Wein, Musik und Film sind die drei bedeutendsten
Schöpfungen des Menschen. Der Film ist die
jüngste und mächtigste. Er regt zum Tagträumen an.
Träume kommen aus dem Herzen, sie spiegeln
das Elend der unterdrückten Welt.
Nichts hindert den Film, Ideen zu verbreiten.
Tien Han: »Erinnerungen an meine Filmkarriere«
Der Film hatte Tschiang Tsching von jeher fasziniert. Er bedeutete für sie einen wichtigen Bestandteil moderner Kultur. Für sie gehörten Film und Literatur eng zusammen. Bei unserem ersten Gespräch in der Großen Volkskongreßhalle erzählte sie, wie sie im Laufe ihrer lückenhaften Ausbildung mit ausländischer Literatur in Berührung gekommen war: »Ich habe mich an Romanen, Theaterstücken und Gedichten versucht, aber nichts davon war wirklich gut. Der erste amerikanische Schriftsteller, den ich kennenlernte, war Upton Sinciair, der Autor von »Petroleum!«, »König Kohle«, »Der Sumpf«. Sinclair war ein Reformist. Später las ich auch Jack London und John Steinbeck. Aber ich weiß zu wenig. Allerdings habe ich viele Filme gesehen. Die meisten stammen aus der Zeit Roosevelts, in der viele Filme nach literarischen Vorlagen gemacht wurden. Oft habe ich nichts gegessen und lieber gehungert, um mit dem gesparten Geld ins Kino zu gehen. Ich bewundere Greta Garbo. Sie ist eine große Schauspielerin. Wissen Sie, was sie inzwischen macht?«
»Sie lebt in New York, glaube ich, und hat sich ins Privatleben zurückgezogen«, sagte ich.
»Ich sollte wirklich etwas für sie tun. Ihr Amerikaner habt die Garbo nicht gerade nett behandelt. Nicht einmal einen Akademiepreis habt ihr ihr gegeben.[1] Aber ich glaube nicht, daß das am amerikanischen Volk liegt, daran sind die Leute schuld, die in den Vereinigten Staaten an der Macht sind. Als ich in Jenan war, habe ich mich öfters mit einem Korrespondenten - Brooks Atkinson hieß er - über die Garbo unterhalten.«
Brooks Atkinson sei als Theaterkritiker der »New York Times« bekannt geworden, bemerkte ich.
»Kein Wunder, daß er so viel über Literatur und Kunst wußte! Lebt er noch in New York?«
»Ja, aber er ist nicht mehr bei der >Times<.«
»Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm bitte, daß ich mich an ihn erinnere. Und falls Sie die Garbo treffen, richten Sie ihr meine Grüße aus. Sie ist eine große Künstlerin. Die >Große Garbo<! Hervorragend, wie sie die bürgerlichdemokratischen Werte des 19. Jahrhunderts interpretiert. Sie hat so etwas Rebellisches an sich. Dabei hat sie sehr viel Würde; sie ist weder affektiert noch theatralisch.«
In Gedanken spielte ich die unwahrscheinliche Szene durch: R.W. trifft auf der Fifth Avenue in der nach chinesischen Vorstellungen kleinen Stadt New York zufällig die legendäre Garbo. Ich bemerkte, daß die Garbo immer einen Hauch von Einsamkeit ausstrahlte, im Film wie in ihrem wirklichen Leben, daß sie sich von den anderen Menschen abkapselte. Sie wollte einzigartig sein.
»Ja, sie ist tatsächlich einzigartig«, wiederholte Tschiang Tsching. »Man sollte ihr wirklich eine akademische Auszeichnung geben. Ich würde vorschlagen, daß Metro-Goldwyn-Mayer neue Kopien von ihrer >Kameliendame< und der >Königin Christine< ziehen läßt und die Filme wieder in den Kinos zeigt, damit sie ihre Auszeichnung bekommen kann. Das wäre nur gerecht. Sie ist Schwedin. Wir besitzen Kopien dieser beiden Filme.«
Ich war erstaunt zu erfahren, daß es in China immer noch Kopien von Garbo-Filmen gab; aber dann erinnerte ich mich, daß Tschiang Tsching während der Kulturrevolution in mehreren Ansprachen gewisse nicht-proletarische Werke erwähnte, die sich dazu eignen würden, »am negativen Beispiel zu lernen«. Würden Filme mit der Garbo oder Chaplin, die früher in China begeistert aufgenommen wurden, nun als positiv bewertet, oder sollten sie als negative Beispiele illustrieren, wie proletarische Filme nicht sein sollten, fragte ich.
»Wir können einiges von den schauspielerischen Leistungen und den Filmtechniken lernen, aber leider besitzen wir zu wenig Kopien.« Ich ging auf ihren unausgesprochenen Wunsch ein und bot ihr an, mich dafür zu verwenden, daß sie welche erhielt. Allerdings hatte ich im Moment keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte.
»Es ist für uns nicht einfach, an ausländische Filme zu kommen«, gab sie zu. »Da gibt es den Film >The Sound of Music<.
Wir haben uns eine Kopie in Hongkong besorgt; leider war die Farbqualität sehr schlecht. Daraufhin haben wir uns in allen möglichen Ländern umgetan, um eine bessere Kopie zu bekommen - leider ohne Erfolg. Das ist gar nicht so einfach. Dieser antifaschistische Film hat ein ernstes Anliegen. Der Regisseur ist hervorragend!« [2]
Im Lauf der Zeit habe sie unglaublich viele Filme gesehen, sagte sie, und ihre Lieblingsfilme sogar mehrmals. Einen Dokumentarfilm des russischen Filmregisseurs Roman Karmen hatte sie sich schon dreimal angesehen.[3]
»Ich habe den Roman einer amerikanischen Schriftstellerin, >Vom Winde verweht<, gelesen (ins Chinesische übersetzt mit Piao, wörtlich wirbelnd, wie der Wind)«, sagte sie. »Der Film, der danach gedreht wurde, heißt >Die schöne wilde Frau<.« »Er schildert die neureiche Bourgeoisie zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs«, warf Yao Wen-yüan lebhaft ein. »Die Sklavenbesitzer im Süden verloren an Boden. Amerika befand sich im Umbruch; alles ging drunter und drüber. In vier Jahren feiern die Vereinigten Staaten den 200. Jahrestag ihrer Unabhängigkeitserklärung. Es lohnt sich, diese 200 Jahre amerikanischer Geschichte einmal gründlich zu untersuchen. Man muß Vergangenheit und Gegenwart Amerikas analysieren, um seine Zukunft zu verstehen.«
»Wissen Sie, warum ich >Vom Winde verweht< erwähnt habe?« fragte Tschiang Tsching. »Nicht, weil es von großem literarischem Wert wäre, sondern weil mir der Film ein plastisches Bild vom amerikanischen Bürgerkrieg vermittelt hat.
Ich habe eine ganze Reihe literarischer Werke gelesen. In meiner Jugend habe ich auch amerikanische Geschichte studiert, aber das meiste habe ich wieder vergessen. Ich kann mich nur noch an Washington und Lincoln erinnern. Washington, der nur drei Millionen Amerikaner hinter sich hatte, besiegte den englischen König, der dreißig Millionen Untertanen hatte (in Wirklichkeit hatte England zur Zeit Washingtons nur ungefähr zehn Millionen). Nach unserer Ansicht beging Washington später ein Verbrechen, als er die Indianer töten ließ. Aber das wissen Sie ja alles viel besser. Schließlich sind Sie Historikerin, nicht ich. Ich verstehe nicht viel davon. Historisch gesehen war es wohl so, daß er sich zuerst mit den Indianern gegen die Franzosen verbündete; und nachdem er die Briten besiegt hatte, schlachtete er die Indianer ab. Trotzdem war er ein großer Mann.«
Ich gab zu, daß die Regierung der Vereinigten Staaten seitdem nicht allzu viel getan habe, um den Indianern Wiedergutmachung zu leisten und ihre Interessen zu vertreten.
»Daran sind die monopolkapitalistischen Gruppen schuld«, versicherte Tschiang Tsching. »Die Arbeiter würden so etwas nicht tun. Die kalifornisehen Monopolgruppen sind Nachzügler; sie schlossen sich erst nach 1930 zusammen, viel später als die im Osten. Und in den Westernfilmen der dreißiger Jahre waren die Weißen selber die Wilden und begingen unglaubliche Grausamkeiten an den Indianern.«
Aber die amerikanischen Western aus den dreißiger Jahren dokumentierten doch keineswegs die damalige Realität, beeilte ich mich zu erklären. Es seien romantische Reminiszenzen an eine Epoche, die gegen 1900 zu Ende gegangen sei.
»Aber es werden in Amerika auch heute noch Westernfilme produziert«, erklärte sie und beendete damit die Unterhaltung.
Eines Abends eröffnete Tschiang Tsching nach einem späten Essen in Kanton mit anschließendem Spaziergang, sie habe eine Überraschung für uns: Garbos »Königin Christine«. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Dieser Metro-GoldwynMayer-Film aus dem Jahr 1933 war einer ihrer Lieblingsfilme. Sie hatte ihn eigens für diesen Abend aus Peking einfliegen lassen. Ihr persönliches Archiv ausländischer und chinesischer Filme umfaßte eine fast komplette Sammlung aller Garbo-Filme. Allerdings war die einzige Kopie der »Kameliendame« in wirklich schlechtem Zustand, nachdem sie im Verlauf der vielen Jahre immer wieder gespielt worden war. »Anna Karenina« besaß sie leider nicht, stellte Tschiang Tsching bedauernd fest. Ihre Augen leuchteten, als die Lichter ausgingen; und während wir im Dunkeln warteten, bemerkte sie, daß sie dieser Film, obgleich sie ihn schon so oft gesehen habe, immer wieder aufs neue fasziniere. Der Film wurde auf eine tragbare Leinwand projiziert, die Filmrolle quietschte, das Bild wurde immer wieder unscharf, und die ruckartigen Bewegungen der Schauspieler wirkten unnatürlich schnell oder langsam. Der Originalton war praktisch nicht zu verstehen. Chinesische Untertitel gab es nicht, was Tschiang Tsching nicht weiter störte, da sie den Film von Anfang bis Ende auswendig kannte. Und tatsächlich war ihre chinesische Nacherzählung, die sie mir ins Ohr flüsterte, immer noch verständlicher als der englische Dialog. Ich war von dem Film fasziniert, nicht nur, weil ich ihn noch nicht kannte, sondern weil sie beschlossen hatte, ihn mir zu zeigen.
