Lin Piao, der Verräter

Ikarus, du steigst in die Lüfte
Mit schmelzendem Wachs,
Stürzest ins Meer.
Mögen Wärme und Wachs
Dich wiederbeleben, so daß du
Diese Lektion lehren kannst.
Der Wahrsager nehme sich in acht,
Der Hochstapler fällt
Jenseits der Sterne fliegend.
Alciato, »Emblemata«

Am 18. Mai 1966 hielt Lin Piao vor dem Politbüro eine der ungewöhnlichsten Ansprachen in den Annalen der chinesischen Geschichte.[1] Daß er ständig von Staatsstreichen sprach und mit einer ganzen Reihe blutrünstiger Beispiele aus der Weltgeschichte aufwartete, beunruhigte den Vorsitzenden Mao, der wußte, daß er als auf Lebenszeit gewählter Führer besonders gefährdet war. Lin Piaos schonungslose Analyse von Machtkämpfen entnervte auch Tschiang Tsching, die sich durch seine rücksichtslose Geschichtsklitterung und seine offensichtliche Bereitschaft, solchen Vorbildern nachzueifern, ebenfalls physisch und politisch angegriffen fühlte. An diesem Tag (und vermutlich auch bei weniger bekannten Anlässen) stellte Lin Piao die mörderische Politik auf höchster Ebene dar und nahm seinen eigenen steilen Aufstieg zum Nachfolger Maos und seinen schrecklichen Sturz vorweg.
So interessant wie der Inhalt von Lin Piaos Ausführungen war der Zeitpunkt, an dem sie gemacht wurden. Ein Vierteljahr zuvor hatten Peng Tschen und andere Anhänger Liu Schaotschis die Februar-Thesen verbreitet, die scheinbar Maos Forderung nach einer Kulturrevolution unterstützten, obwohl sie in Wirklichkeit dagegen opponierten. Diese Männer hofften, daß für die Kontrolle der kulturellen Angelegenheiten weiterhin die Propagandaund Kulturabteilungen zuständig sein würden. Von diesen Abteilungen waren in den vergangenen siebzehn Jahren die Medien, das Bildungswesen und die Künste betreut worden. Auf Tschiang Tschings Drängen hin hatte Mao Lius Gefolgsleute durch die Gruppe für die Kulturrevolution ersetzt, die scheinbar nur aus Mao-Anhängern bestand. Diese Gruppe erhielt den Auftrag, die Massenerhebung in den kommenden zwei Jahren zu steuern.
Ebenfalls im Februar wurde Tschiang Tsching zur Beraterin der VBA in Kulturfragen ernannt. Diese Funktion nötigte sie zur engen Zusammenarbeit mit Lin Piao, sicherte ihr militärische Unterstützung für ihre aggressiven Projekte auf dem Kultursektor und erlaubte die Erfüllung von Mao Tse-tungs seit langem erhobener Forderung, daß die Soldaten der VBA im zivilen wie im militärischen Bereich tätig sein sollten. Nur dann konnten sie seine Ideen mit Worten und Waffen verteidigen. Am 16. Mai 1966 bestätigte das Zentralkomitee Tschiang Tschings und Mao Tse-tungs Rundschreiben, in dem die Ausdehnung des proletarischen Klassenkampfs auf alle kulturellen Gebiete verlangt wurde. Zwei Tage später trat Lin Piao vor die Mitglieder des Politbüros des ZK, um über das Wesen des Staatsstreichs zu referieren.
Lin Piao hielt sich an ein vorbereitetes Konzept. Detailliert schilderte er die blutigen Machtkämpfe von der Zeit der alten Tschou-Dynastie bis zur jüngsten Vergangenheit und behandelte zuletzt die Februar-Herausforderung durch das »Vier-Familien-Dorf«, sein Spitzname für Liu Schao-tschis Führungsgruppe. Die wichtigsten Männer dieser Gruppe waren Peng Tschen, der politische Theoretiker, Lo Jui-tsching, der das Militär kontrolliert hatte, Lu Ting-i, der Oberkommandierende an der kulturellen und ideologischen Front, und Yang Schang-kun, der für Geheimdienstoperationen und strategische Verbindungen zuständig war.
Als Redner ließ Lin Piao sich sehr viel weniger als seine Kollegen durch revolutionären Optimismus leiten. Auch bediente er sich nicht des in der Massenpropaganda üblichen marxistischen Jargons. »Politische Macht ist ein Instrument, mit dem eine Klasse die andere unterdrückt«, erklärte er. »Das gilt für Revolution und Konterrevolution. Meiner Ansicht nach ist politische Macht die Macht, andere zu unterdrücken.« Der Vorsitzende Mao, berichtete er bewundernd, habe einer Konterrevolution entgegengewirkt, indem er in den Rundfunk, das Militär und den Sicherheitsdienst Beobachter eingeschleust hatte. »Wir sollten von solchen Methoden des Vorsitzenden Mao lernen.«
Nach Lin Piao gab es zwei Voraussetzungen für einen Staatsstreich. Die erste war die Kontrolle über die Propagandaorgane - Presse, Rundfunk, Literatur, Film und Verlage. Die zweite war die Kontrolle über die Streitkräfte. Erst wenn die zivile und die militärische Macht koordiniert waren, konnte ein konterrevolutionärer Coup gelingen. Oder deutlicher ausgedrückt: »Die Machtergreifung auf politischem Gebiet hängt von Gewehrläufen und Tintenfässern ab.«
Im Frühjahr 1966 beherrschten Lin Piao und Tschiang Tsching gemeinsam die Gewehrläufe und die Tintenfässer (Symbole von althergebrachter geschichtlicher Bedeutung). Nach der traditionellen Ausdrucksweise des chinesischen Regierungswesens befehligte Lin Piao wu, den militärischen Bereich, und Tschiang Tsching, die in Maos Auftrag handelte, wen, den kulturellen Bereich. Ungeachtet ihrer persönlichen Ambitionen handelten beide stets im Namen des Vorsitzenden Mao und strebten danach, seine Lehren anzuwenden. In Friedenszeiten war wen - Ethik, Geschichte, Literatur und Regierungskunst - für die Aufrechterhaltung der Ordnung entscheidend. Nach dem Widerstandskrieg und dem Befreiungskrieg räumte die kommunistische chinesische Regierung wen deshalb wieder den Vorrang ein. In der chinesischen kommunistischen Terminologie läßt sich wen etwa mit »Propaganda« gleichsetzen, einem nicht weniger umfassenden und nicht unbedingt herabsetzenden Begriff. Das Problem der Führung lief stets auf die Frage hinaus, wer die Propagandaorgane langfristig kontrollierte. Im Frühjahr 1966 hatte Lin Piao sich von Tschiang Tsching davon überzeugen lassen, daß die Kontrolle über die Propaganda im Laufe der vergangenen siebzehn Jahre allmählich aus Mao Tsetungs Händen in die seiner Rivalen, die sich gegen ihn verschworen hatten, übergegangen war.
