Vier Meere aufgebäumt, Wolken und Wasser zornig,
fünf Erdteile bebend, Wind und Donner entfacht.
Müßte sie auskehren, allesamt, die üblen Insekten:
nirgend sonst Feinde.
Mao Tse-tung, »Genossen Kuo Mo-jo erwidernd«
Im November 1966 hatte Tschiang Tsching angekündigt, die Kulturrevolution werde sich nicht mit einer seichten Korrektur politischer Vergehen zufriedengeben. Da der Feind in der Partei tiefe Wurzeln geschlagen hatte, waren Vergeltungsmaßnahmen angebracht. »Wir müssen nicht nur die fünfzig Tage und die siebzehn Jahre, sondern auch die dreißiger Jahre berücksichtigen.«[1] Die »fünfzig Tage« waren der Zeitraum von Anfang Juni bis Mitte Juli, in dem der Vorsitzende aus dem »uneinnehmbaren Königreich« Peking ausgeschlossen gewesen war, wo Liu Schao-tschi, Teng Hsiao-ping und andere herrschten und ihre Interessen wahrten, indem sie Arbeitsgruppen an die Universitäten und andere Schauplätze von Konflikten entsandten. Dann schwamm der Vorsitzende im Yangtse, gewann mit dieser aufsehenerregenden Demonstration seine Hauptstadt zurück und mobilisierte Millionen Roter Garden zu seiner Verteidigung. Die »siebzehn Jahre« verkörperten die Geschichte der Volksrepublik: Jahre, in denen Tschiang Tsching und gelegentlich auch der Vorsitzende nicht die ganze Macht besessen hatten, die ihnen nach Tschiangs Überzeugung zustand. Und die dreißiger Jahre waren die Glanzzeit des linksgerichteten Kosmopolitismus gewesen. Damals hatte sie erstmals versucht, ihren Weg als Kommunistin und Schauspielerin zu machen, war aber dabei von gewissen Leuten behindert worden.
Nachdem Tschiang Tschings persönliche Feinde - vor allem Tschou Yang, Hsia Yen und Tien Han - beseitigt waren, wurden die Spitzenfunktionäre Liu Schao-Tschi, Teng Hsiao-ping und Tao Tschu verhaftet. Am 5. August 1967 fand auf dem Platz am Tor des Himmlischen Friedens eine Kundgebung mit einer Million Teilnehmern statt. Diese einst verehrten Führer, die jetzt im Tschung-nan-hai unter Hausarrest standen, hörten im Rundfunk die Direktübertragung der Massenkundgebung und die Reaktion der Massen. Entlang der vom Tschungnan-hai wegführenden Straße hingen Strohpuppen mit ihren Namen auf der Brust an den Bäumen. Innerhalb weniger Tage wurden in ganz China beleidigende Karikaturen dieser Männer verbreitet.[2]
In den meisten Fällen gingen mit den entmachteten Führern auch deren Familien unter, wie es in der Vergangenheit bei Verbrechern üblich gewesen war. Aber die Familie Liu war anders - fortschrittlich. Obwohl die Frau mit ihrem Mann unterging, erhoben die Kinder sich als Rebellen im Namen Maos und seiner Generation junger revolutionärer Nachfolger gegen ihre Eltern.
