Wir können den Mond im Neunten Himmel umfassen
Und die Schildkröten fangen tief in den Fünf Meeren;
Wir kommen zurück - lachend und singend im Sieg.
»Nichts ist schwierig in dieser Welt,
Ist da der Wille, die Höhen zu erklimmen.«
Mao Tse-tung,
»Den Tschinggangschan wieder hinauf«
»Könnten Sie nicht doch noch ein paar Wochen oder Monate länger bleiben?« fragten mich Tschiang Tsching und ihre Mitarbeiter. Man drängte mich dazu, nachdem Tschiang Tsching einige Tage mit mir über die Vergangenheit gesprochen hatte. Doch ich wollte in diesem rein »proletarischen« Bereich, wo sich niemand ihrem Willen widersetzen konnte, wenigstens über meine Abreise frei entscheiden. Ich sagte nein, denn ich hatte einen Lehrauftrag an der Stanford University, wo ich Vorlesungen über Geschichte halten mußte, und andere berufliche und persönliche Verpflichtungen. Sie wußte, daß ich sehr an meiner Tochter hänge. Aber in China gehören die Kinder dem Staat, und daran hatte sie mich mehr als einmal erinnert. Wenn ich jedoch entschlossen sei, bald abzureisen, würde sie sich in der Zeit, die uns noch blieb, auf das Wichtigste konzentrieren und sich bemühen, Erfahrungen und Einsichten, die eigentlich einer gründlichen Erläuterung bedürften, zusammenzufassen. Ich war bereit, noch zwei Tage in China zu bleiben, und in diesen Tagen übergab ich ihr auf ihren Wunsch hin einen Katalog von Fragen. Ich wollte verschiedene unklare Punkte klären und sie veranlassen, zu bestimmten Fragen ein allgemeines Urteil abzugeben. Am Ende des letzten Abends ging sie auf meine Fragen ein.
Während meines ganzen Aufenthalts in China hatte es mich beeindruckt, wie zwanglos und flexibel die chinesische Führung arbeitete.
Tschiang Tsching nahm jetzt, zu Beginn der siebziger Jahre, Funktionen im Bereich der Kultur wahr, ohne offiziell für kulturelle Fragen zuständig zu sein. Sie hatte auch nie darüber gesprochen, welche hohen politischen Ämter sie in den vergangenen Jahren übernommen hatte, Ämter, durch die sie eine Person der Zeitgeschichte geworden war. Ihre Unbekümmertheit gegenüber ihrer offiziellen Stellung und gegenüber dem Status anderer Politiker stand ganz im Gegensatz zu den Bemühungen von Ausländern, den Rang der einzelnen Führer festzustellen, um sie entsprechend beurteilen zu können.
»Ich gehöre der Chinesischen Kommunistischen Partei an«, beantwortete sie meine Frage nach der Stellung, die sie einnahm. »Ich bin Delegierte beim Nationalen Volkskongreß, und ich bin Mitglied des Zentralkomitees der Chinesischen Kommunistischen Partei. Andere offizielle Ämter bekleide ich nicht.«
Sie sagte, ihre tägliche Arbeit sei Routine. Sie analysiere innen- und außenpolitische Entwicklungen und berate das Zentralkomitee und den Vorsitzenden Mao. Der Vorsitzende Mao werde über alle wichtigen Fragen unterrichtet, die im Politbüro zur Sprache kamen. Ministerpräsident Tschou sei zuständig für »Routinearbeit«.
»Daneben lerne ich. Der Vorsitzende hat uns die Aufgabe gestellt, den Marxismus-Leninismus zu studieren, und ich selbst habe mir vorgenommen, die Maotsetungideen zu studieren.« Seine Aufsätze »Über den Widerspruch« und »Über die Praxis« seien sehr nützlich. Oft lese sie seine Reden bei der Aussprache in Jenan und seine Schriften über die Kriegsführung. »Jeder kann sehen, daß meine Arbeit immer etwas mit der Kriegsführung zu tun hat«, sagte sie lächelnd.
Was mich an China am meisten faszinierte und verwirrte, war der ungeheure Einfluß der politischen Führer, die das »proletarische Bewußtsein« weckten und regulierten, den Mythos, der das Volk zu der gewaltigen Leistung antrieb, seine eigenen Anschauungen und die Produktionsverhältnisse zu verändern. Fast die gesamte intellektuelle Diskussion und die kulturelle Vielfalt der Gegenwart waren aus China verbannt, mit Ausnahme dessen, was Maos Begriff vom Marxismus diente. Allenfalls war es den Führern zugänglich - in einem vor der Öffentlichkeit abgeschirmten Bereich. Tschiang Tschings Antworten auf solche Fragen waren erstaunlich freimütig.