In der Öffentlichkeit trat Lin Piao als illusionsloser Realist auf, der in seinen kritischen Betrachtungen nur ein Thema aussparte: den Vorsitzenden Mao. Lin Piao rühmte ihn als »Genie« und behauptete, seine Lehren seien die »immerwährende Wahrheit«. War er wie Millionen andere nur ein fanatischer Anhänger des großen Führers und Lehrers? Oder hatte Mao ihm einem Mann von untadeligem militärischen und zivilen Ruf - den Auftrag gegeben, diesen Personenkult, der auf eine Vergötterung Maos durch die Massen hinauslief, zu fördern? Oder verbarg sich hinter Lin Piaos Lobpreisungen ein raffinierter Kalkül vielleicht die Absicht, schon vor Maos Tod die Macht zu ergreifen?[2]
Mao war besorgt. Das fiel Tschiang Tsching auf den Krisensitzungen des Politbüros, die kurz nach Lin Piaos Brandrede in Hangtschou stattfanden, auf. Das Unbehagen des Vorsitzenden zeigte sich auch in dem Briefwechsel in den nächsten Wochen, als er auf Reisen war, während sie in Schanghai auf dem Kultursektor arbeitete. In seiner Antwort auf ihren Brief vom 29. Juni zeigte er sich nachdenklich und auf die eigene Person konzentriert. Er war entschlossen, »sich selbst zu erkennen« und forderte Tschiang Tsching auf, das Gleiche zu tun.[3] Er zitierte Lu Hsün, als er schrieb, daß es für sie beide (Mao und Tschiang) von Vorteil sei, die eigenen Motive sorgfältiger als die Motive anderer zu sezieren. (Darauf kam Tschiang Tsching im Gespräch oft zurück.) Zugleich machte sich in diesem Brief ein gewisses Mißtrauen gegenüber »unserem Freund« (wie sie Lin Piao nannten) bemerkbar. Mao schrieb:

»Doch die Dinge gehen generell auf ihr Gegenteil zu. Je höher man jemanden in den Himmel hebt, desto schwerer schlägt er auf... Ich meine, auch Du solltest dieser Frage Beachtung schenken und Dir nicht den Sieg in den Kopf steigen lassen. Häufig solltest Du über die eigenen Schwächen, Fehler und Mängel nachdenken. Diesen Punkt habe ich Dir gegenüber wer weiß wie viele Male angeschnitten. Im April in Schanghai habe ich Dir das noch gesagt.«

Über die Gefahren seiner eigenen Position und das Paradox des Personenkults führte er aus:

»Immer war ich der Ansicht, daß sich der Affe zum Großkönig ernennt, wenn es in den Bergen keinen Tiger gibt. Ein solcher Großkönig bin ich auch geworden. Doch dazwischen besteht wiederum kein Kompromiß. Ich habe etwas vom Tiger an mir, und das ist dominierend. Dazu habe ich etwas vom Affen an mir, und das ist sekundär. Früher habe ich einmal einige Sätze aus dem Brief von Li Ku aus der Han-Dynastie an Huang Tschiung angeführt: >Was hoch herausragt, ist leicht zu knicken, was hell glänzt, leicht zu beschmutzen. Dem weißen Schnee im Frühling gleichzukommen, das gibt es immer weniger; unter der Last eines berühmten Namens ist entsprechendes Handeln schwer.< Diese letzten beiden Sätze passen ganz auf mich.«[4]

Mao kannte die Risiken einer revolutionären Ära, die sich als »Diktatur des Proletariats« verstand. Sie entstanden unweigerlich, sobald man dem Volk ein dynastisches Element - den Monarchen - wiedergab, das es brauchte (das spürte Mao), obwohl es den Wunsch danach nicht eingestehen konnte. Er war sich darüber im klaren, wie sehr der Königsmacher Lin Piao seinen und in letzter Zeit auch Tschiang Tschings Ruf »hinaufgetrieben« hatte und daß sie beide vernichtet werden konnten, wenn sie stürzten. Aber der Verdacht, den Mao im Hinblick auf Lin Piaos persönliche Motive hegen mochte, war jedenfalls nicht stark genug, um eine sofortige Säuberung zu rechtfertigen. Der Vorsitzende konnte Lin Piaos Analyse historischer Staatsstreiche damals noch nicht als Enthüllung einer persönlichen Strategie verstehen. Auch der Zeitpunkt, von dem an Tschiang Tsching Lin Piao zu mißtrauen begann, läßt sich nicht leicht bestimmen. In unseren Interviews, die stattfanden, als Lin Piaos makelloser Ruf offiziell zuschanden gemacht wurde, setzte sie den Beginn seiner verräterischen Wühlarbeit auf Mitte 1966 an. Ihrer Ansicht nach hatte er damals Tschen Pota dazu veranlaßt, die Mitglieder der im Spätsommer 1966 gebildeten 16. Mai-Gruppe negativ zu beeinflussen, so daß sich diese Gruppe in die - von ihr so bezeichnete - » 16. Mai-Clique« verwandelte. Diese Clique, die sich von der Gruppe abspaltete, mit der Tschiang Tsching assoziiert gewesen war, rückte auf den ultralinken Flügel, indem sie den physischen Kampf - der auch bewaffnete Auseinandersetzungen einschloß - propagierte.
Obwohl Tschiang Tsching ihm später vorwarf, ein Revisionist gewesen zu sein, stieg Lin Piao scheinbar unaufhaltsam aus den Wirren, Fraktionskämpfen und Zerwürfnissen jener Jahre auf. Der IX. Parteitag der KPCH im April 1969 bestätigte ihn offiziell als »Nachfolger«. Damals kamen mehr als die Hälfte aller neu ins Politbüro Gewählten aus dem Militär. Auf demselben Parteitag wurde die offizielle Schreibweise des Namens des Vorsitzenden in »Mao Tsetung« abgeändert, eine stilistische Vereinfachung, die ihn linguistisch und ideologisch auf die gleiche Stufe mit den europäischen Patriarchen Karl Marx und W. I. Lenin stellen sollte. In den folgenden sechzehn Monaten wurde der Vorsitzende nur selten ohne sein Alter ego Lin Piao photographiert.
Diese demonstrative Freundschaft hielt bis zur 2. Plenartagung des IX. Zentralkomitees, die im September 1970 in Lu-Schan stattfand. Offiziell wurde diese Tagung zu dem Zweck einberufen, über Änderungen des Parteistatuts zu beraten. Aber wie zwei Jahre später in einem Geheimbericht festgestellt wurde, kam es dabei zu dem Versuch einer »Machtergreifung« durch Lin Piaos Gruppe.[5] In der Öffentlichkeit pries Lin die »Maotsetungideen« noch immer in den höchsten Tönen, doch als Realpolitiker hatte er sich die Unterstützung der Mehrheit des Politbüros, unter anderem die Stimmen seiner Frau und Tschen Po-tas gesichert.[6] Aus Maos Geheimbericht geht hervor, daß es Lin Piao darauf angelegt hatte, das Amt des Staatspräsidenten, das nach Liu Schao-tschis Sturz abgeschafft worden war, neu zu schaffen (und wohl selbst zu besetzen). Mao hatte 1958 festgestellt, daß er dieses Amt nicht für sich beanspruche, was bedeutete, daß er die Abschaffung dieses Amts wünschte. Hätte Lin Piao sich zwölf Jahre später mit seiner Auffassung durchgesetzt und wäre er Staatspräsident geworden, hätte er protokollarisch über Tschou En-lai gestanden. Außerdem wären die Interessen der VBA, die er befehligte, den Interessen der Partei, die Mao, Tschou und Tschiang verfolgten, übergeordnet worden.
Für den Dialektiker Mao, der davon überzeugt war, daß die Geschichte aus Wiederholungen bestehe, war Lin Piaos Herausforderung gewiß keine Überraschung gewesen. Angesichts der von Mao selbst geschilderten periodischen Wiederholung von Machtkämpfen war der Zeitpunkt dieses Kampfes vorhersagbar. Peng Te-huai war 1959 in Lu-schan gegen Mao angetreten, und Liu Schao-tschi hatte 1965 am selben Ort den Kampf gegen ihn aufgenommen. Nach dem erwarteten Intervall von fünf bis sechs Jahren begann jetzt Lin Piao - ebenfalls in Lu-schan - den zehnten Kampf zweier Linien.
Wann in der Menschheitsgeschichte hat sich die Rolle des designierten Nachfolgers des Begründers einer Dynastie völlig absichern lassen? Obwohl ihn von der regulären Übernahme der Macht nur ein Herzschlag - oder ein Dolchstoß - trennte, wußte Lin Piao, daß seine Rivalen bereit waren, ihn politisch oder physisch zu vernichten. Auch die Erfahrung, wie es Liu Schaotschi in der gleichen Position ergangen war, zeigte, daß Mao nicht darüber erhaben war, seine Meinung zu ändern. Schließlich bestand die Möglichkeit, daß Mao, der vierzehn Jahre älter, aber im allgemeinen gesund war (während Lin Piao ständig kränkelte und Anfang der fünfziger Jahre Krankenurlaub hatte nehmen müssen), »über 100 Jahre« werden konnte, wie Lin selbst prophezeite.[7]
Um die Zwischenzeit zu seiner und Maos Zufriedenheit zu überstehen, bezog sich Lin Piao auf historische Prinzipien, ohne dabei die Grundregeln zu vernachlässigen. Wie er wußte, hielt Mao Tse-tung sich stets an das grundlegende Paradox revolutionärer Herrschaft: daß man gleichzeitig zu den Führenden wie zu den Geführten gehören müsse. Solange Mao nur kleine Gruppen unzufriedener Arbeiter und Bauern geführt hatte, war dies leicht gewesen. Aber aufgrund seines Erfolgs hatte die Zahl seiner Anhänger zugenommen - und damit auch die Zahl der Führenden. Um Primus inter pares im Kreis der Kampfgefährten und geheimen Rivalen zu bleiben, mußte Mao sie mit Kopf und Schultern überragen - und dabei erhob er sich noch höher über die Massen. In diesem Absonderungsprozeß ließ Mao zwar die Verbindung zum Volk nicht abreißen. Doch er blieb nicht nur innerhalb der Tradition des Kaisertums, sondern folgte auch dem Beispiel Stalins, des Baumeisters einer sozialistischen Nation und Objekt eines Personenkults. Mao bewunderte Stalin - viel mehr, als Stalin ihn. Eine vergleichbare Verehrung konnte Mao in China nur mit Hilfe einer gut kalkulierten politischen Strategie gewinnen. Mit Maos Erlaubnis, wenn nicht sogar mit seiner aktiven Unterstützung, übernahm Lin Piao die Aufgabe, diese Strategie in die Praxis umzusetzen.
Die ideologische Grundlage dieses Kults war eine Auswahl aus den Werken des Vorsitzenden, die im Ausland als das »Kleine Rote Buch« oder als »Maobibel« bezeichnet wurde. Die Entstehungsgeschichte der »Maobibel« reicht bis ins Jahr 1960 zurück, als Lin Piao, der im Jahr zuvor zum Verteidigungsminister ernannt worden war, der Militärkommission eine Liste von Prinzipien vorgelegt hatte, die als die Vier Ersten bekannt wurden: Der Mensch ist stets von größerer Bedeutung als seine Waffen; unter allen Tätigkeiten muß die politische Arbeit an erster Stelle stehen; im Bereich der politischen Arbeit gebührt der ideologischen Arbeit der Vorrang; für die ideologische Arbeit sind die schöpferischen Impulse entscheidend. Dieses von Mao überarbeitete Dokument, das den Titel »Über die Verstärkung der politischen und ideologischen Arbeit in der Armee« erhielt, wurde im Dezember 1960 vom Zentralkomitee bestätigt und kündigte bereits den späteren Anthropomorphismus der Kulturrevolution an. Ein Teil davon erschien als erster Absatz des Vorworts zu »Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung«. Die »Worte« wurden am 1. August 1965 erstmals veröffentlicht - angeblich herausgegeben von der Allgemeinen Politabteilung der VBA - und bis Ende 1966 mehrmals neu aufgelegt.
