Vorbereitung zum Auftritt

Wenn Menschen soviel Mut auf die Weltmitbringen, muß die Welt sie töten, um
sie zu zerbrechen, und darum tötet sie sie
natürlich. Die Welt zerbricht jeden,
und nachher sind viele an den
zerbrochenen Stellen stark.
Ernest Hemingway, »In einem andern Land«

»Ich möchte meine politische Jugend nie verlieren...« Dies war eine von Tschiang Tschings ersten Bemerkungen mir gegenüber. Dabei sprach sie nicht nur für sich, sondern auch für die anderen alternden Revolutionsführer. Einige - allen voran Mao - waren entschlossen, die geistige Beweglichkeit und die körperliche Energie zu bewahren, die nötig waren, um die Nation auf dem radikalen politischen Kurs zu halten, den man ein halbes Jahrhundert zuvor eingeschlagen hatte. Diese Gruppe konnte es nicht zulassen, daß die überwiegend junge Bevölkerung (fast eine halbe Milliarde Chinesen sind unter dreißig) vorzeitig in ein politisches Erwachsenenalter geriet oder durch Nachlässigkeit die alte Ordnung wieder herstellte.
Mit ihrer gewohnten Leichtigkeit kombinierte Tschiang Tsching persönliche und öffentliche Angelegenheiten. »Ich leide an verschiedenen Krankheiten, aber ich arbeite und kämpfe weiter.«
»Genosse Tschiang Tsching kämpft gegen die Krankheit genauso tapfer, wie sie in politischen Auseinandersetzungen kämpft«, fügte Yao Wen-yüan mit seiner üblichen revolutionären Höflichkeit hinzu.
»Wissen Sie, wer Genosse Yao Wen-yüan ist, und was er geleistet hat?« fragte sie und stellte mir einen ihrer loyalsten und redegewandtesten Gefolgsleute aus dem letzten Kreuzzug vor - einen Kämpfer der Feder.[1]
»Schon lange vor der Großen Kulturrevolution war er ein Literaturkritiker unserer Partei. Vor allem zu Beginn, aber auch in der mittleren Phase der Kulturrevolution sorgte er dafür, daß viele Artikel erschienen, in denen die reaktionäre Richtung in Kunst und Literatur kritisiert wurde. Natürlich gab mir zuerst Vorsitzender Mao Tse-tung seine Zustimmung. Dann fuhr ich nach Schanghai, wo der Genosse Ko Tsching-schih (der frühere Bürgermeister und Parteisekretär von Schanghai) mich unterstützte. Doch die meisten Artikel wurden vom Genossen Yao Wen-yüan geschrieben.«
»Die Arbeit stand unter der Leitung des Vorsitzenden Mao und wurde von der Genossin Tschiang Tsching organisiert«, betonte Yao Wen-yüan. »Zu jener Zeit war es ein sehr harter Kampf. Deshalb hat der Vorsitzende gesagt, Peking sei damals wasserdicht und undurchdringlich gewesen.«
»Neunzehn Tage lang (vom 10. bis zum 29. November 1965) weigerten sich die Pekinger Zeitungen, den kritischen Artikel des Genossen Yao Wen-yüan >Über das neue historische Drama: Hai Jui wird seines Amtes enthoben< abzudrucken«, fuhr Tschiang Tsching fort. »Am 10. November war er in der Schanghaier >Literaturzeitung< veröffentlicht worden. Auf den Vorschlag des Vorsitzenden Mao hin wurde er danach als Broschüre gedruckt, doch zwei oder drei Tage lang wurde er der Pekinger Bevölkerung vorenthalten. Das zeigt, wie eigenmächtig diese Leute damals waren! Es hat sieben Monate gedauert, bis der Artikel fertig war, da er mehrfach überarbeitet wurde. Und während er geschrieben wurde, durfte niemand etwas davon wissen. Dann wurde der Entwurf nach Peking gebracht, und ich las ihn dreimal durch. Auch das mußte geheimgehalten werden. Überrascht Sie das?«
In Wirklichkeit hatte diese Geschichte seit einiger Zeit unter Chinabeobachtern kursiert.[2] Jedenfalls war ich seit langem sehr interessiert daran gewesen, den berühmten Yao Wen-yüan kennenzulernen. Er war leider nur bei meinem ersten Zusammentreffen mit Tschiang Tsching in der Großen Volkskongreßhalle in Peking dabeigewesen. Schon 1955 hatte Yao die Angriffe gegen den individualistisch-sozialistischen Schriftsteller Hu Feng unterstützt. Zwei Jahre später schloß sich Yao der Bewegung gegen die Rechten an, die auf die Hundert-Blumen-Bewegung folgte. In seiner Schrift »Lu Hsün, der Gigant der kulturellen Revolution in China« behandelte er neue und wichtige Themen. Drei Jahre später arbeitete er zusammen mit Tschiang Tsching und Mao den vernichtenden Hai JuiAufsatz aus. Nachdem dieser Aufsatz erschienen war, verlor das Pekinger Parteikomitee die Kontrolle über die Stadt und ihr Kulturleben. Yao Wen-yüans Leistungen wurden mit dem Posten des Herausgebers der Schanghaier »Literaturzeitung« und der Zeitung »Befreiung« (der größten Tageszeitung von Schanghai) belohnt. Außerdem wurde er Leiter der Propagandaabteilung des Parteikomitees von Schanghai. Mit Hilfe von Yao Wen-yüans bestimmendem Einfluß auf das Pressewesen in Schanghai führten Mao und Tschiang Tsching, denen vorübergehend die Kontrolle über Peking entglitten war, einen ideologischen Feldzug gegen die Stadt- und Nationalregierung in der Hauptstadt.
Yao Wen-yüans vernichtender Schlag gegen Pekings Propaganda-Festung war seine Kritik an dem Stück »Hai Jui wird seines Amtes enthoben«. Es stammte von Pekings Vize-Bürgermeister Wu Hart und forderte eine politische Katastrophe heraus. Dies bliebe unverständlich, berücksichtigt man nicht eine bestimmte Tradition der chinesischen Kulturgeschichte: Das Drama und der Roman, die Dichtkunst und die Geschichtsschreibung sind Spiegel, die dem Bild der herrschenden Klasse entweder schmeicheln oder es verzerren. Wu Han war bestens informiert; ihm erschlossen sich alle politischen, geschichtlichen und kulturellen Wege im neuen chinesischen Reich. Er war nicht nur ein mächtiger Stadt- und Parteifunktionär (und enger Mitarbeiter von Maos Rivalen Liu Schao-tschi), er war auch bekannt als liberaler Historiker, der sich vor allem mit der MingDynastie befaßte, und als Autor von historischen Dramen im modernem Stil. Sein Stück handelt von Hai Jui, einem rechtschaffenen Beamten der Ming-Dynastie, der die Sache des Volkes zu seiner eigenen macht. Als er sich auf eine Auseinandersetzung über die Landpolitik des Kaisers einläßt, wird er »ungerechterweise« für seine Aufrichtigkeit bestraft. Die Anspielungen des Dramas auf die Politik der Gegenwart sind recht deutlich. Mißernten und Planfehler im Großen Sprung nach vorn hatten zu schmerzlichen Rückschlägen und zu großer Armut unter dem Volk geführt. Der »rechtschaffene Beamte« Peng Te-huai hatte dem »Kaiser« Mao Tse-tung die Verantwortung dafür in die Schuhe geschoben. Mit Hilfe historischer Analogien fordert das Theaterstück »die Beseitigung der Mißstände« durch Sparmaßnahmen und die Reprivatisierung eines Teils des kollektivierten Bodens. Diese Botschaft wurde von den loyalen Anhängern des Vorsitzenden mit einem Wort gekennzeichnet: Restauration.
Tschiang Tsching setzte ihren Bericht über den Beginn der Krise der sechziger Jahre fort. »Das Vorspiel zur Großen Kulturrevolution begann mit dem Aufruf des Vorsitzenden auf dem 10. Plenum des VIII. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei im Jahre 1962. Zwischen 1962 und 1966 waren solche Ereignisse wie das Peking-Opern-Festival und der Artikel über >Hai Jui wird seines Amtes enthoben< für die weitere Vorbereitung sehr nützlich.« Daß die Kulturrevolution einen literarischen Ursprung habe, sei nur eine der zahlreichen Hypothesen, die von ausländischen Beobachtern über die chinesische Politik vertreten worden seien, erwiderte ich. Auch Generationskonflikte und der Streit um die Nachfolge seien als Gründe genannt worden. Außerdem habe ja wohl eine Art Bürgerkrieg stattgefunden.