Auf die Frage, ob es möglich sei, daß ausländische Künstler Arbeiten, die nicht unbedingt als sozialistisch zu bezeichnen waren, in China öffentlich zeigen könnten, sagte sie, das hänge vom jeweiligen ideologischen Gehalt dieser Kunstwerke ab. Bis zur Zeit der Kulturrevolution habe es einen gewissen Kulturaustausch mit anderen Ländern gegeben, aber seit der Kulturrevolution (in der sie auch diesen Austausch kontrolliert hatte) waren nur zwei Ensembles, die sie persönlich ausgebildet hatte, ins Ausland geschickt worden.
Nach Tschiang Tsching gab es zwei Kategorien von Kulturerzeugnissen, öffentliche und private. Der erwähnte Austausch beschränkte sich auf die Produktionen, die der Öffentlichkeit zugänglich waren. Arbeiten, die als »ungesund für das Volk« angesehen wurden, durften nur im privaten Rahmen den führenden Genossen als Anschauungsmaterial gezeigt werden. Mit anderen Worten, sie betrachteten sie als lehrreich, da es »negative Beispiele« waren. In diesem Zusammenhang wurden mehrere faschistische Filme aus Japan importiert und den Führern vorgeführt. Tschiang Tsching sagte, man wisse, daß die japanischen Linken solche Filme wegen der hohen Eintrittspreise nur selten zu sehen bekämen. Andere ausländische Arbeiten würden nach China gebracht, damit sie von einem rein künstlerischen Standpunkt aus beurteilt und mit anderen Werken verglichen werden könnten.
Bis auf weiteres sollte der Kulturaustausch mit anderen Ländern eingeschränkt bleiben. Das Außenministerium regelte den Austausch mit Ländern, mit denen China offizielle diplomatische Beziehungen unterhielt. Für den Austausch mit Ländern, zu denen bisher keine diplomatischen Beziehungen aufgenommen worden waren, war die Freundschaftsgesellschaft zuständig. Doch in jedem Fall mußten die nach China gebrachten Kunstwerke inhaltlich progressiv sein und vom Staatsrat genehmigt werden.
»Vielen ausländischen Freunden würden unsere Arbeiten gefallen«, sagte sie zuversichtlich. »Aber weil Ihr Land, die Vereinigten Staaten, Taiwan besetzt hält, unterhalten wir keine diplomatischen Beziehungen. Der Austausch mit Ihnen muß daher über die Freundschaftsgesellschaft geregelt werden.« Sie meinte, daß verschiedene chinesische Inszenierungen in Amerika sicher gut aufgenommen werden würden. Für die Amerikaner sei es sicher nicht unangenehm, die Oper »Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert« oder andere revolutionäre Opern zu sehen. Solche Werke hätten große historische Bedeutung, und einige sagten auch etwas über die chinesisch-amerikanischen Beziehungen aus.
Erneut lobte sie General Eisenhower dafür, daß er vor zwanzig Jahren nach Korea gegangen sei, um den Waffenstillstand zu unterzeichnen. Sie sagte, die Koreaner hätten gelernt, selbst mit ihren Problemen fertigzuwerden, und wünschten keine Einmischung anderer Länder. Und dieser Politik stimmten die Vereinigten Staaten augenscheinlich zu. Eine Reihe nordkoreanischer Filme sei nach China gekommen. Man habe auch fortschrittliche Arbeiten aus Albanien und Jugoslawien positiv beurteilt. Aber aus der Sowjetunion höre man nichts.
Während unseres Gesprächs erwähnte sie ein paarmal etwas wehmütig die Filme mit Greta Garbo, Charlie Chaplin und anderen Hollywood-Stars. Ich fragte, ob es möglich sei, sie aus den Archiven hervorzuholen und heute dem Volk als »negative Beispiele« vorzuführen.
»Das sind bürgerlich-demokratische Filme, die nur privat gezeigt werden dürfen«, erklärte sie mechanisch. Das Volk würde solche Filme aus politischen Gründen streng kritisieren. Solche öffentlichen Stellungnahmen und Angriffe seien gegenüber der Garbo ungerecht, weil sie keine Chinesin sei. Das Gleiche gelte für Chaplin. Die meisten seiner Filme aus den dreißiger Jahren habe sie gesehen. »Moderne Zeiten« richte sich gegen die Diktatur, und andere Chaplinfilme seien gegen Stalin und insbesondere gegen Hitler gerichtet. Dies mache sie nach ihrer und der anderen Genossen Auffassung zu »progressiven« Arbeiten. Man müsse jedoch berücksichtigen, daß diese Filme in einer historischen Situation entstanden seien, als ausländische Filmproduzenten China gegenüber freundlich eingestellt waren. Deshalb sei es sehr unfair, die Darsteller aufgrund der gegenwärtigen politischen Lage zu kritisieren. Es sei jedoch durchaus möglich, daß die chinesischen Führer sich die Filme ansähen, um festzustellen, worin ihre Stärken und Schwächen bestünden. Solche privaten Vorführungen dürften jedoch nicht in der Öffentlichkeit bekannt werden.
