Schwimmen durch Schwimmen lernen

Wenn wir schwimmen lernen, lernen wir
nicht zuerst schwimmen und gehen dann
ins Wasser. Wir lernen schwimmen
durch Schwimmen ... Wenn wir die Revolution
durchführen, dann wird das
auch nicht zuerst gelernt und dann getan,
sondern man lernt, während man etwas
tut oder vielmehr, man tut etwas und
dann lernt man. Etwas tun ist lernen.
Leitartikel der »Volkszeitung«
(17. August 1966)

Die Herrscher des kaiserlichen Chinas lebten in pompösen Palästen und wurden durch hohe Mauern von ihren Untertanen abgeschirmt. Sie gingen prächtig gekleidet, hielten verschwenderische Eßgelage ab und umgaben sich mit einem großen Hofstaat. Sie regierten durch Erlasse, die in einer eleganten literarischen Sprache abgefaßt waren und von einer hierarchisch aufgebauten Beamtenschaft (lauter gelehrte Herren) weitergeleitet wurden. In diesem Apparat, der von gelehrten Männern verwaltet wurde, gab es keine Frau.
Es ist ein Merkmal der revolutionären Führer des zwanzigsten Jahrhunderts geworden, daß sie sich unmittelbar ans Volk wenden und in seiner eigenen Sprache mit ihm reden, doch nur selten ist diese direkte Konfrontation von Frauen gewagt worden, die sich an der Spitze der Macht befanden. Diese Ungleichheit begann Tschiang Tsching nun zu korrigieren. Regelmäßig verließ sie ihr komfortables Refugium in Tschung-nan-hai und mobilisierte zuverlässige Genossen. Die soziale Ordnung wurde auf den Kopf gestellt, wenn sie die Straßen, auf denen sie einst gegen andere Führer demonstriert hatte, zu Schauplätzen spontaner politischer Aktionen verwandelte. Sie war die erste Frau, die sich nach der Befreiung an die Massen wandte, die die Themen ihrer Reden selbst wählte und dafür sorgte, daß ihre Ansprachen veröffentlicht und teilweise auch fürs Ausland übersetzt wurden.
Tschiang Tschings Selbstbehauptung als Frau wurde in der offiziellen kommunistischen Presse niemals lobend erwähnt. Und doch sollte man dies genau so zur Kenntnis nehmen wie die revolutionären Ideen, für die sie eintrat. Möglicherweise glaubten die anderen politischen Führer, daß das revolutionäre Bewußtsein des Volkes noch nicht so weit entwickelt sei, als daß es bereit sei, eine Frau an der Spitze der Macht zu akzeptieren.
Seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich Chinas 400-Millionen-Bevölkerung infolge verbesserter Ernährungsverhältnisse, fortschrittlicherer medizinischer Versorgung und seltenerer kriegerischen Auseinandersetzungen nahezu verdoppelt. Zu Beginn der Kulturrevolution war die Mehrheit der Bevölkerung unter dreißig. Folglich mußten sich die politischen Führer auf die Bedürfnisse einer unruhigen, idealistischen und manchmal auch zynischen Gefolgschaft einstellen. Auch wenn es von außen her so aussah, als sei China vom Rest der Welt hermetisch abgeschlossen, so war die jüngere Generation nicht völlig immun gegen die Krankheit steigender Erwartungen. In den frühen sechziger Jahren waren der Stadtbevölkerung ausländische Literatur, Filme und Theateraufführungen ausländischer Ensembles weitgehend zugänglich. Vom streng pragmatischen Gesichtspunkt einiger Führer aus gesehen, lenkten solche Zerstreuungen von der wichtigsten Aufgabe, das heißt dem sozialistischen Aufbau ab. Wenn die Energien des gesamten Volkes auf einheitliche Ziele ausgerichtet sein sollten, dann war es erforderlich, beherrschenden Einfluß auf das Denken der Massen und vor allem auf ihre kulturellen Interessen auszuüben. Insbesondere Mao und Tschiang Tsching erkannten, daß der Einfluß jeglicher bürgerlicher Ideologie - sei sie inländischer oder ausländischer Herkunft - gestoppt werden mußte. Außerdem mußte die Bereitschaft der Jugend zu moralischem Engagement und rascher Aktion möglichst nutzbringend eingesetzt werden.
Sollte eine revolutionäre Kontinuität über die Ära der Gründer hinaus entstehen, so mußten die Generationen durch ideologische Bande miteinander verknüpft werden. Wer aber sollte das zustandebringen? Mitte der sechziger Jahre wirkte Mao Tse-tung auf viele bereits als mythische Gestalt - ein Image, das sein sehr reales Talent, mit Männern, Frauen, Massen und Ideen umzugehen, verschleierte. Auf zynische Beobachter machte der Vorsitzende den Eindruck, als ob er nicht nur alt, sondern auch schon senil würde. Doch dieses voreilige Urteil ließ sich nur noch schwer aufrechterhalten nach seinem groß angekündigten Auftritt im Juli 1966, als er, umgeben von Massen jugendlicher Schwimmer, im Yangtse geschwommen war. Besser als durch dieses symbolische Schauspiel hätte er die Verbundenheit zwischen den Generationen nicht demonstrieren können.
Doch Symbole würden auf die Dauer nicht genügen. Da die Gründer der Volksrepublik dem Tod nicht mehr allzu fern waren, begann sich Tschiang Tsching, die mindestens zehn Jahre jünger als die meisten von ihnen war, immer mehr Gedanken über kommende Krisen zu machen, die den Lauf der Geschichte verändern würden. Was für Überlebenschancen hatte sie unter Genossen, die erst nach Jenan dazugekommen waren? Wie würde es ihr in einem Nachfolgekampf ergehen, der von Männern ausgetragen wurde, die sie nie völlig in den innersten Kreis der Macht einbezogen hatten? Wie sehr brauchte sie den Vorsitzenden?
Die Kulturrevolution, die nicht nur durch einen Nachfolgekampf zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen Generationen heraufbeschworen worden war, war vermutlich der stärkste ideologische und soziale Umbruch in der ganzen chinesischen Geschichte. Wie es dazu kam, läßt sich nicht in simplen Sätzen erklären. Diese Frage hat außerhalb Chinas zu unerschöpflichen Spekulationen geführt. War es lediglich (oder hauptsächlich) ein Machtkampf oder aber eine ideologische Auseinandersetzung? Repräsentierten Mao und Liu Schao-tschi klar und deutlich gegensätzliche politische Linien - eine sozialistische und eine revisionistische, beziehungsweise eine gute und eine schlechte, entsprechend den Maßstäben, die Mao gesetzt hatte? Einige Antworten gibt Tschiang Tschings Werdegang in den nächsten drei Jahren, dem in diesem und dem folgenden Kapitel nachgegangen wird. Ihr Vorgehen entsprach natürlich immer den Begriffen Maos und des arbeitenden Volkes, das er unterstützte. Sie trug allerdings eine doppelte Bürde, denn sie kämpfte nicht nur für Mao und seine Ideen, sondern auch für sich selbst. Sie mußte sich als Frau gegen die Vorherrschaft der Männer in der Geschichte zur Wehr setzen, als sie danach strebte, eine eigene Vertrauensstellung bei den Massen einzunehmen und als selbständige Genossin eine Führungsposition zu erringen.
Im Hintergrund von Tschiang Tschings persönlichem Drama standen die beiden Männer, deren persönliche und ideologische Gegensätzlichkeiten von Franz Schurmann folgendermaßen charakterisiert wurden:

  • Die großen Protagonisten in dem Kampf, der sich während der Kulturrevolution dramatisch zuspitzte, waren Mao Tse-tung und Liu Schao-tschi. Mao und Liu werden auf manichäische Weise als die Verkörperungen von gut und böse dargestellt und ähneln damit Gestalten aus der Tradition der klassischen Peking-Oper. Außenseiter brauchen in diesem Drama weder eine Rolle zu spielen noch Partei zu ergreifen. Es ist eine historische Tatsache, daß Mao gewonnen, Liu verloren hat-, darüber läßt sich nicht streiten. Jeder der beiden vertrat eine in China tief verwurzelte Strömung, und beide spielten eine große und wichtige Rolle in der Kulturrevolution. Mao war der Organisator, wie es sich in all seinen Schriften zeigt ... Eine der bekanntesten Darstellungen Maos während der Kulturrevolution zeigt ihn im Gewand eines Gelehrten, wie er mit dem Schirm in der Hand über einen hohen Felsgrat wandert, der von fernen Gipfeln umgeben ist.[1] Selbst in der Zeitspanne von 1962-1966, in der Liu offiziell als Nachfolger Maos galt, wurde er stets in der hölzernen unpersönlichen Art abgebildet, welche die russischen Publikationen zu Stalins Zeiten charakterisierte. Mao vertrat immer die Devise »eins teilt sich in zwei«, während Liu argumentierte, daß sämtliche Anstrengungen unternommen werden müßten, um das Entzweiende auf ein Minimum zu beschränken: Der Kampf sollte unter Ausschluß der Offentlichkeit innerhalb der Partei ausgefochten werden.[2]

Über die ungeheuer komplexen Ereignisse, die die »Geschichte« der Kulturrevolution ausmachen, gab Tschiang Tsching mit gutem Grund nur hin und wieder Auskunft. Sie wollte nicht, wie es üblicherweise Historiker - mit geringem Erfolg - versuchen, das Gesamtbild einer Ära nachzeichnen, sondern konzentrierte sich auf bestimmte Themen. Die Art der Auswahl, die sie traf, zeigte mir, daß sie von jenem weitverbreiteten Image einer »Radikalen« oder »Ultra-Linken« ablenken wollte, das ihr durch ausländische Berichterstattung aufgezwungen worden war. Ich bat sie um persönliche Photos aus den mittleren sechziger Jahren - sie gab mir kein einziges. Vielleicht ist es für Ausländer am schwersten zu begreifen, daß sie die Revolution des chinesischen Theaters als ihre »wahre Arbeit« ansah. Auf der Bühne konnten proletarische Werte durch Figuren des Dramas verkörpert und als politische Vorbilder für das ganze Volk aufgestellt werden.