Im Jahr 1962, in dem nach Tschiang Tsching das Vorspiel zur Kulturrevolution begann, wurde die Zusammenarbeit von Armee und Partei noch enger. Lin Piao hatte veranlaßt, daß die »Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung« regelmäßig als Schlagzeilen in der »Zeitung der Befreiungsarmee« erschienen. Im Dezember 1963 revanchierte Mao sich mit der Kampagne »Lernt von der VBA!« Im nächsten Jahr sammelte Lin Piao markante Auszüge aus Maos Schriften und kurze Aufsätze des Vorsitzenden für ein Taschenbuch, das jeder Soldat besitzen sollte. Im Jahr 1966 zogen die Studenten und bald darauf auch die Massen nach, indem sie bei Demonstrationen in der Hauptstadt die rot gebundenen Taschenausgaben der »Worte« in die Höhe hielten. Als die Kulturrevolution sich immer schneller ausbreitete, tauchten überall Zitate aus den »Worten« auf: auf den Titelseiten aller Zeitungen und Zeitschriften, vor und nach oder während aller kulturellen Veranstaltungen und in riesigen Schriftzeichen an Fassaden und auf Plakaten in den Straßen. Selbst das Kinderspielzeug wurde nicht verschmäht: Ganze Mao-Zitate wurden auf Bauklötze gedruckt jeweils ein Schriftzeichen pro Klotz. Die Zitate durften niemals durcheinandergebracht werden. Noch Jahre nach dem Sturz des Propagandisten Lin Piao waren die Bilder und Worte des Vorsitzenden allgegenwärtig.
Auf dem Höhepunkt des Personenkults, im Jahre 1970, ließ Mao Tse-tung Edgar Snow gegenüber erkennen, daß er sich bewußt war, eine lebende geschichtliche Gestalt zu sein. Es falle dem Volk sehr schwer, die dreitausendjährige Tradition der Kaiserverehrung zu überwinden, bemerkte er bei dieser Gelegenheit. Daß ihm die sogenannten Vier Groß Großer Lehrer, Großer Führer, Großer Oberkommandierender und Großer Steuermann - als ritualisierte Ehrennamen aufgedrängt wurden, empfand er als lästig. Auf die Dauer legte er nur Wert auf den Titel »Lehrer«, mit dem er einst in Tschangscha begonnen hatte. »Manchmal frage ich mich, ob diejenigen, die am lautesten Mao schreien und die meisten Banner schwenken, nicht - wie einige sagen - die Rote Fahne schwenken, um die Rote Fahne zu besiegen.«[8]
Maos Verdacht von 1970 wurde zwei Jahre später Tschiang Tschings leidenschaftliche Überzeugung. Sie behauptete, Lin Piao sei der heimliche Anführer der Ultralinken, d.h. der Kreise, die den Kampf, den der Vorsitzende und sie in der Kulturrevolution gegen den Revisionismus führten, auf gewalttätige Weise sabotierten. Nicht alles, was sie mir (beherrscht von Ressentiments und Rachegelüsten gegen einen Mann, der ihr Unrecht getan hatte) anvertraute, war zur Veröffentlichung bestimmt, und ich habe diese Bitte respektiert. Auch war nicht zu erwarten, daß alle Beweise, die sie mir vorlegte, in die offizielle Anklageschrift gegen Lin Piao, die - vielleicht sogar unter ihrer Federführung - soeben ausgearbeitet wurde, aufgenommen werden würden.

Wer ungewöhnliche Wege beschreite, müsse unweigerlich einige Fehler machen, sagte Tschiang Tsching, bevor sie ihren Bericht fortsetzte. Ein Mitglied der KPCh solle stets bemüht sein, seine Arbeit richtig zu tun. Falls es bei der Verfolgung der außergewöhnlichen Ziele, die es sich selbst gesteckt habe, Fehler mache, aber es zulasse, daß sie korrigiert würden, sei alles in Ordnung. »Wenn ich Fehler gemacht habe, übe ich natürlich Selbstkritik und korrigiere meine Fehler!« rief sie. »Das ist nichts Schlimmes. Das ist sogar etwas Gutes.«
Tschiang Tsching erinnerte sich belustigt daran, daß sie beinahe ein Opfer der Kämpfe in den sechziger Jahren geworden sei. Nachdem sie in die Gruppe für die Kulturrevolution, die Peng Tschens Fünfergruppe abgelöst hatte, entsandt worden war, hatten einige Anhänger der verstoßenen Gruppe eine der ersten Sitzungen der neuen Gruppe gesprengt. Sie waren bewaffnet und hatten offenbar die Absicht, alle Anwesenden zu ermorden. Sie schossen sogar, waren aber offenbar zu aufgeregt und wurden festgenommen.
Als offiziell festgelegt werden sollte, wer bei diesem Zusammenstoß die »wahren Feinde« und wer die »zeitweiligen Missetäter« gewesen waren, einigten Tschiang Tsching und ihre Genossen - das berichtete sie, ohne Namen zu nennen - sich darauf, daß die Attentäter, die versucht hatten, die Mitglieder der Gruppe für die Kulturrevolution zu ermorden, ohne »ernste« ideologische Abweichungen erkennen zu lassen, nach entsprechender Zeit entlassen werden konnten.
Einige andere, die sich in der Vergangenheit als ideologisch unzuverlässig erwiesen hatten, wurden »stabilisiert«: Sobald sie sich auf Maos Seite schlugen, wurden sie in ihre politischen Positionen wieder eingesetzt, und ihr guter Ruf war wiederhergestellt. Die Führung trage solchen »bewährten Kadern« nichts nach, sagte Tschiang Tsching. Ihre jetzige »korrekte« Haltung sei das Ergebnis der schweren Schläge, die sie während der Kulturrevolution hatten hinnehmen müssen. Solche Persönlichkeiten (andere in diesem Zusammenhang gemachte Äußerungen ließen erkennen, daß sie dabei in erster Linie an Teng Hsiao-ping dachte), die sich im langwierigen Prozeß von Kampf-Kritik-Umgestaltung bewährt hätten, dienten dem Volk nunmehr besser als zuvor.
Die Machthaber urteilten jedoch nicht immer unparteiisch, sagte sie. Die Bekanntesten unter den zu Unrecht Bestraften seien Teng Hsiao-ping, Tao Tschu und Tschen Po-ta.[9] Alle drei hätten es nicht geschafft, die revolutionären Normen, die Tschiang Tsching, der Vorsitzende Mao und ihre Anhänger in der Kulturrevolution trotz größter Schwierigkeiten durchgesetzt hatten, zu erreichen oder auf die Dauer einzuhalten. In der Zeit, als der Vorsitzende und seine engsten Vertrauten nicht in der Lage gewesen seien, Gerechtigkeit zu üben, seien solche Genossen zu Unrecht von der Rechten oder der Ultralinken angegriffen worden.
Die Unfähigkeit mancher revolutionärer Veteranen wie Teng Hsiao-ping oder Ye Tschienying, sich den raschen Kursänderungen der revolutionären Bewegung anzupassen, habe zu bedauerlichen Vorfällen geführt. Und einige führende Genossen hätten offensichtlich auch Fehler gemacht. Der Feind habe diese Irrtümer sofort der öffentlichen Kritik preisgegeben. Sowohl der Vorsitzende als auch der Ministerpräsident hätten sich bemüht, die zu Unrecht Angegriffenen zu schützen. Doch trotz ihrer Bemühungen seien einige von ihnen den von der Kulturrevolution entfachten Leidenschaften zum Opfer gefallen. Diese Mißachtung der Menschenwürde - die in einigen Fällen den Betroffenen das Leben gekostet habe - müsse allerdings unter dem Aspekt des Prinzips »Eins teilt sich in zwei« gesehen werden.
Die Kulturrevolution sei den Kritisierten zwar gut bekommen, doch zugleich sei der Prozeß der Selbstumgestaltung (der ideologischen Berichtigung) mühsam und langwierig gewesen. Das gelte insbesondere für Teng Hsiao-ping und Ye Tschien-ying. Im Lauf der Zeit werde ihre Leistung wiederanerkannt und ihr Prestige wiederhergestellt werden - dies prophezeite Tschiang Tsching im Sommer 1972.
Obwohl sie nur ungern die Namen derer nannte, die zu Unrecht angegriffen worden waren, sprach sie mit großem Mitgefühl von dem alten Kämpfer Hsü Hsiang-tschien, dem Stellvertretenden Vorsitzenden der Militärkommission des Zentralkomitees. Als er sich 1966 in Lebensgefahr befand, lud der Vorsitzende ihn und andere, die ebenfalls bedroht waren, in ihr Haus im Tschungnan-hai ein. Dort blieben sie, bis die Lage wieder unter Kontrolle war.