Ich war in China auf keine besonderen kulturellen Einrichtungen für Kinder oder Heranwachsende gestoßen. Nun fragte ich, ob es sinnvoll sei, daß Kinder zu Erziehungszwecken Revolutionsopern aufführten, die von Erwachsenen für Erwachsene komponiert worden seien, oder ob für sie eine andere kulturelle Ordnung geschaffen werde.
»Hier mangelt es uns noch an Initiative«, antwortete Tschiang Tsching. Damit drückte sie die offizielle Haltung der politischen Führung aus. »Die Massen haben aber schon aus eigener Initiative viel getan.« (Was das war, blieb ein Geheimnis.)
Der Vorsitzende Mao habe das Ziel in der Aussprache von Jenan abgesteckt. Es bestehe darin, das künstlerische Niveau zu heben, aber stets im Rahmen des Allgemeinverständlichen. In der Kunst und Literatur müsse man immer aufrichtig, vorsichtig und sorgfältig zu Werke gehen. Man dürfe dem Feind nicht mit groben Mitteln begegnen und ihn nicht primitiv kritisieren. Er müsse negativ dargestellt werden, aber nur nach sorgfältiger Überlegung und Analyse.
Sie prophezeite, daß mit der Erweiterung der internationalen Beziehungen und des damit Hand in Hand gehenden Kulturaustauschs große Widersprüche aufbrechen würden. Aber diese Widersprüche (damit meinte sie den Schock, den die Vorführung ausländischer und bürgerlicher Kunstwerke in ihrem Land auslösen würde) würden sich fast ausschließlich in China selbst zeigen. Die Frage, die sie eigentlich interessiere, sei, ob die Chinesen fähig sein würden, eine Kunst zu entwickeln, die revolutionäre Menschen in der ganzen Welt ansprechen könnte. Um das zu ermöglichen, müßten das künstlerische und das ideologische Niveau sehr hoch sein. Aber dennoch sei es nicht die Aufgabe der Chinesen, andere zu bekehren. Immer wieder sagte sie, daß chinesische Künstler, die ihre Werke im Ausland zeigten, das Risiko eingingen, nicht dem Ansehen gerecht zu werden, dessen China sich schon erfreute.
»Ich bin mit meinen Leistungen nie zufrieden, weil sie niemals vollkommen sind«, sagte sie wiederholt. »Ich versuche ständig, Fehler zu finden. Wir dürfen in unserem Bemühen um künstlerische und ideologische Vollkommenheit nie nachlassen. Auch dürfen wir uns keinen Hochmut erlauben.«
Was waren nach ihrer Auffassung die größten Leistungen und die größten Mißerfolge in den vergangenen dreiundzwanzig Jahren?
Vor allem habe sich das chinesische Volk erhoben. Man könne den Chinesen nicht mehr als »den armen Mann Europas oder den kranken Mann in Asien« bezeichnen. Die Chinesen seien nicht mehr die Opfer des Imperialismus. Doch gebe es quälende Probleme. Immer noch hielten die amerikanischen Imperialisten »Taiwan gewaltsam besetzt«. Andere Gebiete an der Nordgrenze seien von fremden Mächten (der Sowjetunion) besetzt, und Indien habe sich einen Teil der westlichen Gebiete Chinas angeeignet. Dort komme es immer wieder zu Grenzzwischenfällen.
Der Vorsitzende Mao habe die folgenden Grundsätze festgelegt: China müsse seine Unabhängigkeit und Souveränität bewahren. Die Einmischung fremder Mächte auf chinesischem Boden habe Taiwan zu einem Problem für die Chinesen gemacht. Dieses Problem betreffe jedoch nur Taiwan und die Volksrepublik selbst und könne nur zwischen ihnen gelöst werden. Sogar Präsident Nixon habe endlich anerkannt, daß Taiwan zu China gehöre. Er habe eine Erklärung (das Schanghaier Kommuniqué) unterzeichnet, die dies bestätige. Tschiang Tsching sah mich herausfordernd an und sagte: »Ist Ihnen klar, daß Ihr Land in Taiwan die gleiche Lage geschaffen hat, die entstehen würde, wenn wir Long Island besetzen würden?« Ich erwiderte, ich hätte in einer Vorlesung vor meinen Studenten eben diesen Vergleich gemacht und damit eine Lachsalve ausgelöst. Heute sei China (die Volksrepublik China) unabhängig und »zum kleineren Teil« souverän, fuhr sie fort. Sie sagte, es werde nicht lange dauern, bis ganz China souverän geworden sei.