»Da ist etwas Wahres dran«, bestätigte Tschiang Tsching. »Der Vorsitzende Mao hat Edgar Snow erklärt, daß es ein Bürgerkrieg auf allen Gebieten war.«
»Ein Bürgerkrieg auf allen Gebieten!« wiederholte Yao Wen-yüan. Rasch fuhr er fort: »Das Proletariat und die Bourgeoisie kämpften um die Vorherrschaft in einem Staat unter der Diktatur des Proletariats.«[3]
»Man kann nicht sagen, daß in der Zeit von 1962 bis Mitte 1966 schon ein Bürgerkrieg auf allen Gebieten stattgefunden hat«, meinte Tschiang Tsching. »Ein solcher Bürgerkrieg begann erst 1966, als sich die Massen erhoben. In diesem Jahr suchte ich mehrere Male die Peking-Universität auf und konnte mich kaum retten. Einige Studenten sagten, sie wollten mich aufhängen, andere drohten mir, mich zu rösten. Ich erwiderte darauf, daß ich schrecklich viel zu tun hätte, sie aber einladen würde, mich zu hängen und zu rösten, wenn ich genug Zeit haben würde.«
»Die Untersuchungen begannen schon viel früher, nämlich 1961«, fuhr sie fort. »1963 war es dann soweit, und wir begannen unseren Angriff.[4] 1964 hielt ich eine Rede über die Reform der Peking-Oper. Doch ich konnte die Rede damals nicht veröffentlichen lassen, weil man absichtlich Fehler hineinmachte.[5] Zu dieser Zeit hatten sie[6] große Macht in ihren Händen, und meine Worte hatten kein Gewicht, da es noch keine Massenbewegung gab.«
»In den ersten Phasen der Kulturrevolution«, fuhr Tschiang Tsching fort, habe der Vorsitzende über die Vier Groß gesprochen: großes Wetteifern, große Meinungsäußerung, große Wandzeitungen und große Debatten. Diese Vier Groß hätten die Durchführung der Kulturrevolution bestimmt. Während das von ihr selbst entworfene Rundschreiben vom 16. Mai, das dem 10. Plenum des VIII. Zentralkomitees im September 1962 vorgelegt wurde, noch zum Vorspiel der Kulturrevolution gehört habe, sei der eigentliche Beginn durch die Mobilisierung der Massen gekennzeichnet. Zuerst schrieb Mao, was er »Meine Wandzeitung« nannte. Als nächstes empfing er die Massen am Tor des Himmlischen Friedens. Die ersten, die dort eintrafen, waren Studenten, Arbeiter und Bauern. Bei den nächsten Gelegenheiten sprach er (von der Haupttribüne am Tor des Himmlischen Friedens) zu ungefähr dreizehn Millionen Jugendlichen, die sich selbst »Rote Garden« nannten. Als die Soldaten mit dem Volk gemeinsame Sache machten, brach überall der Bürgerkrieg aus. Mehrmals wurde das Gleichgewicht der Kräfte gestört und wiederhergestellt: Zuerst ergriff die eine Gruppe die Macht, dann erlangte eine andere Gruppe die politische Macht zurück. Dies wiederholte sich mehrmals.

Im Verlauf der Kulturrevolution war Liu Schao-tschi der »erste, der sich zuviel anmaßte«. Ihm folgte Lin Piao, der laut Tschiang Tsching den gefährlichsten Kampf in der Geschichte der Revolution anzettelte. Sein Angriff auf den Vorsitzenden, dessen Führungsrolle er in Frage stellte, wird heute der zehnte Kampf zweier Linien genannt. Tschiang Tsching zählte im Stakkatoihythmus die Namen auf, die in diese Auseinandersetzungen verwickelt waren: erstens Tschen Tu-hsiu, zweitens Tschü Tschiu-pai, drittens Li Li-san, viertens Lo Tschang-lung, fünftens Wang Ming, sechstens Tschang Kuo-tao, siebtens Kao Kang und Jao Schu-schih, achtens Peng Te-huai, neuntens Liu Schao-tschi, zehntens Lin Piao.
»Ich bin nicht besonders begabt, aber ich kenne den praktischen Kampf«, sagte Tschiang Tsching. Sie fügte hinzu, daß ihre »revolutionäre Doppelstrategie« weniger raffiniert sei als »das Doppelspiel der Konterrevolutionäre«. Häufig benahm sie sich ihrer Meinung nach ungeschickt. Nachdem Liu Schao-tschi und seine Gefolgsleute Selbstkritik geübt und ihre Fehler eingestanden hatten, forderte Tschiang Tsching sie auf, sich ihrer Gruppe anzuschließen. Doch sie hätten nicht aufgehört, abenteuerliche Pläne gegen ihr eigenes Volk zu schmieden. Als sich dann schließlich »die Liu Schao-tschi-Renegaten und die Konterrevolutionäre um Lin Piao eine Blöße gaben, war es ein großer Sieg für uns.«

Tschiang Tschings Hinweise auf die Vorgeschichte der Kulturrevolution, die sie in das Scheinwerferlicht der nationalen Öffentlichkeit stellte, wurden später von ihr durch eine sorgfältigere Rekonstruktion dieser Umwälzung ergänzt. Ihre Darstellung konzentrierte sich auf drei aufeinanderfolgende historische Entwicklungen. Während des Großen Sprungs nach vorn setzte Mao alle Kräfte ein, um eine Gesellschaft der Gleichheit anzustreben, in der niemand mehr materielle Privilegien hatte. Dieses Ziel sollte innerhalb des dritten Jahrzehnts nach der Gründung der Volksrepublik erreicht werden. Mao lehnte das sowjetische Modell ab, das sich auf dem Weg zum Sozialismus dahinschleppte und auch »kapitalistische« Vergünstigungen erlaubte. Laut Tschiang Tsching hatte der Vorsitzende Mao einen Ein-Mann-Feldzug im ganzen Land durchgeführt, um für das Ideal der Volkskommune zu werben und die radikalen organisatorischen Umwälzungen zu propagieren, die bei einer totalen Hinwendung zum Kommunismus unabdingbar waren. Doch gegen Ende der fünfziger Jahre hatte Mao nicht genug auf den Überbau geachtet - darauf, daß gleichzeitig Veränderungen im Bereich der Erziehung, der Literatur und der darstellenden Künste stattfinden mußten.
Daß es Mao nicht gelungen war, seinen Willen - eine beschleunigte Sozialisierung - einer schwerfälligen Nation von Bauern aufzuzwingen, die sich immer noch nicht des politischen Vorzugs, daß sie »arm und wie ein unbeschriebenes Blatt« waren, bewußt geworden waren, konnte nicht verborgen bleiben. Doch war es für Tschiang Tsching unerträglich zu erleben, wie andere über Maos Mißerfolg urteilten. Hungersnöte und politisches Chaos brachten China an den Rand eines regelrechten Aufruhrs. Die Gefahr, daß das »Volksmandat« verloren gehen könnte, hatte 1960 und 1961 eine gewisse Stagnierung der Sozialisierung zur Folge: Man gab begrenzte »Konzessionen« für privaten Grund und Boden, gestattete Landmärkte und persönlichen Besitz und gewährte Entschädigungen für Güter, die vom Staat im ersten Eifer der Sozialisierung konfisziert worden waren. In Tschiang Tschings Bericht von diesem riskanten Spiel um das Schicksal der Nation drehte sich fast alles um die Rolle von Mao. Sie zitierte peinlich genau seine teils provokativen, teils vermittelnden und bisweilen recht weitschweifigen Anweisungen. Liu Schao-tschi und der Generalsekretär der Partei, Teng Hsiao-ping, der jene einschränkenden Maßnahmen ohne großes Aufsehen durchführte, waren zur Zeit unseres Interviews offiziell in Mißkredit geraten und wurden daher kaum erwähnt. Sie hatten allerdings auch jetzt noch eine starke, wenn auch schweigende Anhängerschaft.
Zu Beginn der Sozialistischen Erziehungsbewegung im Herbst 1962 versuchte Mao, mit Hilfe der Volksbefreiungsarmee und deren Chef Lin Piao seinen Rivalen, Liu Schao-tschi, von der Spitze zu verdrängen. Es ging um die Planung eines chinesischen Weges zum Sozialismus. In der heroischen Sprache jener Zeit war Mao »Unser Großer Steuermann«.
Die Schwankungen der revolutionären Bewegung beobachtete Tschiang Tsching von den verschiedenen Stufen ihrer Rekonvaleszenz aus. Erst Anfang der sechziger Jahre wandte sie sich dem Theater zu, einem pädagogischen Medium, das durch die Sozialistische Erziehungsbewegung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt worden war.
Sie hatte ihren Bericht über die innenpolitischen Ereignisse der späten fünfziger Jahre mit der Berichtigungsbewegung gegen die Dissidenten in den Jahren 1957 und 1958 abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt begann sich der Vorsitzende Mao auf die Landbevölkerung zu konzentrieren, in welcher der revolutionäre Elan in der letzten Zeit nachgelassen hatte. Am 19. Februar 1958 eröffnete er seinen Kampf mit den »Zehn Punkten über die Arbeitsmethoden in der Partei«.[8] Dann unternahm er eine Inspektionsreise durch das Land und verbrachte März und April in der Provinz Szetschuan. In Tschengtu berief er eine wichtige Versammlung ein, wo die Generallinie für den Übergang zum Sozialismus (die dem Politbüro fünf Jahre zuvor vorgelegt worden war) offiziell angenommen wurde. Am 1. Juni 1958 erschien im Parteiblatt »Rote Fahne«[9] der Artikel »Vorstellung einer Genossenschaft«.