Im neuen Jahr nahm die Zahl der Verurteilungen zu. Ober andere revolutionäre Patriarchen, von denen einige seit fast fünfzig Jahren in der Öffentlichkeit nie anders als höchst lobend erwähnt worden waren, wurden belastende Dossiers zusammengestellt. Ein prominentes Mitglied dieser Gruppe war Tschu Te, der lange einen Ehrenplatz im Politbüro gehabt hatte. »Tatsachen« aus einer frühen Biographie, die den Weg dieses Einzelgängers vom Opiumsüchtigen, Schürzenjäger und Militärmachthaber bis zum Begründer der Volksbefreiungsarmee schilderte, wurden dazu benützt, Tschu zu verleumden. Diese Armee, behaupteten seine jungen Inquisitoren, sei ausschließlich von dem Vorsitzenden Mao gegründet und persönlich geführt worden - niemals (obwohl sich das beweisen ließ) von Tschu. Seine Wohnung im Tschung-nan-hai wurde geplündert, und seine Frau Kang Kotsching, eine ehemalige Leibeigene und spätere Rotarmistin, wurde in Schimpf und Schande durch die Straßen geschleppt.[3]
Ein weiteres Opfer der neuen Linken wurde Außenminister Tschen I. Er wurde wegen seiner geistigen Unabhängigkeit, seines Sarkasmus, seiner Abneigung gegen engstirnige Propaganda, seines ausgeprägten Kunstverstandes und seiner Gewandtheit im Umgang mit Diplomaten seit langem gefürchtet und bewundert. Die Ende 1966 einsetzenden Angriffe gegen ihn erreichten ihren Höhepunkt im April 1967, als die Roten Garten das Außenministerium besetzten. Archive wurden geplündert, Funktionäre wurden mißhandelt, und die Dienstgeschäfte wurden erst nach Monaten wieder aufgenommen. Auch Tschens Frau Tschang Tschien, die von Militär und Theater ebensoviel wie ihr Mann verstand, mußte für die Untaten büßen, die ihr Mann angeblich verübt hatte.
Tschou En-Iai, der Unentbehrliche, übernahm im Frühjahr 1967 auch Tschen Is Funktion als Außenminister. Gleichzeitig hielt er Verbindung zu dem Vorsitzenden Mao und dem Parteizentrum, zu Lin Piao und seiner Militärkommission und zu Tschiang Tsching und ihrer Gruppe für die Kulturrevolution. Häufig erschien er bei ihren Seminaren und Massenkundgebungen. Während er mit diesen Rollen jonglierte - oft bis an den Rand der Erschöpfung -, wurden Dossiers gegen ihn sowie gegen Tschiang Tsching zusammengestellt. Von wem? Von den Ultralinken[4], wie Tschiang später erklärte.
Tan Tschen-lin, ein alter Militär, der Mao von Anfang an gedient hatte, machte sich schließlich zum Sprecher der auf diese Weise plötzlich bedrohten Gruppe alternder Patriarchen. Vom Standpunkt der von Tschiang Tsching gelenkten Gruppe für die Kulturrevolution aus war diese Februar-Gegenströmung eine von rechts kommende Behinderung der Taten von Tschiang Tschings Gruppe. Tans Vorgehen zog seine Verhaftung und die eigentümliche (wenn nicht sogar irrationale) Anklage nach sich, er habe versucht, Liu Schao-tschi und Teng Hsiao-ping zu rehabilitieren und eine »Restauration des Kapitalismus« herbeizuführen.
Unterdessen arbeiteten die Kulturrevolutionäre weiter mit dem Ziel, einen ausgewogenen und flexiblen Mechanismus zu schaffen, mit dem die »gesäuberten Klassenreihen« einer neuen Ordnung regiert werden sollten. Um ihren Einflußbereich zu erweitern, vermittelten sie die strengen Maßstäbe der Studenten, die natürlich rasch lernten, handelten und vergaßen, den Arbeitern und Bauern, die sich langsamer anpaßten, aber im Rahmen einer neuen Ordnung leichter zu regieren waren, wenn diese sich einmal etabliert hatte.
In diesen Monaten des Bürgerkriegs konzentrierte Tschiang Tsching sich weiterhin auf den Oberbau, d. h. die Vermittlunq einer an Mao ausgerichteten Ideologie durch die Medien. Außer der revolutionären Oper und dem Ballett, (hier gewann sie wirklich Boden), kämpfte sie um die Kontrolle über den Film, der ihrer Überzeugung nach das potentiell wirksamste Mittel zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung war. Aber ihr erstes und zugleich letztes Ziel war die Erschaffung einer revolutionären Persönlichkeit, die Modellcharakter für die gesamte Nation haben sollte. Zu diesem Zweck verbrachte sie ihre Tage damit, die Kunst der Selbstverleugnung sowie Kritik und Selbstkritik zu lehren. Strenge Selbstdisziplin sollte sich an dem von Mao aufgestellten Ideal orientieren: Dem Volke dienen!