Dokumentarische Aufzeichnungen sind die Hauptquelle für dieses und das folgende Kapitel. Bei unserer Unterhaltung änderte sich Tschiang Tschings Tonfall, je nachdem, ob sie von persönlichen Erinnerungen sprach oder aber in die offizielle Rhetorik verfiel. Ihre Stimme wurde immer dann besonders schrill, wenn sie von ihren revolutionärsten Taten berichtete: von der Aufstachelung der Massen.

1965 wurde China von einem Triumvirat regiert. Symbolisch, wenn auch nicht mehr ganz de facto, leitete Mao die Partei. Obwohl Liu Schao-tschi vor kurzem scharf angegriffen worden war, übten er und seine Gefolgsleute die Kontrolle über die Partei und die Hauptstadt aus. Lin Piao, der Held des Langen Marsches und des Befreiungskrieges, hatte den Oberbefehl über die Armee. Wenn Tschiang Tsching zu einer führenden Position gelangen wollte, mußte sie sich mit mindestens einem von den dreien verbünden. Als Herrscherin über ein viertes Reich die Kultur - ganz allein zu stehen, war riskant. Wenn sie sich nur auf Mao stützte, sah das zu sehr nach Nepotismus aus. Liu Schao-tschi war zu augenscheinlich Maos Rivale und würde sich nicht mehr lange halten können. Damit blieb Lin Piao übrig, dessen Glaubwürdigkeit zu jener Zeit sicher noch nicht so gering gewesen war, wie die revisionistische Politik der folgenden zehn Jahre und der bösartige Bericht über ihn, den mir Tschiang Tsching lieferte, glauben machen wollte.
Im Februar 1966 schlossen Tschiang Tsching und Lin Piao ein faires Abkommen. Sie bot ihm alle Vorteile an, die ihm aus einer Verbindung mit der Frau des Vorsitzenden (die zudem Erfahrungen auf dem Gebiet der Kultur besaß) erwachsen konnten. Sie wollte dafür eine Position im Führungskader der Armee haben. Nach fünfundzwanzigjähriger Ehe mit dem obersten Führer der Revolution war Tschiang Tsching seinen Millionen von militärischen Gefolgsleuten ebenso unbekannt wie den Massen. Wie konnte Lin Piao, das Symbol maskuliner Kultur, die Exschauspielerin und Ehefrau des Vorsitzenden Mao, die so lange Zeit ein Schattendasein geführt hatte, als die Genossin vorstellen, die am besten geeignet war, als oberste Ratgeberin in kulturellen Angelegenheiten, als »Schrittmacherin« in den darstellenden Künsten zu fungieren?
»Offiziell beauftragt« von Lin Piao, leitete Tschiang Tsching die Beratung über die Arbeit in Literatur und Kunst in der Armee in Schanghai, wo ihr Führungsanspruch im Bereich der Kultur von den reizbaren Machthabern in Peking nicht angefochten wurde. »Genossin Tschiang Tsching hat gestern mit mir ein Gespräch geführt«, informierte Lin Piao nervös seine Leute, bevor sie auf der Beratung erschien. »Auf dem Gebiet der Arbeit in Literatur und Kunst ist sie in politischer Hinsicht sehr stark und kennt sich in künstlerischer Hinsicht auch wirklich gut aus. Sie hat viele wertvolle Ansichten. Ihr müßt diesen Ansichten große Aufmerksamkeit schenken und Maßnahmen ergreifen, um zu gewährleisten, daß ihre Ansichten ideologisch und organisatorisch gewissenhaft in die Tat umgesetzt werden. Von nun an sollen ihr alle Dokumente der Armee in bezug auf Literatur und Kunst übersandt werden.«
Tschiang Tsching erschien pünktlich. Sie trug militärische Arbeitskleidung, die dann während der Jahre der Kulturrevolution zu ihrer üblichen Aufmachung gehörte. Vor einem Meer von Soldaten begann sie ihre Ansprache in einem entschuldigenden Ton, der an die aufopfernde Frau der chinesischen Tradition erinnerte ... Mangelnde Gesundheit hatte ihre Arbeit in den letzten Jahren behindert, und sie hatte die Gedanken des Vorsitzenden Mao nicht fleißig genug studiert. Sie hatte zwar den Bericht für die Zehnte Plenartagung entworfen, der die Grundlagen für die kulturelle Erneuerung bestimmte, doch der Vorsitzende hatte ihren Entwurf dreimal überarbeitet, bevor er gedruckt wurde. Tschiang Tsching erinnerte die Soldaten daran, daß dieser Bericht die Notwendigkeit betonte, den Klassenkampf in das ganze Land zu tragen, proletarische Ideologie zu pflegen und bürgerliche Ideologie auszumerzen. Die letztere nannte sie die »Schwarze Linie der dreißiger Jahre«; dazu gehörten solche literarischen Sünden wie die Theorie, daß man »>die Wahrheit schreiben< müsse«, »der breite Weg des Realismus«, »die Vertiefung des Realismus«, »mittelmäßige Charaktere« und die »gegen den >Pulvergeruch< gerichtete Theorie«. Nicht nur diese Irrtümer, auch Literaturkritiker der russischen Bourgeoisie - Belinski, Tschernyschewski und Dobroljubow - außerdem auch Stanislawski sollten verurteilt werden.
Als Verbeugung vor der historischen Rolle ihrer neuen Auftraggeber beschloß Tschiang Tsching, die revolutionären Errungenschaften der Armee zu verherrlichen - sie wollte »Werke der Literatur und Kunst schaffen, welche die drei großen Schlachten von Westliaoning-Schenyang, Huai-Hai und Peking-Tientsin ... zum Gegenstand haben, solange die Genossen (vor allem Lin Piao), die diese Schlachten geleitet und gelenkt haben, noch am Leben sind.« Dennoch sollte »das Monopol auf Literatur- und Kunstkritik einiger weniger sogenannter >Literatur- und Kunstkritiker<« gebrochen werden »und zwar derjenigen, die eine falsche Orientierung haben, unfähig und nicht kämpferisch genug sind.« Durch sie sollte das Monopol den Massen übertragen werden. »In der Literatur müssen wir unseren Stil reformieren und die Abfassung von kurzen, populären Artikeln fördern, wir müssen unsere Literatur- und Kunstkritik in Dolche und Handgranaten verwandeln und lernen, diese Waffen wirksam im Nahkampf zu benutzen... Wir sind dagegen, daß man mit Sonderausdrücken und Fachwörtern andere Menschen einschüchtern will. Nur auf diese Weise können wir jene sogenannten >Literatur- und Kunstkritiker< entwaffnen.«[3]
Auf diese Weise stachelte Tschiang Tsching die Soldaten zu außergewöhnlichen Kämpfen an: zu einer neuen Art von Klassenkampf gegen die Esoterik der Literaten und gegen das Vermächtnis der traditionellen chinesischen und der ausländischen Kultur. Zu dieser Kultur in Ehrfurcht aufzuschauen darauf war die bisherige Erziehung ausgerichtet gewesen. Nun wurden einfache Soldaten, deren Bildung sehr beschränkt war, dazu aufgefordert, Feder, Pinsel, Taktstock und Kamera zur Hand zu nehmen, ihre eigenen Leistungen zu würdigen und selber Propaganda für die eigene Vergangenheit zu machen.
Tschiang Tsching war während der ersten vier Monate nach ihrer Ernennung auch an »anderen Fronten« in Schanghai tätig. Sie verbrachte viel Zeit hinter der Bühne und sprach mit Dramatikern, Schauspielern und Choreographen, deren politisches Bewußtsein sie individuell und kollektiv zu verändem suchte. Während der ganzen Zeit verfolgte sie jedoch die Tagesberichte, die unter den obersten politischen Führern zirkulierten, und achtete auf Zeichen, die möglicherweise einen Wechsel in den Gezeiten der politischen Ereignisse ankündigten. Der politischen Lage in Peking etwas entfremdet, verbrachte der Vorsitzende Mao mehrere Wochen auf einer Inspektionsreise durch das Land, um anderen Führern und der Presse aus dem Weg zu gehen. Im Frühsommer kam er dann zu ihr nach Schanghai, wo sie gemeinsam in aller Ruhe ihre nächsten Schritte vorbereiteten.
Schon lange hatten sich beide über Chinas Jugend Gedanken gemacht. Sie wußten, daß diese mit demselben Elan, mit dem sie ihren Führern folgte, sie auch verurteilen konnte. Anfang 1965 erzählte Mao Edgar Snow, daß er gebildeten jungen Leuten mißtraute, da sie »noch niemals einen Krieg gekämpft, nie einen Imperialisten gesehen und nie den Kapitalismus an der Macht erlebt« hatten. Möglich sei auch, »daß die Jugend die Revolution verleugne.«[4] Ende Mai 1966 verbrachte Tschiang Tsching über einen Monat damit, die wichtigsten Universitäten auf neue Strömungen hin zu untersuchen, wobei sie ihr besonderes Augenmerk auf Neuigkeiten aus der Nanking-, der Tschiaotung-Universität in Sian und der Peking-Universität richtete.