Um die Kollektivierung der Landwirtschaft zu beschleunigen, hielt das Politbüro im August 1958 drei Sitzungen in Tschengtschou in Honan (Zentralchina) ab und wandte sich dabei gegen die »übertriebene Beschlagnahme von Eigentum« (durch Erhebung überhöhter Steuern), und gegen andere »drastische Forderungen von oben«. Das Politbüro erließ auch Verordnungen gegen die hartnäckige Vorliebe für Privatwirtschaft und private Landwirtschaft, also gegen jede Art der Bewirtschaftung, die nicht kollektiv war. Um seiner Ansicht Nachdruck zu verleihen, fragte der Vorsitzende Mao geradeheraus: »Glaubt ihr an den Marxismus oder nicht? Glaubt ihr an das Wertgesetz oder nicht?«
Mao führte seine persönliche Kampagne fort und machte vom 4. bis zum 13. August Inspektionsreisen durch Dörfer und Städte in den Provinzen Honan, Hopeh und Schantung. Außerdem besuchte er Tientsin (südöstlich von Peking). Bei jedem Aufenthalt berief er Sitzungen der lokalen Funktionäre ein und stellte die Kommune als ein Modell vor, um dessen Verwirklichung sich alle bemühen sollten. Dieser Gedanke wurde mit großem Nachdruck propagiert und in einigen Orten mit Begeisterung aufgenommen.
Vom 28. November bis zum 10. Dezember 1958 hielt das VIII. ZK seine 6. Plenarsitzung in Wutschang ab. Es wurden mehrere Resolutionen über die Probleme des Kommunismus verabschiedet. Mit Hilfe der Parole »Der Imperialismus und alle Reaktionäre sind Papiertiger«[10] verstärkte Mao zur selben Zeit seine schon früher ausgesprochene Warnung vor konterrevolutionären Angstgefühlen. Das gleiche Plenum habe Maos Entscheidung akzeptiert, das Amt des »Staatspräsidenten« abzugeben - so kommentierte Tschiang Tsching eine Entscheidung, die durchaus auch eine andere Interpretation zuläßt.[11]
Blickt man zurück auf die Sitzungen des Politbüros vom Juli und August 1959, die schließlich zu einer Umgruppierung der Führungskräfte führten, so wird deutlich, daß sich hier für die politische Karriere Tschiang Tschings unerwartete Möglichkeiten eröffneten. Die Sitzungen fanden in Lu-schan, einem Bergort am Westufer des Poyang-Sees in der Provinz Kiangsi statt. Die Lage war gespannt. Der Abbruch der Beziehungen zur Sowjetunion, von der die Chinesen ideologisch und materiell abhängig gewesen waren, stand kurz bevor. Der Große Sprung nach vorn hatte Not und Leid für das Volk gebracht, was nach traditionellen Maßstäben das Ende einer Dynastie signalisiert hätte. Doch wie gedemütigt und belastet Mao sich auch fühlen mochte, er dachte nicht daran, die politische Macht an Rivalen abzutreten, auf das Urteil gebildeter Ratgeber zu hören oder sich der Rache des Volkes auszusetzen.
An der Spitze wurden jedoch einige Umbesetzungen vorgenommen. Mao war als Staatspräsident der Volksrepublik China zurückgetreten, scheinbar deswegen, um seine Kräfte mehr der revolutionären Philosophie zu widmen. Obwohl Liu Schao-tschi ebenfalls für das Primat der Landwirtschaft eingetreten war und Maos Großen Sprung nach vorn enthusiastisch unterstützt hatte, schoben die Genossen Mao die Verantwortung für die Rückschläge zu. Liu wurde geschont. Auf der Sitzung in Lu-schan, wo Liu Mao als Staatspräsident ablöste, wuchsen zwischen Lius und Maos Gefolgsleuten die Spannungen. Wie immer entging Mao dank seines Geschichtssinns den bestehenden Gefahren. Er analysierte den Konflikt zwischen den dominierenden Persönlichkeiten mit ideologischen Begriffen - als sei es eine Klassenkonfrontation.

  • »Der Konflikt, der in der Sitzung in Lu-schan ausgebrochen ist, ist ein Klassenkampf. Es ist die Fortsetzung des Kampfes auf Tod und Leben zwischen den beiden großen Gegnern, der Bourgeoisie und dem Proletariat, im Prozeß der sozialistischen Revolution der letzten zehn Jahre. In China und in unserer Partei wird dieser Kampf wohl noch mindestens zwanzig weitere Jahre dauern, vielleicht sogar ein halbes Jahrhundert lang. Kurz gesagt: Bevor die Klassen nicht vollständig beseitigt worden sind, geht der Kampf weiter. Nach dem Ende des alten sozialen Kampfes werden neue soziale Kämpfe entstehen. Kurz gesagt: In Übereinstimmung mit der materialistischen Dialektik sind Widerspruch und Kampf ewig. Wäre es nicht so, gäbe es keine Welt... Der innerparteiliche Kampf reflektiert lediglich den Klassenkampf in der Gesellschaft.«[12]

In diesem glühend heißen Sommer waren diese Männer und ihre Streitigkeiten für Tschiang Tsching weit entfernt. Sie weilte zur Erholung in einem Haus, das für den Vorsitzenden und sie in Pei-tai-ho, einem Ort am Meer östlich von Peking, reserviert war. Sie erinnerte sich daran, daß ihr angenehmer Aufenthalt plötzlich durch einen Brief des Vorsitzenden gestört wurde. Dieses Schreiben enthielt den Entwurf seiner Antwort an Peng Te-huai, den Verteidigungsminister, der soeben Maos »Missetaten« angeprangert hatte. Er hatte einen sogenannten Zehntausend-Zeichen-Brief verfaßt, der Maos Generallinie für den Übergang zum Sozialismus ablehnte. Peng überreichte seinen Brief am 14. Juli, an demselben Tag - das entnahm Tschiang Tsching ihren Unterlagen - an dem die Resolution gegen die »Verbrechen« von Huang Ko-tscheng[13] verabschiedet wurde. Außerdem kamen Angelegenheiten, welche die Drei Roten Banner (die Generallinie, die Volkskommune und den Großen Sprung nach vorn) betrafen, zur Sprache. Da Tschiang Tsching keinen vernünftigen Kommentar zu dem Entwurf des Vorsitzenden abgeben konnte, ohne Pengs Originalbrief[14] gelesen zu haben, rief sie den Vorsitzenden an, um ihm mitzuteilen, daß sie unverzüglich zu ihm nach Lu-schan fliegen wolle, um mehr über die Hintergründe der Auseinandersetzung zu erfahren.
»Der Kampf ist zu heftig«, erwiderte er. Er wollte nicht, daß sie kam. Sie flog trotzdem nach Lu-schan und wohnte zu Maos Kummer den Sitzungen bei. Der Streit zwischen den Männern und den Ideen war hitziger, als sie es seit Jahren erlebt hatte. Tschiang Tschings Gesundheitszustand verschlechterte sich sofort, was den Vorsitzenden sehr bekümmerte. Gleich nach dem Ende der Sitzung fuhren sie gemeinsam nach Hangtschou. Dort erholten sie sich und planten ihre nächsten Schritte. Für die offizielle Geschichtsschreibung war Peng Te-huais unverschämte Herausforderung der Höhepunkt der Sitzung von Lu-schan. Doch eigentlich wurde ihre persönliche Geschichte kaum davon berührt - die höchst private Sehnsucht eines Mannes und seiner Frau nach einem Leben, das der Kunst und der Literatur gewidmet war. Wie gewöhnlich hatte Tschiang Tsching ihre Kamera bei sich und photographierte in ihrer freien Zeit nach Lust und Laune. Das schönste Photo war ihrer Meinung nach eine Berglandschaft, die wundervolle Geisterhöhle, in der ein altes taoistisches Heiligtum seinen Platz hat. Jahrhundertelang zog es Reisende nach Lu-schan.
Zwei Jahre später, am 9. September 1961, inspirierte Maos Muse Tschiang Tsching ihn dazu, einen Vierzeiler zu dichten. Er schrieb ihn auf die Rückseite ihrer Aufnahme von Lu-schan. Er widmete dieses Gedicht Li Tschin Tschiang Tschings Kindername, mit dem sie ihre Kunstphotos zu signieren pflegte. Während unseres Interviews gab mir Tschiang Tsching einen vergrößerten Abzug ihres geliebten Lu-schan-Photos mit Maos Gedicht, das sie eigenhändig auf die Rückseite geschrieben hatte. Seine Empfindungen für den Ort und für die Frau, die ihn mit dem Objektiv eingefangen hat, sind ausgesprochen romantisch:

»Dämmerschein, blaue Weite; seh stämmige Kiefern,
wirbelnde Wolken, im Flug dahin, doch gelassen.