Gab es zwischen diesem europäischen Märchen und Tschiang Tschings Leben etwa eine Verbindung? Christine, im 17. Jahrhundert Königin von Schweden, ist eine schöne und eigenwillige junge Monarchin. Sie lehnt die Partner ab, die ihr vom Hof vorgeschlagen werden, und sucht sich ihre Liebhaber selbst aus. Sie läßt sich von dem brillanten spanischen Botschafter (John Gilbert) betören, der nach Schweden gekommen ist, um im Auftrag des Königs von Spanien um ihre Hand anzuhalten. Als junger Mann verkleidet, begibt sie sich in die Herberge, in der der Botschafter absteigen soll. Da das Wirtshaus überfüllt ist, müssen sich die beiden »jungen Männer« ein Zimmer teilen. Im Verlauf des Abends gibt sie sich als Frau zu erkennen.[4] Die beiden verlieben sich leidenschaftlich ineinander, was dazu führt, daß sie seinetwegen auf den Thron verzichtet. Aber dann stirbt er, und Christine bleibt allein zurück, ohne Liebe und ohne Macht. Am Ende des Films steht die Garbo mit klassischem Profil am Bug ihres Schiffes und starrt in eine unbestimmte Zukunft. Das Licht ging an, und ich sah neben mir Tschiang Tschings zwar ausgeprägtes, aber nicht ganz so berühmtes Profil - mit leicht verschwommenem Blick. Selbst etwas mitgenommen, warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr - fast zwei Uhr morgens. Tschiang Tsching hatte es bemerkt.
Mit einem Lächeln verkündete sie munter, dies sei nur eine kurze Unterbrechung. Sobald die Vorführgeräte bereit seien, würden wir einen neuen Dokumentarfilm über archäologische Ausgrabungen während der Kulturrevolution in der Nähe der Stadt Tschangscha in der Provinz Hunan - ganz in der Nähe des Geburtsorts des Vorsitzenden Mao - sehen. Inzwischen könnten wir uns ja noch einmal gegenseitig photographieren; am besten dort, wo wir am Nachmittag aufgehört hatten: auf der mondbeschienenen Terrasse über dem Lotusteich im Orchideengarten. Damit der Hintergrund malerischer wirkte, wies sie ihren Leibwächter Hsiao Tschiao an, große Töpfe mit Bambus aufzustellen und für gute Beleuchtung zu sorgen. Wir photographierten uns ungefähr eine Stunde lang gegenseitig.
Zu den Attraktionen des Dokumentarfilms gehörte die »einbalsamierte Prinzessin«, deren poröse Mumie nach mehr als zweitausend Jahren Einbalsamierung ans Tageslicht gebracht worden war. Tschiang Tsching begeisterte sich an diesem Film, der anscheinend unter ihrer Leitung produziert worden war; sie kommentierte seine wissenschaftliche Bedeutung, ohne sich näher auf die starke Betonung, die der Film auf die Politik der proletarischen Archäologie legt, einzulassen.
Beim Film arbeitete Tschiang Tsching nur während der Jahre 1936 und 1937. Mit dieser eher dürftigen Information begann sie ihren Bericht über einen Abschnitt ihres Lebens, über den sie sich gewöhnlich auszuschweigen pflegte. Auf keinen Fall dürfe man diese beiden Jahre gesondert betrachten, warnte sie. Die Leute glaubten immer, sie habe während ihrer ganzen Jugend nichts anderes im Kopf gehabt als den Wunsch, unbedingt berühmt zu werden. Manche Leute hätten sogar behauptet, ihr einziger Ehrgeiz sei es gewesen, mit einundzwanzig ein großer Star zu sein. Wie wenig das der Wahrheit entsprach! Wie bei allem anderen, begann sie auch mit der Schauspielerei von ganz unten und arbeitete sich langsam nach oben. Mit achtzehn hatte sie bereits ein festes Engagement, wenn auch bei sehr niedriger Gage. Wenn Uneingeweihte sie auch offenbar ausschließlich als Schauspielerin betrachtet hatten, so war es doch schon von frühester Jugend an ihr Wunsch gewesen, für die Kommunistische Partei zu arbeiten. Sie blickte mich durchdringend an und stellte fest, daß ihr starkes Engagement für den Kommunismus im Ausland nicht zur Kenntnis genommen worden sei. Das ganze Ausmaß ihres Einsatzes sei bis zu diesem Abend nicht einmal den anderen Teilnehmern an unserem Gespräch bekannt. Bei diesen Worten blickte sie mit rätselhaftem Lächeln in die Runde. In ihren frostigen Worten schwang eine Drohung mit, die durchaus ernst zu nehmen war.
Dann schwieg sie, während ihre Augen jeden einzelnen in der Runde scharf fixierten. Nach einer Weile sprach sie weiter. Viele Jahre lang war sie - auch heute noch - politischen Verfolgungen ausgesetzt, innerhalb und außerhalb der Partei. Mit theatralischem Lächeln warf sie den Kopf zurück, wie um die Spannung, die ihre Worte im Raum erzeugt hatten, aufzulösen. Dann sagte sie: »Schon immer lag meine wahre Stärke darin, Felsen und Steine aus dem Weg zu räumen - darin bin ich ganz groß! Natürlich ist es ruhmreich, für die Revolution zu arbeiten, und sei die Arbeit auch noch so niedrig. Wer seine Aufgabe richtig erfüllt, sollte darüber keine großen Worte verlieren; und wer einen Fehler begangen hat, muß Selbstdisziplin üben.« Nie sei ihr daran gelegen gewesen, eine berühmte Filmschauspielerin zu werden, fuhr sie schnell fort. Aber nachdem sie nun einmal als Schauspielerin bekannt war, traten verschiedene Filmgesellschaften an sie heran und versuchten, sie dazu zu zwingen, Verträge zu unterschreiben. Lu Hsün stand ihr bei. Als bedeutender Autor konnte er es sich leisten, diese Leute zu verurteilen, die die Schauspieler so brutal einschüchterten. Die großen Filmproduzenten (die direkt oder indirekt im Dienste der KMT standen, zum Beispiel über enge Kontakte zu Tschou Yang und Konsorten im Kulturbereich) schlugen jedoch zurück. Sie verleumdeten Lu Hsün und drohten sogar, Tschiang Tsching zu töten. Sie und Lu Hsün waren in ihrer Schanghaier Zeit den gleichen Belästigungen ausgesetzt. Und genau wie sie, litt auch er unter diesen ständigen Angriffen. Sie erhob die Stimme, als sie berichtete, daß alle möglichen Leute und Organisationen - Nationalisten und Kommunisten Komplotts gemacht hätten, um sie zu töten. Außer der Schanghaier Zeitung »Takung pao«[5] hatten sich alle Medien - Rundfunk, Zeitungen und andere einflußreiche Publikationsorgane - gegen sie verschworen. Dabei waren sie heimtückisch und hinterhältig zu Werk gegangen, wie es in der Zeit des Weißen Terrory gang und gäbe war. Sie verbreiteten das Gerücht, daß sie gekidnappt werden sollte. Ja, sie versuchten mit allen Mitteln, sie in den Selbstmord zu treiben. Als Einzelperson konnte sie dagegen nichts unternehmen. Da sie keinen Zugang zu den Medien hatte, konnte sie sich gegen die Angreifer, zu denen auch führehde Leute in den Medien gehörten, nicht wehren. Als ihr klar wurde, wie allein und isoliert sie dastand und wie leicht man ihr Schaden zufügen konnte, lebte sie ständig in Angst und Schrecken. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends, denn ihr Körper besaß nicht mehr die Kraft, sich gegen Krankheiten zur Wehr zu setzen.
Tschiang Tsching hatte diesen Bericht voller Empörung vorgebracht. Ihre Anspielungen und die Einseitigkeit ihrer Informationen werden den Leser, genauso wie damals die kleine Zuhörerschaft, dazu veranlassen, sich zu fragen, wie die historischen Gegebenheiten, auf die sie sich bezog, denn nun in Wirklichkeit ausgesehen haben mögen, und welche Rolle sie selbst denn nun tatsächlich gespielt haben mag. Als sie zusammenfassend über die Position sprach, die sie in den dreißiger Jahren in der Filmindustrie innegehabt hatte, äußerte sie sich zurückhaltend und ausweichend. Schließlich baute sie ihre persönliche Vergangenheit mit Rücksicht auf politische Debatten auf, die die kommunistische Revolution auf ihrem ganzen Weg verfolgt haben, und mit Rücksicht auf Persönlichkeiten, die bis zum Vorabend der Kulturrevolution immense Macht ausübten und die noch immer Anhänger besaßen Schriftsteller und andere Künstler, die zum Schweigen gebracht, in einigen Fällen auch »liquidiert« worden waren. Darüber hinaus konnte sie sich während ihrer Mitwirkung an Filmen, die zwischen 1936 und 1937 gedreht wurden, der Nationalen Verteidigungslinie Wang Mings (die von Tschou Yang und seinen Anhängern unterstützt wurde) wohl kaum so stark widersetzt haben, wie sie jetzt gern wahrhaben wollte; denn die Wang-Ming-Linie beherrschte den Schanghaier Untergrund und die Kommunistische Partei in den Großstädten. Und warum sollte sie jetzt unnötigerweise ins Gericht gehen mit Männern, die sie vor fünfunddreißig Jahren brüskiert hatten, wenn sich die politischen Machtverhältnisse in der Zukunft durchaus so verschieben konnten, daß dann die Nachfolger ihrer damaligen Gegner in einer liberaleren Phase der Kulturpolitik vielleicht auch mit ihr abrechnen würden.
Eins steht jedenfalls fest: Sie legte Wert darauf, daß in den Aufzeichnungen festgehalten wurde, daß sie, auch wenn sie gezwungenermaßen in den dreißiger Jahren eine Art Doppelleben führte - einmal als Kulturarbeiterin im kommunistischen Untergrund und zum anderen als Mitarbeiterin an Reformprogrammen, die von der CVJF gefördert wurden - trotz allem seit eh und je überzeugte Kommunistin gewesen war. Das heißt, daß sie nicht nur mit der Linken kokettierte, um beruflich Vorteile zu haben, und daß es ihr mit dem Anliegen, die Themen des Klassenkampfes in der Kunst auszudrükken, ernster war als Wang Ming, was bedeutete, daß sie eine fast ebenso radikale Position vertrat wie Lu Hsün. Obgleich sie nicht im einzelnen ausführte, auf welche Weise sie »gezwungen« worden war, Verträge zu unterzeichnen (die Androhung von sexueller Mißhandlung kann nicht ausgeschlossen werden), auch nicht angab, für welche Filme sie engagiert wurde, darf angenommen werden, daß es sich bei den Filmen, die sie abzulehnen versuchte, im Prinzip um solche Werke handelte, die den Widerstandskrieg befürworteten, den Klassenkampf jedoch außer acht ließen, oder daß sie überhaupt nichts mit Politik zu tun hatten und nur rein kommerziellen Zwecken dienten.