Die Kulturrevolution mußte mit Menschenleben, mit der Zerstörung von Eigentum und mit einem Rückgang der Agrarproduktion bezahlt werden. Doch die schwersten Rückschläge gab es in der Industrie. Selbst jetzt, im Sommer 1972, war die Produktionslücke noch nicht völlig geschlossen worden. In zahlreichen Fabriken führten die ideologischen Auseinandersetzungen schließlich zu offenen Kämpfen, was im Hinblick auf den nationalen Bedarf an einem konstanten Ausstoß von Gebrauchsgütern einer Katastrophe gleichkam. Auch in den Volkskommunen auf dem Lande flammten Kämpfe auf, allerdings waren die Verluste dort weniger gravierend.
Die Führung der Partei und des Staates zwang sich dazu, die Unruhen differenziert zu beurteilen und als Ausdruck des Prinzips »Eins teilt sich in zwei« zu sehen. Sie wußte durchaus, daß die Kämpfe verhängnisvoll waren, da sie Menschenleben und Produktionsmittel kosteten. Doch zugleich ließen sie die Widersprüche zwischen den Klassen deutlich hervortreten und förderten ideologische und kulturelle Umwälzungen, die sich auf die Dauer als vorteilhaft erwiesen. Im nachhinein erscheint als die bedeutsamste Errungenschaft der Kulturrevolution die in ihr eingeleitete Veränderung der Einstellung der Massen.
Lu Hsüns Witwe, Hsü Kuang-ping, wurde während der Kulturrevolution ebenfalls zu Unrecht verfolgt. Und sie überlebte diese Verfolgung nicht.
Ich fragte, weshalb Hsü Kuang-ping so schwer bedrängt worden sei.
Nach Ansicht Tschiang Tschings war dies auf die in den dreißiger Jahren zwischen Tschou Yang und Lu Hsün ausgetragene literarische Fehde zurückzuführen. »Ich habe erst davon (von Hsü Kuang-pings mißlicher Lage) erfahren, als jemand mich in einem Brief darauf aufmerksam gemacht hat. Dann hat Lu Hsüns Frau mir selbst geschrieben, und ich habe sie besucht. Kurz nach unserer Begegnung ist sie wie ihr Mann in den Tod getrieben worden (am 3. März 1968). Diese Nachricht hat mich zutiefst bekümmert. Zu der Verfolgung kam es, während wir mit anderen Problemen beschäftigt waren. Wäre sie nicht von den 16. Mai-Elementen (den Ultralinken - offenbar unter Führung von Lin Piao, nicht von Tschou Yang, der schon zwei Jahre zuvor kaltgestellt worden war) beschimpft worden, dann lebte sie vielleicht heute noch.
Wenig später haben die Genossen Tschou En-lai, Kang Scheng und ich ihren Sohn besucht. Er war Techniker beim Staatsrundfunk. Er hat uns geschildert, wie man sie bis kurz vor ihrem Tod belästigt und geängstigt hat.
Politische Klugheit hinderte Tschiang Tsching daran, mir zu sagen, auf welche Weise Hsü Kuang-ping verfolgt worden war, politisch oder durch physischen oder psychischen Terror? Deutlich wurde jedenfalls, daß Tschiang mit Hsü sympathisierte - und das aus gutem Grund. Mit der Witwe wurde zugleich das Andenken des Mannes geehrt, den Mao und sie als literarischen Wegbereiter ihrer Sache schätzten. Aber die Sache hatte noch einen weniger offenkundigen, feministischen Aspekt: Diese beiden Frauen und vielleicht Millionen weniger berühmter Geschlechtsgenossinnen teilten das Los aller Ehefrauen, die Opfer der politischen Kämpfe wurden, die hauptsächlich von Männern geführt wurden. Beide Frauen außergewöhnlich begabt und begeisterungsfähig - reiften in den Wirren der dreißiger Jahre in Schanghai. Beide heirateten berühmte Männer und überlebten diese schließlich. Aber Hsü, die Konventionellere von beiden, ließ nie erkennen, was sie von den Legenden hielt, die von den Kulturpolitikern der Volksrepublik China um ihren Mann gewoben wurden.[10] Als Außenstehender kann man sich fragen, ob sie sich je dagegen aufgelehnt hat, daß die KPCh den größten Teil seiner Werke unterdrückte, daß seine begabtesten Schützlinge (Ting Ling, Hu Feng, Hsiao Tschün und andere) erbarmungslos verfolgt wurden und daß Tschiang Tsching sich später seinen Ruhm und einige seiner Arbeiten für ihren Feldzug gegen Tschou Yang, ihren gemeinsamen Feind, zunutze machte.
Waren Hsü Kuang-pings Nachgiebigkeit gegenüber denen, die den Lauf der Geschichte bestimmten, und ihr Verzicht auf eine eigene Karriere, typisch für alle Frauen berühmter Männer? Tschiang Tsching war ihrem Mann und allem, wofür er eintrat, nicht weniger treu. Aber sie unterschied sich dadurch von Hsü, daß sie schon als junge Frau großen persönlichen Ehrgeiz besessen hatte und hartnäckig davon überzeugt gewesen war, den Lauf der Geschichte beeinflussen zu können. Anfang der fünfziger Jahre begann für sie der schwierige und zermürbende Prozeß der Trennung von ihrem Mann. Ihre enge Zusammenarbeit wurde beendet. Dennoch mußte sie sich nach Maos Tod wie Hsü mit seinen politischen Erben auseinandersetzen, die sein Charisma für ihre eigenen Zwecke auszunutzen versuchten.

Bei unserer Begegnung in Peking schlug Tschiang Tsching das neueste Kapitel in der Geschichte chinesischer Hofpolitik auf: »Die Kommunistische Partei Chinas hat bisher zehn große Kämpfe zweier Linien ausgefochten. Der zehnte ist der gefährlichste gewesen. Die zentrale Figur dieses Kampfes war Lin Piao. Er wollte nicht nur den Vorsitzenden Mao ermorden - und zu diesem Zweck hat er viele Pläne geschmiedet - sondern hatte auch vor, sämtliche Genossen aus dem Politbüro umzubringen. Seine Leute haben Pläne unserer Wohnungen gezeichnet und wollten sie angreifen und bombardieren, um uns alle gleichzeitig zu erledigen. Der Kampf war äußerst heftig. Diese Leute waren so heimtückisch, grausam und brutal, daß sie nicht einmal vor einem Attentat auf den Vorsitzenden Mao zurückschreckten!«
Sie erzählte, daß Lin Piaos Männer in der Zeit, in der sie Maos Dienstsitz kontrollierten, den Auftrag gehabt hätten, dem Essen für den Vorsitzenden und seine Frau immer größer werdende Giftdosen beizumengen. Beide seien sie schwer krank geworden, ohne die Ursache zu ahnen, und sie selbst sei den größten Teil des Jahres krank gewesen. Dies habe sich vor allem auf ihren Verstand und ihr Gedächtnis ausgewirkt. Sie sei erst vor kurzem wieder ganz genesen, fügte sie hinzu.
»Die Sowjetrevisionisten haben ihm den Rücken gestärkt«, warf Yao Wen-yüan ein. »Nachdem sein Plan fehlgeschlagen war, hat er versucht, mit seiner Frau und seinem Sohn in die Sowjetunion zu fliehen. Er wollte in panischer Angst zum Feind überlaufen. Doch indem er die Partei und die Nation verriet, hat er seine eigene Vernichtung bewirkt - sein Flugzeug ist in der Mongolei abgestürzt.« »Genossen wie der Ministerpräsident, Kang Scheng, Tschang Tschuntschiao, Yao Wen-yüan und ich haben auf der Seite des Vorsitzenden Mao gekämpft«, beteuerte Tschiang Tsching. »Lin Piaos Ultralinke hat überall Brände gelegt, und wir haben als Feuerwehr fungiert und unsere alten Genossen beschützt. Lin Piao wollte die altbewährten Genossen entmachten und selbst die Macht ergreifen. Er hätte es hingenommen, wenn die Sowjetrevisionisten ihre Truppen ins Land geschickt hätten.
Aber wie der Vorsitzende Mao seinem Gast, Minister Schuman, erklärt hat, hat er einen Tropfen Alkohol appliziert[11] - und Lin Piao war erledigt!«
Nach Tschiang Tsching hatte die im Sommer 1972 beginnende Propagandakampagne gegen Lin Piao den Zweck, den Menschen aller Altersgruppen die aus der Kulturrevolution zu ziehenden Lehren nahezubringen. Der Vorsitzende habe erklärt, die Kampagne diene dazu, das Erkenntnis- und Unterscheidungsvermögen der Menschen zu verbessern. Die Massen müßten lernen, zwischen Linken, Rechten und unschlüssig in der Mitte Schwankenden zu unterscheiden, um unter allen Umständen die Grenzen zwischen den Klassen erkennen zu können. Die Bewegung demonstriere vor allem, daß Lin Piao niemals »mit der Volksbefreiungsarmee identisch« gewesen sei, wie er gern behauptet habe. Die VBA sei von Mao Tse-tung »und einigen anderen« aufgebaut und von Anfang an von Mao persönlich befehligt worden.[12]
Lin Piaos Verrat habe schon vor langer Zeit begonnen, sagte Tschiang Tsching, ohne zu erklären, warum die Parteiführung erst so spät gegen ihn vorgegangen war. Nachdem Lin Piao 1959 zum Verteidigungsminister ernannt worden war, verkündete er: »Ein Satz des Vorsitzenden Mao steht für zehntausend Sätze.« Der Vorsitzende, dem solche Übertreibungen zuwider waren, habe später geantwortet: »Ein Satz steht für einen Satz, und es gibt eine Angelegenheit (seine Weigerung, das Amt des Staatspräsidenten wiedereinzuführen), zu der ich sechs Sätze gesagt habe, aus denen nichts geworden ist, nicht einmal ein halber Satz.«[13]
Lin Piao habe sich als unermüdlicher Plagiator erwiesen. Ein gutes Beispiel dafür sei der Ausspruch, den er ständig im Munde geführt habe: »Wer aufs Meer hinausfährt, braucht den Steuermann ...« Lin Piao pflegte zu behaupten, dies seien seine Worte, aber in Wirklichkeit habe er sie aus einem bekannten Lied entlehnt, das jemand anders geschrieben habe. Tschiang Tsching erklärte damals den anderen Mitgliedern der Führungsspitze, daß Lin Piao ständig dieses höchst wichtige Zitat verwende, lasse den Vorsitzenden unbescheiden wirken.
