorzubeugen?). Am 16. Oktober kam über die chinesischen Medien eine Meldung, die noch sensationeller war als die Nachricht vom Tode Mao Tse-tungs: die »Viererbande« war verhaftet worden. Es handelte sich um die vertrautesten Jünger Maos, Wang Hung-wen, Yao Wen-yüan, Tschiang Tsching und Tschang Tschun-tschiao. Tschiang Tsching wurde als Rädelsführerin bezeichnet. Die Festnahme, die wahrscheinlich am 6. Oktober erfolgt war, muß sie zutiefst erschüttert haben. Ihre eigene Partei stempelte sie zur Konterrevolutionärin, ungeachtet dessen, daß sie dreißig Jahre zuvor von der Kuomintang als »kommunistische Revolutionärin« eingesperrt worden war. Aber damals hatte noch kaum jemand ihr Gesicht gekannt. Am 16. Oktober drängten sich die Volksmassen in den Straßen von Schanghai, ähnlich wie zu den Zeiten der Kulturrevolution, als die Opfer von heute noch die Macht in den Händen hielten.

                        

Vom 21. bis zum 24. Oktober zogen Millionen durch die breiten Avenuen von Peking, begleitet von Lautsprechermusik, einem Feuerwerk, Zimbeln und Trommeln. Die berühmte Leibwache Mao Tse-tungs, die Einheit Nr. 8341 der VBA, sorgte für die Ordnung unter den Marschierern, während diese in einem vulgären, von den neuen Machthabern eingeführten Jargon in Sprechchören die »parteifeindliche Clique« verdammten und beschimpften.
Seinen plötzlichen Aufstieg zur absoluten Machtfülle verdankte Hua der verworrenen Lage, die seit der Zeit der Kulturrevolution bestand. Rechtliche Verfahrensformen wurden praktisch nicht mehr beachtet, und wichtige Entscheidungen wurden durch Befehle getroffen, wobei oft unklar blieb, welche Behörde sie gegeben hatte. So war zum Beispiel Hua im Frühjahr 1976 vom »Parteizentrum« zum Stellvertretenden Parteivorsitzenden und zum Ministerpräsidenten ernannt worden. Damit konnten das Zentralkomitee, Mao selbst oder eine Gruppe von hohen politischen Führern, die sich die Macht angemaßt hatten, gemeint sein. Hatte sich Hua selbst zum Parteivorsitzenden ernannt? War er nach dem Tod Maos von seinen Genossen im Zentralkomitee gewählt worden? Oder hatte Mao ihn tatsächlich selbst noch vor seinem Tod zum Nachfolger bestimmt? Woher nahm ausgerechnet er sich das Recht, Tschiang Tsching zu verhaften, die bis dahin als unantastbar gegolten hatte? Was wirklich hinter den Kulissen geschehen war, wird man vielleicht nie erfahren. Der chinesischen Öffentlichkeit legte man sorgfältig ausgewählte Passagen aus Aufzeichnungen und Gesprächen Mao Tse-tungs vor, scheinbar unwiderlegbare Darstellungen, aus denen zu entnehmen war, daß er das »Mandat des Himmels« auf dem Sterbebett an seinen Nachfolger übertragen hatte. Am 25. Oktober, dem Tag nach der öffentlichen Bekanntgabe der Ernennung Huas zum Parteivorsitzenden, druckten die »Volkszeitung«, die »Rote Fahne« und die »Zeitung der Befreiungsarmee« die offizielle wenn auch recht schwache und fragwürdige Rechtfertigung. Sie wurde in den folgenden Wochen und Monaten durch weitere »Zitate« gestützt. Am 30. April 1976, kurz nach Huas Ernennung zum Stellvertretenden Parteivorsitzenden und Premierminister, habe ihm Mao Tse-tung handschriftlich mitgeteilt: »Hast Du die Sache in der Hand, ist mir leicht ums Herz.« (Diese Bemerkung kann sich aber auch auf die Kampagne gegen Teng Hsiao-ping bezogen haben.)