Als Lu Hsün Schauspielern zu Hilfe kam, die in unpatriotischen, pro-KMT oder »Unterhaltungs«-Filmen eingesetzt wurden, zogen ihn die Anhänger Wang Mings in den Schmutz und drohten Tschiang Tsching, sie umzubringen. Ihr gemeinsamer Feind (nach ihrer Darstellung ein Berührungspunkt zwischen ihr und Lu Hsün) kündigte an, sie zu »kidnappen« - sie festzunehmen und dazu zu zwingen, einen Vertrag zu unterzeichnen, den sie dann auch erfüllen mußte, - wenn sie nicht freiwillig ihre Zustimmung gab. Diese Drohung und die schreckliche Vorstellung, gegen ihre politische Überzeugung handeln zu müssen, trieben sie an den Rand des Selbstmords. Hätte sie sich aus diesem Gewissenskonflikt heraus das Leben genommen (tatsächlich begingen viele Schanghaier Schauspielerinnen Selbstmord, die sich in der gleichen Situation befanden), dann wären ihre »Feinde« dafür nur indirekt verantwortlich gewesen.
Bei Abwägung ihrer Motive dürfen wir nicht vergessen, daß sie sich 1972, zum Zeitpunkt des Interviews, in einer unvergleichlich günstigen Situation befand: Tschiang Kai-schek und sein KMT-Apparat lebten seit über zwanzig Jahren im Exil auf der Insel Taiwan, und ihre alten Feinde von der Linken Tschou Yang, Hsia Yen, Tien Han und Yang Hanscheng - hatte sie selbst sechs Jahre vorher öffentlich diskreditiert und ihre kulturellen Legate zerstören oder beschlagnahmen lassen. Wer hätte also jetzt ihre Anschuldigungen bestätigen oder widerlegen sollen?
Zum Glück hatte sie außer dem Gehalt noch Nebeneinnahmen (wahrscheinlich durch Schauspielen), sagte Tschiang Tsching, als sie mit ihrem Bericht fortfuhr. Aber der größte Teil dieses Geldes wurde für den Unterhalt ihrer »Familie« aufgebraucht. Wer das gewesen sei? »Zwei Genossen und einige andere Freunde«, erwiderte sie ausweichend. Diejenigen, die wußten, wie wenig Geld ihr zum Leben zur Verfügung stand, wunderten sich über einige ihrer Gewohnheiten, vor allem über ihre Vorliebe für teure Restaurants, die doch nur für die Reichen da waren. Was sie allerdings nicht wußten, war, daß sie in diesen feinen Restaurants (warum sie dorthin ging, kann man nur ahnen) nie etwas anderes bestellte als eine Portion gedämpftes Brot, das sie sehr langsam und immer nur in ganz kleinen Stücken kaute. Wenn von dem Geld noch etwas übrigblieb, nachdem sie das Lebensnotwendigste besaß und die Familie versorgt war, kaufte sie alle möglichen Bücher. Viele Stunden verbrachte sie schmökernd in Buchläden. Nachdem die Buchhändler sie besser kannten, vertrauten sie ihr, und wenn sie einmal ein Buch haben wollte, es aber nicht gleich bezahlen konnte, dann schickten sie es ihr einfach zu, und sie bezahlte später.
Zu dieser Zeit hatte fast jeder in Schanghai Geldsorgen. Für viele tausende von Arbeitslosen wurde der Diebstahl zum letzten Ausweg. Ihr wurde mehrmals die Handtasche gestohlen (bei dieser Erinnerung stieß sie ein kurzes Lachen aus). Wenn sie kein Bargeld mehr hatte, blieb ihr nichts anderes übrig als der Weg zum Pfandhaus. Nachdem ihr Gesicht durch Theater und Film bekanntgeworden war, war ihr das ziemlich peinlich. Außer ihrer Armbanduhr und einem Füllfederhalter (Symbole der Zugehörigkeit zur Intelligenzschicht und zur Beamtenschaft sowohl im republikanischen als auch im kommunistischen China) besaß sie nichts, was sich als Pfand geeignet hätte. Einmal, als sie ihre Uhr und den Füller auf den Ladentisch gelegt hatte, sah sie der Pfandleiher scharf an und fragte, wieviel sie dafür wolle. »Fünf Yüan«, sagte sie zu ihm. Ohne zu feilschen und ohne jeden Kommentar händigte er ihr die fünf Yüan aus und nahm dafür Uhr und Federhalter in Verwahrung. Aber so einfach war es nicht immer; dieser Vorfall bewies nur, daß er sie erkannt haben mußte und ihm ihre mißliche Lage leid tat. Spätere Besuche im Pfandhaus verliefen immer problemloser. Um ihre Kreditfähigkeit nicht aufs Spiel zu setzen, brachte sie das Geld stets innerhalb weniger Tage zurück.
Um noch besser zu verdeutlichen, daß sie damals nur aus Geldnot am Ende doch Filmverträge unterschrieben hatte, führte sie noch einige Beispiele aus ihren ersten beiden Schanghaier Jahren an, denen zu entnehmen war, wie dringend sie das Geld gebraucht hatte. Oft hatte sie nicht einmal Geld für die Busfahrkarte. Sie erinnerte sich noch, wie sie einmal mit dem Bus in einen entfernten Stadtteil gefahren war, um dort einer politischen Versammlung beizuwohnen. Es war stockdunkel draußen, als die Versammlung vorbei war. Zwar fuhr noch ein Bus, doch ihr Geld reichte nur noch für einen Fahrschein dritter Klasse - normalerweise fuhr sie erster Klasse. Es waren nur noch ganz hinten Plätze frei, auf denen man die schaukelnden Bewegungen des Wagens besonders stark spürte. Ihr wurde schlecht - schon in ihrer Kindheit hatte sie keine Fahrten im Wagen vertragen. Schließlich mußte sie ein ganzes Stück von ihrer Wohnung entfernt aussteigen, weil sie es einfach nicht mehr aushielt und das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den langen Weg nach Haus zu Fuß zurückzulegen, viele Dutzende li (ein li ist ungefähr ein halber Kilometer). Als sie endlich in ihrem Arbeiterinnenwohnheim angekommen war, hatte sie ganz geschwollene Beine.
Ein anderes Mal befand sie sich gerade im Stadtteil Pei-hsien-tschang, als ein Taifun aufkam und kein Bus mehr fuhr. Es gab nur noch Rikschas, doch der Rikscha-Fahrer verlangte das Geld im voraus, und so viel hatte sie nicht bei sich. Sie mußte den weiten Weg nach Hause zu Fuß gehen. Unterwegs mußte sie sich an einen Baum klamrnern, weil sie der Sturm sonst umgerissen hätte. Große Bäume knickten um, Äste und Zweige brachen ab und wirbelten durch die Luft. Als sie endlich zu Hause war, zitterte sie am ganzen Körper und hatte hohes Fieber. Mit letzter Kraft schleppte sie sich in ihre Bodenkammer, während das Haus, das sie mit einigen Arbeiterstudenten teilte, in allen Fugen ächzte. Und als wäre das alles noch nicht genug gewesen, geriet nun auch das Internat für Arbeiter, an dem sie unterrichtete, in solche Schwierigkeiten, daß sie allesamt hungern mußten. In dieser Zeit gehörte sie einer LaienTheatergesellschaft an, die dreimal wöchentlich vor vollem Haus spielte. Dennoch hatten sie nicht genug Geld, und die Schauspieler mußten in die eigene Tasche greifen, um das Theater am Leben erhalten zu können. Auch sie mußte Geld beisteuern - »genauso wie ein Mann«, bemerkte sie mit einem Anflug feministischen Stolzes.
Damit ich auch genau verstünde, was für ein Mensch sie sei, fuhr Tschiang Tsching ernst fort, müßte ich wissen, daß sie »niemals irgend etwas von einem Mann angenommen« habe. Im alten China bezahlte stets der Mann, wenn er mit einer Frau zusammen ausging. Aber sie ließ das nicht zu. Wenn sie kein Geld hatte, dann sagte sie zu ihrem Begleiter: »Heute zahlst du, aber nächstes Mal bin ich dran.« Einmal beschloß sie spontan, sich die »Kameliendame« mit der Garbo in einem teuren Kino anzusehen. In einer exzentrischen Stimmung zog sie einen Männermantel an und nahm eine Männertasche anstatt eines Damentäschchens mit. Als sie zum Schalter kam, waren die besten Plätze schon weg - es gab nur noch Balkonplätze zu einem Yüan. Für diesen Preis konnte sie sich jedoch den Film von einem der besten Plätze eines zweitrangigen Kinos aus ansehen. Daher zog sie los, um eins zu suchen. Als sie durch die Straßen ging, hatte sie das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden; aber sie wagte nicht, sich umzudrehen. Vor dem Kino begegnete sie einem Freund. Als sie ihre Karte kaufen wollte, mußte sie feststellen, daß ihre Geldbörse verschwunden war - ein Taschendieb mußte sie gestohlen haben, wahrscheinlich die mysteriöse Person, die ihr auf der Straße gefolgt war. Sie war wütend, und außerdem war es ihr peinlich, daß ihr Bekannter glauben könnte, sie habe nur so getan, als wolle sie bezahlen. Aber zugeben, daß man ihr das Geld gestohlen hatte, wollte sie ihm gegenüber auch nicht. Sonst bedauerte er sie noch und glaubte, er müßte ihr helfen. Daher verabschiedete sie sich schnell, winkte einer Rikscha und machte sich auf die Suche nach Freunden, die ihr etwas Geld für das Nötigste borgen konnten. Aber sie konnte niemanden auftreiben und ging schließlich auf eine Bank, wo sie sich zu einem horrenden Zinssatz eine kleine Summe auslieh. Sie schämte sich, zugeben zu müssen, daß sie das Geld erst zurückzahlen konnte, bevor sie nach Jenan ging.
Ihr schlechter Gesundheitszustand deprimierte sie. Die Fieberanfälle wiederholten sich, und schließlich begann sie zu phantasieren. Wenn sie tagsüber ausging, wußte sie vorher nie, welche üblen Verleumdungen sie wieder in den Zeitungen finden würde, oder welche Gerüchte ihr wieder zu Ohren kommen würden. In jenen Tagen hatte sie oft das Gefühl, als »böte sie sich als Gefangene der Massen an«. (Sie erklärte nicht weiter, was sie damit sagen wollte.) Die Massen konnten launenhaft und unberechenbar sein. Einmal konnten sie ihr böse sein, und dann wieder ergriffen sie begeistert ihre Hände oder empfingen sie mit Blumen. Eine Freundin von ihr, Korrespondentin der Zeitung » Ta-kung pao«, wußte von ihrem prekären Zustand -von den Ängsten, in denen sie schwebte, und der anhaltenden Bedrohung ihres Lebens. Sie versuchte sie zu überreden, ihre Lage in der Öffentlichkeit darzustellen - durch Zeitungsartikel. Warum sollte sie sich nicht wehren? Aber Tschiang Tsching lehnte ab. Bald danach traf sie einen Korrespondenten, der in einer anderen Zeitung üble Dinge über sie geschrieben hatte. Großmütig streckte er die Hand aus, um sie zu begrüßen. Außer sich vor Zorn fuhr Tschiang Tsching ihn an: »Sie haben mich in Fettdruck beschimpft!«
1936 geriet sie in eine immer größere persönliche Krise und wollte weg von Schanghai, vor allem nach den Feiern zum Doppelten Zehnten (der 10. Oktober war der nationale Feiertag der chinesischen Republik). Aber da sie bei einer Filmgesellschaft unter Vertrag stand, durfte sie die Stadt nicht verlassen. In dieser Zeit rieten ihr gute Freunde, über die Dinge, die sie quälten, ein paar Artikel zu schreiben. Und da sie wußten, daß sie denselben Vorschlag früher abgelehnt hatte, waren sie erstaunt, als sie es schließlich doch tat. Leider entsprach ihr erster Artikel nicht ganz ihren Intentionen: an der Stelle, an der sie den Ausdruck »japanische Imperialisten« verwendet hatte, änderte der Drucker das Schriftzeichen für Japan derart, daß die Bedeutung verlorenging. Einige andere Freunde ermahnten sie dringend, ihre radikalen Ideen für sich zu behalten. »Damit forderst du deine Verhaftung geradezu heraus«, warnten sie. Aufgebracht erinnerte sie sie daran, daß sie bereits vor zwei Jahren gekidnappt und monatelang eingesperrt gewesen war.