Im Frühsommer waren ihre Aktionsmöglichkeiten größer denn je. Im Februar hatte man sie zur Kulturberaterin der Armee ernannt. Im Mai schaltete der Vorsitzende - er tagte gerade in Hangtschou mit dem Zentralkomitee - die Fünfergruppe für die Kulturrevolution aus. Jene Gruppe hatte die Februar-Thesen verfaßt, in denen heimtückisch die proletarische Linie angegriffen wurde, die der Vorsitzende und Tschiang Tsching vertraten. An ihrer Stelle berief der Vorsitzende mit Genehmigung des ZK die Gruppe für die Kulturrevolution, ein zweites Team politischer Führungskräfte, die sowohl wegen ihrer Fähigkeiten als auch ihrer Loyalität Mao gegenüber ausgewählt worden waren. Diese Gruppe wurde von Tschen Po-ta geleitet, einem Mann, der sich schon oft zum Sprachrohr der politischen Linie des Vorsitzenden gemacht hatte. Tschiang Tsching und Tschang Tschun-tschiao aus Schanghai wurden stellvertretende Leiter. Die zuverlässigen Genossen Yao Wen-yüan und Kang Scheng (der einzige aus der Fünfergruppe, der übernommen wurde), gehörten ebenfalls dazu.[5]
Tschiang Tsching befand sich noch in Schanghai, als ihr der Vorsitzende die Aufgabe zuteilte, ein zweites Rundschreiben vom 16. Mai zu entwerfen. Dieses sollte Punkt für Punkt die Argumente der Februar-Thesen widerlegen, die nun seit drei Monaten auf den verschiedensten Ebenen der Parteikomitees zirkulierten. Sie schickte dem Vorsitzenden ihren Entwurf, der ihn mehrfach überarbeitete, was laut Tschiang Tsching zur Folge hatte, daß ein großer Teil der endgültigen Fassung von ihm stammte.
Tschiang Tsching sprach mit mir nicht ausführlicher über den Inhalt dieses Rundschreibens vom 16. Mai. Es verdient jedoch besondere Beachtung, da es von ihrer Seite aus die Offensive vom Frühjahr 1966 bedeutete. In kühner, militanter Sprache beschuldigte dieses Rundschreiben die Autoren der Februar- Thesen (insbesondere Peng Tschen; Kang Scheng wurde verschont), dem Aufruf des Vorsitzenden zur sozialistischen Kulturrevolution von der Zehnten Plenartagung (1962) nicht Folge geleistet zu haben. Die FebruarThesen ließen die bürgerliche Rechts-Orientierung von »akademischen Despoten« erkennen, die eine bewußt unklare Sprache benutzten, um den Klassenkampf zu entschärfen. Sie warfen außer den politischen Fragen auch noch akademische und theoretische Fragen auf und förderten den Irrglauben, daß »vor der Wahrheit alle gleich sind.« Der sechste Punkt von Tschiang Tschings Rundschreiben - die Aufforderung zum »Niederreißen« war entscheidend. »Vorsitzender Mao hat oft gesagt: >Ohne Niederreißen kann es keinen Aufbau geben. Niederreißen bedeutet Kritik und Verurteilung, bedeutet Revolution. Um das Alte niederzureißen, muß man Argumente vorbringen, und argumentieren heißt Neues aufbauen. Stellt man das Niederreißen voran, steckt der Aufbau schon drin.<« Ferner wies das Schreiben darauf hin, daß Dossiers mit ausgesprochen ungünstigen persönlichen Daten über linke Parteimitglieder angefertigt wurden, um in einer nachfolgenden Berichtigungskampagne gegen sie verwandt zu werden. Das Rundschreiben vom 16. Mai wurde erst am 17. Mai 1967 in der »Volkszeitung« veröffentlicht (einige Tage später auch in der »Peking Rundschau«). Dieser Aufschub von einem Jahr zeigt, wie lang Maos Seite brauchte, um die Kontrolle über die Presse und die öffentliche Meinung zurückzugewinnen.
Auf einer Erweiterten Sitzung des Zentralkomitees am 18. Mai 1966 in Hangtschou trug Lin Piao seine »berüchtigte konterrevolutionäre Rede« vor[6], die gegen Ende des Monats zu einer zweiten Erweiterten Sitzung in Hangtschou führte. Tschiang Tsching nahm daran teil und erinnerte sich noch sehr gut an die unglaublich gespannte Atmosphäre, denn Liu Schaotschi (der Peng Tschen und die soeben verworfenen Februar-Thesen unterstützt hatte) war auch anwesend. Die Fronten zeichneten sich ab. Kurz darauf widmete sich Tschiang Tsching wieder ihrer Kulturarbeit in Schanghai, und Mao zog sich zurück, um seine Gegenattacke vorzubereiten.
Innerhalb von wenigen Tagen griffen die Kämpfe zwischen den Genossen des Zentralkomitees auf die Universitäten über und wurden von dort in die Öffentlichkeit getragen. Am 25. Mai wurde auf einer Wandzeitung, die von der Philosophiedozentin Nie Yüan-tze und ihren Freunden verfaßt worden war, gegen die konservative Verwaltungsführung des Rektors der PekingUniversität Lu Ping (der lange von Peng Tschen unterstützt wurde) zu Felde gezogen. Hoch erfreut über diese spontane Herausforderung telephonierte Mao mit Kang Scheng und forderte ihn auf, sie im ganzen Land zu verbreiten. Am 1. Juni schrieb Mao eine eigene Wandzeitung, in der er die Schrift Nie Yüan-tzes als »die erste marxistisch-leninistische Wandzeitung Chinas« bezeichnete. Diese Wandzeitung des Vorsitzenden wurde veröffentlicht, und damit war das Signal für ausgedehnte Studentenrevolten gegeben.
Plötzlich kam es an allen Universitäten zu Fraktionskämpfen, zu Mord, Selbstmord und anderen Gewalttaten. Die renommierte Peking-Universität war wie immer die »Speerspitze der Rebellion«. Während der Bewegung des 4. Mai 1919, der Bewegung des 9. Dezember 1935 und auch während der Hundert-Blumen-Bewegung von 1957 waren aus der Peking-Universität idealistische und fähige junge Leute hervorgegangen, die Studentenunruhen entfachten und die Politisierung der anderen Universitäten und der Gesellschaft (besonders der Städte) verstärkten. Würde sich dieser Prozeß wiederholen?
Zunächst konnte Tschiang Tsching die Vorfälle an der Peking-Universität nicht einordnen. War der Studentenaufstand - der blutige Zwischenfall vom 18. Juni - konterrevolutionär (gegen Mao) oder revolutionär? Und falls letzteres zutraf, sollte er dann als positive Tendenz innerhalb der jüngeren Generation gefördert werden? Wie sie später in der Öffentlichkeit verkündete, war die Situation, wie sie sich in den Berichten darstellte, ausgesprochen »unnormal«. »Ich war erstaunt, als ich erfuhr, daß einige junge Leute von einwandfreier Herkunft (Kinder von Bauern und Proletariern), deren Wandzeitungen und andere Schriften zeigten, daß sie sich für die Revolution einsetzten, als Konterrevolutionäre gebrandmarkt wurden. Solche Anklagen trieben viele in den Wahnsinn und einige in den Selbstmord.«[7] In unserem Interview machte sich Tschiang Tsching erneut darüber Gedanken, warum so viele junge Leute mit der richtigen Klassenzugehörigkeit Selbstmord begehen wollten. Was war da fehlgeschlagen?
Im Juni, auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte, wurden ArbeitsgruPpen an die Peking-Universität geschickt, um die als konterrevolutionär bezeichneten Aufstände zu unterdrücken. Am 18. Juli, erinnerte sich Tschiang Tsching, kehrte Mao aus Schanghai nach Peking zurück, und sie folgte ihm zwei Tage später. Eine Massenversammlung wurde am Tor des Himmlischen Friedens abgehalten - vielleicht ging es um Vietnam, aber sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern. Um sich von der Stimmung unter den Studenten einen Eindruck zu verschaffen, beschloß Tschiang Tsching, die Peking-Universität aufzusuchen und dort die Wandzeitungen selbst zu lesen. Als sie Liu Schao-tschi von ihrem Plan erzählte, »machte er ein langes Gesicht.« Sie nahm rasch Kontakt mit Tschen Po-ta, Kang Scheng und anderen Mitgliedern der Gruppe für die Kulturrevolution auf, fragte sie über die Situation an der Peking-Universität aus und gab dann deren Ansichten an Mao weiter. In der Universität traf sie Nie Yüan-tze, die für die erste zündende Wandzeitung verantwortlich war. Gemeinsam gingen sie durch die Universitätsgebäude, die aus der Zeit der Ming-Dynastie stammen, lasen die Wandzeitungen und unterhielten sich mit Studenten und Professoren, die natürlich alle über den überraschenden Besuch der Genossin Tschiang Tsching verblüfft waren. Erst nach stundenlangen Befragungen erkannte sie, daß die rebellischen Studenten und Professoren, die seit kurzem durch die Arbeitsgruppen unterdrückt wurden, nicht konterrevolutionär waren, wie ursprunglich berichtet worden war, sondern im Gegenteil revolutionär, da sie auf die ersten Wandzeitungen von Ende Mai sofort reagiert hatten. Anfang Juni hatte der Vorsitzende angeordnet, daß die Arbeitsgruppen nicht vorschnell an die Universitäten geschickt werden sollten. Diese Anordnungen waren offensichtlich aufgehoben worden, erklärte Tschiang Tsching. Der Studentenaufstand hätte nicht unterdrückt werden dürfen!