Die Verdammung der Rivalen Huas erfolgte rasch. Zunächst wurde die »Geschichte« von der angeblichen Unzufriedenheit Mao Tse-tungs mit Tschiang Tsching und ihrem Kreis veröffentlicht. Dann wurden die Beschuldigten auf Wandzeitungen und in anderen Medien mit phantastischen Karikaturen verleumdet und »wahnwitziger Verbrechen« beschuldigt. Am selben Tag, an dem Hua Kuo-feng den Parteivorsitz übernahm, wurde ein Bericht über die Worte seines Vorgängers veröffentlicht, mit denen er ihn vor der »Viererbande« gewarnt habe. Am 17. Juli 1974 habe der Vorsitzende Mao folgendes geäußert: »Ihr müßt aufpassen; bildet nicht eine kleine Fraktion von vier Leuten.« Am 24. Dezember habe er gesagt: »Bildet keine Fraktion. Wer das macht, wird straucheln.« Im November und Dezember desselben Jahres, während der Vorbereitungen für den IV. Nationalen Volkskongreß, habe Mao erklärt: »Tschiang Tsching hat ein machtgieriges Herz. Sie will, daß Wang Hung-wen Vorsitzender des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses wird, sie selbst aber Vorsitzende des Zentralkomitees der Partei.«
Auf der Sitzung des Politbüros am 3.Mai 1975 habe der Vorsitzende die Drei Ja und drei Nein wiederholt: »Man muß den Marxismus und nicht den Revisionismus praktizieren; sich zusammenschließen und nicht Spaltertätigkeit betreiben; offen und ehrlich sein und sich nicht mit Verschwörungen und Ränken befassen. Ihr sollt keine Viererbande bilden, laßt das sein. Warum macht ihr in dieser Weise weiter?« Und er drohte: »Wenn es nicht in der ersten Hälfte dieses Jahres gelöst wird, dann eben in der zweiten Hälfte; wenn nicht dieses Jahr, so nächstes Jahr; wenn nicht im nächsten, so ein Jahr darauf.

                               

                     

 

Nachdem Maos lautstärksten Anhängern die Kontrolle über die Medien entrissen worden war, wurde Tschiang Tsching ebenso beschimpft, wie sie jahrelang ihre Feinde beschimpft hatte. Die verbale Munition, die sie von Lu Hsün entlehnt hatte, wurde jetzt gegen sie selbst abgefeuert. »Prügelt den Hund im Wasser rücksichtslos«, sagten ihre Feinde über die »Viererbande«, als sie gelobten, sie bis zum bitteren Ende zu bekämpfen. Für ihre Behauptung, die Bannerträger von Lu Hsün gewesen zu sein, wurden die Vier verhöhnt. Waren Tschiang Tschings langgehegte Zweifel daran, daß die Chinesen ein »zivilisiertes Volk« seien, jemals deutlicher bestätigt worden? Und hatten sich Maos gewaltige Anstrengungen, das Bewußtsein zu revolutionieren, jemals als so ohnmächtig erwiesen? Die Wandzeitungen, auf denen gefordert wurde: »Hackt Tschiang Tsching in zehntausend Stücke!« waren Forderungen nach einer Wiederbelebung der alten chinesischen Folter.
Andere verlangten, Yao Wen-yüan sollte »gebraten« werden, und die Karikaturen zeigten ihn mit einem von einer Feder durchbohrten Kopf - ein Hinweis darauf, daß Lu Hsün seine Feder als Dolch verwendete. Wieder andere Zeichnungen zeigten die Vier mit heraushängenden Zungen, während ihnen das Blut aus den Mündem troff. Ebenso hemmungslos waren die Rundfunkberichte und Zeitungskommentare. Sie warfen Tschiang Tsching Verbrechen vor, die fast alle etwas mit ihrem Sexualleben und ihren »bürgerlichen« Klassengewohnheiten zu tun hatten. Sie wurde der Promiskuität beschuldigt und als Hure bezeichnet (ohne daß es dafür Beweise gab und ungeachtet dessen, daß viele ihrer männlichen Genossen - offen und ohne dafür politisch zur Rechenschaft gezogen zu werden - unerlaubte Liebesbeziehungen unterhielten). Man behauptete, sie habe ständig an Mao herumgenörgelt (der dafür gelobt wurde, daß er sie abgekanzelt habe). Als sie vier Tage vor seinem Tode zu Mao gerufen wurde, habe sie stundenlang Poker gespielt. Eine regionale Rundfunksendung in Hunan zitierte sie und behauptete, sie habe zugegeben, eine zweite Kaiserin Lü oder Wu Tse-tien werden zu wollen. Und sie habe hinzugefügt: Zwar sei ihre Klasse progressiver als die der Kaiserinnen, doch sei sie (Tschiang Tsching) weniger geschickt, denn die Kaiserinnen hätten Verbündete für sich gewinnen können (auf welchen chinesischen Beamten oder General hätte Tschiang Tsching sich verlassen dürfen?). Man berichtete, sie habe aus den öffentlichen Bibliotheken ständig Bücher über alte Geschichte und über die Kaiserinnen ausgeliehen. Damit wollte man beweisen, sie habe selbst den Ehrgeiz gehabt, Kaiserin zu werden (doch wer machte Mao einen Vorwurf daraus, daß er versucht hatte, seine Herrschaft dadurch zu festigen, daß er historische Untersuchungen las und aus der Geschichte lernte?). Irgend jemand hatte, als Mao im Sterben lag, angeblich gehört, daß Tschiang Tsching gesagt hatte: »Der Mann muß abdanken und sich von der Frau ablösen lassen. Auch eine Frau kann Herrscherin sein. Sogar in einem kommunistischen Staat kann es eine Kaiserin geben.« Um zu beweisen, daß Hua die Nation vor einer selbsternannten Kaiserin gerettet habe, zitierte die neue Parteileitung wiederum den Vorsitzenden: »Bevor der Vorsitzende Mao starb, erzählte er Genossen Hua Kuo-feng in tiefem Ernst die Geschichte von Liu Pang (dem Gründungskaiser der Han-Dynastie), der kurz vor seinem Tod gewahr wurde, daß die Kaiserin Lü und andere ihres Clans eine Verschwörung planten, das Land zu verraten und die Macht an sich zu reißen. Genosse Hua Kuo-feng hat sich die Worte des Vorsitzenden Mao tief zu Herzen genommen und seine aufrichtige Hoffnung nicht enttäuscht.«
Mißbilligend wurde berichtet, daß Tschiang Tsching dafür verantwortlich war, daß das Bild der Kaiserinnen in den vergangenen beiden Jahren korrigiert worden war. Jetzt warf man ihr vor, sie habe die Kaiserin Lü als Legalistin darstellen lassen. Eine Wandzeitung zeigte sie beim Studium von Büchern über Wu Tse-tien, die Kaiserin, die nach der Legende nicht nur ehrgeizig, sondern auch promiskuös gewesen sein soll.
Hatte es Tschiang Tsching verdient, plötzlich mit Schmutz beworfen zu werden? Was bedeutete es, wenn gesagt wurde, Tschiang Tsching sei eine »kapitalistische Wegbereiterin« und eine »typische Vertreterin der Bourgeoisie innerhalb der Partei«? Waren dies nur die üblichen politischen Verleumdungen, die schon früher gegen die gestürzten Genossen Maos vorgebracht worden waren, vor allem gegen Liu Schao-tschi, Lin Piao und Teng Hsiao-ping? Nach ihrer Festnahme tauchten in der Presse unzählige Berichte über ihr unproletarisches Verhalten auf. Die Tatschai-Brigade berichtete über einen ihrer Besuche im September 1976:

  • Sie, die sich >Bannerträgerin der Revolution in Literatur und Kunst< nannte, hatte einen ganzen Lastkraftwagen voll Filme mit nach Tatschai gebracht und ließ sich jeden Abend diese importierten unmoralischen Filme vorführen. Wollte sie bergauf eine Entfernung von nur einigen hundert Metern - ritt sie zuweilen auf einem Pferd oder ließ einen Wagen kommen und fuhr die Strecke, immer begleitet von Dutzenden Personen. Allein für das Photographieren wurden zwei- bis dreitausend Yüan ausgegeben.

Auf der Landwirtschaftskonferenz im Jahr zuvor war sie angeblich nur deshalb erschienen, weil sie auch hier selbst die Kontrolle übernehmen wollte.