Bei der Ende 1966 einsetzenden Demontage des Propaganda- und Kulturestablishments fielen die Medien in die Hände der Kulturrevolutionäre. Dutzende von Zeitungen und Zeitschriften stellten ihr Erscheinen ein; die wenigen verschonten Blätter mußten eine streng maoistische Linie verfolgen. Die Verlage, die Ende der fünfziger Jahre endlich begonnen hatten, den Ende der dreißiger Jahre verlorenen intellektuellen Schwung wiederzugewinnen, durften nicht weiterarbeiten. Offiziell genehmigte Experimentierbühnen führten hauptsächlich Tschiang Tschings Musterstücke auf. Alle anderen Aufführungen waren verboten. Filmateliers wurden geschlossen, und Drehbuchautoren, Produzenten, Regisseure und Schauspieler wurden gedemütigt und in die Wüste geschickt. Alle Spiel- und Dokumentarfilme außer den wenigen, die das Zentralkomitee erneut gebilligt hatte, wurden aus den Kinos verbannt, und die Presse setzte die jahrelange Arbeit von Filmkritikern und Historikern gröblich herab.[5] Ebenso wie die neue Wege gehende proletarische Literatur und die schönen Künste der dreißiger Jahre wurde auch der Filmkult dieses Jahrzehnts von den Hohepriestern der Gruppe für die Kulturrevolution öffentlich exorziert.
Aber auch im Film mußte wie überall sonst dem Niederreißen ein Aufbauen folgen. Wo waren entsprechende Talente zu finden? Die erfahrensten Regisseure waren die Männer, die in den dreißiger Jahren den Schanghaier Untergrund belebt hatten. Obwohl sie unter dem totalitären Regime der Kuomintang hatten arbeiten müssen, waren sie auf dem Feld der radikalen Kunst ihre eigenen Herren gewesen. Nachdem die KPCH, für die die meisten von ihnen hingebungsvoll gekämpft hatten, an die Macht gekommen war, wurde die Filmproduktion paradoxerweise einer neuen Zensur unterworfen, und diese Zensur erwies sich als viel strenger als die der Kuomintang.
Tschiang Tschings Erinnerungen zeugten wie ihre Handlungsweise von einer Verflechtung ideologischer und persönlicher Motive. Die einst so hilfsbedürftige Lan Ping, die jetzt die mächtige Tschiang Tsching war, hatte endlich mit ihrem früheren Chef in der filmschaffenden Unterwelt Schanghais, Hsia Yen, abgerechnet. Er und drei weitere »Bösewichte« wurden ausgeschaltet, d. h. offenbar unter Hausarrest gestellt.
Am 1. Februar 1967 rief Tschiang Tsching die Vertreter zweier stillgelegter Filmateliers zu einer Besprechung zusammen, um Beschwerden entgegenzunehmen. »Hsia Yen, Tschen Huangmei und ihre Truppe [durchweg reglementierte Regisseure] haben nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag im Bett zu faulenzen«, erklärte sie. »Zerrt sie heraus und bekämpft sie!« rief Tschi Pen-yü (ein politischer Essayist auf Maos Seite) der Gruppe von jugendlichen Radikalen zu, die schon andere prominente Filmschaffende herausgezerrt und mißhandelt hatte. Nach Tschiangs Darstellung hatten die »Gauner« einen Wochenschaufilm gedreht, in dem der Vorsitzende einen Vorbeimarsch der Roten Garden abnahm. Sie hätten aber die Parade so gefilmt, daß Liu Schao-tschi in günstigem Licht erschien. Alle Szenen mit Liu, Teng Hsiaoping und Tao Tschu (Tschiang Tschings Rivale, der jetzt auf der Seite des Gegners stand) mußten aus dem Film herausgeschnitten werden. Ein Dokumentarfilm, der Liu Schao-tschi und seine Frau Wang Kuang-mei auf ihrer berüchtigten Indonesienreise im Jahre 1963 zeigte und ebenfalls hätte aufgeführt werden sollen, mache nur Reklame für »bürgerliches Hofleben«, erklärte die Gruppe.