Zu den Artikeln, die sie während dieser Krisenmonate in Schanghai veröffentlichte, gehörte auch einer mit dem Titel »Unser Leben«; er erschien am 25. Mai 1937 in dem linken Magazin »Aufklärung«.[6] Obgleich ihre jugendliche Vorstellung vom Marxismus vielleicht ein wenig naiv gewesen sein mag - sie war damals gerade dreiundzwanzig - war es ihr gelungen, das Dilemma der Schauspieler offen darzulegen. Ihr Glaube an die Möglichkeiten der modernen Theater-Bewegung spiegelte sich in der Haltung einer Schauspielerin wider, die sich gegen die ständige Infragestellung ihrer sozialen Position, ihres beruflichen Könnens und ihrer politischen Einstellung wehrt. Dreißig Jahre später sollte sie ihre Argumente vom Kontrollturm der Kulturrevolution aus fortsetzen, aber damals schrieb sie in »Unser Leben«:
- Das Leben eines Schauspielers ist für die meisten Menschen etwas Unvorstellbares. Oft sagen die Leute neiderfüllt: »Oh, welch ein angenehmes, erstrebenswertes Leben!« Oder irgendeiner, der sich für einen Aristokraten hält, blickt auf uns herab und mokiert sich: »Ach, das sind doch nur ein paar liederliche Schauspieler. « Wieder anderen sind wir, die wir an der neuen Theater-Bewegung mitgewirkt haben, nur ein Dorn im Auge, den man möglichst schnell wieder loswerden möchte. Wir sind gefährlich wie Zündpulver, und die uns vernichten wollen, greifen von allen Seiten an. Heute ist der Imperialismus vielleicht die stärkste Macht; vor allem möchten (die Imperialisten) ihre Welt, so wie sie ist, mit ihren besonderen Privilegien erhalten.
Wie Jagdhunde (eine von Tschiang Tsching immer wieder benutzte Metapher) streifen sie überall herum, stets auf dem Sprung und stets bereit, die neue Theater-Bewegung zu vernichten. In der Internationalen Niederlassung und in der Französischen Konzession stürzen sie sich rücksichtslos auf unsere Darsteller. Wir wissen, daß sie auch in andere Richtungen gierig zuschlagen werden.
Schauspieler und Schauspielerinnen müssen stark sein, körperliche und geistige Stärke besitzen, schrieb Tschiang Tsching im selben Artikel. Sie sind nicht nur zur Unterhaltung da, und sie sind auch kein Spielzeug. In kritischen Zeiten wie dieser müssen sich die Schauspieler ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewußt werden und demgemäß handeln. Sie müssen mit den Autoren und Regisseuren als Gleichgestellte zusammenarbeiten, um ihr Verständnis für soziale Probleme zu vertiefen.
Diese klare und leidenschaftliche Stimme jener Jahre stand in krassem Gegensatz zu ihrem Bericht über die Qualen, die sie als Schauspielerin durchgestanden hatte. »Jetzt wissen Sie, wie Li Yün-ho entstanden ist«, bemerkte sie dunkel. Sie schwieg, fing sich wieder, und von einem Augenblick zum anderen wechselte ihre Stimmung von Verzweiflung zu Entschlossenheit. Nachdem sie aus diesem Alptraum »erwacht« sei, sagte sie, sei sie vom Bild der roten Fahne der Kommunistischen Partei erfüllt gewesen. Sie vertraute darauf, daß China seine eigene rote Fahne besitzen würde, und daß die ganze Welt ihre eigene rote Fahne besitzen würde. (Sie sprach mit Überzeugung, aber klangen diese Sätze nicht auch wie der Schluß einer revolutionären Oper?)
Bald nach Beginn dieses Jahrhunderts begann, gleichzeitig mit dem modernen Drama, die Entwicklung des Films. Die Produktion konzentrierte sich auf Schanghai, obgleich auch in Hongkong und anderen Großstädten Filmstudios entstanden. Angeregt durch die ausländischen Filme, die den Markt überschwemmten, und durch ausländische Investitionen, orientierte sich die chinesische Filmindustrie bis etwa 1925 eindeutig an westlichen Vorbildern: eine bunte Mischung aus Unterhaltung á la Hollywood und sowjetischer Propaganda. Die jungen chinesischen Filmemacher, von denen viele im Ausland ausgebildet waren, ließen sich auch von den hohen technischen und ästhetischen Ansprüchen der Japaner beeinflussen, die weit fortgeschrittener waren als sie selbst. Ganze Serien von Filmen behandelten Themen aus dem konfliktgeladenen städtischen Milieu - Entwicklung politischen Bewußtseins innerhalb der Arbeiterklasse, Ausbildung von Kindern sozial schwacher Schichten, Frauenemanzipation und Frauenrechte, sowie Arbeitslosigkeit.[7] Dabei wurden bei der Darstellung wie auch bei der Ausstattung realistische und naturalistische Mittel eingesetzt, beides Elemente, die die chinesische Tradition nicht kannte.
Trotz der eigenen Fortschritte war die chinesische Filmindustrie vorwiegend ausländischen Einflüssen ausgesetzt. 1936, dem Jahr, in dem Tschiang Tsching ihr Filmdebüt gab, liefen in Schanghai 373 Filme in Erstaufführung, von denen nur 30 nicht in Hollywood entstanden waren. Die chinesischen Filmstudios, die ohnehin nur einen Bruchteil aller gezeigten Filme herstellten, paßten sich dazu auch noch in Inhalt und Stil an Hollywood an.
Ab 1920 wurden in Schanghai chinesische Filmtechniker von amerikanischen Spezialisten ausgebildet; allerdings mußten die meisten bereits nach wenigen Jahren wieder entlassen werden, weil keine finanziellen Mittel mehr da waren. Sie hinterließen nur rudimentär ausgebildetes Personal und technisch veraltete Geräte. Trotz dieses Handikaps, zu dem noch Kapitalknappheit kam, waren Ende der zwanziger Jahre in Schanghai mehrere Filmstudios in Betrieb. Jedes entwickelte einen eigenen Stil und besaß einen eigenen Schauspielerstab.
Von Beginn der dreißiger Jahre an erkannten die Führer der linken Kulturbewegung, vor allem diejenigen, die sich mit dem modernen Drama beschäftigt hatten, welch einzigartiges Potential der Film für Propagandazwecke darstellte, und begannen, sich mit diesem Medium näher zu befassen. Wie beim Theater, so kamen die Zuschauer auch beim Film ohne Lesen und Schreiben aus; außerdem waren Herstellung und Vertrieb von Filmen in jenen Tagen relativ billig. Anfang der dreißiger Jahre gab es zwar noch keine offizielle Liga der Filmemacher, trotzdem wurden die Interessen der radikalen Filmer von einigen führenden Mitgliedern der Liga der Linken Dramatiker gefördert. Zum Beispiel beeinflußten Tien Han, Hsia Yen und Yang Han-scheng sowohl das moderne politische Drama als auch den Film. Nach dem japanischen Angriff auf Schanghai vom 28. Januar 1932 setzte sich Hsia Yen bei der KPCH für die Einrichtung eines Filmbüros in der Untergrundbewegung ein.[8] Immer häufiger wurden Filme zur Verbreitung politischer Meinungen verwendet, und die Filmkritik, die ihre erste Blüte erlebte, diente den Zwecken der Linken. Im Juli 1932 gründete die KPCH ihre eigene Filmzeitschrift, »Filmkunst«, die die Aufgabe hatte, »offenen Kampf und sachliche Kritik«, das heißt, eine ideologisch richtige Filmanalyse zu fördern.[9] Im Februar 1933 gründete die Partei in Schanghai die Chinesische Filmkunst-Vereinigung, um Kinoprodukte im Kampf gegen den Imperialismus gezielt einzusetzen.
Tschiang Tschings Karriere war ebenso von starken Persönlichkeiten bestimmt wie von Politik oder Kunst. Einem von ihnen sind wir schon früher begegnet, nämlich dem Produzenten und Drehbuchautor Hsia Yen, dessen berufliche Laufbahn parallel zu der von Tschiang Tsching verlief. Immer wenn sich ihre Wege kreuzten, kam es zur Auseinandersetzungen. Beide wuchsen mit dem Theater auf - Hsia Yen, der Schriftsteller, schloß sich zunächst der linken Theater-Bewegung an und wandte sich dann dem Film zu. Als Revolutionär der ersten Generation wurde Hsia Yen Mitglied einer marxistischen Gruppe in Hangtschou an und studierte in Japan. 1927 trat er der KPCH bei und 1930 und 1931 gehörte er zu den Mitbegründern der Ligen Linker Schriftsteller und Dramatiker. Im darauffolgenden Jahr begann er, avantgardistische linksgerichtete Filme zu produzieren, zu einem Zeitpunkt, an dem die gesamte Filmindustrie infolge des zunehmenden japanischen Expansionismus sowohl in finanzielle wie auch politische Schwierigkeiten geraten war. Im Sommer 1932 schloß er sich - zusammen mit einigen anderen KPCh-Mitgliedern - der Star Film Company an, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, nicht in allen Filmen romantische, sexuelle und feministische Themen, für die die westlich orientierte Intelligenzschicht eine Vorliebe besaß, zu behandeln, sondern statt dessen Probleme darzustellen, die für die Masse der chinesischen Bevölkerung relevant waren. Es war Hsia Yen, der marxistische Themen wie den Klassenkampf in den chinesischen Film einführte.[10]
Angesichts ihrer gegenseitigen Abneigung, die sich später zu offener Feindschaft entwickelte, ist es geradezu ein ironischer Zufall, daß Hsia Yen dasselbe Milieu, in dem Tschiang Tsching der aufreibenden Tätigkeit nachging, Arbeiterinnen zu unterrichten und die Arbeitsbedingungen in den Schanghaier Fabriken zu untersuchen, als proletarische Kulisse für seine realistischen und naturalistischen politischen Filme verwendete. Sein »Aufschrei der Frauen« beispielsweise deckte die entsetzlichen Verhältnisse in der Textilindustrie auf. [11]
Um der historischen Situation Rechnung zu tragen, produzierten die Star Film Company und andere Studios Filme, die die moralische Korruption der KMT und die Ungewißheit über den weiteren Verlauf des Widerstandskrieges behandelten. Diese Offenheit brachte ihnen unvermeidlich einen Platz im gleichen Anti-Regierungslager ein, dem auch die Dissidenten unter den Journalisten, Schriftstellern und Verlegern angehörten, und sie wurden auch auf die gleiche Art und Weise bestraft. Die Gestapo-ähnliche Vereinigung der Blauhemden, das Komitee zur Vernichtung des Kommunismus und andere Geheimorganisationen drangen von Zeit zu Zeit in die Filmstudios ein und machten sie kurzerhand dicht, genauso wie Verlage, Buchläden, Kulturinstitutionen, Schulen und Universitäten.[12] Im November 1932 mußte das relativ konservative Hua Filmstudio den Blauhemden als Sündenbock herhalten - als Warnung an alle, den Weg der reinen Unterhaltung oder der politischen Orthodoxie nicht zu verlassen.[13] Die meist linken Mitglieder der stillgelegten Studios fanden in anderen Filmgesellschaften Aufnahme und setzten dort ihre Arbeit fort. Daraufhin schleuste die Regierung in die restlichen Studios Agenten und Gegenagenten ein, um gar nicht erst irgendeine Art politischer Unabhängigkeit aufkommen zu lassen. Als linke Künstler getarnte Agenten manipulierten entsprechend dem Interesse der KW Drehbücher, Kinoprogramme und Werbeanzeigen. Um der öffentlichen Diskussion über die politischen Inhalte der einzelnen Filme allmählich ein Ende zu bereiten, wurden Filmbeilagen in Tages- und Wochenzeitschriften sowie unabhängige Filmjournale sporadisch zensiert oder durch Behördenbeschluß verboten.