Wie nahmen Personen und Gruppen, die ihr jahrelang eng verbunden gewesen waren, ihren Sturz auf? Wenn Tschiang Tsching auf dem Lande einen Stützpunkt hatte, dann war es Hsiaotschin-tschuang. Am Tag der Armee, dem 1. August 1976, empfahl die Presse den Soldaten, sich an Hsiao-tschin-tschuang ein Beispiel zu nehmen und politische Abendschulen, Leseräume und Propagandaabteilungen zu etablieren. Die eifrigsten Gefolgsleute in der Armee waren die Angehörigen der Einheit Fang-hua-lien. Sie waren von Tschiang Tsching mit Briefen und anderen persönlichen Gunstbezeugungen überschüttet worden. Eine Woche, nachdem Hua an die Macht gekommen war, drückten die Bauern in Hsiao-tschin-tschuang in der stereotypen Weise ihre Ergebenheit gegenüber Hua aus.  Gegen ihre oberste politische Führerin Tschiang Tsching wandten sie sich allerdings erst Ende November. Dieses »verfaulte Ei«, wie sie sie jetzt nannten, habe selbstherrlich behauptet, Hsiao-tschintschuang »gehöre« ihr persönlich und der Parteizentrale. Bei ihren häufigen Besuchen habe sie sich aufgeführt wie eine Kaiserin. Zum Beispiel habe sie in der Abenddämmerung alle Tiere einsperren lassen, damit diese sie nicht im Schlaf störten.
Ähnliche Berichte über die anmaßende Forderung Tschiang Tschings, es müsse absolute Ruhe herrschen, wenn sie schlief (gewöhnlich in den Morgenstunden), kamen aus dem Sommerpalast. Hier sei es den Flugzeugen verboten worden, auf dem nahegelegenen Flugplatz zu landen. Und auf der Insel Hainan habe man Autofahrer schon anderthalb Kilometer vor ihrem Haus gezwungen, den Motor abzustellen. Wenn sie in ihrer Villa in Kanton gewohnt hatte (wo wir uns begegnet waren), seien der Schiffsverkehr auf dem Fluß und die Arbeiten auf den Schiffswerften unterbrochen worden. Vor ihrem Besuch habe man die Blätter an den Bäumen neben der Straße, die zu ihrem Orchideengarten in Kanton führten, abgestaubt.
Weniger albern als die Berichte über ihre Überempfindlichkeit (ein Kennzeichen der bürgerlichen Klasse) waren die Versuche, ihr durch eine böswillige Darstellung ihrer Vergangenheit zu schaden. Nach meinen Gesprächen mit ihr hatte ich den Eindruck gehabt, daß sie nichts mehr fürchtete als Nachforschungen über ihre Karriere als Schauspielerin in den dreißiger Jahren. Ein Artikel versuchte nun nachzuweisen, daß sie als Darstellerin in Theaterstücken und Filmen (»Sai Tschin-hua« und »Blut auf dem Wolfsberg«) »konterrevolutionäre« Tendenzen verfolgt habe. Diese Stücke und Filme hatten das Thema der Nationalen Verteidigung im Zusammenhang mit Wang Ming dargestellt und dabei die KMT relativ freundlich behandelt.
Andere Beschuldigungen, die sich weniger auf ihren Lebenswandel oder ihren Lebenslauf bezogen, konnten ihr auf die Dauer noch mehr schaden, denn sie betrafen die Geschichte des Landes. Man warf ihr und ihren Gefolgsleuten vor, politische Grundsätze verletzt und das Volk geknechtet zu haben. Die »Viererbande« hatte angeblich das Denken Mao Tse-tungs falsch ausgelegt und die Vorstellungen des Volkes von den Beziehungen zwischen Theorie und Praxis, Materie und Bewußtsein, Führern und Massen, Produktionsverhältnissen und Produktivkräften, Überbau und ökonomischer Basis, Politik und Arbeit, Revolution und Produktion, Demokratie und Zentralismus sowie zwischen Freizügigkeit und Disziplin verwirrt. Schlichter ausgedrückt hieß das: »Sie brachten richtige und falsche Theorien durcheinander und unterminierten sowohl Revolution als auch Produktion. Unter der Flagge des Marxismus-Leninismus sabotierten sie die revolutionäre Linie und Politik des Vorsitzenden Mao und setzten die ultrarechte, konterrevolutionäre, revisionistische Linie durch.«