»Der Vorsitzende haßt es, gefilmt zu werden«, erinnerte Tschiang Tsching die Filmemacher. »Das war schon so, als ich ihn in Jenan kennengelernt habe. Jetzt wollen alle ehrgeizigen >revolutionären< Kameraleute den Vorsitzenden aufnehmen. Außer bei offiziellen Anlässen läßt der Vorsitzende sich nicht bei der Arbeit photographieren. Im Gegensatz dazu kämpfen Vertreter der Bourgeoisie erbittert darum, ins Bild zu kommen. Liu Schao-tschi hat sich immer recht eigenartig verhalten. Er hat stets großen Wert darauf gelegt, unmittelbar neben dem Vorsitzenden zu stehen und so zu tun, als spreche er mit ihm... Er ist nie in den Hintergrund getreten.«[6]
Sabotage bei der Filmproduktion sei häufig vorgekommen, sagte sie. Kameras und Filmmaterial wurden beschlagnahmt, Dienstwagen von Regisseuren konfisziert und Wohnungen enteignet, ohne daß alle diese Aktionen vom Zentrum genehmigt worden wären. Als die Filmproduktion unter Aufsicht der Gruppe für die Kulturrevolution wieder aufgenommen wurde, mußten die Vertreter der Linken - die Tschiang Tsching mit den Massen gleichsetzte sich mit »proletarischen Elementen« in der Filmindustrie vereinigen und gemeinsam mit ihnen gegen den Klassenfeind kämpfen. Sie befahl: »Es darf nicht zugelassen werden, daß Rinderteufel und Schlangengeister sich erheben. Ihr müßt Grundbesitzer, reiche Bauern, Konterrevolutionäre, üble Gestalten und Rechte scharf im Auge behalten. Nur die Linke darf rebellieren. Der Rechten ist es nicht gestattet, sich zu erheben.«*
Obwohl die Linke »rebellieren dürfe«, müsse sie in Anbetracht ihrer Anfälligkeit für Anarchie und ihrer internen Streitigkeiten darauf achten, sich nicht von der Rechten manipulieren und in Fraktionen aufsplittern zu lassen. Die Rechte würde Menschen in Tiger verwandeln, stellte sie warnend fest, und sie aufeinanderhetzen. Die Rechtsabweichler würden dieses Schauspiel genießen.
Auch Tschi Pen-yü drückte sich ähnlich aus: »Wenn die Massen gegeneinander kämpfen, klatscht die Schwarze Bande auf den Ringplätzen Beifall.«
Tschiang Tsching schloß ihre Ausführungen mit Bemerkungen zu ihrem Lieblingsthema, dem Problem des Eigennutzes. Dieser subjektive Aspekt der revolutionären Umgestaltung (dies wurde bei unseren Interviews deutlich) war ihr stets bewußt. Revolution zu machen, stellte sie sinngemäß fest, sei zugleich ein introvertiertes und extrovertiertes Erlebnis, eine private und öffentliche Angelegenheit. Konflikte existierten nicht nur außen - zwischen dem Feind und den Revolutionären - oder intern - zwischen den Revolutionären -, wie der Vorsitzende Mao gezeigt habe. Sie müßten auch im Inneren des Menschen ausgetragen werden gegen den sogenannten Eigennutz. Sie zitierte aus einem Leitartikel der »Volkszeitung« vom Vortag:
»Wir verfolgen zwei Revolutionen gleichzeitig: eine Revolution, um die objektive Welt zu reformieren, und eine weitere, um die subjektive Welt zu reformieren. Außerdem führen wir gleichzeitig zwei Kämpfe um die Machtergreifung: einen, um den Machthabern, die den kapitalistischen Weg gehen, die Macht zu entreißen, und den anderen, um dem Eigennutz in unseren Köpfen die Macht zu entwinden. Erst wenn der Eigennutz im Verstand gründlich entmachtet ist, wird es möglich sein, in dem Kampf um die Macht gegen die Machthaber, die den kapitalistischen Weg gehen, einen vollständigen Sieg zu erringen.