Wirtschaftlich müsse China autark sein. Das bedeute aber nicht, daß der Vorsitzende gegen den internationalen Handel und den Austausch auf verschiedenen Gebieten sei. Sie stellte die rhetorische Frage, ob China ein fortschrittliches Land sei, und meinte, die Volksrepublik sei das einzige Land in der Welt, das weder im Inneren noch im Ausland Schulden habe. Das seien die wichtigsten Gesichtspunkte.
Was nun die Mängel und Fehler betreffe, so sei die wirtschaftliche Entwicklung ungleichmäßig verlaufen und habe damit das Gesetz bestätigt, nach dem gleichmäßiger Fortschritt und Gleichgewicht nur vorübergehend zu erreichen seien. Gewisse wirtschaftliche Bereiche und gewisse Gebiete der Wissenschaft seien vernachlässigt worden.
Was die Ideologie betreffe, so habe China eine relativ reife marxistisch-leninistische Partei, und dies sei das Entscheidende. Aber andererseits hätten die Chinesen den Marxismus-Leninismus nicht gründlich genug studiert. Deshalb seien viele gute Genossen gegenüber »politischen Schwindlern, die es noch in den Reihen der Partei gibt«, relativ wehrlos. (War die Frage des politischen Überlebens demnach eine Frage der Ideologie?)
Wir sprachen über die Frauenfrage. Sie sagte, auf dem Lande gebe es noch feudalistische, von den Eltern arrangierte Heiraten, und in der Landwirtschaft erhielten die Frauen nicht überall den gleichen Lohn wie die Männer. Trotz dieser Mängel sei man im Bereich der politischen Führung gut vorangekommen. »Praktisch haben die Frauen bei uns mehr führende politische Ämter inne als in irgendeinem anderen Land. Ich meine wirkliche, nicht nur formale politische Macht.« (In ihrem Fall stimmte das, denn ihre praktischen Kompetenzen waren größer als ihre offiziellen.) Obwohl Frauen in kapitalistischen Ländern auch leitende Positionen innehätten, sei ihre Macht dort nur formal. Darin unterschieden sich die Verhältnisse in China von denen in anderen Ländern. Hier seien die Frauen nicht nur eine Dekoration der politischen Szene. Sie seien weiter zur Führungsspitze vorgedrungen als im Westen. Doch auf anderen (nicht genannten) Gebieten sei die Stellung der chinesischen Frau noch benachteiligt. Nur durch unermüdliche politische und ideologische Arbeit könne das geändert werden. Die Kombination von Fortschritt und Rückständigkeit im Wandel der Rolle der Frau beweise die »Einheit der Gegensätze«. Die Stellung der Frau müsse aus dieser Perspektive gesehen werden.
Nun kam sie auf ein heikles Thema zu sprechen, das kaum ein chinesischer Führer zu erwähnen wagte: die Furcht vor politischen Vergeltungsmaßnahmen, die Schriftsteller und Verleger oft daran hinderte, etwas zu veröffentlichen. Diese Furcht habe sich auf allen kulturellen Gebieten, den Film eingeschlossen, verstärkt. Tschiang Tsching erwähnte Tao Tschus »Manipulationen«. Die Furcht vor Kritik müsse ihn veranlaßt haben, die Zahl der Rollen in gewissen unappetitlichen Filmen zu verringern, für die er, wie er wußte, verantwortlich gewesen war. Als sie davon erfahren habe, habe sie eine Untersuchung seiner Beziehungen zum Film angeordnet, denn die Führer wünschten nicht, daß er oder irgendein anderer (von Mao und seinen Gefolgsleuten abgesehen) die Initiative ergriff, um das Wissen des Volkes über seine eigene Vergangenheit zu beeinflussen.
Mit der Arbeit der Verwaltung in den verschiedenen Bereichen des kulturellen Lebens sei sie nicht zufrieden (damit meinte sie den Beamtenapparat im ganzen Land). Die schlechten Leistungen der Verwaltung führte sie jedoch darauf zurück, daß die politischen Führer selbst mangelhafte politische Arbeit geleistet hätten. (Sie hätten die konfuzianische Tradition fortgeführt, nach der die Führer als Vorbilder die Maßstäbe festsetzten, denen das Volk folgte.)