In Begleitung von Tschen Po-ta und anderen Führern der Kulturrevolution stattete Tschiang Tsching der Peking-Universität noch mehrere Besuche ab. Da ihre Anwesenheit möglicherweise Furcht und Scheu unter den studentischen Zuhörern auslösen konnte, nannten sich die Führer bescheiden »Schüler«, die von ihren »Lehrern«, den Massen, lernen wollten. »Man muß besseren Gebrauch von Augen, Ohren und Verstand machen, um zu hören, was die Massen zu sagen haben«, erklärte Tschen Po-ta feierlich. »Nur ein Schüler der Massen kann zum Lehrer der Massen werden«, meinte der ältliche Kang Scheng in Anlehnung an Maos Worte. »Wir sind nur die Diener der Revolutionäre«, fügte Tschiang Tsching hinzu.
Sie verließen sich auf ihre Überzeugungskraft und bemühten sich, den Studenten und Professoren klar zu machen, daß die Arbeitsgruppen nicht auf Anweisung Maos, sondern von Peng Tschen geschickt worden waren, der damit den Rektor Lu Ping bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Universität unterstützen wollte. Am 26. Juli verordnete die Gruppe für die Kulturrevolution die Auflösung der Arbeitsgruppen und die Erfüllung der maoistischen Forderungen nach verringerter Verwaltungsbürokratie, nach flexiblerem Unterricht, nach kürzeren Ausbildungszeiten und nach einer Aufnahmeregelung, die mehr auf der von den Studenten unter Beweis gestellten proletarischen Klassenausrichtung als auf vorausgegangener Ausbildung oder auf dem politischen Rang der Eltern basierte.[8] All das waren langfristige Erziehungsziele der Kulturrevolution.

In den Monaten August und September 1966 kam es zu schweren sozialen Unruhen, besonders unter der Jugend, die von den Führern aufgefordert wurde, die Revolution fortzuführen. Während dieses Aufruhrs wurden die meisten Mittelschulen, Colleges und Universitäten geschlossen. An die dreizehn Millionen Jugendlicher, die vom Zentralkomitee aufgefordert worden waren, die elterliche und erzieherische Autorität abzuschütteln, zogen zu Fuß, per Fahrrad, Bus, Lastwagen und Zug aus ihrer Heimat nach Peking. Dort wurden sie en masse »persöiilich« vom höchsten Patriarchen, vom Vorsitzenden Mao empfangen.
Tschiang Tsching verwandte den langen heißen Sommer des Jahres 1966 darauf, aus ihrer bisherigen Rolle auszubrechen. Ihre Gruppe von Führern der Kulturrevolution - allesamt Männer, die daran gewöhnt waren, Ansichten hinter geschlossenen Türen auszutauschen und politische Meinungen in der Presse vorzutragen diente nun als Verbindungsglied zwischen dem Vorsitzenden und den Massen, die nach Peking gezogen kamen. Nie zuvor in der chinesischen Geschichte hatten so viele Millionen ihre Führer persönlich gesehen und gehört. Nach all den Jahren, in denen Tschiang Tsching zurückgezogen gelebt hatte und ihr Name von anderen verdeckt worden war, stürzte sie sich nun mit aller Energie auf das Volk und forderte es auf, die Sache des Vorsitzenden zu unterstützen. Am 6. August sprach sie zu einer Gruppe Roter Garden in Pekings prächtigem Tien-tschiao-Theater, einem der Kulturzentren, die sie zu ihrer speziellen Kampfarena erkoren hatte.
»Der Vorsitzende Mao sendet euch seine besten Grüße«, begann sie ihre Ansprache. Sie gab zu, daß sie einige Fehler begangen hatte und auch in Zukunft begehen würde. »Doch wir Revolutionäre haben keine Angst davor, Fehler zu machen!« Sie war da, um das Konzept der revolutionären Bewegung zu präsentieren, das in den kommenden Monaten rigoros angewandt werden sollte. Als erstes mußte man die »kapitalistischen Machthaber« in der Partei ausmerzen; als zweites mußte man die »Vier Allen« loswerden alte Ideologie, Kultur, Bräuche und Angewohnheiten - drittens mußte der Prozeß Kampf-Kritik-Umgestaltung (toupi-kai) durchgeführt werden. Oder anders ausgedrückt: »Wir müssen mit einem mächtigen Feind fertigwerden und müssen alle Rinderteufel und Schlangengeister davonjagen.«[9] »Ich bin sicher, ihr werdet gute Arbeit leisten!«
Wie sollte die Jugend, die im Begriff war, »Rinderteufel« und »kapitalistische Machthaber« auszurotten, ihre Eltern behandeln? Tschiang Tschings Antwort lebte als Slogan weiter:

Wenn Eltern Revolutionäre sind,
Sollten ihre Kinder ihnen folgen.
Wenn Eltern Reaktionäre sind,
Sollten ihre Kinder rebellieren.[10]

Am 16. August - zwei Tage, bevor Mao eine Million politischer Pilger empfing - traf Tschiang Tsching mit Mitgliedern der Gruppe für die Kulturrevolution - Tschen Po-ta, Li Hsüe-fang, Yao Wen-yüan, Kang Scheng und Tschang Tschuntschiao - im Pekinger Arbeiter-Stadion ein, um eine Massenversammlung »revolutionärer Studenten und Lehrer« zu leiten. In schlichte Militäruniform gekleidet, stand sie mit ihrer Gruppe im Regen unter einem stahlgrauen Himmel. Die Atmosphäre reflektierte die Vehemenz der revolutionären Umwandlung. Wieder eröffnete Tschiang Tsching ihre Ansprache mit der elektrisierenden Formel: »Der Vorsitzende Mao bat mich, euch seine besten Grüße zu übermitteln.«
»Zur Zeit befinden wir uns mitten in einem tobenden Sturm - wir sind keine Blumen im Treibhaus«, donnerte Yao Wen-yüan. Alle sollten sich für den »stürmischen Klassenkampf« stählen. Er stimmte die Hymne der Kulturrevolution an, die inzwischen von allen als ein Lobgesang auf Mao angesehen wurde. »Wer aufs Meer hinausfährt, braucht den Steuermann...«
Die vorrangige Aufgabe war es, das Tempo der Revolution voranzutreiben, indem eine scharfe Linie zwischen Feinden und Freunden gezogen wurde (ein permanentes dialektisches Prinzip, das für den Klassenkampf von fundamentaler Bedeutung ist). Dies sollte in Übereinstimmung mit dem 16-Punkte-Beschluß und dem Kommuniqué des Zentralkomitees geschehen, das unter Leitung des Vorsitzenden am 8. August angenommen worden war. Diese Verfahrensregeln autorisierten die Gruppe für die Ktilturrevolution, die Linken zu »entdecken« und deren Möglichkeiten zu revolutionärer Führung zu fördern. Die Linken sollten mit ihr zusammenarbeiten, indem sie Reaktionäre, Rechte und konterrevolutionäre Revisionisten bloßstellten, deren Verbrechen gegen die Partei kritisierten und sie absolut isolierten.[11]
Kang Scheng, der hochgebildete Chef der Geheimpolizei, stellte rasch ein gutes Verhältnis zu den Studenten her. Tschiang Tsching lernte es, seine geschickte Rhetorik nachzuahmen. »Wollt ihr das Kommuniqu~ und den 16-Punkte-Beschluß studieren?« fragte er. »Ja!«, schrieen die Volksmassen zurück. »Wollt ihr sie wieder und wieder studieren?«. »Ja!« »Wollt ihr damit vertraut werden?«. »Ja!«. »Wollt ihr sie ganz erfassen?«. »Ja!«. »Wollt ihr sie nutzbar machen?«. »Ja!«. »Wollt ihr sie in der großen Kulturrevolution in eurer Schule anwenclen?«. »Ja! Ja!« riefen die Jugendlichen immer wieder. Kang legte (wie Tschiang Tsching bei späteren Gelegenheiten) besondere Betonung auf Punkt vier des 76Punkte-Be.Ychlusses. Darin ging es um das Vertrauen auf die eigene Kraft während der Revolution (was sehr bald schon als Freibrief für die Anarchie mißverstanden wurde). Ein Individuum muß Selbstvertrauen haben, um die Revolution vorwärtszutreiben, und die Massen müssen sich selbst befreien. Die Studenten müssen Vertrauen zu den Massen haben und sich auf sie stützen. Und erneut forderte Kang die Menge auf, in Sprechchören zu antworten.[12] Indem sie rhetorische Techniken benutzten, die in einer anderen Kultur als religiöse bezeichnet würden, trommelten Kang Scheng, Tschiang Tsching und andere von Maos zuverlässigsten Schülern die revolutionären Rhythmen in Herzen und Gehirne der Massen ein. Mitte August sollte dieser Rhythmus ein fieberhaftes Tempo erreichen.