Was die »Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung« betreffe, so habe Lin Piao nichts dazu beigetragen, obwohl er das Gegenteil behauptet habe. Wie Tschen Po-ta erläutert habe, sei das ursprüngliche Vorwort (vom 1. August 1965) von der Allgemeinen Politabteilung der VBA verfaßt worden, und Lin Piao habe keineswegs zu den Herausgebern gehört. Als Lin Piao das Vorwort vorgelegt worden sei, habe er nur die Einleitung und den Schluß geändert. Dennoch habe er es unterzeichnet und dadurch den falschen Eindruck erweckt, das gesamte durchgeschene Vorwort (vom 16. Dezember 1966) stamme von ihm.
Tschiang Tsching hatte, wie sie berichtete, zwei verschiedene Ausgaben von ausgewählten Werken des Vorsitzenden gelesen. Die erste mit dem schlichten Titel »Höchste Weisungen« (»Tsui-kao tschih-schih«) war in den Jahren 1968 und 1969 von der VBA und dem Politbüro gemeinsam herausgegeben worden. Sie hatte sich gefragt, was »Höchste Weisungen« bedeuten sollten. Der Titel bezog sich nur auf einen Namen - den des Vorsitzenden. Als einziger Autor dieser »Höchsten Weisungen« mußte der Vorsitzende als höchst unbescheidener Mann erscheinen. Von wem stammten sie also wirklich? Die Bezeichnung »höchste« Weisungen konnte nach Tschiang Tschings Meinung nur bedeuten, daß es irgendwo jemanden gab, der »höhere« Weisungen erteilte. Aber niemand wollte sich Tschiang Tsching gegenüber zu der Behauptung versteigen, daß seine Weisungen als »höhere« zu verstehen seien. Einigen Kampfgefährten (offenbar Tschiang Tschings Gefährten) sei es schließlich gelungen, diese erste Ausgabe zu boykottieren.
Die Männer, die das Verlagswesen kontrollierten (d. h. VBA-Publikationen, die von Lin Piao und seiner Gruppe ediert wurden), hatten den Vorsitzenden und seine Anhänger stets über ihre Verlagsprogramme im unklaren gelassen. So hatten sie beispielsweise auf eigene Verantwortung mehrere Ausgaben der Werke Mao Tse-tungs herausgebracht, ohne den Vorsitzenden, den Ministerpräsidenten oder Tschiang Tsching vorher zu benachrichtigen. Als Tschiang Tsching eines Tages von einer weiteren Broschüre erfuhr, bat sie Tschou En-lai, ihr ein Exemplar zu beschaffen. Die Durchschrift trug den Titel »Lang leben die Maotsetungideen! «, und war keine bloße »Broschüre«, sondern ein ziemlich dickes Buch. Nachdem sie und der Vorsitzende es studiert und die Stellungnahmen anderer dazu gehört hatten, sei ihnen klar geworden, daß es zu zwei Dritteln aus Lin Piaos Ideen bestehe. Nur ein Drittel bestehe aus den Ideen Mao Tse-tungs.[14] Als sie ihre Exemplare erhielten, sei das Buch schon weit verbreitet gewesen, denn es kostete nur 60 Cent (etwa 0,25 Dollar). Ihr Exemplar habe immer im Salon ihres Hauses im Tschung-nan-hai gelegen, bemerkte Tschiang Tsching spöttisch. Schon nach kurzer Zeit habe sie entdeckt, daß dies nur eine von mehreren verfälschten Ausgaben des gleichen Buches war, was ihrer Überzeugung nach bewies, daß diese Ausgaben den Zweck hatten, Mao Tse tung zu stürzen.
Lin Piao sei ein Landesverräter gewesen, fuhr Tschiang Tsching fort. Lange Zeit habe niemand erkannt, daß er ein großer »Veruntreuer« des materiellen und geistigen Reichtums Chinas war. Aber einige hätten schon frühzeitig den Hintersinn seiner übermäßigen Begeisterung erkannt: Lin habe die Rote Fahne geschwenkt, um damit gegen die Rote Fahne zu kämpfen. Sie hätten bald erkannt, daß die Fahne, die er schwenkte, nur auf einer Seite rot war. Auf der Rückseite sei sie mit einem Totenschädel und gekreuzten Knochen geschmückt gewesen. Im Laufe der Zeit habe er sich den Ruf eines extravaganten Mannes verschafft, der ein großzügiger Gastgeber war und seine Freunde beschenkte. In Wirklichkeit habe er sich jedoch aus dem Staatseigentum bedient und es nach eigenem Gutdünken verschenkt. (In seiner Person gehe der konfuzianische Eifer, »ein Beamter und reich zu werden«, eine Verbindung mit einem Materialismus sowjetischer Art ein.) Lin Piao habe sich in verschiedenen Teilen des Landes riesige Villen bauen lassen, in die er viele Familien eingeladen habe, um sie fürstlich zu bewirten.
Im Frühjahr 1967 hätten einige Mitglieder von Lin Piaos Clique eine Fabrik in Szetschuan besetzt und grundlos »zehntausend Schüsse« (selbstverständlich eine Übertreibung) in die Luft abgefeuert - eine primitive vulgäre militärische Machtdemonstration ohne Sinn und Zweck.
Kämpfe hätten auch ihr Gutes, versicherte mir Tschiang Tsching. Aber mit dem Ausklang der Kulturrevolution hätten die offenen Auseinandersetzungen aufgehört. Das sei nur gut so, fügte sie heiter hinzu.
Während der Kulturrevolution kam es jedoch an vielen Orten zu schweren Kämpfen. Tschiang Tsching erinnerte sich an einen Vorfall im Zusammenhang mit bewaffneten Unruhen in Südost-Schansi. Als sie eines Abends (im Sommer 1967) in ihrem Arbeitszimmer in der Großen Volkskongreßhalle beim Aktenstudium saß, kam Ministerpräsident Tschou hereingestürzt und bat sie, nach Hause zu gehen. »Fahren Sie nach Hause und sehen Sie zu, daß Sie ein bißchen Schlaf bekommen«, forderte er sie auf. Im nächsten Augenblick stürmte eine Gruppe von Soldaten, die Landkarten mitbrachten, in die Große Volkskongreßhalle. Ihr Anführer war der alte Soldat und Politkommissar Tscheng Wei-san, damals bereits ein Mitglied der Lin-Piao-Clique, wie sich später herausstellen sollte. Tscheng hatte den Auftrag erhalten (vermutlich von Lin Piao), gegen Rebellen in Südost-Schansi vorzugehen. Sowohl Yang Tschen-wu, der amtierende Generalstabschef, als auch der Stellvertretende Generalstabschef waren anwesend. Artillerie, gepanzerte Fahrzeuge und Pioniergerät wurden angefordert und zusammengezogen. Während Tschiang Tsching diese Vorbereitungen erstaunt beobachtete, meinte ein Generalstäbler herausfordernd: »Genossin Tschiang Tsching, Sie können doch kämpfen!« Offenbar wollte er damit sagen, daß sie sich dieser Expedition anschließen solle. Aber sie erklärte ihm, die Jahre an der Seite des Vorsitzenden Mao hätten sie gelehrt, daß Waffen niemals rücksichtslos gebraucht werden dürften.
Nachts erreichte der Ministerpräsident sie telephonisch zu Hause. Er forderte sie auf, sich aus militärischen Konfrontationen herauszuhalten; sie solle sich darauf konzentrieren, Propaganda bei den Massen zu machen. Aber sie mußte ihm begreiflich machen, daß die Massen ebensogut wie das Militär bewaffnet rebellieren konnten, falls die Spannungen weiter zunahmen.