Sie gab auch zu, daß es im Hinblick auf die Veröffentlichung literarischer Werke in China unerträglich schlecht stand. (Wahrscheinlich, weil ich einmal gesagt hatte, die neuesten, von der Partei autorisierten Darstellungen der Geschichte simplifizierten die Vergangenheit in grober Weise, aber selbst diese Geschichtsbücher seien im Buchhandel kaum zu beschaffen. Außerdem hätten Studenten und Professoren keinen Zugang zu den Universitätsbibliotheken) Sie sagte, sie persönlich habe die Verleger kritisiert, weil sie nicht mehr Bücher herausbrachten. Auch Ministerpräsident Tschou habe diesen Übelstand beklagt. Die Führer wüßten aber, daß sich die Verleger davor fürchteten, für etwaige politische Fehler zur Rechenschaft gezogen zu werden. (Die Furcht, für die Veröffentlichung von Irrlehren bestraft zu werden, war heute noch ebenso lebendig wie zur Kaiserzeit).
Sie sagte, die Bücher, die ich für meine historischen Forschungen unbedingt benötigte, stünden noch nicht zur Verfügung. Sie werde aber weiter versuchen, einige Bände von Fan Wen-lan, einem Historiker, dem sie vertraute, und andere Werke über die neuere Geschichte zu beschaffen. Sie habe einige Genossen damit beauftragt, in Antiquariaten nach diesen Büchern zu suchen, aber zu ihrem Erstaunen gäben die Antiquare selbst dann gewisse Titel nicht heraus, wenn der Vorsitzende Mao und die Genossin Tschiang Tsching ihnen erlaubten, sie zu verkaufen. (Wie konnte sie sich darüber wundern, da sie doch wußte, wie tief die Furcht saß?) »Deshalb benötige auch ich Zeit, um das zu besorgen, was Sie brauchen!« Wenn sie das, wonach sie suchte, nicht in den Buchläden finden könne, werde sie mir ihre eigenen Exemplare zur Verfügung stellen, denn sie fühlte sich für meine Untersuchungen persönlich verantwortlich. Oft fordere sie die Leute in ihrer Umgebung dringend auf, Geschichtswerke zu lesen und möglichst viel aus ihnen zu lernen.
Sie fragte mich, ob ich über eine Ausgabe der »Vierundzwanzig Dynastiegeschichten« verfügte. Das war nicht der Fall, und ich erklärte, kaum ein Gelehrter in Amerika habe die Möglichkeit, sich dieses umfangreiche Werk zu kaufen. Sie fragte, wie denn jemand behaupten könne, Historiker zu sein, wenn ihm das nötigste Handwerkzeug dafür fehlte.
Dagegen ließ sich kaum etwas einwenden. Ich erwiderte aber, daß in Amerika wissenschaftliche Bibliotheken diese grundlegenden Werke anschafften, um den Wissenschaftlern die hohen Anschaffungskosten zu ersparen. Einen Augenblick schien meine Antwort sie zu verwirren. Doch dann sagte sie, sie werde mir eine Ausgabe des Werks besorgen. Sie wisse, daß ich den Verdacht hätte, nicht nur Renegaten, sondern auch gute Kommunisten manipulierten die schriftlichen Aufzeichnungen über die Vergangenheit oder fürchteten sich davor, mit der Geschichte in ihrer Gesamtheit konfrontiert zu werden. Wenn sie mir die kompletten »Dynastiengeschichten« zur Verfügung stelle, dann würde ich mein Mißtrauen aufgeben. Zwar wisse sie nicht genau, wie lange es dauere, das gesamte Werk zu beschaffen, aber wenn ihre Mitarbeiter es nicht finden sollten, dann werde sie es mir aus ihrer Privatbücherei überlassen. Ich müßte ihre Integrität und die des Vorsitzenden und der anderen politischen Führer anerkennen.