1934 war das letzte Jahr, in dem die linken Filmemacher offen gegen die nationalistische Regierung opponierten. Im darauffolgenden Jahr wurde der Ruf nach einer Einheitsfront aller rivalisierenden politischen Gruppen laut, und die Gründung von Vereinigungen zur Rettung des Vaterlandes an ihrer Stelle bedeutete, daß Kontroversen mit Rücksicht auf die Überlebenschancen aller beigelegt werden mußten. Aber diese Vereinigungen zur Rettung des Vaterlandes besaßen durchaus einen eigenen politischen Standort. Wenn sie Regierungsakte kritisierten, die auf eine kompromißbereite Haltung gegenüber den Japanern schließen ließen, mußten sie damit rechnen, daß die Regierung mit Repressionen darauf reagierte. Immer mehr ging die KMT jetzt dazu über, auf breit angelegte Angriffe gegen oppositionelle Institutionen zu verzichten und statt dessen bestimmte Personen zu diffamieren. Die meisten Zeitungen und Zeitschriften wurden von KMT-Leuten kontrolliert, die die Macht besaßen, verleumderische Kampagnen gegen Schriftsteller und Künstler zu starten, indem sie öffentlich auf »dunkle« Stellen in deren Privatleben hinwiesen und ihre politischen Ideen verurteilten. In der Gesellschaft von Schanghai mit ihren ungleich verteilten Rechten und Freiheiten waren Frauen diesen demütigenden Kampagnen stärker ausgesetzt als Männer. Insbesondere künstlerisch tätige Frauen, allen voran die Schauspielerinnen, deren soziales Prestige keineswegs dem Glanz und Ruhm, der sie umgab, entsprach, konnten durch Manipulation der öffentlichen Meinung bis zum Selbstmord getrieben werden.
Der Weiße Terror, den die nationalistische Regierung ab 1935 systematisch betrieb, führte in der Filmindustrie wie auch in anderen Bereichen der Kunst zu einschneidenden Veränderungen. In den zurückliegenden Jahren war der Film ein beliebtes Ausdrucksmittel für soziales und politisches Bewußtsein gewesen. Ideologische Meinungen wurden geradeheraus vertreten; soziale Mißstände und deren revolutionäre Lösung wurden unmißverständlich dargestellt. Als jedoch die KMT 1935 offiziell für eine Politik der Einheitsfront eintrat, wurde es zu gefährlich, sich Regierungsrepressalien auszusetzen, so daß die anti-nationalistischen Filmemacher gezwungen waren, sich subtilerer Mittel der Charakterisierung zu bedienen und politische Aussagen auf indirektem Wege zu vermitteln. Vom künstlerischen Standpunkt aus war das natürlich zu begrüßen; allerdings wurde diese Ausdrucksform Ende der vierziger Jahre wieder abgeschafft, als die Filmindustrie in kommunistische Regie genommen wurde und politische Aussagen wieder direkt vermittelt wurden. Während der Kulturrevolution setzte sich dieser Stil dann vollends durch. 1935 befleißigten sich die Filmer jedoch nicht nur indirekterer Methoden zur Vermittlung politischer Inhalte, sondern sie waren auch gezwungen, sich bei der Rollenbesetzung ziemlich komplizierter Taktiken zu bedienen. Aus Sicherheitsgründen wurden mit den Schauspielern jetzt Einzelverträge abgeschlossen, nicht wie früher mit ganzen Gruppen. Wie uns Tschiang Tsching verriet, gehörte sie zu denen, die von den Filmproduzenten Angebote bekamen, wobei man sie manchmal auch unter Druck setzte und zum Abschluß von Verträgen zwang, die, im nachhinein betrachtet, politischen und somit auch persönlichen Schaden anrichteten.
Tschiang Tschings Filmkarriere begann zu einem Zeitpunkt, der für die moderne Kulturgeschichte Chinas von höchster Bedeutung war. Linke Regisseure, die von der Regierung in den Untergrund getrieben worden waren, griffen jedes Schauspielertalent, dessen sie habhaft werden konnten, auf; sie erfanden Namen und Leitbilder, die auf neue Rollen zugeschnitten waren. So erging es auch Tschiang Tsching, die unter Pseudonym für die United Photoplay (Lien Hua)-Filmgesellschaft arbeitete. Bis dahin war sie irn politischen Untergrund und auf der Bühne als Li Yün-ho oder unter Teilen dieses Namens bekannt. Sie wies darauf hin, daß Li zu ihrem Familiennamen gehörte, den sie auf diese Weise weiterführte. Als sie ihren ersten Vertrag unterschrieb, riet ihr ein führendes Mitglied der Liga Linker Dramatiker - ein Mann, den sie bewunderte, aber nicht namentlich nannte einen neuen Namen anzunehmen, und zwar einen, der sie nicht mit dem Nachnamen Li in Zusammenhang brachte, der in politischen Kreisen berüchtigt war (sie ging nicht näher darauf ein). Und so wählte sie Lan Ping als ihr Filmpseudonym. Die Gründe waren persönlicher Art. Lan, wörtlich »blau«, wählte sie, weil sie blaue Kleidung in allen Schattierungen bevorzugt - dunkelblau, hellblau und auch blaugrau. Und weil sie in Kürze von Schanghai nach Peiping gehen würde (Peiping heißt wörtlich »nördlicher Friede« und war die damalige Bezeichnung für Peking), wählte sie das Zeichen für ping, also »Friede«, als zweiten Teil ihres Namens. Lan Ping heißt somit Blauer Friede.
Aber nachdem sie den Filmvertrag mit der United Photoplay unterschrieben hatte, beschloß das nämliche Mitglied der Liga Linker Dramatiker, das zweite Zeichen ihres Namens von ping, »Friede«, in ein anderes, auffälligeres umzuändern, das zwar auch wie ping ausgesprochen wird, sich aber anders schreibt und »Apfel« bedeutet. Er hielt diese Bedeutung im Zusammenhang mit Filmen für effektvoller. Sie behielt ping in der Bedeutung von Apfel bei, und seitdem war sie als die Filmschauspielerin Lan Ping Blauer Apfel - bekannt.[14] An dem Mann, der ihre Namensänderung veranlaßt hatte, übte Tien Han später Verrat, fügte sie scharf hinzu. Unter dem Weißen Terror bestand für Künstler unablässig die Gefahr, daß ihre »Kooperation« mit verschiedenen Gruppen gegen den ausländischen Imperialismus als »Kollaboration« mit chinesischen Repräsentanten des ausländischen Feindes ausgelegt werden konnte. Im Unterschied zum Schauspiel, dessen Aufführung die Darsteller immer selbst unter Kontrolle hatten, gelangte der Film, nachdem er abgedreht war, zu den Redakteuren und Zensoren, die damit tun und lassen konnten, was ihnen beliebte. Als ich sie bat, mir einige Beispiele zu nennen, erwiderte Tschiang Tsching zurückhaltend, daß sie eigentlich nicht darauf vorbereitet sei, daß sie aber trotzdem etwas sagen wolle.
»Anfang der dreißiger Jahre standen uns die Filmstudios sehr nahe, denn wenn eine Nation in Gefahr ist, unterdrückt zu werden, finden dekadente und obszöne Filme keinen Markt. Das Volk forderte Demokratie und wollte gegen die Japaner kämpfen. Damals stammten siebzig Prozent aller vorgeführten Filme aus Amerika. Die Eintrittskarten waren so teuer, daß die Arbeiter sich keinen Kinobesuch leisten konnten. In Schanghai wurden einige relativ demokratische Filme produziert, die sich mehr oder weniger engagiert mit den Problemen der Masse auseinandersetzten oder anti-imperialistische Themen aufgriffen. Aber die Filmregisseure wagten es nicht, sich offen zu äußern. Sie wußten, daß man sie sonst kidnappen würde, so wie ich gekidnappt und von der Kuomintang mehrere Monate lang gefangen gehalten wurde.«
Weitere Einzelheiten, die Tschiang Tsching nicht erwähnte, können den dokumentarischen Aufzeichnungen entnommen werden. Im Oktober 1934 wurde Hsia Yen auf Betreiben des konservativen Flügels der Star-Studios entlassen, weil seine zweijährige Tätigkeit als »subversiver« Filmregisseur verurteilt wurde. Daraufhin trat er der linken Fraktion der United Photoplay bei, festigte seine Beziehung zu dem im Untergrund arbeitenden KPCH-Filmbüro und setzte die Produktion seiner progressiven Filme fort.[15] Die United Photoplay wurde 1929 gegründet. Ausländische und chinesische Geldgeber, darunter auch einige Kriegsherren, hatten beschlossen, auf gewinnträchtige Klischees zu verzichten z. B. auf Geister und fahrende Ritter, die auch heute noch in Form von Heftchen, im Fernsehen und in Filmserien bei den Auslandschinesen Anhänger finden. Die ersten Produktionen der United Pholoplay beschäftigten sich mit den intellektuellen und moralischen Problemen ihrer führenden Mitglieder, die sich während der liberalen und kosmopolitischen Bewegung des 4. Mai emanzipiert hatten: Aufstand gegen das alte Familiensystem, »moderne« Liebe und Ehe und Konflikte zwischen romantischer Liebe und sozialer Verantwortung.