Die Machtergreifung im Verstand ist ein schmerzhafter Vorgang. Aber der Kampf muß geführt werden, und das erfordert den Mut, mit einem Bajonett blutende Wunden zuzufügen. Dieser Kampf wird am besten dadurch geführt, daß man sich in Fabriken und Dörfern in die reißende Strömung der Großen Proletarischen Kulturrevolution wirft und sich mit Arbeitern und Bauern vereinigt... Nur so können Intellektuelle ihre Schwächen überwinden und Revolutionäre werden.«[7]
»Wie können wir das große Bündnis zwischen Arbeitern, Bauern und Intellektuellen zustandebringen?«, wollten ihre Zuhörer wissen. »Verlangt keine Anweisungen von mir. Wir sind alle Genossen!« »Genossin Tschiang Tsching, übermitteln Sie dem Vorsitzenden Mao bitte unsere Grüße.«
Am 12. April 1967, zwei Tage, nachdem Wang Kuang-mei aus ihrem Haus im Tschung-nanhai gezerrt und an der Tsinghua-Universität in einem Schauprozeß abgeurteilt worden war, sprach Tschiang Tsching vor der Militärkommission beim Zentralkomitee.[8] Ihr Tonfall ließ darauf schließen, daß die moralische Vernichtung der Gattin des ehemaligen Staatsoberhaupts auf sie ernüchternd gewirkt hatte. Ihre erlesene Zuhörerschaft mit Lin Piao, dem designierten Nachfolger des Vorsitzenden, an der Spitze, bestand aus harten Militärs, denen es jetzt darauf ankam, aus den gegenwärtigen Wirren die größtmöglichen politischen Vorteile zu ziehen. Vor ihnen erschien sie mustergültig bescheiden und vernünftig, frei von jener Demagogie, die sie auf Massenkundgebungen einzusetzen gelernt hatte. Sie stellte sich als gewöhnliches Parteimitglied vor: seit vielen Jahren die Sekretärin des Vorsitzenden Mao und seit dem letzten Jahr Sekretärin des Ständigen Ausschusses des Politbüros. Tatsächlich war die ganze Gruppe für die Kulturrevolution ihrer Auffassung nach nicht mehr (oder weniger!) als ein Sekretariat für diesen Ständigen Ausschuß, das mächtigste Gremium des Landes. Sie verglich die Arbeit ihrer Gruppe mit den Funktionen von Wachposten und Stabsoffizieren. Sie mache Vorschläge und liefere Material für den Vorsitzenden Mao, den Stellvertretenden Vorsitzenden Lin, Ministerpräsident Tschou und andere Ausschußmitglieder. Sie charakterisierte ihre besondere Beziehung zu dem Vorsitzenden, indem sie ihre »Späherdienste« auf den Gebieten der Kultur und Erziehung schilderte. Sie lese Zeitungen und Zeitschriften, suche Material heraus, das im guten oder schlechten Sinne bemerkenswert sei, und lege es dem Vorsitzenden Mao zur Prüfung vor. Der Vorsitzende sei streng mit ihr und ein unnachsichtiger Lehrer, fuhr sie fort. Selbstverständlich führe er sie nicht an der Hand, wie er es bei manchen anderen tat. Trotzdem sei er außerordentlich streng zu ihr. Sie gestand ein, sehr unwissend zu sein. Tatsächlich kannten einige der anwesenden Genossen den Vorsitzenden wohl besser als sie.
»Wir leben zusammen, aber er ist ein schweigsamer Mensch; er redet nicht viel. Wenn er redet, geht es meistens um Politik, Wirtschaft, Kultur, die internationale Szene, innenpolitische Ereignisse - was ihm gerade einfällt. Manchmal spricht er über die >kleinen Rundfunksendungen< aus der Gesellschaft (weitverbreitete günstige oder ungünstige Gerüchte), aber nicht sehr oft... Ich halte die Informationen, die man aus solchen kleinen Rundfunksendungen aus der Gesellschaft gewinnen kann, für wenig nützlich und für Energieverschwendung.«
Was das Wissen betreffe, sei sie anderen Genossen unterlegen. Ihr Wissen sei unzulänglich und vor allem nicht systematisch genug. »Falls ich irgendeinen Vorzug habe, ist es der, daß ich bei der Sache bleibe und sie erledige, wenn ich mir vornehme, etwas in Angriff zu nehmen.«
Zur Illustration der Lehre des Vorsitzenden, Führungskader dürften nicht von ihrem Kapital zehren, sondern müßten dem Volk erneut dienen, erzählte sie eine der historischen Anekdoten, auf die er sich oft bezog.[9] Der Vorsitzende, sagte sie, erkläre dazu, daß diese Geschichte die Umverteilung von Eigentum und Macht innerhalb der Grundbesitzerklasse zum Zeitpunkt des Übergangs von der Leibeigenschaft zum Feudalsystem behandle. Diese Neuverteilung des Grundbesitzes müsse ununterbrochen weitergehen. Was die Anwesenden betreffe, so verträten sie nicht die Ausbeuter-, sondern die Arbeiterklasse. Aber wenn sie es versäumten, ihre Kinder streng zu erziehen, bestehe die Gefahr, daß diese sich zurückentwickelten und eines Tages den Kapitalismus restaurierten. Einige der hier versammelten Genossen besäßen erheblich mehr Macht als viele Potentaten der chinesischen Geschichte. Genosse Tschen Po-ta sage oft, er sei nur ein gewöhnlicher kleiner Mann. Sie selbst sei noch unbedeutender. »Aber Macht sollte nicht leichtfertig ausgeübt werden. Das Volk hat uns hohe Stellungen, gute Gehälter und große Autorität gegeben. Jedoch wird es uns noch lange dulden, wenn wir keine neuen Leistungen bringen?« Folglich, erklärte sie den Verantwortlichen, müsse die VBA Neues leisten.