Als sie mir später einen Stoß Bücher übergab, die auf die traditionelle Weise gebunden waren, sagte sie, da der Vorsitzende und sie gar nicht in der Lage seien, das ganze Geld auszugeben, das sie in Form von Honoraren verdienten (!), hätten sie für mich die vollständige Ausgabe der »Vierundzwanzig Dynastiegeschichten« gekauft. Dann führte sie mich an den Tisch, auf dem die Bände lagen. Ich blätterte in ihnen und sah, daß es die Ausgabe aus dem zehnten Jahr von Kuang Hsii (1884) war. Sobald sie auch die »Vorläufige Geschichte der Tsching-Dynastie« gefunden habe, die gemeinsam mit den »Vierundzwanzig Dynastiegeschichten« die vollständige offizielle Geschichte darstelle, werde sie mir die Bücher nach Amerika schicken (was sie bald nach meiner Rückkehr auch tat). Sie sagte, diese geschichtlichen Darstellungen seien natürlich feudalistisch; man müsse sie jedoch lesen. Alle Menschen, Chinesen und Ausländer, rnüßten die Geschichte studieren. Und wenn es diese Sammlungen in Amerika gebe, dann seien sie dort wahrscheinlich sehr teuer. Aus diesem Grund habe auch Ministerpräsident Tschou ein Exemplar für das State Department gekauft. Obwohl diese Geschichte sich mit der fernen Vergangenheit beschäftige, habe sie für die Gegenwart doch große Bedeutung. Die Sammlung enthalte zum Beispiel die »Geschichte der Späteren Han-Dynastie«, zu der auch der berühmte Brief von Li Ku an Huang Tschiung gehöre, den Mao 1966 zitiert habe.
Obwohl sie behauptet hatte, der Vorsitzende Mao und die Leute, die eng mit ihm zusammenarbeiten, respektierten die Geschichte und »verdrehten die Vergangenheit nie«, konnte ich nicht feststellen, daß in China eine bedeutsame historische Forschungsarbeit geleistet wurde. Ich fragte sie daher, e welche Chancen sie dieser Forschungsarbeit in der nächsten Zeit gebe.
In förmlichem Ton antwortete sie, in ihrem Land werde akademische Forschung nicht nur in den Universitäten betrieben, sondern auch von den Akademien der Wissenschaften und von den Massen geleistet. Die archäologisehen Ausgrabungen in Tschangscha zeigten, wie die Massen wissenschaftlich arbeiten könnten. Es komme nicht darauf an, wer die Arbeit tue, wie hoch oder wie niedrig seine gesellschaftliche Stellung sei oder welche Schulbildung er genossen habe. Die Arbeit müsse immer vom proletarischen Standpunkt aus verrichtet werden. Diese Regel gelte für jede intellektuelle Tätigkeit, nicht nur für die historische Forschung, sondern auch für die klassischen Fächer, für Literatur und Kunst und natürlich auch für die Oper.
Kurz vor dem Morgengrauen ließ Tschiang Tsching noch weitere Geschenke bringen. Zwei Männer schleppten eine große Holzkiste herein und öffneten sie. Oben und an den Seiten lagen viele kleine Pakete mit getrockneten und pulverisierten Lotusstengeln (die seit den Zeiten der Tang-Dynastie als Heilmittel verwendet werden). Auf dem Boden stand in Papierwolle verpackt ein großer glasierter Steintopf mit Deckel. Die Lotusstengel, deren Alkaloide nicht unvermischt eingenommen werden durften, sollten in diesem Topf mit Wasser aufgebrüht werden, erklärte sie. Damit ich politische Belastungen ebensogut überstehen könne wie sie (damit meinte sie, daß meine Bekanntschaft mit ihr mich in Ungelegenheiten bringen konnte), zeigte sie mir, wie man den Inhalt eines Päckchens mit Lotuspulver in 300 ccm Wasser schüttete und kochen ließ, bis 200 ccm verdunstet waren. Diese Arznei müsse man sofort trinken, damit die Blasentätigkeit angeregt werde.
Dann zeigte sie mir eine Seewasserlösung, mit der ich mir den Mund ausspülen sollte (vorher mußte sie in einem Bambusgefäß erhitzt werden). »Gut für den Gaumen«, sagte sie. Schließlich förderte sie getrocknete weiße Lilien zutage, über deren Heilkraft sie aber nichts sagte. Dummerweise erwähnte ich die Grenzkontrollen und die Neugier ausländischer Zollbeamter. Ich fürchtete, diese geheimnisvollen Medikamente könnten sie mißtrauisch machen.
»Dann dürfen Sie die Sachen auf keinen Fall mitnehmen!« rief Tschiang Tsching besorgt. (Gegen Agenten, Untersuchungen und die Erregung öffentlichen Interesses zur unrechten Zeit spürte sie eine tief verwurzelte Abneigung.) Also ließ sie ihre Geschenke wieder fortbringen und wandte sich einem weniger verfänglichen Thema zu, ihrem eigenen Gesundheitszustand. Ihr Blutbild hatte sich nach einer zweijährigen Akupunkturbehandlung normalisiert, und die Zahl der roten und weißen Blutkörperchen hatte sich ausgeglichen. Außer einem Schlafmittel nahm sie keine Medikamente ein. Sie meinte, genügend Flüssigkeit und körperliche Bewegung seien die beste Medizin.