Lin Piaos Verschwörung betraf auch Mitglieder ihrer Familie. Es war ihm durchaus zuzutrauen, daß er versuchte, mit Hilfe ihrer Kinder gegen Tschiang Tsching vorzugehen. Jetzt konnte sie darüber lachen, doch damals war ihr kaum zum Lachen zumute gewesen. Lin Piao hatte während der Kulturrevolution geplant, ihre Tochter Li Na zu entführen, um sie für irgendwelche finsteren Zwecke zu gebrauchen. Aber er kannte sie offenbar nicht gut genug, denn als die Falle, die er gestellt hatte, zuschnappte, saß darin eine ganz andere Frau. Als Li Na in einer kritischen Phase bei der »Tageszeitung der Befreiungsarmee« arbeitete (als provisorische Chefredakteurin), warfen einige Mitglieder von Lin Piaos »parteifeindlicher« Clique ihr zu Unrecht »Machtanmaßung« vor.[15]
In einer späteren kritischen Phase der Kulturrevolution ernannte Tschiang Tsching ihre Stieftochter Li Min zu einem führenden Mitglied der (für Atomforschung zuständigen) Kommission für Wissenschaft und Technologie im Pekinger Verteidigungsministerium. Diese Kommission wurde damals von Nie Jung-tschen geleitet, der zugleich Stellvertretender Verteidigungsminister war.
Li Min gehörte damals auch der Massenorganisation »16. September« an, die ihren Sitz in Peking hatte. Ein bestimmter Luftwaffengeneral nahm Li Min beiseite und erzählte ihr schadenfroh, der Kommission seien einige Fehler Tschiang Tschings gemeldet worden und Li Min werde als ihre Stieftochter nun ebenfalls dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
Einige Zeit später, im Jahre 1971, besuchte Tschiang Tsching Li Min in Tsingtao. Dort war Li Min erneut zu Unrecht wegen ihrer Stiefmutter angegriffen worden. Bemerkungen Tschiang Tschings zur Person des Kommissionsvorsitzenden Nie Jung-tschen hatten Verwirrung ausgelöst. Im Gegensatz zu Berichten, in denen behauptet worden war, sie habe ihn angegriffen, hatte sie gefordert, er müsse vor ungerechtfertigter Kritik geschützt werden.[16] Dies waren nur einige Fäden in dem scheinbar unentwirrbaren Netz von Gerüchten und falschen Anschuldigungen, in dem sich Tschiang Tsching, ihre Kinder und die ihnen Nahestehenden oft verfingen.
Doch trotz aller Gefahren folgten beide Töchter dem Beispiel ihrer Eltern und beteiligten sich an der Revolution. Sie waren begeisterungsfähig, selbständig und kritisch. Li Na, fügte Tschiang Tsching scherzhaft hinzu, werfe ihr oft vor, sie bevorzuge Jungen und vernachlässige Mädchen - und Li Min sei der gleichen Ansicht.

Es sei nie das Prinzip des Vorsitzenden Mao gewesen, die Vergangenheit durch die Unterdrückung der historischen Wahrheit zu verfälschen, beteuerte Tschiang Tsching. Bei Lin Piao treffe genau das Gegenteil zu. Als Ultralinker habe er Photos, Filme und andere Publikationen zensiert, wenn dies seinen eigenen Plänen zugute kam. Selbst die Amerikaner hätten sich davon beeindrucken lassen. Als Tschiao Kuan-hua als UNO-Botschafter begrüßt wurde (Mitte November 1971), zeigte das amerikanische Fernsehen Aufnahmen, auf denen der Vorsitzende Mao mit Lin Piao (der vermutlich im September 1971 umgekommen war) zu sehen war. Das nächste Bild zeigte »Superspion Lin« allein. Dieser Fernsehjournalismus habe der chinesischen Führung bewiesen, daß die von der amerikanischen Regierung angeordnete Nachrichtenbeschaffung sehr gründlich und aufwendig war. (Sie war sicher weniger regierungsamtlich und weniger diabolisch, als Tschiang Tsching annahm.) Selbst Präsident Nixon habe sich vor dem gegen ihn arbeitenden Nachrichtendienst gefürchtet. Keiner sei dagegen immun, fügte sie ominös hinzu.
Laut Tschiang Tsching war Lin Piao der gerissenste aller in den sechziger Jahren operierenden Rechten und Linken Opportunisten. Um die Partei, das Militär und den Staat unter seine Kontrolle zu bekommen, bediente er sich vieler bösartiger Mittel. Dazu gehörte unter anderem der Mißbrauch der Verlage. Lin Piao wollte den Vorsitzenden Mao zu einem Idol machen, das eines Tages gestürzt werden konnte. Eine andere Methode, deren sich Lin Piao bediente, war es, Chaos zu erzeugen. Während der Kulturrevolution hatte der Vorsitzende Mao den führenden Genossen - und auch Edgar Snow - mehrmals erklärt, es sei notwendig, daß sich nun alle »beruhigten«. Er hatte sich mehrmals an den Ministerpräsidenten gewandt und ihn aufgefordert, dazu beizutragen, daß die erbitterten Auseinandersetzungen in allen Teilen des Landes in ruhigere Bahnen gelenkt wurden.
Als Tschiang Tsching sich einmal von dem Chaos, das in Peking herrschte, in Schanghai erholen wollte, mußte sie feststellen, daß diese Stadt völlig von Lin Piaos Clique beherrscht wurde. An allen Fassaden prangten Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung. Ein lächerliches gigantisches Photo des Vorsitzenden mit einem seiner Zitate in riesigen Schriftzeichen über seinem Kopf erbitterte sie ganz besonders. Solche vulgären Schaustellungen ließen Mao Tsetung als »unbescheidenen Mann« erscheinen. Als Tschiang Tsching sich bei Tschang Tschuntschiao, der die Stadtverwaltung von Schanghai repräsentierte, beschwerte, erklärte er, wenn die Porträts und Worte des Vorsitzenden entfernt würden, kämen die Porträts Lin Piaos desto auffälliger zur Geltung. Dennoch bestand sie darauf, daß Tschang Tschun-tschiao diese Vergrößerung entfernen ließ und in Zukunft nur noch dezent präsentierte Mao-Zitate gestattete.
Da die Überreste früherer Epochen sich von ehrgeizigen Menschen leicht mißbrauchen ließen, sollten nach Tschiang Tschings Ansicht nicht alle historischen Stätten und Bauwerke erhalten bleiben. Auf der Welt gab es einfach zu viele Menschen, als daß alles erhalten werden konnte. Deshalb hatte die chinesische Führung damit begonnen, einige Baudenkmäler zu beseitigen. Ein riesiger Torbogen vor dem Sommerpalast und drei weitere aus der Pekinger Innenstadt wurden abgebrochen. Die drei Bogen, die früher das Tor des Himmlischen Friedens verdeckt hatten, sahen wie »drei seltsame kleine Höhlen« aus. Mir seien sie vielleicht erhaltenswert erschienen, kommentierte sie trocken, weil mein Land lediglich eine zweihundertjährige Geschichte aufzuweisen habe. Aber für China mit seiner langen Geschichte seien solche Bogen und Tore ohne größere Bedeutung. Außerdem verursachten sie Verkehrsunfälle, und auch dies habe sie veranlaßt, ihren Abbruch zu fordern. Doch Tschen Po-ta und Yang Tze-tschen widerriefen ihre Anweisung, und so hielt sie ihnen einen Grundsatzvortrag und forderte sie auf, den Kohlen-Hügel neben dem Kaiserpalast zu besteigen und sich von dort aus zu überzeugen, daß das Peking-Hotel, das höchste Gebäude der Stadt, die Silhouette der Hauptstadt entstellte.[17]
Aber trotz aller von Tschiang Tsching vorgebrachten ideologischen und pragmatischen Argumente verwahrten sich Tschen, Yang und andere entschieden gegen bauliche Veränderungen - insbesondere gegen den Abbruch der Torbogen. Im Jahr 1971 setzte Tschiang Tsching sich endlich durch. Die Bogen wurden abgetragen und im Tao-yüan-ting, einem Park in der Nähe des alten Tempels des Ackerbaus, wiederaufgebaut. Durch diese Konservierungsmaßnahme sei die bescheidene historische Bedeutung der Bogen nicht erhöht worden, fügte Tschiang Tsching hinzu.
Allerdings sprach sie sich dafür aus, alte Baudenkmäler und bei Ausgrabungen entdeckte Gegenstände von unbestreitbarem historischen Wert zu erhalten. Dabei erwähnte sie die im letzten Jahrzehnt vorgenommenen Ausgrabungen an archäologischen Fundstätten bei Tschangscha in der Provinz Hunan. Die dort aufgefundenen Schätze - manche stammten aus der Zeit der Schang-Dynastie - gehörten nicht nur dem chinesischen Volk, sondern allen Völkern der Welt.[18] Der ständige Umgang mit solchen Gegenständen sei nicht ungefährlich. Manche chinesischen Archäologen und ihre Studenten, die ungehindert mit diesen antiken Objekten arbeiten durften, hätten sich im Lauf der Zeit mit ihnen identifiziert, so daß ihr revolutionärer Eifer nachgelassen habe. Dieses Risiko bestehe ständig, stellte Tschiang Tsching fest. Sie betonte jedoch, daß die chinesische Führung nichts wirklich Wichtiges vernachlässige oder gar vernichten lasse.
Tschiang Tsching brachte das Thema wieder auf Lin Piao und seine Anhänger. Sie erinnerte sich an ein beunruhigendes Erlebnis im Jahre 1970. Eines Tages besuchte sie den Tempel des Himmels im Sun-Yat-sen-Park in Peking. Sie wurde dabei von Wang Li (dem 1967 vorgeworfen worden war, er gehöre der 16. Mai-Clique an) begleitet, weil Wu Te (nach Peng Tschens Entlassung amtierender Bürgermeister von Peking), den sie bewunderte und deshalb mit kulturellen Aufgaben betraut hatte, anderweitig beschäftigt war.