Die Bewohner von Tatschai beschwerten sich darüber, daß sie ständig von diesen Leuten verfolgt worden seien und ihnen nie etwas hätten recht machen können: »Unter diesen Schurken wucherten Metaphysik und Idealismus, so daß die Menschen nicht mehr ein noch aus wußten. Wenn man arbeitete, war es falsch, wenn man nicht arbeitete, war es auch falsch. Das war für alle eine große Plage, und am Ende kam bei der ganzen Arbeit nichts heraus. Wer mit großer Energie für den Sozialismus arbeitete, erregte ihren Haß und war in ihren Augen ein >Sünder<.«
Am Tage der Amtseinführung von Hua Kuo-feng sagte der Bürgermeister von Peking, Wu Te, vor einer Million Zuhörern auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens über die »Viererbande«: »Sie vergötterten Ausländisches, schmeichelten Ausländern und unterhielten unerlaubte Verbindungen mit dem Ausland. Sie betrieben skrupelloses Kapitulantentum und begingen Landesverrat.«  Diese Behauptungen wurden in der Presse wiederholt und durch detaillierte Vorwürfe gegen die »Verräterin« Tschiang Tsching ergänzt. Durch Leitartikel, Rundfunksendungen und Gerüchte wurde verbreitet, Tschiang Tsching habe 1972 oder 1973 Maos Zorn erregt, weil sie mir Interviews gewährt habe, ohne ihn oder das Zentralkomitee um Erlaubnis zu fragen. (Sie hatte mit Sicherheit das Einverständnis von Tschou En-Iai und wurde von Wang Tung-hsing unterstützt.) Angeblich habe Mao sie beschuldigt, Partei- und Staatsgeheimnisse verraten zu haben, und zu versuchen, sich zum Mittelpunkt eines Personenkults zu machen. Einige Zeit spater habe Mao nicht mehr mit ihr zusammenleben wollen. Im Juli 1974 habe er sie dann schließlich davor gewarnt, eine aus vier Personen bestehende Fraktion zu bilden.
Anfang Oktober 1976 hatte Hua Kuo-feng bei einer Sitzung des Politbüros angeblich erklärt, die Interviews mit mir hätten den Vorsitzenden so erzürnt, daß schließlich seine Gesundheit Schaden genommen habe. Im Herbst 1975 seien zum erstenmal Berichte über die Empörung des Vorsitzenden international bekannt geworden. Nach anderen Berichten war Tschiang Tsching so anspruchsvoll und lästig, daß Mao ihr die folgenden Zeilen schrieb: »Ich bin schon achtzig Jahre alt. Aber dennoch beunruhigst Du mich, indem Du mir verschiedene Dinge sagst. Warum hast Du kein Verständnis? Ich beneide Tschou En-lai und seine Frau.« (Die beiden waren schon fünfzig Jahre offenbar glücklich verheiratet.)
Als Hua von ihr verlangte, gewisse Dokumente aus dem Nachlaß Maos, die sie angeblich kurz nach seinem Tod an sich genommen hatte, herauszugeben,[61]  rief sie ihn an und schrie: »Der Vorsitzende Mao ist noch nicht kalt geworden, und schon wollen Sie mich hinauswerfen! Ist das Ihr Dank für die Freundlichkeit des Vorsitzenden Mao, dem Sie Ihren Aufstieg zu verdanken haben?« Er antwortete: »Ich werde die Freundlichkeit des Vorsitzenden Mao niemals vergessen ... Ich habe auch nicht die Absicht, Sie hinauszuwerfen. Leben Sie friedlich in Ihrem Haus, und niemand wird es wagen, Sie zu vertreiben.«[62]  Am 7. Dezember druckte die »Volkszeitung« in einer besonders hervorgehobenen Spalte der Titelseite ein bis dahin unbekanntes Zitat des verstorbenen Vorsitzenden ab. Es war vom 21. März 1974 datiert und lautete: »Es ist besser, wenn wir uns nicht sehen. Vieles, was ich mit Dir in früheren Jahren besprochen habe, hast Du nicht durchgeführt. Wozu soll das gut sein, wenn wir uns öfters sehen? Es gibt marxistisch-leninistische Klassiker, es gibt meine Bücher, aber Du willst sie einfach nicht studieren.«[63]
Wer vermöchte zu sagen, ob Hua Kuo-feng und seine Leute schrieben, was geschehen war, oder ob sie es umschrieben?