Dann zwangen die tragischen Kriegsereignisse Anfang der dreißiger Jahre die United Photoplay, diese sentimentalen Themen fallenzulassen und statt dessen Filme mit kaum verhüllten politischen Aussagen zu produzieren. In ihrem Bemühen um politische Immunität gingen sie sogar noch weiter und schufen Filme, deren Handlung und Gestalten allegorische Bedeutung hatten. Zu dieser kritischen Zeit wurde Tschiang Tsching von der United Photoplay engagiert.
Von einer Position der Stärke aus - nachdem die kulturrevolutionäre Abrechnung stattgefunden hatte - stellte sie fest: »Mitte der dreißiger Jahre haben die Vier Bösewichte (Tschou Yang, Yang Han-scheng, Hsia Yen und Tien Hanj, die ihren Namen von Lu Hsün erhielten, die Revolution verraten, und es wurden keine guten Filme mehr gedreht. Zu dieser Zeit wurde ich von einer Filmgesellschaft unter Vertrag genommen. Ich war bestimmt keine große Schauspielerin, aber den neuen war ich weit überlegen. Ich konnte Basisarbeit leisten und als (Schauspiel-)Regisseur mit den Werktätigen arbeiten. Natürlich studierten (proletarische Künstler) auch selbst Stücke ein und traten als Schauspieler auf. Ich ging auch in die Schulen. Solche Sachen habe ich viel gemacht.«
Tschiang Tsching hatte wiederholt ihre Bühnenrollen erwähnt, aber nie ihre Filmrollen, auch nicht, wenn ich sie direkt darauf ansprach, was ich mehrmals getan habe. Dafür gab es mehrere Gründe, die teilweise nicht schwer zu erraten sind. Einmal wollte sie prinzipiell die Filme aus dieser Zeit - Ende der dreißiger Jahre - unterschlagen; außerdem hatte sie aber auch persönliche Gründe. Mehr als einmal sagte sie, sie wolle nicht, daß ihre Rolle als Filmstar in den Vordergrund gespielt würde. Ganz gewiß wollte sie auch nicht riskieren, daß Ausländer plötzlich versuchten, alte Filme mit ihr aus der Versenkung zu holen, um damit das Programm ganzer Filmfestivals zu bestreiten. Jahrelang war das Gerücht umgegangen, daß Mao nach seiner Heirat mit Tschiang Tsching alle Filme, in denen sie mitgewirkt hatte, habe vernichten lassen. Aber angesichts der historischen Tatsache, daß sein Regime private Filmstudios und Filmarchive erst Anfang 1950 enteignete, ist das unwahrscheinlich - denn bis dahin waren die Kopien der meisten kommerziellen Filme bereits nach Hongkong und in chinesische Niederlassungen in Übersee gelangt. Es ist jedoch dokumentarisch belegt, daß Bücher, die nach 1950 erschienen sind und die Tschiang Tsching als Darstellerin bestimmter Rollen aufführen, Anfang der sechziger Jahre verboten wurden und daß ihre Autoren wegen einer Anzahl von Vergehen - vor allem wegen ihrer politischen Einstellung, die nicht mit der orthodoxen Richtung übereinstimmte, die Mao zu Beginn der Kulturrevolution offiziell eingeführt hatte - aufs lieftigste kritisiert wurden.[16] Der wichtigste Beweggrund für die spärlichen Informationen über ihre Filmkarriere ist vielleicht der, daß die Filme, in denen sie mitspielte, während der Ära der Einheitsfront produziert wurden, während der die Filmteams gezwungen waren, für die Linie der Nationalen Verteidigung im Sinne einer Kooperation mit der KMT gegen den ausländischen Feind einzutreten; denn nicht alle Beteiligten unterstützten gleichzeitig auch den proletarischen Klassenkampf, zu dem sich Tschiang Tsching später bekannte. Die filmische Aufbereitung der Linie der Nationalen Verteidigung bot sich natürlich später für verschiedene retrospektive politische Interpretationen an, vor allem auf Kosten der wachsenden Zahl von Mao-Feinden in anderen Bereichen.
Als Chinas beste moderne Schriftsteller, allen voran die Dramatiker, damit begannen, Filmdrehbücher zu schreiben, die versprachen, den Film zum populärsten aller Medien zu machen, wurden auch junge Bühnentalente zum Film geholt. Zu den erfolgreichsten Filmstars, die vom Theater abgewandert waren, gehörten Pai Yang und Tschao Tan, die manchmal auch als die Garbo und der Gable Chinas bezeichnet wurden. Diese beiden Namen, die in jenen Tagen ganz zweifellos mehr Ausstrahlung besaßen als ihr eigener, hat Tschiang Tsching nie erwähnt. Aber wie sie sagte, war sie selbst auch nur aufgrund ihrer Theatererfolge zum Film gekommen.
Tschiang Tschings Filmkarriere muß im Zusammenhang mit der Politik der Einheitsfront gesehen werden, die im Sommer 1935 ins Leben gerufen wurde. Die Forderung nach Überparteilichkeit in den Vereinigungen zur Rettung des, Vaterlandes, die die Nachfolge der Linken Ligen antreten sollten, verbot allen Schriftstellern und Künstlern, auf Kosten des nationalen Interesses für parteiliche Belange einzutreten oder die Heuchelei der KMT-Regierung und die Fruchtlosigkeit ihrer halbherzigen Bemühungen, die Herrschaft der Japaner zu beseitigen, offen anzuprangern. Danach konnten kritische Aussagen im Film nur noch mit indirekten Stilmitteln ausgedrückt werden. Tschiang Tschings erster Film, »Blut auf dem Wolfsberg«, ist ein gutes Beispiel für die Technik, mittels allegorischer Darstellung politische Inhalte zu vermitteln.
Die Originalgeschichte »Kalter Mond und Wolfsatem« stammte von Sehen Fu, einem Mann, der einer Arbeiterfamilie entstammte und 1933 zur United Photoplay gestoßen war, als politische Schriftsteller und Filmer noch größere Freiheiten besaßen als nach 1935. Die Geschichte wurde von Schen Fu und dem hervorragenden Drehbuchautor Fei Mu zu einem Drehbuch umgeschrieben und unter der Regie von Fei Mu und dem berühmten Tschou Ta-ming, mit dem sich Tschiang Tsching später anfreundete, gedreht.
Oberflächlich betrachtet ist »Blut auf dem Wolfsberg« nur eine aufregende Geschichte über ein Wolfsrudel, das in ein Dorf einbricht, die Einwohner dutzendweise verschlingt und Panik und Schrecken verbreitet. Zuschauer, die mit der äsopischen Sprache dieses Jahrzehnts vertraut waren, erkannten zweifellos die Wölfe als Symbol für die Japaner. Die Dorfbewohner reagieren unterschiedlich auf die Angreifer. Die Heldin des Films, Kleine Jade, und ihr Vater sind auf Rache aus. Tschao Erh, ein abergläubischer Teehausbesitzer, glaubt, daß Wölfe von Berggeistern beherrscht werden und daher nicht vernichtet werden können; die einzige Möglichkeit, ihnen zu entkommen, ist, sie mit einem Zauberspruch zu bannen. Lao Tschang kennt keine Furcht. Allein zieht er auf die Wolfsjagd. Liu San und seine Frau (dargestellt von Lan Ping alias Tschiang Tsching) haben vor den Wölfen entsetzliche Angst (nicht nur im Film). Als Kleine Jade, ihr Vater und der mutige Lao Tschang auf die Wolfsjagd gehen, werden sie von Hundefängern begleitet, die einen toten Wolf mitschleppen, um die bösen Geister zu verjagen. Der Vater, der unbewaffnet ist, wird auf der Stelle von einem Wolf verschlungen. In der gleichen Nacht fällt das Wolfsrudel erneut in das Dorf ein und tötet den Sohn von Liu San und seiner Frau. Dieses Unglück führt zum offenen Widerstand. Während das Wolfsrudel am hellichten Tage durch die Straßen zieht, mobilisieren Kleine Jade, Lao Tschang und Liu San die Bauern zur Verteidigung des Dorfes. Liu Sans Frau (Tschiang Tsching), die früher vor den Wölfen Angst hatte, schlägt sich nun mutig auf die Seite derer, die die Wölfe bekämpfen. Die brennenden Fackeln hoch erhoben, singen die Dorfbewohner das »Tötet-den-Wolf-Lied« und ziehen in die Schlacht:
Ob wir leben oder sterben, wir kämpfen
gegen die Wölfe und schützen unser Dorf.
Das Blut unserer Brüder ist wie ein Meer,
die toten Leiber unserer Schwestern sind wie Eis!
Und sind die Wölfe noch so gefräßig, wir weichen nicht.
Wir vernichten die Wölfe,
denn ohne Heim können wir nicht leben.[17]
Wie alle Filme, die in den dreißiger Jahren unter der nationalistischen Regierung entstanden, wurde »Blut auf dem Wolfsberg« mehrfach zensiert, bevor der Film freigegeben wurde. Gemäß den KMT-Bestimmungen mußten zuerst der Entwurf des Drehbuchs, danach das fertige Drehbuch und die Dialoge und am Ende der ganze Film von der Zentralen Filmzensur genehmigt werden. Dann sah sich der von Ausländern kontrollierte Schanghaier Stadtrat den Film an, um Szenen herauszunehmen, an denen die Japaner Anstoß nehmen konnten. Und schließlich und endlich besaß das japanische Konsulat sogar selbst das Recht, Filme zu überprüfen, die im Verdacht standen, imperialistische Privilegien in Frage zu stellen. Obgleich die Zensoren des Schanghaier Stadtrats ahnten, wen die Wölfe in »Blut auf dem Wolfsberg« verkörperten, gab das japanische Konsulat den Film frei - vielleicht nur, weil es eine derartige Verleumdung einfach nicht wahrhaben wollte.[18]
In der gespaltenen politischen Szenerie von damals mußte der Film heftige Kontroversen herausfordern. Verteidiger von Ruhe und Ordnung, die diskret die Japaner unterstützten, griffen die durchsichtige Allegorie an. Linke Kritiker, die die Kollaboration der KNIT mit dem ausländischen Feind mißbilligten, priesen den geschickten Einfall, das Thema des Widerstands auf diese Weise zu behandeln. Wichtige Fürsprecher waren etwa dreißig radikale Kritiker des Kunstvereins, einer relativ neuen KPCh-Geheimorganisation.[19] Zu den Mitgliedern des Kunstvereins gehörten verschiedene Bekannte von Tschiang Tsching: ihr zurückgewiesener Verehrer Tschang Keng; die Filmproduzenten Tschen Po-tschi, Tsai Tschuscheng und Li Sze-, sowie der Schauspieler und Filmkritiker Tang Na (alias Ma TschiIiang), mit dem sie Gerüchten zufolge sogar verheiratet gewesen sein soll. Diese Leute begeisterten sich für die darstellerische Leistung Tschiangs Tschings in Filmen, die der von Tschou Yang unterstützten Wang-Ming-Linie der Nationalen Verteidigung dienten. Wie hätten sie ahnen können, daß sie damit Tschiang Tsching, die ins Hinterland geflohen war und sich Mao, dem Rivalen Wang Mings, zugewandt hatte, ernsthaft komprimittieren würden?