Wang Li sei schon immer ein Dummkopf gewesen, stellte sie angewidert fest. Und an diesem Tag habe er sich besonders unmöglich benommen. Aber in dieser Beziehung sei er nicht der einzige gewesen, denn 1970 sei die Einstellung der meisten Menschen unbefriedigend gewesen.
Beim Betreten des Parks erklärte ihr Wang Li, er wolle ihr einige Buddhas zeigen. Tschiang Tsching erinnerte ihn daran, daß sie hergekommen sei, um einige Exemplare bestimmter exotischer Pflanzen für ihren eigenen Garten zu holen. Aber er bestand darauf, ihr die Buddhas zu zeigen. Sie gab schließlich nach und folgte ihm in den Tempel der azurenen Wolke. Da sie kurzsichtig war (sie trug fast ständig eine Brille), nahm sie im Halbdunkel nicht sofort alle Einzelheiten wahr. Ihr Begleiter zeigte ihr zuerst Gerätschaften und Opfergaben vor den Buddhastatuen. Dann betrachteten sie Sun Yat-sens berühmten Hut und andere Reliquien, überwiegend Kleidungsstücke. Und tief im Tempelinneren standen sie plötzlich vor einer kleinen Mao-Büste. Die muß erst vor kurzem hier aufgestellt worden sein! dachte Tschiang Tsching.
Sie war aufgebracht. Zwar war es zulässig, Erinnerungsstücke aus Sun Yatsens Leben neben Buddhastatuen auszustellen, doch niemand hatte das Recht, Darstellungen des Vorsitzenden Mao oder Andenken an ihn in einem Tempel aufzubewahren. Tschiang Tsching sah sich um. Der fünf- oder sechshundert Jahre alte Tempel enthielt etwa ein halbes Tausend Lohan Statuen - Darstellungen buddhistischer Heiliger. Sie ließ sofort Soldaten kommen und alles entfernen, was an den Vorsitzenden Mao erinnerte. Dann wandte sie sich an Wang Li und gab ihm zu bedenken, daß der Park von zahlreichen ausländischen Gästen und chinesischen Werktätigen besucht werde. Ihnen dürfe der Anblick einer Porträtbüste des Vorsitzenden im Rahmen einer religiösen Kultstätte nicht zugemutet werden. In ihrem Zorn machte sie ihm eine Szene (an die sie sich verlegen lachend erinnerte), aber deswegen schämte sie sich nicht. Sie fand, die Leute sollten sie kennenlernen, wie sie wirklich war. Sie brachte zum Ausdruck, daß die von Wang Li veranlaßte Aufstellung einer Mao-Büste völlig unzulässig war. Um ihren Standpunkt zu verdeutlichen, kaufte sie die als Opfergaben vor den Göttern und Götzen stehenden Speisen auf und verteilte sie an die Umstehenden. »Eßt!« sagte sie zu ihnen.
Als sie 1971 den Sommerpalast besuchte, beschloß sie, den Palast der Weißen Wolke, das größte Bauwerk in der Umgebung, zu besteigen, um das Panorama mit dem See, den Pavillons und dem Park überblicken zu können. Sie näherte sich dem Gebäude und sah zu ihrer Verblüffung, daß auf seinen Mauern in riesigen Schriftzeichen stand: »Lest das Buch des Vorsitzenden Mao und befolgt seine Weisungen.« Jedes der mit einer Spritzpistole aufgetragenen Schriftzeichen war zwei Meter hoch und entsprach genau Lin Piaos kalligraphischem Stil. Lin Piao ließ die Mauern berühmter Gebäude mit Schriftzeichen in seiner bekannten Schreibweise beschmieren und gab dann vor, dieser Ausspruch stamme von ihm. Aber in Wirklichkeit stammte er von Lei Feng (dem jungen Märtyrer, der Anfang der sechziger Jahre Mittelpunkt einer landesweiten Kampagne gewesen war).
Schon bevor Tschiang Tsching solche Beweise mit eigenen Augen sah, hatte der Vorsitzende Mao in einem Gespräch mit Edgar Snow betont, daß es falsch sei, seinen Worten und seiner Person übermäßige Bedeutung zuzumessen. Er hatte Snow erklärt, daß solche Dinge den ausländischen Freunden niemals aufgedrängt werden sollten - in dieser Frage sei sich die chinesische Führung einig. Aber Lin Piao zog es vor, diese Entscheidung zu ignorieren. Als Tschiang Tsching die riesige Schrift an der Palastwand zum erstenmal sah, sagte sie zu ihrer Begleitung lediglich: »Die Macht des Vorsitzenden liegt im Literarischen, und seine Kalligraphie ist Kunst.« Aber am 13. September 1971 (an dem Tag, an dem das Flugzeug, mit dem Lin Piao floh, angeblich in der Mongolischen Volksrepublik abstürzte) wurde Li Tsopeng (seit 1969 Politbüromitglied und vermutlich ein Anhänger von Lin Piao) mit dem Auftrag zum Sommerpalast entsandt, die riesigen Schriftzeichen entfernen zu lassen. Der Vorsitzende habe sich stets gegen jeglichen Großmachtchauvinismus ausgesprochen, bemerkte Tschiang Tsching, und damit meinte sie offenbar Lin Piaos Prahlereien.
Lin Piaos Machenschaften gegen den Vorsitzenden Mao, gegen Tschiang Tsching und gegen ihre Anhänger nahmen 1971 an Häufigkeit und Dreistigkeit zu. Der Vorsitzende instruierte den Ministerpräsidenten, wie er sich bei Zusammenstößen mit Lin Piao zu verhalten habe, aber Maos Vorstellungen waren nicht leicht zu verwirklichen. Auf dem Höhepunkt der Krise eilte Tschiang Tsching oft zu Tschou En-lai, um ihm zu helfen, die Wogen der Erregung zu glätten. Die ständige Bedrohung, die Fraktionskämpfe und die Konspirationen ließen sie fast nicht mehr zur Ruhe und zur Arbeit kommen - nicht einmal in ihrem Haus im Tschung-nan-hai. Denn auch dort hatte sich der Gegner eingenistet. Sie konnten nicht einmal mehr ungefährdet schlafen oder essen. Um zu überleben, räumten der Vorsitzende und ihre Mitarbeiter unauffällig ihr Hauptquartier im Tschung-nan-hai und zogen ins Hotel Tschinhai. Doch dieses Hotel erwies sich als wenig geeignet, und sie richteten sich in der Großen Volkskongreßhalle ein. Die technischen Einrichtungen in dieser Halle erleichterten die Regierungstätigkeit. Da der Vorsitzende aus seinem Heim vertrieben worden war, mußte er alle Besucher in der Großen Volkskongreßhalle empfangen.[19] Damals hätten Außenstehende zum erstenmal von der Suche Maos und seiner Gruppe nach einem Zufluchtsort und damit auch von Lin Piaos Verschwörung zum Sturz des Vorsitzenden erfahren, fügte Tschiang Tsching hinzu.

Die siegreichen Führer hielten Lin Piao zugute, er habe durch sein negatives Beispiel gezeigt, wie wichtig es sei, alle Generationen zum gewissenhaften Studium des Marxismus, des Leninismus und der Maotsetungideen anzuhalten. Ohne unablässiges Studium würden die Massen sich immer wieder »von Schwindlern wie Lin Piao täuschen lassen«.
Um dem im Volk noch immer virulenten Revisionismus entgegenzuwirken, wurde eine neue Berichtigungsbewegung eröffnet. Am 14. September 1971, am Tag nach Lin Piaos Absturz, begann das Büro des Vorsitzenden eine mühevolle Kampagne zur Zurückweisung von Lins Führungsanspruch und zur Bekämpfung seines Arbeitsstils, der von vielen übernommen worden war. Und im nächsten Jahr wurde eine Kampagne zur Kritik an Tschen Po-ta (der 1967 als Ultralinker kritisiert worden war) in die Wege geleitet.
Die Beschlüsse des Vorsitzenden, Tschiang Tschings und ihrer Gruppe wurden den Parteigliederungen und danach den Massen bekanntgegeben. Sie forderten die Entmachtung der parteifeindlichen Clique von hohen Funktionären und deren Anhängern. In diesem Sinne wurden die Massen aufgefordert, erneut den Marxismus-Leninismus und die Maotsetungideen zu studieren.
Seit etwa einem Jahr, sagte Tschiang Tsching, nähmen diese Lehren den ihnen zustehenden Platz im Denken des Volkes ein, und das Bewußtsein der Massen scheine »gut gerüstet« zu sein. Zur Bloßstellung der Mitglieder von Lin Piaos Gruppe sei ein gewisses Maß an »konzentriertem, nachhaltigem Studium« erforderlich. Wenn die Massen mit dem Marxismus-Leninismus und den Maotsetungideen gewappnet seien, kritisierten sie ihre Lage, faßten ihre Erfahrungen in Worte und setzten ihren Kampf fort. Nicht nur die jüngeren, sondern auch die älteren Genossen müßten täglich politische Theorie studieren. »Das gilt auch für mich«, sagte sie lächelnd.