»Der Vorsitzende Mao empfing eine Million Menschen...«[13] Mit diesen Worten begann der ehrfurchtsvolle Bericht über die erste Massenversammlung großen Stils der Roten Garden auf dem Platz vor dem Kaiserpalast. Von der Rednertribüne über dem Tor des Himmlischen Friedens blickten die Führer auf die Massen hinab. Wie bei ähnlichen Versammlungen in den kommenden Monaten stand Lin Piao, der eine Woche zuvor zum Stellvertretenden Vorsitzenden, das heißt Maos designiertem Nachfolger ernannt worden war, neben dem Vorsitzenden, und Tschiang Tsching ganz in der Nähe. In unserem Interview erwähnte Tschiang Tsching weder diese prekäre Konstellation noch jenen außergewöhnlichen Tag. Und doch war sie, realiter und auch in den Augen der Massen, der Machtspitze nie so nahe gewesen. »Mao traf am Tor des Himmlischen Friedens ein, wo ein Meer von Menschen und ein Wald roter Fahnen ihn erwarteten«, fuhr der offizielle Bericht fort. »Das Volk wandte sich dem Vorsitzenden zu, hob die Hände hoch, sprang auf, jubelte ihm zu und klatschte. Viele klatschten solange, bis ihre Hände wund waren, viele vergossen Freudentränen ... Das gewaltige Jubelgeschrei brandete bis zum Himmel empor.« Vertreter der Massen proklamierten:

  • Unter der Leitung unseres großen Vorsitzenden Mao wird in unserem Lande eine Große Proletarische Kulturrevolution durchgeführt, die beispiellos in der Geschichte ist. Dies ist eine Revolution von weltweiter Bedeutung. Wir werden die alte Welt in tausend Stücke schlagen, wir werden eine neue Weit erschaffen und die Große Proletarische Kulturrevolution bis zum Ende durchführen. Wer aufs Meer hinausfährt, braucht den Steuermann; was auf der Erde wächst, braucht die Sonne; wer Revolution macht, braucht die Maotsetungideen ... Der Vorsitzende Mao ist die röteste Sonne in unseren Herzen...[14]

Im November 1966 war Tschiang Tsching bereits bei den Autokolonnen, auf der großen Tribüne und bei sieben der acht größten Rotgardisten-Versammlungen auf dem Podium dabeigewesen. Als Rednerin wurde sie zunehmend selbstsicherer und mischte persönliche Erkenntnisse in die offiziellen Erklärungen. Sie betrachtete ihre Ansprache vom 28. November vor einer Versammlung von Literatur- und Kunstschaffenden als eine wichtige philosophische Aussage [15] Nach ihrer langjährigen Krankheit, erklärte sie, sei sie plötzlich mit historischen Ungereimtheiten konfrontiert worden: Ein sozialistisches Volk fuhr damit fort, Stücke über Geister, Kaiser, Beamte, Generäle, Gelehrte und schöne Frauen zu produzieren (und zu genießen) und suchte seine Unterhaltung in berühmten ausländischen Dramen. Wenn man den Überbau nicht dazu zwang, mit der sozialistischen ökonomischen Basis übereinzustimmen, dann würden derartige Dramen diese Basis unvermeidlich »zerstören«. Sie übertrieb stark, da sie die gebildete chinesische Zuhörerschaft schockieren wollte, die sich an die Reize importierter Kunst gewöhnt hatte, als sie die Warnung aussprach:

  • Imperialismus ist im Absterben begriffen, Kapitalismus ist schmarotzerhaft und verdorben. Moderner Revisionismus ist ein Produkt imperialistischer Politik und eine Variante des Kapitalismus. Nichts Gutes kann daraus entstehen. Der Kapitalismus hat eine Geschichte von mehreren Jahrhunderten hinter sich, doch er verfügt nur über eine jämmerlich geringe Anzahl von »Klassikern«. Sie (die kapitalistischen Schriftsteller) haben einige Arbeiten geschaffen, die sie den »Klassikern« nachempfunden haben. Diese Nachahmungen sind jedoch stereotyp und gefallen dem Volk nicht mehr. Die kapitalistische Kultur ist auf der ganzen Linie im Niedergang begriffen. Aber es gibt andere Dinge, die den Markt überfluten, wie Rock'n Roll, Jazz, Striptease, Impressionismus, Symbolismus, abstrakte Kunst, Fauvismus, Modernismus - es ist kein Ende abzusehen... Mit einem Wort, es breiten sich Dekadenz und Schmutz aus, die das Volk vergiften und korrumpieren.

Da sie den ganzen Sommer damit verbracht hatte, Ansprachen zu halten und mit der Revolution Schritt zu halten, hatte sie ihre Kulturarbeit vernachlässigt. Dies tat ihr leid, und sie gelobte Besserung. Als nächstes wies sie jene Mitglieder des Ersten PekingOpernensembles zurecht, die bislang noch nicht ihren revolutionären Eifer dadurch bewiesen hatten, daß sie offen einzelne Funktionäre des soeben entmachteten Pekinger Stadtparteikomitees kritisierten, das jahrelang diese Elitetruppe vor Tschiang Tschings proletarischeu Werbungen geschützt hatte. Um ihre Loyalität dem Vorsitzenden und ihr gegenüber zu beweisen, sollten die einzelnen Mitglieder eine scharfe Linie zwischen Feinden und Freunden ziehen. Sie sollten auch unternehmungslustigen jungen Kollegen aus ihrem Ensemble erlauben, ihr zu folgen, indem sie gemeinsam mit ihr die darstellenden Künste revolutionierten. Die älteren Mitglieder der Truppe, die sich Tschiang Tschings Leitung widersetzt hatten, sollten »aufrichtig bereuen und ganz neu beginnen.« Noch einmal forderte sie eindringlich dazu auf, gute Argumente anstatt Gewalt zu gebrauchen. »Verletzt und schlagt andere nicht. Ein Kampf, der auf Gewalt beruht, kann nur die Haut ritzen, während ein Kampf, der auf Argumenten beruht, bis in die Seele dringen kann.«[16]
Am 28. November wurde das Erste Peking-Opernensemble nach einem Stadium relativer künstlerischer Unabhängigkeit und traditioneller Integrität, die durch das frühere Pekinger Stadtparteikomitee gewährleistet worden waren,[17] der Gruppe für die Kulturrevolution (deren Stellvertretende Leiterin Tschiang Tsching war) und der VBA (deren Kulturberaterin sie war) unterstellt. Im Stil der Pariser Kommune, so sagte Tschiang Tsching, sollten die Mitglieder des Ensembles aus ihren eigenen Reihen kulturrevolutionäre Komitees wählen. Und alle anderen wichtigen Gruppen darstellender Künstler in Peking mußten der VBA eingegliedert werden und deren Anweisungen folgen. (Es war ungefähr so, wie wenn das Pentagon plötzlich die Metropolitan Opera und alle anderen Theater-Ensembles in New York übernehmen würde und verfügte, daß deren zukünftige Arbeit persönlich von einer engen Verwandten des Präsidenten geleitet würde).
Was Tschiang Tsching dazu trieb, die Welt der sechziger Jahre zu verändern, war das Gespenst der dreißiger Jahre, das sie noch immer verfolgte und das - ihrer Meinung nach die Nation behext hatte. Der Gedanke, daß in Schanghai immer noch beklagenswerte Arbeitsbedingungen herrschten, drängte Tschiang Tsching dazu, die Abschaffung kurzfristiger und ungerechter Arbeitsverträge zu fordern.[18] Doch das Engagement für die Beseitigung von Mißständen auf dem Arbeitssektor war nur ein Zwischenspiel, das ihrer Leidenschaft für die politische Rolle der Kultur keinen Abbruch tat. Mitte der sechziger Jahre hatten Mao und Tschiang Tsching (allerdings aus verschiedenen Gründen) übereinstimtnend den Eindruck, daß andere politische, ökonomische und kulturelle Systeme ihren eigenen entgegengesetzt würden. Dies schrieben sie im großen und ganzen der Rivalität und dem beherrschenden Einfluß Liu Schao-tschis zu. Mao und sie wußten, daß sie zuerst die öffentliche Meinung beeinflussen mußten, wenn sie wieder die Führung übernehmen wollten. Das bedeutete, daß sie zunächst ideologisch die Oberhand gewinnen mußten. Um den kulturellen Sektor zu ihrem Wirkungsbereich zu machen, verdammte Tschiang Tsching die Weltoffenheit der dreißiger Jahre. Ihrer Meinung nach bedeutete Lius Interesse an kultureller Vielfalt, an »bourgeoiser Liberalisierung«, daß er eine »Literatur und Kunst des ganzen Volkes« predigte und »das Leben auf dem Lande vom bequemen Wagen aus sah«. Hingegen )ehrte der Vorsitzende, daß Literatur und Kunst der »Diktatur des Proletariats« dienen müßten und Schriftsteller und Künstler »zu den Arbeitern, Bauern und Soldaten, mitten in den Klassenkampf hineingehen« sollten. Lius »konterrevolutionäre revisionistische« Prinzipien zeigten sich nicht nur in den Filmen von Hsia Yen, Tschen Huang-mei und Tsai Tschu-scheng, sondern auch in den Dokumentarfilmen von Tscheng Tschi-hua und Hsia Yen, die die Vorzüge der Schanghaier Kultur in den dreißiger Jahren priesen und sogar versuchten, sie in den sechziger Jahren neu zu entwickeln.[19]
Die umfangreichste und vernichtendste Kritik an dem Filmkult der dreißiger Jahre erschien am 12. März 1966[20] in der Pekinger Zeitung »Aufklärung«. Der Autor dieses außergewöhnlich langen Artikels mit dem Titel »Cber die reaktionären Gedanken des Stückes >Sai Tschin-hua<; Analyse eines sogenannten >berühmten Stückes< aus den dreißiger Jahren« war der Chefredakteur Mu Hsin, der später Mitglied von Tschiang Tschings Gruppe für die Kulturrevolution wurde. Die Ansichten, die er vertrat, hätten genauso gut von Tschiang Tsching stammen können. Es gab keine Gestalt in der modernen chinesischen Geschichte, die sie mehr verabscheute als die Kurtisane Sai Tschin-hua. Es gab auch keinen modernen Schriftsteller und Regisseur, den sie so ablehnte wie Hsia Yen, der das höchst erfolgreiche Stück (nach Meinung des Publikums, nicht nach Tschiang Tschings Maßstäben) über Sai Tschin-hua verfaßt hatte, das 1936 zum erstenmal von der Gesellschaft der Vierzigerjahre produziert worden war.