Himmelsschöpfung die eine Geisterhöhle;
unbegrenzter Rundblick auf schroffem Gipfel.«[15]

Wer hätte 1961 geahnt, daß die Lyrik, die der Vorsitzende der Genossin Li Tschin widmete, ein Beispiel für die Sprache der Kulturrevolution werden würde, die sie vorbereiteten?

Am 15. August seien sie immer noch in Hangtschou gewesen, fuhr Tschiang Tsching fort. An diesem Tag schrieb der Vorsitzende das »Geleitwort zu >Empirismus oder Marxismus Leninismus<«, in dem er allen Führern und sonstigen verantwortlichen Genossen riet, ein bestimmtes kleines philosophisches Wörterbuch zu lesen, das damals in dritter Auflage erschienen war.[16] Zugleich empfahl er auch ein Lehrbuch über politische Ökonomie.[17]
Hangtschou war so schön wie immer, doch im Spätsommer wurde es heiß und schwül. Die Temperatur stieg auf ungefähr 40' Celsius. Selbst mit Hilfe der Klimaanlage konnte man die Temperatur nicht unter 30' senken. Völlig erschöpft durch die glühende Hitze ließ Tschiang Tsching den Vorsitzenden allein zurück und reiste in ihr Haus in Schanghai. Um wieder zu Kräften zu kommen, zwang sie sich zu körperlichen Betätigungen, wozu auch Gartenarbeit gehörte. Normalerweise liebte sie diese Arbeit, doch nun war schon das Bewässern des Gartens zuviel für sie, und ihr brach der Schweiß aus allen Poren. (Trafen bei Tschiang Tsching als Mittvierzigerin möglicherweise gewisse Symptome des Klimakteriums mit einer Zäsur in ihrer politischen Laufbahn zusammen?) Sie verlor das Bewußtsein, kam wieder zu sich und wurde erneut ohnmächtig. Da sie glaubte, daß sie zu wenig Blutzucker hatte, stopfte sie Unmengen von Süßigkeiten in sich hinein, die »bewirkten, daß sich ihr Magen senkte«, so daß sie unter heftigem Brechreiz litt. Sie konnte nichts mehr verdauen, und für schier endlose Tage hatte sie ständig das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
Um sie von ihren körperlichen Beschwerden abzulenken, schlug ihr der Arzt vor, sich einige Theaterveranstaltungen anzusehen.
Sie befolgte seinen Rat und wandte sich gegen Ende des Sommers von neuem der Kulturszene zu. Was sie dabei feststellte, entsetzte sie. Als sie im Theater von Schanghai saß, das klassische und bürgerliche Stücke im Repertoire hatte, kam es ihr vor, als ob sie bei archäologischen Ausgrabungen plötzlich auf einen Haufen von Altertümern gestoßen sei, die seit langem begraben waren und nun wirr durcheinanderlagen. Die Probleme, die sie kommen sah, wenn man den »Überbau so verändern wollte, daß er zur Basis paßte«, waren kaum vorstellbar.
Um sich für die Anstrengungen, die ihr bevorstanden, zu stärken, ließ sie sich wiederholt akupunktieren. Außerdem absolvierte sie ein noch härteres körperliches Training. Tag für Tag machte sie eine Viertelstunde lang tai-tschi-tschüan (eine Art »Schattenboxen«, das die Bewegungen von Tieren und Blumen nachahmte), spielte zwanzig Minuten lang Tischtennis und ein oder zwei Runden Billard. Und täglich schwamm sie einige Bahnen. »Ich bin hundertfünfzig Meter mit vier Ruhepausen geschwommen, stimmt's?« fragte sie Hsia Tschiao, der schon dreizehn Jahre lang ihr Sicherheitsbeamter war. Er nickte. Drei Jahre lang absolvierte sie dieses Aufbauprogramm, bis sie sich gegen Ende 1962 kräftig genug fühlte, sich ganz der Kulturarbeit zu widmen.[18]
Der Vorsitzende hatte in den Jahren zuvor viel geschrieben, um das Volk mit seinem Standpunkt vertraut zu machen. Sollte er sich weiterhin damit begnügen, seine Ideen nur durch Flugschriften, vereinzelte Buchveröffentlichungen und die Tagespresse zu verbreiten, oder sollte er eine beständigere Form wählen? Stalin war es gewesen, der als erster Mao Tsetung vorgeschlagen hatte, seine »Ausgewählten Werke« herauszugeben. Dieses Projekt nahm mehrere Jahre in Anspruch.
1960 war Stalin schon sieben Jahre tot. Sein Name war durch Chruschtschow in Verruf gebracht worden, und die chinesisch-sowjetischen Beziehungen hatten sich verschlechtert. Im Hinblick auf diese unerträgliche Lage entwarf der Vorsitzende im März 1960 die »Anschan-Verfassung«.[19]
Im Juli zog die Sowjetunion alle ihre Experten aus China ab und erklärte Verträge für ungültig, die zwischen den beiden Ländern abgeschlossen worden waren. Der Vorsitzende sei über diesen Rückschlag entsetzt gewesen, sagte Tschiang Tsching, habe ihn aber gefaßt hingenommen. Da ihn die Sowjetunion im Stich gelassen hatte, war er gezwungen, wieder die nationalen Ressourcen (was noch immer hieß: Land und Arbeit) in Betracht zu ziehen und erneut das »Vertrauen des Volkes auf die eigene Kraft«[20] zu bestärken. Diese plötzliche politische Kursänderung erfolgte im August, als man der Landwirtschaft wieder den Vorrang in der nationalen Wirtschaftsentwicklung einräumte.
Auf der 9. Plenartagung des VIII. Zentralkomitees, das vom 13. bis zum 18. Januar 1961 tagte, trug der Vorsitzende Mao der Unausgewogenheit der Lage (Naturkatastrophen und der fehlgeleitete Große Sprung nach vorn) Rechnung. Er forderte, die Wirtschaft »anzupassen, zu konsolidieren, zu bereichern und zu verbessern«.[21] Im Februar und März trat das Zentralkomitee in Kanton zusammen, und der Vorsitzende arbeitete am Entwurf des Konzepts von »Sechzig Punkte für die Volkskommune«[22] mit. Dieses Dokument  sollte dazu dienen, organisatorische Prinzipien, die bereits angewandt wurden, zu systematisieren. Der Volkskommune, erklärte Tschiang Tsching, habe das Prinzip zugrundegelegen, den Kollektivbesitz auf drei Ebenen abzusichern - durch die Gruppe, die Brigade und die Kommune. Die Gründung der Kommunen sollte die Bauern jedoch nicht daran hindern, kleine Parzellen für ihren persönlichen Bedarf zu bewirtschaften. Sie konnten z. B. Gemüse anpflanzen oder Schweine halten. Dieses modifizierte Modell der Kommune wurde mehrere Monate lang erprobt.
Während die leitenden Funktionäre nahezu in allen Provinzen die Gründung von Volkskommunen propagierten, mußten sie zugleich ihr Wirtschaftsprogramm verteidigen, das von Journalisten und Bühnenautoren in versteckter Weise angegriffen wurde. Diese Angriffe führten dazu, daß im Januar und Februar 1962 eine Arbeitskonferenz des ZK einberufen wurde. Bei dieser Gelegenheit sprach der Vorsitzende vor einer Erweiterten Versammlung von mehreren tausend Menschen. Tschiang Tsching sagte, diese Rede sei äußerst wichtig gewesen.[23]
Im Frühjahr 1962 hatte Tschiang Tsching den Vorsitzenden davon überzeugt (seit Jahren hatte sie sich darum bemüht), daß es unbedingt nötig war, ideologisch die Oberhand zu gewinnen, indem in Kunst und Literatur die Vorherrschaft des Proletariats energisch geltend gemacht wurde. Zum ersten Mal gab Mao ihr den Auftrag, einen politischen Bericht zu verfassen, welcher der höchsten Instanz des Staates, dem Zentralkomitee (in dem sie noch nicht einmal Mitglied war) vorgelegt werden sollte. Das Dokument, das sie verfaßte, wurde als das »Rundschreiben vom 16. Mai« bekannt.[24] Tschiang Tsching betonte, man müsse es als ein Kapitel in der Vorgeschichte der Kulturrevolution verstehen. Am 6. August 1962, als Mao in Pei-tai-ho den Vorsitz des Zentralkomitees führte, gab er die Anweisung aus: »Klasse - Situation und Widerspruch«. So nannte er eine ausführliche Abhandlung über die Probleme des nationalen und internationalen Klassenkampfes und die Förderung der proletarischen Ideologie im ganzen Land. Die Botschaft aus Pei-taiho wurde später als der Geist der Zehnten Pletiartagung bekannt. Auch diese Abhandlung gehörte zur Vorgeschichte der Kulturrevolution, vor allem im Hinblick auf die Bemerkungen zu den darstellenden Künsten. Doch der eigentliche Beginn werde durch die Mobilisierung der Massen im Sommer 1966 gekennzeichnet, wiederholte Tschiang Tsching.