Am 31. August um vier Uhr morgens flüsterte mir eine ihrer Mitarbeiterinnen zu, daß die Genossin Tschiang Tsching ihre Geschichte beendet habe. Ich hatte zwar damit gerechnet, war aber doch etwas erschrocken. Jetzt mußte ich ihre stark nach Jasmin und Sandelholz duftende Privatwohnung verlassen - und das Verfahren blieb in der Schwebe.
Sie fragte, ob ich mit ihrem Bericht zufrieden sei.
Das war ich; dennoch fühlte ich mich gedemütigt. Ich hatte Heimweh und spürte deutlich, wie groß der Abstand zwischen uns beiden bleiben würde. Wahrscheinlich hatte sie den Eindruck gehabt, daß ich voll darauf konzentriert gewesen war, meine Notizen niederzuschreiben. Und so sagte ich, ich hätte festgestellt, daß sie nicht nur eine einzigartige revolutionäre Führerin, sondern auch eine bemerkenswerte Lehrerin sei - lao-schi, »eine alte hochgelehrte Person«. Das war ein alter feudalistischer Begriff. Ich fügte hinzu, ich wollte versuchen, das, was ich von ihr gelernt hatte, im Ausland weiterzugeben. Dies war mehr, als wir beide zu diesem Zeitpunkt ahnen konnten.
»Sie sind die Professorin - nein, ich meine, die außerordentliche Professorin«, erwiderte sie das Kompliment. Sie sagte, sie habe das Gefühl, nur wenig geleistet zu haben, und es falle ihr schwer, eine abschließende Erklärung abzugeben. Als ich mich zum Gehen wandte, erklärte sie noch einmal, daß die »gewaltsame Besetzung« Taiwans durch die Vereinigten Staaten das einzige Hindernis für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen sei.
Das sei richtig, antwortete ich. Ich fügte hinzu, daß ich beabsichtigte, ein Buch über die Geschichte der chinesischen Revolution zu schreiben, und zwar so, wie diese Geschichte sich aus ihrer Sicht darstelle. In diese Geschichte würde ich auch ihre Lebensgeschichte aufnehmen.
Sie nahm diese letzten Worte schweigend auf. Ich spürte sofort, was hinter diesem Schweigen stand: der ewige Konflikt zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, dem einzelnen und der Masse, den Führern und den Geführten, zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben - zwischen Tschiang Tsching und Mao. Durfte es außer dem Vorsitzenden Mao einen Menschen geben, der für die Auslegung der jüngsten Geschichte kompetent war? Durfte es neben der Biographie Maos und der einiger seiner Mitstreiter aus den dreißiger Jahren noch andere Biographien geben? War ihr Entschluß, ihre eigene Version veröffentlichen zu lassen, nicht eine sehr ernste Herausforderung für die revolutionäre Führung? »Ihr Spezialgebiet ist das Schreiben«, sagte sie schließlich. »Meines ist die revolutionäre Führung!« Wir gaben uns die Hand, und ich verließ sie.
Meine chinesischen Gastgeber und vielleicht auch ich - solange ich mich noch unter ihnen befand - glaubten, daß man sich in dem geordneten Leben dieser Nation von Millionen Menschen, die sich gegenseitig beobachteten, vollkommen sicher fühlen könne, solange man sich den verborgenen Strömungen und den geltenden Regeln in diesem Land anpaßte. Nach meiner Erfahrung hatten diese Menschen von dem, was außerhalb Chinas geschah, nur marxistisch-mechanistische Vorstellungen. Es war für sie eine bürgerlich-imperialistische Groteske, und das war natürlich erschreckend. In den letzten Tagen meines Aufenthalts in Kanton zeigten sich die Mitarbeiter von Tschiang Tsching und meine Begleiter besorgt darüber, was mit meinen Aufzeichnungen, Photos, Dokumenten und natürlich auch mit mir selbst geschehen könnte, wenn ich die chinesische Grenze überschritten hätte. Im Auftrag von Tschiang Tsching und anderen führenden Genossen warnte mich der Protokollbeamte Tang Lung-ping. Vielleicht hätten Reporter, Agenten oder Spione von unseren geheimen Zusammenkünften Wind bekommen. Es bestehe die Möglichkeit, daß man mich in Hongkong festnahm, um mein Material zu beschlagnahmen und auszuwerten. Er fragte, ob ich nicht aus Sicherheitsgründen alles in China lassen wolle. Die chinesische Regierung könnte es mir nach Hause nachschicken.