Die Wortführer der aufstrebenden Schanghaier Bourgeoisie kümmerte es weniger, ob die Japaner irritiert waren oder nicht; sie fanden den Film in seiner optischen Anspruchslosigkeit einfach langweilig. Sie waren den Kinosex der sogenannten »weichen« Filme gewöhnt, sie vermißten verführerische Blicke aus Frauenaugen, üppiges Fleisch und breite Schenkel, und wollten mehr Busen und aufreizendes Make-up sehen.
Obgleich der Film offiziell genehmigt war, wurde er im Herbst 1936 von der KMT-Polizei und der Polizei der Internationalen Niederlassung verboten. Dadurch sah sich der Kunstverein zu einem internationalen Aufruf veranlaßt: Stückeschreiber und Filmemacher sollten von politischer Bevormundung befreit werden. [20]
Nur wenige Historiker der Volksrepublik haben es gewagt, auf Tschiang Tschings Rolle in diesem Film einzugehen. Tscheng Tschi-hua tat es dennoch, wenn auch mit der nötigen Zurückhaltung. Es überrascht nicht, daß er ein Opfer der Kulturrevolution wurde. Seine enzyklopädische Geschichte des chinesischen Films enthielt auch eine Zusammenfassung von »Blut auf dem Wolfsberg«, und sein Kommentar bezog sich einzig auf Lan Pings Darstellung. Er lobte ihre Darstellung einer einfachen Bäuerin, deren politisches Bewußtsein durch die brutale Erfahrung, ihr Kind an die Wölfe verloren zu haben, geweckt wurde. Ihre darstellerische Leistung sei vom Volk genauso positiv aufgenommen worden wie von den Kritikern, stellte er fest.[21]
»Wang Lao-wu«, der zweite Film der United Photoplay, in dem Lan Ping auftrat, setzte Themen über soziale Ausbeutung und nationalen Widerstand auf direktere Weise um. Er spielte in den Slums und wurde von dem berühmten Tsai Tschu-scheng, einem Mitglied des Kunstvereins, inszeniert. Um sich auf den Film, der das Leben auf den Hausbooten der Schanghaier Flußmündung authentisch darstellen sollte, vorzubereiten, stellte er umfassende Recherchen an. (Dieser künstlerische Pragmatismus wurde später unter dem kommunistischen Regime übernommen.)
Die Geschichte, die nach diesen Recherchen entwickelt wurde, handelt von Wang Lao-wu, einem verannten fünfunddreißigjährigen Junggesellen, der das »gute Gewissen« des arbeitenden Volkes besitzt, dessen politisches Bewußtsein aber nicht sehr stark ausgeprägt ist. Er verliebt sich in eine Näherin (gespielt von Lan Ping, alias Tschiang Tsching), die aber seine Liebe nicht erwidert. Als ihr Vater stirbt, beweist er ihr sein Mitgefühl; aus Dankbarkeit heiratet sie ihn. Sie bekommen vier Kinder und wohnen in einer der für Schanghai typischen Hütten. Ihre armselige Existenz deprimiert ihn allmählich so sehr, daß er zum Trinker wird. Nach dem japanischen Angriff auf Schanghai im Jahre 1932 wird sein Zustand immer schlimmer, die Familie sinkt in immer größeres Elend.
Der Vorarbeiter (der unmißverständlich als Feind der Arbeiter charakterisiert ist) will Wang Lao-wu zu seinem persönlichen Vorteil ausnutzen. Heimlich rät er ihm, zwischen den Arbeiterhütten ein Feuer zu legen. Normalerweise tut Wang Lao-wu das, was man ihm aufträgt, aber diesmal befiehlt ihm sein Instinkt, sich zu widersetzen, dem Vorarbeiter die Stirn zu bieten und ihn in aller Öffentlichkeit als Verräter anzuprangern. Außer sich vor Wut, rächt sich der Vorarbeiter, indem er Wangs Hütte in ein Flammenmeer verwandelt, aus dem sich Frau und Kinder mit knapper Not retten können. Dann stachelt er die Leute gegen Wang auf, und stellt ihn als den »Verräter« hin, »der sterben muß«. Weinend fleht seine Frau die Leute an, ihn nicht zu bestrafen; er will gut sein, erklärt sie, er weiß nur nicht, wie er es anstellen soll. Inzwischen hat das Feuer, das von dem verräterischen Vorarbeiter gelegt wurde, die Flugzeuge des Feindes auf den Plan gerufen. Das Dorf wird bombardiert, und von allen Seiten nähern sich die Japaner. Im letzten Bild beugt sich Wangs Frau über den Leichnam ihres Mannes. Inmitten von Sterbenden und Wehklagenden hebt sie stolz den Kopf und verdammt alle ausländischen Feinde und chinesischen Verräter.[22]
Trotz der eklatanten Melodramatik hatte der Film bei den Kritikern immerhin soviel Erfolg, daß Lan Ping durch ihn Filmruhm erlangte. Als der Film im Juni 1937 abgedreht war, schrieben die Zeitungen über Lan Pings Auftritte in der Öffentlichkeit und über ihre persönlichen Ansichten zu diversen Fragen.[23] Dieser gesellschaftliche Glanz wirkte vor dem Hintergrund der tragischen Situation des Volkes befremdlich. Noch bevor der Film freigegeben war, wurde Tschiang Kai-schek im Dezember 1936 in Sian, in der nordwestlichen Provinz Schensi, gefangengenommen. Als er mit dem Tode bedroht wurde, verpflichtete er sich dazu, wirksamen nationalen Widerstand zu leisten und die Politik der Einheitsfront zu unterstützen. In den folgenden Monaten sollte das Territorium, das er zu beherrschen vorgab, in den gemeinsamen Kampf einbezogen werden. Wie unter jedem chinesischen Regime der Vergangenheit oder der Gegenwart, ob es nun nationalistisch oder kommunistisch war, mußte sich die Kultur an die Regierungspolitik anpassen. Der Film » Wang Lao-wu« wurde zu einem schwierigen Fall. Da der verräterische Vorarbeiter als Verkörperung der nationalistischen Regierung gedeutet und somit in dieser Figur die unaufrichtige Haltung der KMT zum Widerstand aufgedeckt werden konnte, wurde der Film beschlagnahmt; er wurde erst im April 1938 wieder freigegeben. Bis dahin hatte sich die gesamte politische Szene verändert. Die japanische Invasion in Schanghai war zur Realität geworden, und Hunderttausende, darunter Tschiang Tsching, wurden dadurch ins Exil getrieben.
Um alles zu beseitigen, woran die Japaner Anstoß nehmen konnten, schnitten die KMT-Zensoren diejenigen Passagen des Films, in denen Wang Lao-wu den Japanern Widerstand leistet, das heißt, in denen er sich weigert, mit dem verräterischen Vorarbeiter zu kollaborieren. Dadurch wurde nicht nur das künstlerische Gesamtbild des Filmes zerstört, sondern, weit wichtiger, die Aussage dahingehend umgeändert, daß der japanische Expansionismus befürwortet wurde.[24] So kam es, daß Lan Ping, die Revolutionärin Tschiang Tsching, in einem Film auftrat, der durch ein paar Schnitte soweit verändert wurde, daß er zur Kollaboration mit den Japanern aufzufordern schien.
Wie Tschiang Tsching nach dreißig Jahren rückblickend feststellte, war sie dagegen machtlos - und es gab nichts, womit sie den Schaden, den ihr Ansehen gelitten hatte, wieder gutmachen konnte. Wie alle anderen war sie den unberechenbaren Folgen drastischer politischer Veränderungen machtlos ausgeliefert. Aus dieser bitteren Erfahrung lernte sie eine der wichtigsten Lektionen ihres Lebens: wenn man nicht das Opfer sein will, muß man selbst die Macht erlangen.
Als Filmschauspielerin erfuhr Tschiang Tsching am eigenen Leib die Abhängigkeit des Künstlers von den jeweils herrschenden Verhältnissen. Zugleich machte sie die Erfahrung, daß die Welt des Films einem ständigen Wandel unterworfen war. So wie nationale Katastrophen in den dreißiger Jahren dem Prinzip »Kunst um der Kunst willen« ein Ende bereitet hatten, so mußte auch der »Film um des Filmes willen« politischem Druck weichen. Diese gewissenhafte Annäherung von Kunst und Realität veranlaßte einige Autoren, allgemeine soziale und politische Fragen mit Hilfe des cinema à clef zu erforschen. Tschiang Tsching machte auf einen solchen Fall aufmerksam, wodurch sie gleichzeitig zwischen ihrem eigenen und dem Leben des unglücklichen Stars Yüan Ling-yü eine Parallele zog.
Neben dem Drehbuchautor Hsia Yen, über den sich Tschiang Tsching kurz und abwertend aussprach,[25] gab es noch zwei weitere angesehene Autoren, nämlich Lu Hsün und Tien Han, die ebenfalls Filmdrehbücher für die United Photoplay schrieben, bei der sie unter Vertrag stand. Ihrer Ansicht nach konnte Lu Hsün keinen Schaden anrichten, aber bei Tien Han war das etwas anderes. Da sie durch persönliche Ressentiments ihm gegenüber bei ihrer Rückschau auf seine Vergangenheit etwas voreingenommen war, sollte seine kurze aber erfolgreiche Filmkarriere doch noch zusätzliche Erwähnung finden.