Bald nahm die Auseinandersetzung mit Liu Schao-tschi härtere Formen an. Tschiang Tsching erkannte dies an dem Kurs, den der Vorsitzende bei der wichtigen 10. Plenartagung des VIII. Zentralkomitees einschlug. Diese Plenartagung fand vom 24. bis zum 27. September 1962 statt.[25] Mao hatte den Vorsitz und legte die »Generallinie der Partei im Stadium des Sozialismus« fest. Es war dies eine Botschaft von »großer historischer Bedeutung«. Sie sollte Liu Schao-tschis Außenpolitik, die von Konzilianz gegenüber dem Imperialismus, dem Revisionismus und der Reaktion bestimmt war, entgegenwirken. In der Innenpolitik war Liu ein Vertreter der Freien Marktwirtschaft. Er warb für privaten Grund und Boden, für freie Unternehmen, die für ihre eigene Produktion verantwortlich waren, und die Festsetzung von Anteilen für jeden Haushalt (statt für jede Gruppe).[26]
Als das ZK am 20. Mai 1963 in Hangtschou tagte, war Tschiang Tsching als Zuhörerin anwesend. Auf dieser Sitzung sprach der Vorsitzende Mao über mehrere Probleme der Entwicklung auf dem Land.[27] Diese Erörterungen wurden später als die Früheren Zehn Punkte bekannt, in denen die Macht der Ideen über die materielle Macht gestellt wurde.[28] Vier Monate später (im September 1963) veröffentlichte Liu Schao-tschi die sogenannten Späteren Zehn Punkte, die »links in der Form, aber rechts dem Inhalt nach waren«. Scheinbar eine Ergänzung zu den Früheren Zehn Punkten des Vorsitzenden, seien sie in Wirklichkeit geschrieben worden, um diese zu widerlegen, meinte Tschiang Tsching.

Die Kulturrevolution war ein »politischer Kurs, der nicht im Klassenzimmer gelehrt wird«, witzelte Mao einmal. In den frühen sechziger Jahren war Tschiang Tsching Schülerin und Lehrerin in diesem Kurs. Als ihr Mentor Mao gespürt hatte, daß er in dem permanenten Machtkampf an Boden verlor, hatte er sein Hauptquartier verlassen, die offiziellen Parteikanäle mißachtet und sich ganz allein aufgemacht, um mit seinen eigentlichen Auftraggebern, den Massen, Kontakt aufzunehmen. Seine politische Oberlegenheit verdankte er seinem historischen Bewußtsein und der Erkenntnis, daß erst die Massen und nur die Massen eine Regierung legitimierten. Wer fähig ist, den Massen vertrauensvoll und positiv gegenüberzutreten, erlangt - symbolisch gesprochen - den Auftrag des Himmels und beweist so seine Befähigung zum Regieren. Diese politische Lektion, die Mao so eindrucksvoll erteilte, wurde von Tschiang Tsching verstanden.
Anfang der sechziger Jahre war Tschiang Tsching wieder gesund (und wahrscheinlich vom Krebs geheilt). Sie war fest entschlossen, in der revolutionären Bewegung eine Rolle zu spielen. Folglich begann sie, in Jugend- und Frauenzeitschriften unter ihrem eigenen Namen zu schreiben. Dieser Name war zu jener Zeit nur für wenige ein Begriff.[29] Noch wichtiger war, daß sie auch wieder allein zu reisen begann und der Zentrale berichtete, was sie sah. Außerdem konnte sie dank ihrer besonderen Beziehungen zu Mao verschiedenen Sitzungen des Zentralkomitees beiwohnen. So bereitete sie sich darauf vor, die Schranken niederzureißen, die um Ehefrauen in hohen Stellungen errichtet waren. Konnte sie, nachdem sie zwei Jahrzehnte isoliert gewesen war, den Kontakt zum Volk erneuern und Anerkennung als Führerin finden?
Die Sozialistische Erziehungsbewegung half ihr, sich dem Volk wieder zu nähern. Der Geist der Zehnten Plenartagung sollte auf Festivals der Erziehung und der Künste die Massen ergreifen. Die Volksbefreiungsarmee, die von Lin Piao geleitet wurde, unterstützte die Kampagne nicht nur physisch, sondern auch moralisch. Sowohl auf dem »Forum zu Erziehungsfragen während des Frühlingsfestes« als auch bei den »Dritten Literatur- und Kunstfestspielen in der VBA« wurde die Parole ausgegeben: »Lernt von der VBA!«
Die Geschichte des jungen Soldaten Lei Feng, dessen Unfalltod ihn zum Märtyrer machte, diente den Medien als Vorbild.
Die eben genannte Parole beschleunigte das Herannahen der Kulturrevolution. Die Sozialistische Erziehungsbewegung förderte die Bereitschaft der Massen, zivile Interessen mit militärischen zu verbinden und die Distanz zwischen Stadt- und Landbevölkerung und zwischen privilegierten und unterprivilegierten Klassen zu verringern. Auf dem Frühlingsfest vertrat Mao die Devise: »Man muß alle Sänger, Dichter, Bühnenautoren und Literaten aus den Städten auf das Land drängen. Sie sollten in Gruppen von einer Bühne zur anderen, zu den Bauern und in die Fabriken geschickt werden. Man darf ihnen nicht erlauben, ständig in Büros herumzusitzen, denn so können sie nichts Gutes schaffen. Diejenigen, die noch nicht zur Basis gegangen sind sollten nichts zu essen bekommen - nur die, die es schon getan haben.«[30]
Gleichzeitig begann Tschiang Tsching ihren eigenen (unauffälligeren) Feldzug gegen jene Bühnen, die immer wieder eine längst überwundene Vergangenheit heraufbeschworen. In marxistischer Terminologie prangerte sie »Geisterstücke« (die vom Aberglauben und von der Volksreligion beseelt waren) und Theaterstücke über die feudale Gesellschaft und die Bourgeoisie an, da sie Elemente des Überbaus waren, die zu Chinas sozialistischer Basis nicht paßten. Zu den unerträglichsten »feudalen« Dramen gehörten natürlich Wu Hans Stück über Hai Jui, das 1961 aufgeführt worden war, Meng Tschaos »Li Hui-hsiang« und Tien Hans »Hsie Yao-huan« von 1961 (ein vielversprechendes Jahr für alle liberalen Intellektuellen). Daß »Hsie Yaohuan« die führenden Funktionäre so sehr erboste, ließ auf latente politische Ängste schließen (die bei Tschiang Tsching vielleicht am stärksten waren). Die Parallelen zu »Die geheime Hofgeschichte der Tsching-Dynastie«, einem Stück, das Tschiang Tsching zehn Jahre früher zensiert hatte, waren verblüffend. Beide Werke handelten von Kaiserinnen: »Die geheime Hofgeschichte« von der Kaiserin-Witwe Tze Hsi, und »Hsie Yao-huan« von der Kaiserin Wu aus dem 8. Jahrhundert. Tien Hans Titelfigur, die Zeremonienmeisterin, Vertraute und Beraterin der Kaiserin Wu, war jedoch nur eine Phantasiegestalt, denn die historische Kaiserin Wu hatte nur männliche Berater gehabt. In seinem neuen Stück charakterisierte Tien Han, dessen Geschick, moderne und historische Frauenrollen zu gestalten, allgemein anerkannt war, die Kaiserin und ihre Beraterin auf verblüffende Weise: Sie leisteten den mächtigen Familien und Aristokraten Widerstand aus »Sorge um das Volk«, das unter den ungerechten Bedingungen der Landarbeit litt. Vom marxistisehen Standpunkt aus war eine solche Charakterisierung indiskutabel. Da die Kaiserin und ihre Beraterin zur herrschenden Feudalschicht gehörten, konnten sie natürlich in keiner Weise Sympathien für ihren Klassenfeind, die Bauern, empfinden, die von ihnen ausgebeutet wurden - und sei es nur, weil es per Definition so zu sein hatte. Wie der Film »Das Leben Wu Hsüns«, der während der Bodenreformbewegung gezeigt wurde, tauchten »Hsie Yaohuan« (und eine Flut von modern aufgemachten »feudalen« und »Geister« Stücken, darunter »Wu Tse-tien« und »Das duftende Seidentaschentuch«) in der Zeit der beschleunigten Vergeselischaftung und beim Großen Sprung nach vorn auf - zu einer Zeit also, da alle ideologischen und moralischen Kräfte mobilisiert werden mußten. Man warf Theaterstücken wie den eben genannten vor, nostalgische Gefühle für die Vergangenheit zu erwecken und den Klassenkampf zu schwächen, indem sie ein angenehmes Bild von der alten herrschenden und landbesitzenden Klasse zeichneten. Außerdem warf man ihnen vor, daß sie die moralische Restauration des Feudalismus in einer Zeit förderten, in der die Parteiführung alles daransetzte, den Übergang zum Sozialismus zu beschleunigen. Tien Han und Wu Han wurden beide beschuldigt, sich ihrer Bühnenfiguren, der »loyalen Berater« Hsie Yao-huan und Hai Jui, zu bedienen, um private und öffentliche Klagen vorbringen zu können. Beide Figuren (und damit auch ihre Autoren) behaupteten, »für das Volk zu sprechen«, ein Privileg, das die Führer der Diktatur des Proletariats für sich beanspruchten, jedoch nicht völlig ausnutzten. Dies taten sie erst 1966, als sie die Vorherrschaft auf allen Gebieten der Kultur erlangten.[31]
Zu den wenigen führenden Politikern, die damals schon Tschiang Tsching in ihrer Absicht unterstützten, das nationale Theater von allen religiösen Maskeraden, von »Rinderteufeln und Schlangengeistern«, aufgeputzten und prächtigen Gestalten aus einer finsteren Vergangenheit zu befreien, gehörte ihr Freund, der Bürgermeister von Schanghai, Ko Tsching-schih. Im Januar 1963 erließ er einen Aufruf an verschiedene einflußreiche Schauspielergruppen. Er forderte sie auf, die alten Repertoires aufzugeben, sich statt dessen den Geist des Klassenkampfs von der Zehnten Plenartagung zu eigen zu machen und neue Dramen mit Helden aus den Reihen der Arbeiter, Bauern und Soldaten auf die Bühne zu bringen - kurzum, das Volk darzustellen, das während der letzten dreizehn Jahre die sozialistische Gesellschaft verwirklicht hatte.