Selbst in den dreißiger Jahren, so schrieb Mu Hsin, »schwamm Hsia Yen gegen die Zeitströmung«. Obwohl Hsia in den frühen fünfziger Jahren überredet worden war, den Film über Wu Hsün nach Tschiang Tschings Vorbild zu verdammen, verteidigte er in den sechziger Jahren immer noch sein Stück über Sai und verlangte nach einer »Wiedereröffnung ihres Falles«. »Er katzbuckelte vor Ausländern«; seine Heldin Sai war eine »sekundäre fremde Teufelin«, weil sie mit einem Deutschen eine Liaison gehabt hatte; Hsia Yen tolerierte in den dreißiger Jahren die japanische und überhaupt die ausländische Kultur und setzte sich in den sechziger Jahren für liberale linke (und folglich ausländische) Geisteswissenschaften ein. In seinem Stück verspottete er die Boxer-Bewegung, die als revolutionär hätte gerühmt werden müssen. Außerdem zeigte er das einfache chinesische Volk als Prostituierte, Opiumraucher, Schwindler und Frauen mit eingebundenen Füßen. Solche negativen Darstellungen bewiesen nur seinen eigenen »nationalen Minderwertigkeitskomplex«. Indem er seine Landsleute beleidigte, ließ er die westliche Zivilisation viel zu positiv erscheinen.
Mit diesen Anklagen wurde im Frühling 1966 eine Kampagne eingeleitet, in der alte Rechnungen beglichen wurden. Dies dauerte das ganze Jahr über an. Als im Sommer Millionen Jugendlicher aus allen Teilen des Landes nach Peking kamen, eröffneten Tschiang Tsching und ihre Gruppe für die Kulturrevolution den Kampf gegen den »Rädelsführer Tschou Yang« und seine »Schwarze Bande«, zu der auch Hsia Yen und Tien Han gehörten. Die Zerstörung ihres guten Rufes und einer Arbeit von dreißig Jahren diente dazu, »die alten Wurzeln der schwarzen Linie in der bürgerlichen Literatur und Kunst der dreißiger Jahre auszureißen« und den »Kapitulations-Charakter« ihrer alten Parole, »Nationale Verteidigungs-Literatur«, bloßzustellen, mit der viele Verbrechen der Kuomintang gerechtfertigt wurden. Die schwarze Fahne der Dramen, Filme und Musikstücke für die Nationale Verteidigung mußte heruntergerissen werden. Rotgardisten wurden aufgefordert, den »Liedern der Nationalen Verteidigung aus den dreißiger Jahren die Masken abzureißen«, um endlich zu erkennen, was sie in Wirklichkeit waren. Tien Han wurde z. B. verdammt, weil er wollte, daß die Leute »alte Zwiste vergaßen.« Sein Lied »Volkshaß« strotzte angeblich von Schmähungen gegen die revolutionären Massen, die wie »bedauemswerte plumpe Kühe« unter der Parteiherrschaft Kämpfe ausfochten.[21]
Im Herbst nahmen die Gewalttätigkeiten zu. Obwohl ein Rundschreiben vom 20. November 1966 dem Volk verbot, Leute einzusperren, zu foltern und zu bestrafen[22] wurde dieses Gebot kaum befolgt. »Volksfeinde« wurden im Frühherbst am Tor des Himmlischen Friedens öffentlich genannt und im Dezember angeklagt. Zu ihnen gehörten auch Pekings Oberbürgermeister Peng Tschen, Hsia Yen, Tien Han, Propagandachef Lu Ting-i und der Leiter des Allgemeinen Büros des Staatsrates, Yang Schang-kun (der Tschiang Tsching vierzehn Jahre zuvor nach Moskau geschickt hatte). Am 12. Dezember wurden sie unter militärischer Bewachung in das Arbeiter-Stadion gebracht, wo 10 000 Rote Garden sie erwarteten. So wie man in Feudalzeiten prominente Staatsfeinde als Warnung für alle öffentlich hingerichtet hatte, so trugen die jetzigen Opfer schwere Holzplakate um den Hals. Auf diesen Plakaten waren ihre Namen mit riesigen schwarzen Schriftzeichen gemalt, und darüber hatte man ein dickes X geschmiert. Sie wurden, mit ihren Führern voran, angeklagt und verurteilt.[23]

»Der Vorsitzende Mao sendet euch seine besten Grüße«, verkündete Tschiang Tsching wieder einmal schwungvoll. Es war der 19. Dezember. An die 100 000 VBA-Soldaten waren nach Peking beordert worden, um in kameradschaftlicher Weise die Millionen Jugendlicher unter Kontrolle zu halten, die nun (jeweils für eine Woche oder länger) in der Hauptstadt kampierten. »Ihr werdet alle wissen wollen, wie es dem Vorsitzenden geht«, rief Tschiang Tsching. »Ich kann euch mitteilen, daß er bei guter Gesundheit ist.«
Dies war der Auftakt für eine weitere politische Besonderheit, die dazu dienen sollte, einen neuen Kameradschaftsgeist unter den verschiedenen sozialen Gruppen zu fördern. Bei der Kundgebung waren Jugendliche mit roten Maobibeln, Armbinden und Abzeichen anwesend, die schwerfälligen Massen und nun auch die Soldaten, die sich vom Rest durch ihre graugrüne Uniform abhoben. Der Leiter der Gruppe für die Kulturrevolution, Tschen Po-ta, setzte all seine rhetorischen Fähigkeiten ein, um die Moral des Militärs aufzubauen, denn die aggressive Loyalität der Soldaten war entscheidend für die Durchführung der kulturrevolutionären Ziele.
»Noch nie hat es auf der Welt eine Armee wie die eure gegeben«, rief er. »Mit dieser Armee, die mit den Maotsetungideen bewaffnet ist, sind wir unbesiegbar. Alle Feinde, mögen es Imperialisten, Revisionisten, Rinderteufel oder Schlangengeister sein, können von eurer Hand in Stücke gerissen werden. Vom Vorsitzenden Mao und vom Genossen Lin Piao geführt, habt ihr wahrhaftig verstanden, wie man dem Volke dient ... Als Schüler wollen wir mit euch, unseren Lehrern, voranmarschieren.«
Die Aufgabe der Armee war es, so wurde den Soldaten aufgetragen, die Revolution über ihre Reihen hinaus zu verbreiten und Gruppen Revolutionärer Rebellen aufzustellen, analog zu den Studentengruppen der Roten Garden, die aktiv in Industrie- und Bergbauzentren und auch in Kommunen tätig waren.
Gegen Ende des Jahres hatte sich Tschou En-lai voll und ganz auf die Seite der Kulturrevolutionäre gestellt (allerdings blieb er als vorzüglicher Stratege flexibel, jederzeit bereit, einen Rückzieher zu machen). Nun stand er unerschütterlich inmitten der Massen, der ideale Revolutionär, der keinen Kompromiß eingehen würde um persönlicher Vorteile willen. Fünf Monate lang waren die Jugendlichen der Nachkriegsgeneration auf Regierungskosten durch das Land gereist. Waren sie nun im Begriff, in die Anarchie zu versinken, völlig außerhalb jeder Kontrolle zu geraten? »Ihr müßt den kompromißlosen Geist des Langen Marsches wieder erneuern«, drängte sie Tschou En-lai. »Statt nach Peking zu fahren, um Anweisungen vom Vorsitzenden Mao entgegenzunehmen, geht lieber zu Fuß«! Und die Jugend rief begeistert: »Lang lebe der Geist des Langen Marsches! Lang lebe die Große Proletarische Kulturrevolution!«
Die Jungen, die so unerwartet vom Elternhaus und der Schule befreit waren, schienen sich mit Herz und Verstand den neuen Führern, den Kulturrevolutionären, zuzuwenden.
Angefeuert vom Enthusiasmus dieser radikalen Sprecher, zu denen auch eine starke und gewinnende Frau gehörte, die allen Konventionen trotzte, zerstörte die Jugend die Symbole der alten Ordnung und ordnete sich neu unter Leitung der VBA, die dazu bestimmt war, sie im Dienst des gesamten Volkes zu führen.
Auf diese Weise wandelte die historische Dialektik, von einer stärkeren menschlichen Energie als je zuvor bewegt, die beginnende revisionistische Ordnung zu einer neuen revolutionären Unordnung um. Überall im Land brach zwischen rivalisierenden Studentengruppen Streit aus, desgleichen zwischen rebellischen Jugendlichen und Soldaten, die den Auftrag hatten, die Ordnung wiederherzustellen, und zwischen Studenten und Arbeitern, wodurch ein empfindlicher Produktionsrückgang entstand. Mao Tse-tung, der stärkste Motor der Kulturrevolution und gleichzeitig der hauptsächliche Nutznießer einer künftigen Stabilität, hatte keine andere Wahl als zu versuchen, die scheinbar unaufhaltsame Entwicklung zur Anarchie hin, die er selbst in Gang gesetzt hatte, unter Kontrolle zu bekommen.