Sie erinnerte ihre Zuhörer daran, welche dominierende Rolle Kultur und Erziehung bei der Bewußtseinsformung des Volkes spielten. In dieser Beziehung seien in den vergangenen siebzehn Jahren Fehler gemacht worden. Personen mit zweifelhafter ideologischer Einstellung und Kompetenz seien für Kultur und Erziehungswesen zuständig gewesen. Deren Einfluß, zu dem noch der Einfluß »mehrerer Millionen bürgerlicher Intellektueller«, die eine Hinterlassenschaft des alten Regimes seien, hinzugekommen sei, habe bewirkt, daß China von bürgerlichen und feudalen Ideen überflutet worden sei. »Jede Klasse, ob proletarisch oder bürgerlich, welche die politische Macht ergreifen will, muß zuerst die öffentliche Meinung beeinflussen. In der Vergangenheit habe ich nicht genug auf diesen Punkt geachtet«, sagte sie. Die militärische Führung müsse jetzt die Kontrolle über die öffentliche Meinung an sich bringen.
Kinder sollten nicht als »Privateigentum« behandelt werden, meinte sie. Sie sollten vielmehr als der »Reichtum des Volkes, die Nachkommenschaft des Volkes« betrachtet werden. Wer seine eigenen Kinder als Geschenke des Himmels für sich in Anspruch nehme, ignoriere zwangsläufig fremde Kinder, besonders die der Arbeiterklasse, da er sie für wertlos halte.
»Nehmen Sie zum Beispiel unsere Tochter [Li Na]. Als sie noch in der Grundschule war, hat sie mir eines Tages erzählt, ihre Lehrerin habe mit ihr über ein Buch mit dem Titel >Tuntun ti tsching-ho< gesprochen. Was für eine schreckliche Lehrerin! Ich habe ihr erklärt, das sei falsch, und die richtige Übersetzung laute >Tsching-tsching ti tun ho< [>Der stille Don< von Michail Scholochow]. >Willst du das Buch lesen?< fragte ich sie. >Ja, Mama.< Ich erklärte ihr außerdem, sie müsse es beim Lesen als sowjetisches Geschichtsmaterial oder als die Geschichte sowjetischer Kriege betrachten. Trotzdem sei es kein gutes Buch, weil seine Helden ein Verräter und ein Konterrevolutionär seien. >Wie kannst du das sagen, Mama? Alle finden das Buch gut.< Sie kritisierte mich, weil das Buch damals noch nicht kritisiert werden durfte. Ich forderte sie auf, niemandem von unserem Gespräch zu erzählen. Ich erklärte ihr, dies sei meine persönliche Auffassung nach der Lektüre des Buches...