Kurz darauf formulierte der Vorsitzende Mao auf Anregung seiner Frau einen Aphorismus, der Teil der offiziellen Terminologie der kommenden Jahre werden sollte. Alle Dramen, die »Geister« oder »Kaiser, Könige, Generäle, Kanzler, junge Gelehrte und anmutige Schönheiten« darstellten, sollten von den Bühnen verbannt werden. Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, beschuldigte Mao das Kultusministerium, das seit 1949 von Tschou Yang, Hsia Yen, Lin Mo-han und ihrem Klüngel [36] beherrscht wurde, ein »Ministerium für Kaiser, Könige, Generäle, Kanzler, junge Gelehrte und anmutige Schönheiten« zu sein.[32]
Im Dezember klangen Maos Worte schon drohender: »Viele Sparten werden noch bis heute von den >Toten< beherrscht ... Die sozial-ökonomische Basis hat sich bereits geändert, aber die Kunst als ein Teil des Oberbaus, der dieser Basis dienen soll, bleibt bis jetzt immer noch ein ernstes Problem. Daher ist es notwendig, daß man dieses Problem, von Untersuchung und Forschung ausgehend, gewissenhaft anpackt... Ist es denn nicht absurd, daß viele Kommunisten eifrig dabei sind, die feudale und kapitalistische Kunst zu fördern, aber nicht die sozialistische?«[33]
Liu Schao-tschi, der angeblich den Beschützer dieser Fehlgeleiteten spielte, erwiderte zu seiner Verteidigung, »Kaiser und Könige, Generäle und Kanzler sollten immer noch dargestellt werden, allerdings weniger häufig ... Was die Kunst anbelangt, so ist das Niveau der Musik, der Romane, der Poesie und der Opern aus der kapitalistischen Ära - die wir die neue demokratische Ära nennen - nicht so hoch wie zur Zeit des Feudalismus. Romane und Theaterstücke unserer Zeit sind aber meist auch nicht so gut wie jene aus der Feudalzeit. Daher sollten die Stücke über >Kaiser und Könige, Generäle und Kanzler, junge Gelehrte und anmutige Schönheiten< dennoch aufgeführt werden.«[34]
Tschiang Tschings Erforschung des Theaterlebens brachte sie mit einigen wichtigen Politikern in Berührung, von denen sie nur wenige respektierte. Unter ihnen war Tao Tschu, der starke Mann des Süden,[35] der wie Tschiang Tsching daran interessiert war, das Kulturleben zu kontrollieren, um seinen politischen Einfluß zu erweitern. Während Tschiang Tsching im Norden um die Macht kämpfte, weil sie die Peking-Oper reformieren wollte, setzte Tao Tschu seinen ganzen beträchtlichen Einfluß ein, um die Yüe-Oper, die in Kanton heimisch war, zu modernisieren und zu politisieren.
Tschiang Tsching berichtete, daß Tao Tschu am 11. Oktober 1961 über das Thema »Die Intellektuellen in Kanton« gesprochen habe. (Er war der Erste Sekretär des Büros für Zentral- und Südchina der KPCH in Kanton.) Tao Tschu habe dieses Thema damals abschätzig (und daher löblich) behandelt erinnerte sie sich. Allerdings war nicht ganz klar, wem er persönlich verpflichtet war. Im darauffolgenden Frühjahr wurden überall im Land viele Versammlungen abgehalten, die sich mit Kunst befaßten. Tao Tschu nahm an einer Sitzung am 5. März 1962 teil und propagierte die Schöpfung neuer moderner Dramen und Opern. Er nahm auch an der »Konferenz der Literatur- und Kunstschaffenden zur Förderung des schöpferischen Schreibens« teil. Auch am 23. Mai war er bei einer anderen wichtigen literarischen Tagung anwesend. Die wahren Motive für Tao Tschus Auftritt bei den Tagungen im März und im Mai, wo er von allen gesehen wurde, seien erst vor kurzem deutlich geworden, sagte Tschiang Tsching. Vor dem Mai 1963 habe man nur wenig über seine Kulturpolitik gewußt, und noch 1965 seien seine Absichten nicht überall durchschaut worden. Tschiang Tschings Mitstreiter aus den frühen Phasen der Kulturrevolution, Yao Wen-yüan, gehörte zu den ersten, die Tao Tschus Arbeit sorgfältig untersuchten. Yao analysierte dann zwei Bücher von Tao; eines davon hieß »Über den Stil der sauberen Presse«. Scharfsinnig zeigte er in seiner Kritik auf, daß Tao Tschu in Wirklichkeit die Vier Bösewichte unterstützte, die Tschiang Tsching und Mao in der Kulturpolitik Widerstand leisteten. Nach der Veröffentlichung von Yaos Kritik hätten sie - Tschiang Tsching und Mao - entdeckt, daß Tao Tschu hinter den Kulissen Befehle von Lin Piao entgegengenommen habe. Dies bemerkte Tschiang Tsching in einer Anwandlung von historischem Revisionismus. Schon in den frühen sechziger Jahren seien Lin Piao und Liu Schao-tschi »auf gutem Fuß miteinander« gestanden. Auch dies sei erst vor kurzem entdeckt worden.
Tschiang Tsching trat auf den großen Versammlungen nicht in den Vordergrund. Dies änderte sich erst bei den »Festspielen der Peking-Oper mit zeitgenössischen Themen«, die im Juni und Juli 1964 in der Großen Volkskongreßhalle stattfanden. Bei diesen Festspielen wurde nicht in Kultur geschwelgt. Unter der Schirmherrschaft des Kultusministeriums, das vom ZK dazu angeregt worden war, boten die Festspiele eine Gelegenheit, neue Theaterstücke aufzuführen. Hinterher sollten die zentralen Propagandaorgane Empfehlungen abgeben, wie proletarische Politik durch das Theater gefördert werden könne. Ministerpräsident Tschou En-lai berücksichtigte Tschiang Tschings neugewonnene Kenntnisse über die Opernensembles im ganzen Land und forderte sie auf, einen Artikel über das Problem der Revolution in der Peking-Oper zu schreiben. Diesen Artikel könne sie dann bei den Festspielen vorlesen, sagte er.