Als die Studentenbewegung ihrem Höhepunkt entgegentrieb (August 1966), begeisterten sich ihre Anführer über Maos äußerst passende Parole von 1939 »Rebeilion ist berechtigt!« Als der Aufstand der jungen Generation jedoch zu einem Dauerzustand zu werden drohte, gab Mao eine modifizierte Version dieser Parole heraus. »Die Rebellion gegen Reaktionäre ist berechtigt!« Diese Berichtigung wurde von Tschiang Tsching in ihren späteren Ansprachen unterstützt.[24] Doch die Studenten, die man zuvor zu höchstem Enthusiasmus angestachelt hatte, der für ihr Alter ganz natürlich war, hielten zwei weitere Jahre lang an der ursprünglichen Parole fest.[25]
Um das Ganze noch zu dramatisieren, wurden gewisse Höhepunkte aus der Revolutionsgeschichte der Welt beschworen. So wurde der geschichtsunbewußten chinesischen Jugend die Pariser Kommune von 1871 (in Punkt neun des 16-Punkte-Beschlusses) als eine Ausdrucksform revolutionärer Reinheit und kollektiver Selbstbestimmung vor Augen gestellt.[26] Tschiang Tsching, die lange Zeit romantische Vorstellungen von französischer Kultur gehabt hatte, die aus Filmen und Romanen stammten, proklamierte im Dezember 1966 begeistert die Pariser Kommune als Modell, bis sie schließlich dem Aufruf des Vorsitzenden nach Mäßigung Folge leistete. Doch der Leiter ihrer Gruppe, Tschen Po-ta, forderte sogar noch im Januar eine neue Pariser Kommune. Für die Radikalen bedeutete das: »Ergreift die Macht!« (wenn auch nicht notwendigerweise unter der Leitung der Gruppe für die Kulturrevolution). Also brach ein unheilvoller Januar-Sturm über das Land herein, der dann zur Januar-Revolution wurde.
Es gab Versuche, in Harbin und in den Provinzen Heilungkiang, Schansi, Anhwei und Kiangsi die Macht zu übernehmen. Doch nur in Schanghai, inzwischen eine Zehn-Millionen-Stadt, wurde aus dem Pariser Symbol vorübergehend Realität. Tschang Tschun-tschiao und Yao Wenyüan, Mitglieder der Gruppe für die Kulturrevolution, die in Schanghai arbeiteten, empfingen radikale Studentenführer aus Peking. Sie kontrollierten die »Zeitung der Befreiungsarmee«, die »Literaturzeitung« und alle Radio- und Fernsehstationen. Durch diese Kontrolle mobilisierten sie die öffentliche Meinung gegen das Schanghaier Stadtkomitee, indem sie dessen » Ökonomismus«[27] und Revisionismus anprangerten und das Proletariat aufforderten, »die Macht zu ergreifen«. Als Folge davon wurde die ganze Stadt buchstäblich gelähmt. Die Arbeit in den Fabriken, das Transportwesen, das Kommunikationssystem, Wasser- und Elektrizitätsversorgung brachen fast völlig zusammen. Die Bahnverbindung wurde im Norden von Schanghai unterbrochen.[28] Mitten in diesem totalen Chaos gründeten Tschang Tschun-tschiao und Yao-Wen-yüan am 5. Februar die Schanghai-Kommune. Tschang wurde zum Vorsitzenden ernannt. Die Geburtsstunde der neuen Regierung wurde von mehr als einer Million Demonstranten gefeiert, die durch die Straßen zogen und bunte Plakate und rote Fahnen schwenkten.
Schanghais revolutionäre Autonomie war gleichbedeutend mit Abspaltung, was den Zorn Maos und Lin Piaos erregte. Ihr Erfolg bei der Führung von Partei und Armee hing davon ab, ob sich lokale Stabilität und fortwährende Anpassung an Veränderungen der revolutionären Autorität kombinieren ließen. Ende Februar wurden Tschang und Yao nach Peking beordert, wo der Vorsitzende angeblich ihr anarchistisches Verhalten als eine Form »reaktionärer Politik« tadelte. Bevor das extreme Modell der Schanghaier Kommune die Nation gefährlich beeinflussen konnte, wurde das Revolutionskomitee der Stadt Schanghai eingesetzt. Diese erste institutionelle Form einer neuen Ordnung sollte durch ein neues dreifaches Bündnis geleitet werden. Mitglieder der »revolutionären Massen« sollten sich mit zwei bewährten stabileren Elementen assoziieren: mit loyalen Mitgliedern der VBA und mit zuverlässigen Parteifunktionären.
Während dieser schwierigen Monate wurden andere Revolutionskomitees eingesetzt, die die früheren Stadt- und Provinzregierungen ablösten. Da die Bedeutung der Armee im Lauf dieser Umwandlungen zunehmend wuchs, wurde Tschiang Tschings militärischer Rang Mitte Januar erhöht: sie wurde Beraterin einer zweiten Gruppe für die Kulturrevolution - diesmal innerhalb der VBA. Ihre häufigen Ansprachen an die regionalen Gruppen in dieser Phase des Umbruchs illustrieren ihren Kampf mit dem Dilemma revolutionärer Führerschaft: Wie kann man Aggressionen gegen den Revisionismus verbal unterstützen, ohne daß diese Aggressionen sich in Gewalttaten entladen und dadurch unter Umständen die Kommunikation zwischen Führern und Geführten zerstören? Schärfer formuliert: Wie konnte man Gewalttaten unter Kontrolle halten, die letztlich nichts anderes waren als politischer Enthusiasmus in Aktion, ohne daß die revolutionäre Bewegung gebremst wurde, die notwendig war, um die Gesellschaft davor zu bewahren, wieder in den früheren Zustand zu verfallen, in dem die Armen und die Frauen von der Verantwortung für öffentliche Belange ausgeschlossen waren?
Wie Immer hatte Tschiang Tsching kaum eine andere Wahl, als Maos Kritik zu akzeptieren und seinen Meinungswandel mitzumachen. Am 22. Dezember 1966 hielt sie vor einer Massenversammlung von Jugendlichen aus Pekings Mittelschulen eine Ansprache. »Euer (politisches) Niveau ist hoch«, sagte sie lobend. »Ich möchte von euch lernen. Bisher habe ich noch nicht viel getan. Was für ein Mensch ist ein Mitglied der KPCH? Ein KPCh-Mitglied ist jemand, der keine Angst vor Kritik hat!« Sie empfahl den jungen Leuten, zusammenzuhalten und sich mit der Mehrheit jener zu verbinden, die noch nicht zu Gewalttaten geschritten waren. »Wenn ihr einig sein wollt, dann müßt ihr gegenüber der Minderheit diktatorisch sein, die weiterhin gewaltsam vorgehen will.«[29]
In einer Rede, die Tschiang Tsching am 10. Januar im Westsaal der Großen Volkskongreßhalle hielt, führte sie eine Praxis fort, die in der Kulturrevolution laufend geübt wurde: politische Verdammung verbunden mit Rufmord. Obwohl Liu Schao-tschi und Teng Hsiao-ping, die Hauptanführer der »bürgerlichen« Linie, im vorhergehenden Sommer entmachtet worden waren, war ihr Einfluß noch zu stark, argumentierte Tschiang Tsching. Lius Frau, Wang Kuang-mei, wurde angegriffen, weil sie die Linie ihres Mannes vertreten hatte. Lius und Wangs revisionistische Auffassung von Ökonomismus wurde immer noch in Peking, Schanghai und anderswo in der Praxis vertreten. »Wir müssen eine scharfe Linie zwischen dem Feind und uns ziehen«, rief Tschiang Tsching und gab weitere Urteile über revolutionäre Widersacher ab, wobei ihre Begründungen nicht besonders stichhaltig waren. Ihre Ausdrucksweise (die für Nicht-Eingeweihte sicher befremdlich geklungen hätte) war für eine Zuhörerschaft, die seit langem an solche Verbalinjurien gewöhnt war, durchaus glaubwürdig. Tschen I (der sehr geachtete Außenminister) sei ein »guter Genosse«, konterte sie kürzlich erfolgte Angriffe auf ihn, die das Gegenteil behaupteten. Er mochte ja vielleicht einige falsche Dinge geäußert und einige »irrige Gedichte« verfaßt haben, er sei jedoch nicht doppelzüngig. Tschen Is ausgezeichnete Leistungen bei der Neuen 4. Armee und die Tatsache, daß er schon frühzeitig gegen die Wang-MingLinie gekämpft hatte, durften nicht unberücksichtigt bleiben. Li Fu-tschun (Mitglied des Politbüros und langjähriger guter Bekannter Tschiang Tschings, der einen Verwaltungsposten innerhalb der Wirtschaft innegehabt hatte) sei unvorsichtig gewesen, behauptete sie, ohne nähere Angaben zu machen. Li Hsien-nien (Finanzspezialist und Mitglied des Zentralkomitees) und Hsie Fu-tschih (in den sechziger Jahren Sicherheitschef und Stellvertretender Vorsitzender der Staatskonferenz) waren - obwohl sie einst Untergebene von Teng Hsiao-ping gewesen waren gleichfalls »gute Leute«.
Tao Tschu (der starke Mann aus dem Süden, Mitglied des Politbüros und Leiter der Propagandaabteilung seit 1966) war ein ganz anderer Fall. Er gehöre zu der »doppelzüngigen« Gruppe, erklärte Tschiang Tsching. Auf einer Massenversammlung, die während der Kulturrevolution abgehalten wurde, hatte er die Frechheit besessen, eine Aufnahme der politischen Führer zu machen, später den Kopf von Tschen I aus der Photographie herauszuschneiden und ihn auf den Körper von Teng Hsiao-ping zu kleben (der sich über Tschiang Tschings Reformbemühungen auf dem Kunstsektor lustig[30] gemacht hatte).