Da nunmehr sehr viele Menschen ernsthaft zu studieren begonnen hätten, sei die revolutionäre Lage gegenwärtig »ausgezeichnet«. Das »große Chaos« liege hinter ihnen, und das »Anfangsstadium geregelter Ordnung« sei erreicht. (Dies waren ihre Ausdrücke für die Stadien des politischen Fortschritts.) Da China sehr groß sei, sei mit neuem Chaos zu rechnen. Und deshalb müßten sich alle auf die Bewältigung der heute schon absehbaren künftigen Probleme konzentrieren.
Vor ihnen lagen drei Aufgaben. Wie schon von einigen Auslandskorrespondenten dargestellt, bestehe die erste Aufgabe darin, den Prozeß der Kampf-Kritik-Umgestaltung (fort vom Revisionismus, hin zum Sozialismus) in allen Fabriken und anderen Produktionseinheiten voranzutreiben. Die politische Berichtigung dürfe aber die Produktionssteigerung nicht behindern; letztere sei einfacher zu erreichen, bemerkte Tschiang Tsching anzüglich. Auf dem Gebiet der Medizin habe der Prozeß der Kampf-Kritik- Umgestaltung noch nicht begonnen. Die zweite und dritte Aufgabe habe der Vorsitzende Mao der gesamten Partei und der Nation erläutert: China dürfe niemals eine Supermacht werden und Nuklearwaffen einsetzen.
»Wird es einen elften Kampf zweier Linien geben?« fragte ich Tschiang Tsching.
»Unweigerlich«, antwortete sie. Die Führung vertrete nicht die Ansicht, daß der Klassenkampf von selbst einschlafen werde. China werde noch immer von Agenten der Bourgeoisie infiltriert und sei von kapitalistischen Staaten umgeben.
Im Juli 1966 habe der Vorsitzende Mao ihr einen Brief geschrieben, der »brillante Vorhersagen« enthalte, bemerkte Tschiang Tsching. Sie bezog sich auf die Korrespondenz, die von westlichen Geheimdiensten aus China beschafft worden war und von der in diesem Kapitel bereits die Rede war.
Mao habe in diesem Brief ihr gemeinsames Ziel abgesteckt: den Sturz aller Rechten Opportunisten in der Partei und im ganzen Land. Es sei selbstverständlich unmöglich, alle zu stürzen, fügte Tschiang Tsching hinzu. Nach sieben oder acht Jahren müsse eine weitere Bewegung »zur Ausrottung von Rinderteufeln und Schlangengeistern« beginnen. Dabei würde es erneut zu »Säuberungen« kommen. Der Vorsitzende habe unmißverständlich erklärt, daß jeder Versuch eines Staatsstreichs durch kommunistische Rechte Opportunisten fehlschlagen müsse. Jede Maßnahme, die den Interessen von 95 Prozent der Bevölkerung zuwiderlief, sei seiner Überzeugung nach zum Scheitern verurteilt. Als Mao dies 1966 niederschrieb, war nicht etwa der Wunsch der Vater des Gedankens. Seine Vorhersagen trafen tatsächlich ein. Und die Kulturrevolution erwies sich letztlich nur als eine Generalprobe.
Lin Piaos schließliche Selbstentlarvung beweise, daß der Brief des Vorsitzenden brillante Vorhersagen enthalte (ein Ausdruck, den Tschiang Tsching wiederholte). Aber dieser Entlarvung seien selbstverständlich langwierige und weitverbreitete Unruhen voraus gegangen. Auch in Peking seien große Sachschäden entstanden. Bestimmte Institutionen wie die Peking- und Tsinghua-Universität, in denen politische und akademische Aktivitäten nicht voneinander getrennt werden könnten, hätten sich als besonders verwundbar erwiesen. Sie seien sofort zusammengebrochen. Dieser Zusammenbruch zeige, daß der Mißerfolg der Rechten Opportunisten in den Institutionen, in denen sie am arrogantesten aufgetreten waren, am krassesten sichtbar werde. Außerdem sei dort auch die Reaktion der Linken rascher und wirksamer erfolgt. Der Zusammenbruch dieser hervorragenden Universitäten, die seit Jahrzehnten eine Heimstatt berühmter Professoren und begabter Studenten gewesen seien, aber auch dazu beigetragen hätten, daß die Akademiker den Kontakt mit der Realität teilweise verloren hatten, gehöre zu einer ganz China erfassenden Generalprobe für zukünftige Kämpfe. Im Lauf der Zeit würde jeder seine Lektion lernen. Die Richtschnur für diesen Kampf lasse sich aus den Worten des Vorsitzenden ableiten: »Der Weg ist voller Windungen und Wendungen, doch die Zukunft ist glänzend.«
Im vergangenen Jahr (1971) habe die KPCh ihr fünfzigjähriges Bestehen gefeiert, sagte Tschiang Tsching. Die Führungsspitze sei sich darüber im klaren, daß durchschnittlich alle fünf Jahre ein Kampf zweier Linien ausbreche. Der Kampf gegen Wang Ming sei der längste gewesen - und stets eine offene Konfrontation. Aber der Kampf gegen »Lin Piaos Diktatur«, der jahrelang unterirdisch geführt worden war, sei nur zweieinhalb Tage lang auf der Plenartagung in Lu-schan im August 1970 offen ausgebrochen.
Welche Früchte hatte die Revolution bisher getragen? Die Führer konzentrierten sich darauf, das »Rückgrat der Revolution« zu stärken. Es solle ebenso aus den Menschen mittleren Alters und den Alten wie aus den Jungen bestehen. Solange jene, die Fehler gemacht hatten, sie eingestanden und die revolutionäre Linie des Vorsitzenden Mao übernahmen, könnten sie mit der Vergebung der Massen rechnen. Ein Beispiel dafür sei der Fall Teng Hsiao-ping. Er habe Fehler gemacht, aber später eingestanden, daß er sich falsch verhalten hatte. Nach seiner Berichtigung seien er und andere zu »Schätzen des Volkes« geworden.
Anfang 1972 trafen sich einige jüngere Spitzenfunktionäre zu einer Erweiterten Arbeitstagung des Zentralkomitees, und Tschiang Tsching nahm daran teil. Danach begab sie sich als Beobachterin zu einer anderen Tagung, bei der hohe Offiziere zusammenkamen. Die geistige Einstellung beider Gruppen erschien ihr völlig neuartig. Die Kritik an Lin Piao, die Berichtigung seiner Anhänger und das erneuerte Studium der Lehren von Marx, Lenin und Mao bildeten die ideologischen Triebkräfte der neuen Bewegung. Die Menschen lernten nun tatsächlich, auf neuartige Weise zu denken und zu sprechen. Außerdem hätten sie das beständige Bedürfnis, kritisiert zu werden. Die meisten Menschen seien nicht verknöchert; sie könnten ihre Ansichten ändern.
Diese Kraft des Volkes, sein Weltbild zu ändern, spürte Tschiang Tsching auf einer weiteren Versammlung, der sie beiwohnte. Diesmal waren die Teilnehmer Arbeiter, Bauern und Soldaten, und unter ihnen waren auch viele Frauen und Angehörige nationaler Minderheiten. Einige Aktivistinnen sprachen erstaunlich gut - besonders eine aus Tibet. Auch von Mongolinnen kamen nützliche Beiträge. Im Verlauf der Versammlung sprachen zuerst die jungen Leute. Dann folgten einige erfahrene Revolutionäre. Sie sprachen länger und hielten sich oft an umfangreiche Konzepte, die sie mitgebracht hatten. Zum Schluß ergriffen einige ZK-Mitglieder das Wort und gaben konstruktive Stellungnahmen ab. Versammlungen wie diese überzeugten die Führer davon, daß die Bewegung zur Entlarvung Lin Piaos und der von ihm propagierten Werte an Boden gewann.

Läßt man Tschiang Tschings Darstellung der Affäre Lin Piao, die verständlicherweise subjektiv war und ihren eigenen Zwecken diente, einmal außer acht, dann fällt auf, wie ähnlich Lin Piaos und Tschiang Tschings Ziele waren - was die Machtverhältnisse und die Nachfolgefrage betrifft. Obwohl Lin Piao hauptsächlich auf militärischem Gebiet und Tschiang Tsching im zivilen Bereich tätig war, wurden sie Rivalen im Kampf um die oberste Machtposition. Beide präsentierten sich den Massen ausdrücklich oder stillschweigend als »bester Schüler« des Vorsitzenden. Und seit Anfang der sechziger Jahre bemühte sich jeder von beiden, der Hauptvollstrecker seiner Ideen zu werden - eine Rolle, die nach dem Tod des Vorsitzenden von entscheidender Bedeutung sein konnte. Lin Piao erreichte in der Sozialistischen Erziehungsbewegung eine ideologische Spitzenposition, Tschiang Tsching stieg in der ihr folgenden Kulturrevolution auf. Lin Piaos Methode bestand darin, Maos Worte im Kleinen Roten Buch geschickt zu redigieren. Tschiang Tsching entwickelte die Kunst der Propaganda noch weiter, indem sie Theater, Oper und Film in Medien für die Maotsetungideen verwandelte. Ihr unbeirrbares Streben nach der Kontrolle über die chinesische Kulturpolitik, in dem ihr Lin Piao im Jahr 1966 für kurze Zeit behilflich war, ist das Thema der nächsten Kapitel.