Diese Festspiele waren einmalig in der chinesischen Geschichte, was die Anzahl der Opernensembles betraf und der Menschen, die daran beteiligt waren. Sie waren aber auch deshalb einzigartig, weil die verschiedenen Theateraufführungen, die weit mehr Ausdruck einer regionalen Kulturlandschaft als einer einheitlichen nationalen Kultur waren, in eine Linie mit der proletarischen Politik des Zentrums gebracht werden sollten. Siebenunddreißig neue Opern wurden von achtundzwanzig Opernensembles aus neunzehn Provinzen, Städten und autonomen Gebieten aufgeführt. Dreiunddreißig Opern beschäftigten sich mit der gegenwärtigen Phase der Revolution, die übrigen zeigten die revolutionären Kämpfe, die vor der Ära des Kommunismus stattgefunden hatten. Propagandachef Lu Ting-i kein Freund von Tschiang Tsching - hielt die Begrüßungsansprache. Dann referierten Mao Tse-tung, der offenbar voll und ganz hinter diesem Revolutionstheater stand, Liu Schaotschi, der gewisse Einwände äußerte, und Tschou En-lai, der mit seiner Meinung hinter dem Berg hielt. Auch der Oberbürgermeister Peng Tschen sprach. Ihm wurde später das Zitat nachgesagt: »Die revolutionäre Oper steckt immer noch in den Windeln und lutscht am Daumen.«[37] »Die Reformbrise würde nur dann aufhören zu blasen, wenn der Kapitalismus wiederhergestellt werden würde und moderne Revisionisten an die Macht kommen würden«, schrieb er in einem Bericht über die Festspiele.[38]
Genossin Tschiang Tsching, deren Gesicht und Stimme den meisten noch unbekannt waren, hielt ihre Jungfernrede. Doch die Veröffentlichung dieser Rede, so betonte sie in unserem Interview, sei drei Jahre lang hinausgezögert worden, während die Ansprachen der anderen unverzüglich abgedruckt wurden. Erst im Mai 1967 erschien ihre Rede in »Rote Fahne«. Warum? Weil ihre »Feinde« (die Männer, die Tschiang Tschings Kompetenz im Bereich der Künste anzweifelten) an ihrem Text herumpfuschten und sich dann weigerten, ihn als offiziell verbindlich anzusehen. Erst nachdem diese Leute unschädlich gemacht worden waren, konnte der Text publiziert werden.
In diesem Artikel (sie zitierte ihn in unserem Interview nicht, doch er war mir schon auszugsweise von ihren Mitarbeitern vorgelesen worden) wetterte sie gegen künstlerische und politische Anachronismen und verlangte die Entwicklung eines angemessenen Überbaus »zur Absicherung der sozialistischen ökonomischen Basis«. Sie berief sich auf »schockierende« Statistiken, und ihr politisches Motiv war durchsichtig. Doch dieselben Daten bestätigten die große Macht des Theaters über die Phantasie des Volkes und die öffentliche Meinung. Nach ihrer groben Schätzung

»... gibt es im ganzen Land dreitausend Theatergruppen (ausgenommen Laienspielgruppen und nicht anerkannte Gruppen); darunter sind etwa neunzig Berufsschauspielergruppen für modernes Theater und über achtzig Kulturensembles. Die übrigen mehr als zweitausendachthundert sind ausschließlich Opern- und Singspielgruppen. Unsere Opernbühne wird von Kaisern und Königen, Generälen und Kanzlern, Weisen und weiblichen Schönheiten oder sogar von Geistern und Dämonen beherrscht. Was die über neunzig Gruppen von Berufsschauspielern betrifft, so spielen sie ebenfalls nicht alle Stücke, in denen Arbeiter, Bauern und Soldaten vorkommen. Außerdem legen sie Gewicht auf Mehrakter oder auf Stücke ausländischen oder klassischen Ursprungs ... Im ganzen Land zählen die Arbeiter, Bauern und Soldaten mehr als sechshundert Millionen; aber es gibt nur mehr eine Handvoll Gutsbesitzer, reiche Bauern, Konterrevolutionäre, asoziale Elemente, Rechts- und bürgerliche Elemente. Sollen wir nun dieser Handvoll Leuten dienen oder den über sechshundert Millionen?«

Die schlichte marxistische Argumentation, das Theater habe ganz und gar der Sache des Proletariats zu dienen, wurde in den kommenden Jahren wieder und wieder vorgebracht. Und auch Tschiang Tschings Appell an das neue proletarische Klassenbewußtsein, den sie zum erstenmal bei den Opernfestspielen an das Publikum richtete, gehörte von nun an zum Katechismus:

»Wir essen das von den Bauern produzierte Getreide, tragen von den Arbeitern erzeugte Kleidung und wohnen in Häusern, die ebenfalls von den Arbeitern gebaut wurden, und die Volksbefreiungsarmee steht an der Front der Landesverteidigung für uns Wache. Sie alle werden jedoch nicht dargestellt. Darf ich fragen: auf welchem Klassenstandpunkt steht ihr Künstler, und wo bleibt das künstlerische >Gewissen<, von dem ihr alle sehr oft redet?«[39]

In der Oper war es nötig, »einige Schrittmacher zu fördern«. Zu diesen »Schrittmachern«, die noch in einem experimentellen Stadium steckten, gehörten »Die Geschichte einer Roten Signallaterne«, »Funke im Schilf« (spater »Schatschiapang« genannt), »Sturm auf das Regiment >Weißer Tiger<« und »Sturm auf die Banditenfestung« (später: »Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobert«). Sie alle sollten »Modellopern« werden. Zu den Führern, die diese Opern sahen und Veränderungsvorschläge machten, gehörten außer dem Vorsitzenden Ko Tsching-schih und Sicherheitschef Kang Scheng, über den Tschiang Tsching oft vergnügt und herzlich sprach. (»Er wollte so gern meine liebsten Pfingstrosenphotos kriegen, aber ich habe sie ihm nicht gegeben.«)
Genauer erinnerte sie sich jedoch an ihre Feinde,[40] jene Kulturkommissare, die nach ihrer Überzeugung ihre Karriere dreißig Jahre lang hintertrieben hatten. Während der Festspiel-Wochen legte sie Wert darauf, mit den Vier Bösewichten - Tschou Yang, Yang Han-scheng, Tien Han und Hsia Yen - zu sprechen, und auch mit Tschang Keng, der immer noch bürgerliche Theaterstücke schrieb. Sie war immer noch nicht dazu entschlossen - so wenig wie in Jenan - gegen sie Rache zu üben, sondern trat ihnen mit den besten Absichten entgegen und ermutigte sie, zur Abwechslung einmal Revolution zu machen. Doch sie standen nur sprachlos herum. Tschiang Tsching hielt sich zurück, da die allgemeine Lage gespannt und undurchsichtig war. Schon in diesem Sommer argwöhnten sie und der Vorsitzende, daß diese Männer »Renegaten, Trotzkisten oder Spezialagenten der Kuomintang waren«.[41] Allerdings fehlte ihnen der schlüssige Beweis.
Um den guten Willen Tien Hans (dessen Bekanntschaft sie in Schanghai als verängstigtes junges Mädchen gemacht hatte, als sie von der Partei isoliert gewesen war) auf die Probe zu stellen, lud sie ihn und seine Frau zum Abendessen ein. Die beiden nahmen die Einladung an. Tschiang Tsching  benutzte diese Gelegenheit, um Tien Han zu bitten, das Manuskript des Theaterstücks »Das Rote Frauenbataillon« zu einer Peking-Oper umzuschreiben. Tien Han erklärte sich dazu bereit. Was er ihr jedoch einige Wochen später vorlegte, sei wesentlich schlechter als das Original gewesen, sagte Tschiang Tsching empört.
Nach den Festspielen der Peking-Oper, die von Tschiang Tsching als ein überragender Erfolg gewertet wurden, reisten Liu Schao-tschi und seine Frau Wang Kuang-mei, die offensichtlich über Tschiang Tschings Erfolg verstimmt waren, im August und September durch das ganze Land. Scheinbar hätten sie dabei die Bewegung der Vier Säuberungen unterstützt, sagte Tschiang Tsching ärgerlich, doch in Wirklichkeit hätten sie versucht, die proletarische Revolutionslinie des Vorsitzenden Mao zu durchkreuzen.
Mao beobachtete diese Entwicklungen aufmerksam. Im Arbeitsbericht für die 1. Sitzung des III. Nationalen Volkskongresses, der am 21. Dezember 1964 stattfand, sprach er über die kulturellen Hauptströmungen des Jahres und erklärte, daß die Geschichte der Menschheit als ein ständiges Fortschreiten aus dem Reich der Notwendigkeiten in das Reich der Freiheit verstanden werden müsse. Jener Tag, fügte Tschiang Tsching beiläufig hinzu, sei für sie sehr bedeutungsvoll gewesen. Sie wurde als Delegierte von Schantung, ihrer Heimatprovinz, in den Nationalen Volkskongreß geschickt. So faßte sie im politischen Establishment Fuß. Doch sie war fest davon überzeugt, daß manche versuchten, ihr Steine in den Weg zu legen.
In jenem Dezember wurden die Verbrechen des einst berühmten Armeeführers Lo Juitsching aufgedeckt. Sein Fall wurde in Schanghai verhandelt. Lo Jui-tsching wurde wegen seiner »bürgerlichen militärischen Linie« verurteilt. Lin Piao habe Los Ansichten geteilt, fügte Tschiang Tsching hinzu. Schon bevor sich 1965 die Umrisse der Kulturrevolution abzuzeichnen begannen, sei der Vorsitzende Lin Piaos Feind gewesen. Die Unvereinbarkeiten zwischen ihnen seien evident gewesen.