Das künstlerische Potential des Films faszinierte Tien Han bereits Mitte der zwanziger Jahre, als bei den chinesischen Intellektuellen noch der europäische Romantizismus und der japanische Ästhetizismus in Mode waren. »Zelluloidträume« nannte er Filme. »Wein, Musik und Film sind die drei bedeutendsten Schöpfungen des Menschen.« 1926 gründete er das Südchinesische Filmtheater, einen Ableger der richtungweisenden Südchinesischen Schauspielgesellschaft, deren Initiator er gewesen war. Nach seiner Zuwendung zum Marxismus im Jahre 1931 verwarf er den Gedanken der »Zelluloidträume« als kapitalistisches Ideengut [26] Mit seiner Hinwendung zur Linken begann er, das große Publikum mehr zu berücksichtigen, und schrieb Drehbücher, die den sozialen Wandel in den Städten zum Inhalt hatten. Zu seinen besten Filmen gehört »Drei moderne Mädchen«, dessen Drehbuch er unter dem Pseudonym Tien Han geschrieben hatte und der 1933 von der United Photoplay produziert wurde. Der Star dieses politischen Melodramas war Yüan Ling-yü, die von manchen Kritikern mit der Garbo verglichen wurde (für die Chinesen war die Garbo die Filmgöttin des Westens). Und auch Yüan Ling-yü wurde ein populäres Kultobjekt ihrer Ära .[27]
Auf dem Gipfel ihrer Filmkarriere spielte Yüan Ling-yü in einem weiteren sensationellen Film, »Die neue Frau«, mit, der den Feminismus, die Linke und die politischen Verfolgungen zum Thema hatte. Auch dieser Film wurde von der United Photoplay produziert; Regisseure waren Tsai Tschu-scheng und Tschou Ta-ming (der einmal mit Yüan Ling-yü verheiratet war), die die Hauptrolle ebensogut Tschiang Tsching hätten geben können. Die eindrucksvolle Begleitmusik zu diesem Beispiel für das cinema à clef stammte von Nie Erh (der fünf Jahre später in Jenan die Kantate »Der Gelbe Fluß« schrieb, die Tschiang Tsching später der Kulturrevolution anpaßte).[28] Es handelte sich um die fiktive Rekonstruktion des Lebens von Ai Hsia, einer Schauspielerin, die im Februar 1934 Selbstmord begangen hatte. Im Film ist Ai Hsia eine Schriftstellerin. Weil ihr Roman ein Mißerfolg ist, kann sie ihre kleine Tochter nicht mehr ernähren, verfällt in Depressionen und sieht keinen anderen Ausweg mehr als den Selbstmord. Im letzten Augenblick wird sie jedoch entdeckt und mehr tot als lebendig in ein Krankenhaus gebracht. Alle Bemühungen, sie zu retten, sind vergebens; bevor sie stirbt, hört sie durch das geöffnete Fenster einen Zeitungsjungen rufen: »Berühmte Schriftstellerin begeht Selbstmord! « Der Film endet mit einer Apotheose des proletarischen Aufbruchs. Eine Gruppe Arbeiterinnen, die gerade von Ai Hsias Selbstmord gelesen haben (ganz offensichtlich keine Analphabetinnen!), verwandeln ihren Schmerz in Entschlossenheit. Gemeinsam marschieren sie der aufsteigenden Sonne entgegen.[29]
Tschiang Tsching sagte nicht direkt etwas über Yüan Ling-yü, aber aus der Art, wie sie ihre eigene Karriere beim Film darstellte, ging unmißverständlich hervor, daß Yüan Ling-yü sowohl auf der Leinwand als auch im Leben ein Vorbild für sie gewesen sein muß - jedenfalls bis Tschiang Tsching selbst Schanghai verließ. Yüan Ling-yü war vier Jahre älter als sie und stammte aus einer Schanghaier Arbeiterfamilie; ihre Mutter war berufstätig, so wie die von Tschiang Tsching. Ihre Filmkarriere begann beim Star Studio; später ging sie zur United Photoplay, wo sie und Tschiang Tsching in linken und avantgardistischen Filmen mitwirkten. Yüan war jedoch nicht nur erheblich hübscher als Tschiang Tsching und eine bessere Schauspielerin als diese; ihr spektakulärer Selbstmord drückte dem sozialen Bewußtsein Schanghais einen unauslöschlichen Stempel auf. Wie bei zahlreichen Stars vor und nach ihrer Zeit, so hatte die Erinnerung an sie einen tragischen Beigeschmack: Sie war das Opfer böser Verleumdungen.
Im Februar 1935, am ersten Jahrestag von Ai Hsias Tod, hatte »Die neue Frau« in Schanghai Premiere. Ironie des Schicksals: Am 8. März, der in China schon lange als internationaler Frauentag gefeiert wurde, beging Yüan Ling-yü, die Schauspielerin, die Ai Hsias Selbstmord dargestellt hatte, im Alter von 25 Jahren Selbstmord.[30]
In den letzten Monaten ihres Lebens wurde Yüan Ling-yü wegen ihrer Scheidung von dem Kameramann Tschou Ta-ming und wegen ihrer Affären mit anderen Männern öffentlich angeprangert. Alle Schauspielerinnen, die im Rampenlicht standen - einerlei, ob sie in linksgerichteten Filmen mitwirkten, wie Yüan und Tschiang Tsching, oder in kommerziellen Filmen - unterlagen der öffentlichen Kritik, und das umso mehr, wenn sie eine unorthodoxe politische Einstellung hatten. Die begehrteren Filmstars, die etwa mit einer Clara Bow oder Betty Grable zu vergleichen wären, verkehrten mit KMTPolitikern, Generälen und Geschäftsmagnaten. Wie politisch naiv oder reaktionär diese Frauen auch immer gewesen sein mögen, nach traditionellen chinesischen Maßstäben traten sie außergewöhnlich radikal auf. Ihr ausschweifender Lebensstil verhöhnte die alten Konventionen, denen zufolge die Frauen sittsame Töchter und aufopfernde Ehefrauen zu sein hatten und denen sich die meisten Chinesinnen unterwarfen. Überall im alten China, und in ländlichen Gebieten auch später noch, trieben strenge Moral und sozialer Druck, der für Frauen viel stärker war als für Männer, viele, die ihre Keuschheit verloren hatten oder fürchteten, sie zu verlieren, in den Selbstmord. Die pflichtbewußten Frauen, die mit diesem moralischem Imperativ ins Grab gingen, wurden den Lebenden postum als Beispiel gepriesen.
Obgleich dieser einseitige repressive Sexualkodex unter Revolutionären und fortschrittlichen Geistern weit weniger verbreitet war, machten sich sensationsgierige Journalisten die Presse und die öffentliche Meinung zunutze, um »unsittliche« Frauen zu demütigen. Und die KMT-Regierung schreckte nicht davor zurück, sie dem Spott preiszugeben oder zu vernichten. Die Abfolge von Publizität, Verfolgung und Selbstmord wurde zur Routine.
Der Freitod Yüan Ling-yüs im Frühjahr 1935 erregte ungeheures Aufsehen (mehr als jeder andere), da ihre Geschichte von der Kunst zum Leben und wieder zurück zur Kunst geführt hatte, wobei sie in jedem Stadium berühmter geworden war. Schon wenige Wochen nach ihrem Tod wurde ihr Leben in »Tod eines Filmstars« gefeiert, einem beispiellosen Erfolg auf den Schanghaier Bühnen. Am Ende ihrer Erinnerungen an die Zeit in Schanghai verwies Tschiang Tsching auf Lu Hsüns Essay: »Das Geschwätz der Leute ist etwas Schreckliches«, dessen Titel Yüan Ling-yüs Abschiedsbrief entnommen war. »Das sollten Sie unbedingt lesen«, drängte Tschiang Tsching, »Sie finden darin Hinweise auf mein eigenes Leben.«
Der Essay, der die sadistischen Tendenzen angreift, die auch im modernen China eine Rolle spielten, handelt von Frauen, die in den Schmutz gezogen werden, nur weil sie Schauspielerinnen sind. Journalisten sind »schmatzende Klatschmäuler«, die Leser beliefern, die ganz wild darauf sind, sich an Ausschmückungen über das Sexualleben von Frauen zu ergötzen, die im Licht der Öffentlichkeit stehen: »Wenn ein Mädchen weggelaufen ist, verkündet der brillante Schreiber bereits sein Urteil, noch bevor bekannt ist, ob es durchgebrannt ist oder verführt wurde: >Sie war einsam und sehnte sich nach einem Geliebten, um mit ihm das Lager zu teilen.< Woher will er das wissen? Und obgleich es in ärmeren Gegenden durchaus üblich ist, daß eine Frau mehrmals heiratet, hat der brillante Schreiber seine Schlagzeile parat: >Lüsterner als Wu Tse-tien<.[31]
Wenn eine Frau erst einmal in Verruf geraten sei, betonte Lu Hsün, nütze es ihr nichts, wenn die falsche Beschuldigung zurückgenommen oder der angerichtete Schaden wieder gutgemacht werde: »Eine hilflose Frau wie Yüan Ling-yü wird gequält. Man beschmiert sie mit Schmutz, den sie nicht wieder abzuwischen vermag. Soll sie sich wehren und zurückschlagen? Da sie keine Macht über die Presse besitzt, ist ihr das nicht möglich. Sie hat niemanden, mit dem sie sprechen, an den sie sich wenden könnte. Wenn wir uns an ihre Stelle versetzen, dann begreifen wir, daß sie die Wahrheit sprach, als sie sagte, daß das Geschwätz der Leute etwas Schreckliches sei. Und wer da glaubte, die Zeitungen hätten etwas mit ihrem Selbstmord zu tun, sprach ebenfalls die Wahrheit.«[32]
Im wesentlichen hatte Tschiang Tsching das gleiche über ihre eigene mißliche Lage gesagt, nachdem sie »in Fettdruck« abgestempelt worden war womit sie die Schlagzeilen der Zeitungen meinte. Wenn China heute eine liberalere Gesellschaft wäre, wenn sich Männer und Frauen über ihre sexuellen Abenteuer auslassen könnten, ohne repressive Maßnahmen befürchten zu müssen, hätten wir über Tschiang Tschings Vergangenheit vielleicht mehr erfahren. Aus den Hinweisen, die sie mir gab, aus Veröffentlichungen in der Presse und Gerüchten, die unter Exilchinesen ihrer Generation kursieren, lassen sich immerhin einige Schlüsse ziehen. Wenn sie Fragen auswich, hatte sie dafür persönliche und politische Gründe, die oft beide miteinander verstrickt waren. Im Verlauf ihrer Filmkarriere, die nach ihrer eigenen Aussage eher auf ihre Armut als auf ihren persönlichen Ehrgeiz zurückzuführen ist, wurde ihr Name öfters mit dem des Schauspielers und Filmkritikers Tang Na, einem führenden Mitglied des von den Kommunisten geförderten Kunstvereins in Zusammenhang gebracht.[33] Manche sagen, sie sei mit ihm verheiratet gewesen, und als sie ihn verließ, habe er aus Verzweiflung fast Selbstmord begangen. Tang Nas Selbstmorddrohung, die von der Presse eilig verbreitet worden war, enthielt einen Hinweis auf Tschiang Tsching und stellte sie als die Schuldige hin. Dadurch wurde sie nicht nur noch berühmter, sondern es machte sie auch zur Zielscheibe von Frauenhaß und Sadismus, die in der modernen Gesellschaft genauso weitverbreitet zu sein scheinen wie in der alten. Auch wenn die Lan Ping - Tang Na-Affäre heute kaum nachweisbar sein mag, und auch wenn diese Romanze keinen nachhaltigen Einfluß auf ihr Leben ausgeübt haben mag - die Gerüchte darüber und die politische Manipulation von Filmen, in denen sie mitgewirkt hatte, waren gewissermaßen ihr Schanghaier Erbe, das sie nach Jenan mitbrachte. Wie würde sie es bewältigen?