Die offene Aufforderung zur Rebellion (1966) wurde zu Beginn des neuen Jahres ganz allmählich von einer dringlichen, allerdings wenig beachteten Aufforderung nach Mäßigung abgelöst. Die Revolution sollte nicht notwendigerweise mit Gewalt gekoppelt werden. Man solle auch nicht glauben, daß es ohne Gewaltanwendung keine Revolution gebe, erklärte Tschiang Tsching einer Gruppe junger Rebellen in Peking. Revolution im Sinne einer ständigen Selbstkritik und Kritik an anderen - ihre persönliche Glaubensformel, die in unserem Interview wiederholt ausgedrückt wurde - sollte zur Lebensform werden. Linke Gruppierungen sollten sich mit anderen revolutionären Gruppen zusammenschließen. Jene jungen Leute, die ihre Tendenz zur Anarchie und Ultra-Demokratie eingestanden hatten, sollten korrigiert werden. Solche Studenten sollten nicht nur gegen den Klassenfeind kämpfen, sondern auch das dialektische Prinzip »eins teilt sich in zwei« auf ihre eigenen Gedanken anwenden. Jeder Mensch hat »eine dunkle und eine lichte Seite ... seid selbstkritisch und gesteht eure Fehler ein.«
Sie sollten Peking, das immer noch von Peng Tschens konterrevolutionären Ideen infiltriert war, verlassen und in die Fabriken und die Bezirke um Peking gehen - man mußte gar nicht sehr weit gehen ... Um echte Revolutionäre zu sein, sollten sie ihre Privatinteressen zurückstellen und den Bedürfnissen des ganzen Landes Rechnung tragen. Doch zuerst müßten die anarchistischen Auswüchse beseitigt werden und alle Macht, die unberechtigt ergriffen wurde, zurückgegeben werden.[31]

Während jener Wochen, in denen die Schanghaier Kommune entstand, blieb Tschiang Tsching in Peking. Am 22. Januar sprach sie vor einer Versammlung der Roten Garden »Kampfgefährten«, redete sie sie an - und sprach die Hoffnung aus, daß sie gewaltlos kämpfen würden. Thema der Ansprache war die Situation an der Tsinghua-Universität, wo monatelang Fraktionskämpfe zu öffentlichen Verhandlungen und Verurteilungen, zu offenem Krieg und zu Todesfällen geführt hatten. Sie sprach nicht im einzelnen über die Personen, die daran beteiligt waren. Die Gründe dafür waren politischer Natur, wenn auch nicht von der üblichen Art. Ihr Gegenspieler war nämlich eine andere Frau aus dem politischen Machtzentrum, Wang Kuang-mei, die Frau von Maos Erzrivalen Liu Schao-tschi.
Tschiang Tsching und Wang Kuang-mei waren beide loyale Ehefrauen und der Sache ihrer Männer absolut ergeben. Während Tschiang Tsching zur Förderung der Politik Maos in der Peking-Universität aufgetreten war, dem Zentrum der Geisteswissenschaften, hatte sich Wang Kuang-mei (ebenfalls zugunsten ihres Mannes) an die Tsinghua-Universität gewandt, das wissenschaftliche und technische Zentrum, woran Liu ganz besonders interessiert war. Diese Parallelen, in Verbindung mit der Annahme, daß nur einer der beiden Männer an der Spitze sein konnte, haben Beobachter zu der Ansicht bewogen, daß die beiden Frauen persönlich, wenn nicht sogar auch ideologisch, erbitterte Feindinnen waren. In China war man außerdem immer der Meinung gewesen, daß Eifersucht die »empfindlichste Stelle« einer Frau sei. Um von diesem Eindruck abzulenken und vielleicht auch um auf keinen Fall den Verdacht zu erwecken, sie könne für Wang Kuang-meis Schicksal mitverantwortlich sein, äußerte sich Tschiang Tsching in unserem Interview ausgesprochen zurückhaltend über Lius Frau.[32] Im übrigen hatte Tschiang Tsching sicher auch eine andere mögliche Parallele vor Augen: Wenn Mao entmachtet würde, dann wäre es auch mit ihrer Karriere vorbei. Und wenn er starb, würde sie Leuten ausgeliefert sein, die versucht sein könnten, seine Familie und politische Linie zu liquidieren.
Wer war Wang Kuang-mei? Ich interviewte mehrere Frauen in Führungspositionen, doch Wang bekam ich nicht zu Gesicht. Das Dossier, das während der Kulturrevolution über sie angefertigt worden war, hatte mit der Realität nichts mehr gemein. Doch einige Tatsachen lassen sich doch noch eruieren. Sie sind nicht unwichtig, denn Wangs Tragödie demonstriert deutlich das immer gleiche Risiko, das jede Frau eingeht, die einen politisch mächtigen Mann heiratet und dann eigene Macht gewinnen will.
Wang Kuang-mei war eine außergewöhnlich intelligente und gewandte Frau. Sie war die fünfte oder sechste Ehefrau Lius und ihm gegenüber unbedingt loyal. In Amerika geboren, kehrte Wang nach China zurück, studierte an den katholischen Universitäten Fu Jen und Yentsching und arbeitete 1946 in Jenan als Dolmetscherin für die Kommunisten. Bei der Gelegenheit lernte sie einige amerikanische Unterhändler kennen. Anfang der sechziger Jahre, als Tschiang Tsching sich noch kaum profiliert hatte, trat Wang Kuangmei als eine politisch aktive Ehefrau schon deutlich in Erscheinung. 1963 begleitete sie Staatspräsident Liu Schao-tschi nach Djakarta, im Frühjahr 1966 nach Afghanistan, Pakistan und Burma. Wie es den diplomatischen Anlässen entsprach, trug sie zeitweilig statt schlichter proletarischer Kleidung modische Kleider (es wird behauptet, Tschiang Tsching habe sie davor gewarnt, Perlen zu tragen), und nahm auch ab und zu die Möglichkeit wahr, in Gesellschaft zu tanzen. In China empfingen sie und ihr Mann gemeinsam die Politiker, die zu Staatsbesuchen kamen, obwohl es unter sozialistischen Führern nicht die Norm war, gemeinsam mit der Ehefrau aufzutreten. Sie vernachlässigte auch die Innenpolitik nicht. Ungefähr zehn Jahre später als Tschiang Tsching reiste sie 1963 inkognito nach Hopeh, wo sie mehrere Monate damit verbrachte, im Rahmen der Bewegung der Vier Säuberungen die Korruption zu bekämpfen.[33] Als dann jedoch Maos Kulturrevolution das ganze Land in ihren Sog gezogen hatte, lastete man ihr alle Sünden Liu Schao-tschis an. Auch daß sie sich bei ihrer Arbeit auf dem Land auf Liu als oberste Autorität berufen hatte statt auf Mao, wurde ihr vorgeworfen.
Kurz bevor Tschiang Tsching begann, sich mit den Studenten der Peking-Universität auseinanderzusetzen, trat Wang Kuang-mei im Juni 1966 in der Tsinghua im Namen des Zentralkomitees auf (in dem zu der Zeit noch keine der beiden Frauen Mitglied war).[34] Obgleich Wang behauptete, den Vorsitzenden Mao und die Partei zu vertreten, war die Truppe, die sie anführte, jene Arbeitsgruppe von etwa fünfhundert Funktionären, die aus allen Teilen des Landes stammten, in Wirklichkeit von Liu dazu autorisiert worden (nach späteren Berichten der Roten Garden), den linken Aufstand in dieser Universität zu unterdrücken. Statt den Studenten zu erlauben, große Wandzeitungen zu schreiben, befahl Wang Kuang-mei ihnen, sich auf kleine unauffällige zu beschränken. Sie bezeichnete Gruppen unzufriedener Studenten als »finstere Banden« und wollte sie am liebsten auflösen. Als Liu im August in Mißkredit geriet, wurde ihre Arbeitsgruppe von der Universität verbannt. Tausende von radikalen Studenten und Lehrern übernahmen sofort die Macht und reisten durch das ganze Land, um Maos Kurs zu unterstützen. Im Dezember kehrten sie nach Tsinghua zurück und gründeten das Vereinigte Tsching-kang-schan Regiment, in Erinnerung an jenen Ort, an dem Mao zum erstenmal Arbeiter und Bauern organisiert hatte. Auf einer Massenkundgebung von mehr als zehntausend Menschen am 25. Dezember wurde Liu Schao-tschis politisches Schicksal besiegelt und das ganze Universitätsgelände mit riesigen grellen Wandzeitungen geschmückt. Die ständigen Unruhen weiteten sich im Frühjahr zum Bürgerkrieg aus. Trotz Maos gegenteiligen Anordnungen hörten die Studenten nicht damit auf, den Ideenkrieg mit brutaler Gewalt zu führen.
Ohne auf Tschou En-lais Rat zu hören, organisierte Kuai Ta-fu, Studentenführer des Vereinigten Tsching-kang-schan Regiments, der von Tschiang Tsching einmal als »rebellischer Held« gefeiert worden war, am 10. April 1967 eine Massenversammlung von mehr als dreihunderttausend Menschen. Das gesamte Universitätsgelände war mit Wandzeitungen gepflastert, die sich gegen Liu richteten. Wang Kuang-mei, die Frau des Mannes, der vierzig Jahre lang Maos Kampfgefährte gewesen war, wurde persönlich den Massen vorgeführt. Als schreckliche Karikatur ihrer »bürgerlichen« Zeit, in der sie auf diplomatischen Empfängen aufgetreten war, trug sie ein enges Abendkleid, spitze hochhackige Schuhe, einen breiten englischen Strohhut und eine Halskette aus vergoldeten Pingpongbällen, die mit Totenköpfen bemalt waren. Obwohl behauptet wird, daß sich das sozialistische China von der Volksreligion befreit hat, daß der Glaube an Hexen und die Macht der Teufelsaustreibung aufgegeben wurde, schrie die Menge Wang Kuang-mei an: »Nieder mit den Rindsteufeln und den Schlangengeistern!«[35]
Mit Liu Schao-tschi ging man etwas glimpflicher um. Man beschimpfte ihn hauptsächlich hinter seinem Rücken, und die üblichen Beschuldigungen, die sich bis zum Überdruß über ihn ergossen, wurden mit den Jahren zum Ritual. Doch seine Frau, die die sexuelle Phantasie des Volkes anregte, das imrner noch an Sündenböcke und Hexen glaubte, wurde nicht geschont.