Ich wollte mich jedoch auf keinen Fall auch nur vorübergehend von den Dokumenten trennen. Nur wenn ich in ihrem Besitz blieb, konnte ich meine Aufgabe erfüllen. Also weigerte ich mich.
Bei unserer nächsten Begegnung kam Tschiang Tsching noch einmal auf diese Frage zurück. Sie sagte, Edgar Snow habe nach seinem ersten Interview mit dem Vorsitzenden Mao seine Aufzeichnungen zunächst den Chinesen zur Aufbewahrung gegeben. Es bestehe doch auch die Gefahr, daß meine Aufzeichnungen Irrtümer oder unklare Stellen enthielten, die von unwissenden oder feindlich gesonnenen Personen mißbraucht werden könnten.
Ich lachte und versicherte ihr, daß ich in der Lage sei, mich zu verteidigen. Ich sei an das Leben in der Welt außerhalb Chinas gewöhnt. Offensichtlich beurteilten wir die Risiken unterschiedlich. Von Anfang an sei das Vertrauen die einzige Grundlage unserer Beziehungen gewesen.
Als ich am folgenden Tag meine Sachen packte, kam Schen Jo-yün in das Gästehaus. Sie erwähnte noch einmal das Sicherheitsrisiko und sprach von den Regeln, die man im Guerillakrieg entwickelt habe. Sie meinte, ich solle mir schon im voraus überlegen, was ich neugierigen Reportern in Hongkong sagen wolle, um sie auf eine falsche Fährte zu bringen. Die Vorbereitungen dazu hatten schon begonnen. Der Name »Genossin Tschiang Tsching« war aus unserem Wortschatz verbannt. Die geheimnisvolle Dame, die er bezeichnete, hatte sich in nichts aufgelöst wie der Fuchs im chinesischen Märchen. Es blieb nur das prickelnde Gefühl, noch vor kurzem der Schönheit und dem Schrecken ausgesetzt gewesen zu sein.
Schen, meine Begleiter und ich fuhren in laut hupenden Wagen durch die von pulsierendem Leben erfüllten Straßen Kantons. Wir waren entspannter als in den Tagen zuvor. Der offizielle Abschied auf dem Bahnhof machte es unmöglich, daß wir uns unseres gegenseitigen Vertrauens versicherten, und ließ keinen Abschiedsschmerz aufkommen. Eine junge Frau aus Yünnan, die der Zweigstelle der Freundschaftsgesellschaft in Kanton angehörte, sollte mich im Expreßzug von Kanton nach Hongkong begleiten. Ich ahnte, daß sie über meine Mission unterrichtet sei, und schenkte ihr die Hälfte der schon verwelkten Orchideen, die Tschiang Tsching mir zum Abschied gegeben hatte. Als ich mir die Mitreisenden näher ansah, erkannte ich plötzlich die Gesichter von Männern, die mir - ohne daß ich es bisher gemerkt hatte wochenlang auf all meinen Wegen gefolgt waren.
In der Grenzstadt Schumtschun übergab man mich dem geschickten und erfahrenen Mr. Lai, der mich schon bei meiner Ankunft hier begrüßt hatte. Er war ein internationaler Bevollmächtigter der Kommunistischen Partei Chinas und sagte, er habe schon mehrmals Edgar Snow und andere »ausländische Freunde« begleitet. Die chinesischen Zollbeamten winkten uns durch. Um die andere Seite zu täuschen, gingen wir getrennt über die Lowu-Brücke. Drüben wartete eine Limousine auf uns. Sie brachte uns in das ruhige Hotel, in dem ich schon nach meiner Ankunft gewohnt hatte. Vor meinem Zimmer, am Aufzug und hinter jeder größeren Säule im Speisesaal standen kräftige Agenten der Volksrepublik in verwaschenen blauen Anzügen. Unsere Blicke kreuzten sich nur selten.
Wohin ich mich am nächsten Tag auf den Avenuen und Alleen von Hongkong auch bewegte - in der vertrauten und doch aufs neue schockierenden Umgebung, im unverbesserlichen Treiben und Feilschen des Kapitalismus und Kolonialismus - ständig wurde ich bewacht. Schließlich betrat ich das Büro der TWA. Tschiang Tsching hatte mir gesagt, daß Ministerpräsident Tschou für mich einen Platz im Flugzeug habe reservieren lassen. Damit ich meine Abreise um ein paar Tage verschieben konnte, hatte er einen anderen Passagier, der diesen Platz gebucht hatte, von der Liste streichen lassen.