Natürlich konnte die Säuberungsaktion gegen vier höhere Parteifunktionäre, die wesentlich länger mit Mao zusammengearbeitet hatten als Hua, nur der Anfang sein. Hätte er wie Stalin Massenverhaftungen vornehmen lassen und harte Strafen verhängt, dann hätte sich eine Widerstandsbewegung bilden oder sogar ein Bürgerkrieg ausbrechen können. Also verhielt sich Hua zunächst sehr vorsichtig. Trotzdem wurden Hunderte von Menschen, die Tschiang Tsching persönlich gekannt hatten, und Hunderttausende, die in ihrem Zuständigkeitsbereich gearbeitet hatten, von Furcht und Schrecken ergriffen. Wer würde nun die Stars des Überbaus verteidigen, die ihr Treue gelobt und aufrichtig geglaubt hatten, sie vertrete - wie es von der Parteipresse ja bestätigt worden war - den Willen des Vorsitzenden Mao?
Etwa um dieselbe Zeit, als Tschiang Tsching festgenommen wurde, verhaftete man auch einige ihrer wichtigsten Gefolgsleute. Zu ihnen gehörten der Kultusminister Yü Hui-yung, der Tischtennismeister und Vorsitzende des Ausschusses für Leibeserziehung und Sport, Tschuang Tse-tung, der Vorsitzende des Revolutionskomitees der Tsinghua-Universität, Tschih Tschün, und die Stellvertretende Vorsitzende des Revolutionskomitees von Tsinghua, Hsi Tsching-i. Ende November wurde Außenminister Tschiao Kuan-hua, der seit 1971 die Interessen der Volksrepublik China leidenschaftlich bei den Vereinten Nationen vertreten hatte und sich auf diplomatischem Parkett sicher bewegte, entlassen und durch Huang Hua ersetzt. Sowohl Tschiao Kuan-hua als auch seine Frau Tschang Han-tschih, die ebenf alls im diplomatischen Dienst arbeitete, wurden öffentlich beschuldigt, mit Tschiang Tsching »opportunistische« Beziehungen unterhalten zu haben.[64]
Um in der Sphäre des kulturellen Überbaus, die ganz und gar von den verhafteten Funktionären beherrscht worden war, kein Chaos zu provozieren, wurde das von Tschiang Tsching geschaffene Repertoire nicht in Bausch und Bogen verdammt. Vielmehr behauptete man, es sei »unter der unmittelbaren Anleitung des Vorsitzenden Mao entstanden«.[65] (Einzelheiten seiner Mitarbeit wurden nicht genannt.) Natürlich wurde Tschiang Tschings Leistung auf diesem Gebiet pauschal abqualifiziert. Das Chinesische PekingOpernensemble, das »Die Geschichte einer Roten Signallaterne« inszeniert hatte, distanzierte sich von der »Viererbande«: »Ihre Verbrechen sind so zahlreich, daß sie tausend Tode sterben sollten ... Sie ergriffen Besitz von der Literatur und dem Theater und erzeugten eine üble öffentliche Meinung. Sie waren die bösen Herren der Literatur und des Theaters.«[66]
Tschiang Tsching kann es nicht verborgen geblieben sein, daß die Selbstherrlichkeit, mit der sie sich während eines Vierteljahrhunderts als Zensorin des Films betätigt hatte, eine weitverbreitete Verstimmung hervorgerufen hatte. Nur wenige wagten es, ihren Unwillen zu äußern, bis sie sich schließlich sicher fühlen konnten, nachdem Maos Nachfolger Tschiang Tsching verstoßen hatte. Nach acht unproduktiven Jahren (von Verfilmungen von Opern und Balletts abgesehen) wurden 1974 einige schablonenhafte Lehrfilnie uraufgeführt. Zu denen, die innerhalb und außerhalb Chinas große Verbreitung fanden, gehörte »Brechen mit alten Ideen«, ein Film, der die Verwirklichung der Prinzipien der Kulturrevolution behandelte. In vielen Orten brachten die Bühnen Variationen zu den Themen, denen Tschiang Tsching den Vorzug gab. Aber nach einem halben Jahrhundert revolutionären Fortschritts war Chinas Kulturangebot immer noch recht dürftig. Individuelle Initiativen, die auf eine Erneuerung und Bereicherung des kulturellen Angebots abzielten, konnten nicht gefördert werden, solange sich Tschiang Tsching auf freiem Fuß befand. Unmittelbar nach ihrer Verhaftung wurden einige vor der Kulturrevolution gedrehte und dann verbotene Filme vor einem geladenen Publikum gezeigt und als Anzeichen für eine Änderung der Lage begrüßt. Natürlich war das extrem konservative Kunstprogramm der Volksrepublik in Maos Namen überwacht und zensiert worden. Doch kurz nach seinem Tod wurden Tschiang Tsching und ihre Mitarbeiter beschuldigt, eine »faschistische Diktatur über Literatur und Kunst« errichtet zu haben.[67]Begann nun in China - wie in der Sowjetunion nach dem Tod Stalins - ein kulturelles Tauwetter?