In dem Verfahren gegen Lo Jui-tsching stellte sich heraus, daß er seine Stellung in Organen der öffentlichen Sicherheit dazu mißbraucht hatte, zu Beginn des Jahres 1964 in Tschiang Tschings Organisation (ihre nähere Umgebung und ihre Mitarbeiter) herumspionieren zu lassen. Lo Jui-tsching war derjenige, der gefordert hatte, Tschiang Tschings Initiative für eine Kulturrevolution in der »Zeitung der Befreiungsarmee« ausführlich darzustellen, obwohl sie dies hatte geheimhalten wollen. Als sie davon erfuhr, rief sie ihn sofort an und »diskutierte mit ihm«. Lo Jui-tschings Ansichten waren reichlich naiv. Er glaubte, daß alles, was die Armee tat, gut war. »Lebt die VBA etwa in einem Vakuum?« fragte sie ihn, und er wußte darauf keine Antwort.
Die VBA pflegte ihre eigenen Stücke, Musicals und Filme zu produzieren. Ein Film, der den Langen Marsch darstellen sollte, fiel Tschiang Tsching besonders auf, da er ein »reformistisches« Motiv zu haben schien. Sie bat den Vorsitzenden, sich den Film anzusehen. Mao befand, daß der Film »sektiererisch« sei, da er nicht richtig darstelle, wie alle Streitkräfte zusammengewirkt hätten. Statt dessen konzentriere sich der Film auf die Rolle der 1. Front-Armee (die Lin Piao geführt hatte) und behaupte, daß sie aus den tapfersten Kämpfern bestanden habe. (Die Rolle der 3. und 4. Front-Armee wurde vernachlässigt.) Um die Momente von »Sektierertum« und die Verherrlichung der »Bergspitzenmentalität« aus dem Film zu tilgen, habe der Vorsitzende gewisse Verbesserungen vorgeschlagen. Doch »Lin Piao und seine Clique« hätten alle Versuche durchkreuzt, ihren Film zu überarbeiten, erklärte Tschiang Tsching.
Im Frühjahr 1966 flammte der Konflikt überall offen auf. In jenem Februar - Mao besuchte gerade Hangtschou und Hunan - leitete Tschiang Tsching in Schanghai eine »Beratung über die Arbeit in Literatur und Kunst in der Armee«. Da wurden plötzlich die Februar-Thesen der Fünfer-Gruppe für die Kulturrevolution »aufgetischt«.[42] Diese Gruppe wurde von Pekings Oberbürgermeister Peng Tschen geleitet, einem Mann, der schon Tschiang Tschings Reform der Oper bekämpft hatte. Sein Programm, das erkannte sie sofort, war nichts anderes als eine kalkulierte Ablehnung ihres Programms (den Sozialismus in die Kunst zu tragen). Als rein »akademischer« Diskussionsbeitrag ohne politische Verbindlichkeit präsentiert, enthielten die FebruarThesen so alberne Slogans wie »vor der Wahrheit sind alle gleich« und andere überholte Sprüche. Diese Art von »konterrevolutionärem Revisionismus« machte sich allenthalben bemerkbar. In der Philosophie begannen einige, das Prinzip »eins teilt sich in zwei« (nach Mao grundlegend für das dialektische Denken) in Frage zu stellen.[43] Der Volkswirtschaftler Sun Ye-fang, der noch weiter ging als J. Libermann aus der Sowjetunion, sprach sich für den »Vorrang des Profits« und andere »revisionistische Preis- und Profittheorien« aus. Unter den Historikern gewann die »Theorie der Konzessionen« zunehmend an Einfluß. Diese Theorie besagte, daß die Erfolge der Bauernaufstände in der Vergangenheit nicht den Anstrengungen der Bauern zu verdanken, sondern eher das Ergebnis von Konzessionen gewesen seien, die die Herrschenden dem Volk gegenüber gemacht hätten. Sie bezog sich vor allem auf Tang Tai-tsung, den zweiten Kaiser der Tang-Dynastie, der von 627-650 regiert hatte.
Am 16. April 1966 trat in Hangtschou das Zentralkomitee zusammen. Gleichzeitig erklärte sich das Pekinger Stadtparteikomitee - das von denselben Männern geleitet wurde, welche die Fünfergruppe für die Kulturrevolution kontrollierten - dazu bereit, pro forma einige Maßnahmen der »Berichtigung« gegenüber einigen Intellektuellen zu ergreifen, da diese die Parteiführung angegriffen hatten. Geschickt organisierten sie eine Artikelserie, die nur scheinbar Kritik an Wu Hans Zeitungskolumne »Das Drei-Familien-Dorf« übte. (In dieser Kolumne wurden historische Anekdoten satirisch verfremdet. Auf diese Weise sollten die Schwächen Maos und seiner Mitstreiter kritisiert werden. Wu Han verfaßte die Kolumne gemeinsam mit den Journalisten Teng To und Liao Mo-scha.) Im Grunde habe das Pekinger Parteikomitee diese umstürzlerische Kolumne gerechtfertigt, behauptete Tschiang Tsching. Und diese pseudokritischen Artikel wurden überall im Land verbreitet. Sogar Tao Tschu [44] druckte sie in der »Kantoner Zeitung« ab. Auf der Sitzung in Hangtschou wurde die Rolle Peng Tschens, der damals Vorsitzender des Pekinger Partei-Komitees war, kenntlich gemacht. Er habe Peking »wasserdicht« gemacht, sagte Tschiang Tsching. Keinem Außenstehenden habe man Einblick in die Arbeit des Parteikomitees gestattet.
Einer von Peng Tschens Männern (die jetzt unter Druck standen), war Liao Mo-scha, ein Journalist, den Tschiang Tsching gut gekannt hatte, als er jung gewesen war und in den dreißiger Jahren in Schanghai ums Überleben gekämpft hatte. Er war jetzt nicht nur deshalb in Ungnade gefallen, weil er ein Mitverfasser von »Das Drei-Familien-Dorf« war, sondern auch deshalb, weil er Lu Hsün verleumdet hatte. (Dieser wurde nach dem Sturz seines früheren Rivalen Tschou Yang rehabilitiert.) Besonders Lus »umrandete Artikel« (hui-pien wen-hsüe) hatte er angegriffen. Tschiang Tsching deutete an, daß Liao ein Anhänger der Kuomintang war. Warum sprach man von »umrandeten Artikeln«? Lu Hsün hatte den Begriff aus der Terminologie der Kuomintang übernommen und verwandte ihn als Titel eines seiner Bücher. In den Zeitungen der Kuomintang waren häufig sogenannte »offene himmlische Fenster« (kai-tien tschuang) oder freie Stellen zu sehen. Sie kennzeichneten den Raum, in dem ein zensierter Artikel, von Lu Hsün oder einem anderen Dissidenten, hätte erscheinen sollen. Das waren die Methoden von Tschiang Kai-scheks Faschismus.
Tschiang Tschings Abneigung gegen Peng Tschen rührte aus der Zeit vor der Kulturrevolution. Sie erinnerte sich sehr gut daran, daß sie einmal eine Versammlung des Stadtparteikomitees besucht und um die Erlaubnis gebeten hatte, einem Ensemble der Peking-Oper revolutionäre Texte und Partituren übergeben zu dürfen. Das Komitee wollte von diesem Plan jedoch nichts wissen. Als Li Tsung-jen (er war Ende der vierziger Jahre Präsident der Republik) Peking 1965 einen Besuch abstattete, gab Mao ihm zu Ehren ein Essen.
Diesem Essen ging ein Empfang voraus, zu dem auch Tschiang Tsching eingeladen war. Sie war vorgewarnt, daß auch Peng Tschen bei dem Empfang anwesend sein würde, und nahm nur an dem Bankett teil. Doch während des Essens faßte sie sich ein Herz, ging zu Peng Tschen und forderte ihn auf, mit ihr in ein anderes Zimmer zu kommen. Als sie dort mit ihm allein war, erläuterte sie ihm, welch brennendes Interesse sie daran habe, den Sozialismus in die Kunst einzubringen. Sie zitierte auch das Beispiel Tschang Tschun-tschiaos, des Parteichefs von Schanghai, der (auf ihre Anregung hin) das Ballett »Das Weißhaarige Mädchen« und andere revolutionäre Stücke hatte neu bearbeiten lassen. Mit einer Opernpartitur in der Hand bat sie Peng Tschen erneut, ihr ein Ensemble der Peking-Oper zur Verfügung zu stellen, damit sie ihre Vorstellungen verwirklichen konnte. Verärgert griff er nach der Partitur, schlug ihr die Bitte ab und riet ihr, sich um »eine einflußreiche Position« zu bemühen. Sie berichtete dem Vorsitzenden von dieser Unterredung, und dieser war sehr empört.
Es war ihnen beiden und ihren Anhängern klar, daß Tschiang Tsching ohne hohe Position nichts erreichen würde. Zwar konnte sie weiterhin hinter den Kulissen schädliche Literatur entlarven und sich älterer Werke annehmen, die zu erhalten sich lohnte. Aber auf lange Sicht war dies keine Lösung.