Die Jahre nach dem Sturz Lin Piaos und nach dem Tod Tschou En-Iais, als sich das Befinden Maos zunehmend verschlechterte, waren Tschiang Tschings elfte Stunde. Wie konnte es ihr gelingen, den bevorstehenden Kampf um die Nachfolge zu überstehen? Nach Maos Tod wurde sie von Hua Kuo-feng ausmanövriert, und gegen Ende des Jahres kam es zu ihrer politischen Verdammung. Am 25. Dezember 1976 bezeichnete er die »Viererbande« als »Ultrarechte« und »konterrevolutionäre Revisionisten«, die jahrelang vorgegeben hätten, linke Revolutionäre zu sein. Er deutete an, ihr Kampf gegen die Partei sei der elfte Kampf zweier Linien gewesen. Die wichtigste Aufgabe, die er dem Land für 1977 stellte, war es, »die Massenbewegung zur Entlarvung und Kritik an der Viererbande zu vertiefen.«

Wahrscheinlich wird der Hintersinn des politischen Dramas nirgends in einem solchen Ausmaß durch historische Anspielungen und die Kunst der verschleierten Mitteilung enthüllt wie in China. Wie konnte also die Öffentlichkeit die Angriffe gegen die ranghöchste Frau der Nation, eine Frau mit gebieterischem Charakter, selbstgefälligem Ehrgeiz und Beziehungen zum engsten Führungskreis, als etwas anderes verstehen als einen indirekten Angriff gegen den Begründer der Dynastie, der sich selbst für einen zweiten Tschin Schih Huang-ti hielt? In den Wochen nach seinem Tod haben seine Nachfolger zu verstehen gegeben, daß die Beziehung zwischen Tschiang Tsching und Mao ein destruktives Element enthielt, und diese Unterstellung versuchen sie in die offizielle Geschichtsschreibung hineinzuschmuggeln. Doch vielleicht gibt es auch andere Beweismittel, die aus dem eisernen Käfig des neuen Regimes hinausgelangen können. In seinem Brief an Tschiang Tsching vom Juli 1966 sprach Mao von der Gefahr, daß nach seinem Tod antikornmunistische Rechtsabweichler einige seiner Worte mißbrauchen könnten, um selbst die Macht zu ergreifen. Doch würden sie, schrieb er, nicht lange an der Macht bleiben, da die linken Kräfte ihnen »im ganzen Land eine Lehre erteilen« würden.
Zehn Jahre später schickte Mao Tschiang Tsching wieder eine Botschaft, diesmal in Form eines Gedichts. Sie gab es noch zu Maos Lebzeiten ihren Freunden zu lesen, als ob es sein Testament gewesen sei.[69]
Diesmal schrieb er: »Man hat Dir unrecht getan. Heute trennen wir uns und betreten zwei verschiedene Welten. Mag jeder seinen Frieden finden. Diese wenigen Worte sind vielleicht meine letzte Botschaft an Dich. Das menschliche Leben ist begrenzt. Aber die Revolution kennt keine Grenzen. In dem Kampf der vergangenen zehn Jahre habe ich versucht, den Gipfel der Revolution zu erreichen, aber der Erfolg ist mir versagt geblieben. Du kannst den Gipfel erreichen. Wenn es Dir nicht gelingt, wirst Du in einen bodenlosen Abgrund stürzen. Dein Körper wird zerschmettert. Deine Knochen werden zerbrechen.«