Ich finde, Eltern sollten ihre Kinder als Gleichberechtigte behandeln. Sie sollten sie nicht auf feudale Weise behandeln, indem sie sich als Herren des Haushalts betrachten. Man sollte dem Beispiel des Vorsitzenden Mao folgen, der sich zu Hause äußerst demokratisch verhält. Unsere Kinder dürfen ihrem Vater widersprechen. Manchmal bringen wir sie sogar absichtlich dazu, uns zu widersprechen! ... Aber meistens tun sie es nicht, weil sie ihre Eltern respektieren. Es ist gut für sie zu diskutieren. Sie sollen ein bißchen rebellieren... Was nützt es ihnen, die ganze Zeit nur >Ja, Papa, ja, Mama< zu sagen?«
Drei Tage später, an einem denkwürdigen Tag für die Kulturrevolution, begab sich Tschiang Tsching wieder unter die Massen. Gemeinsam mit Hsie Fu-tschih, dem Beauftragten für öffentliche Sicherheit, der zwei Jahre politische Stürme überstanden hatte und soeben zum Stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt worden war, leitete sie die Feierlichkeiten anläßlich der Gründung des Pekinger Revolutionskomitees, an dessen Spitze Hsie stand. »Die Lage ist ausgezeichnet«, verkündete sie. Damit meinte sie die neue politische Ordnung in der Hauptstadt, insbesondere eine Dreierverbindung von Arbeitern, Bauern und Soldaten sowie eine Drei-in-eins-Kombination von Armee, Funktionären und Massen - die beiden auf Dreierbündnissen basierenden Selbstverwaltungsmodelle, an denen sich die Behörden, Schulen und Produktionsstätten in ganz China orientieren sollten. Sie zog aus der Lage in Peking, wo die Macht einer sich entwickelnden Ausbeuterklasse entrissen worden sei, allgemeine Schlußfolgerungen, wobei sie die Lage ein wenig dramatisierte: »Die Handvoll Leute innerhalb der Partei, die Machtpositionen innehaben und den kapitalistischen Weg gehen, sind die Vertreter der kapitalistischen Restauration und die Hintermänner der konterrevolutionären revisionistischen Clique in der Stadt Peking.« Nach Tschiangs Darstellung waren diese Kräfte unschädlich gemacht worden, aber der Kampf zweier Linien zwischen Sozialismus und Revisionismus gehe weiter und müsse durch den unaufhörlichen Prozeß Kampf-Kritik-Umgestaltung weitergeführt werden. Da es in der Politik niemals ein beständiges Gleichgewicht geben könne, müßten Selbstkritik und Einigung einander ständig begleiten. Aber »Gewalttätigkeiten müssen unter allen Umständen vermieden werden«.[10]
Im Verlauf der Kulturrevolution ließ der Vorsitzende Mao es im Interesse der für die Regierung wünschenswerten Stabilität zu, daß er Gegenstand eines Personenkults wurde. Dieser Kult stellte sogar noch jene Verehrung in den Schatten, die im Kaiserreich dem Thron galt (und insofern auch dem Mann, der auf ihm saß). Nicht nur der Vorsitzende, sondern auch andere führende Männer - vor allem Lin Piao - duldeten diese an Stalin erinnernde, überschwengliche Anbetung seiner Person.
In den sechziger Jahren wurde kein weiterer führender Mann in den Himmel gehoben; auch wurde es keinem erlaubt, seine Aufsätze und Reden gesammelt zu veröffentlichen. Die einzige Ausnahme war Tschiang Tsching. Im Frühjahr 1967 wurde auch sie allmählich zu einer Art Kultgegenstand, der von den Massen umjubelt wurde. Verdankte sie das ihrer Verbindung mit Mao oder ihrem mitreißenden politischen Elan? Zeichnete sich eine matriarchalische Orientierung ab? Sollte die patriarchalische Vergangenheit von fünf Jahrtausenden auf diese Weise unterhöhlt werden?
Die Verehrung, die Tschiang Tsching als Führerin von Männern und Frauen genoß, stellte ein geradezu revolutionäres Ereignis in der sexualpolitischen Geschichte Chinas dar, obwohl dieser Aspekt damals nie erwähnt wurde. Paradoxerweise rühmten die romantischen Jugendlichen und manche von ihrer Persönlichkeit bezauberten älteren Menschen ihre konservativen Tugenden mehr als ihre radikalen Neuerungen. Sie lobten sie nicht als Führungspersönlichkeit, sondern als Anhängerin Maos; nicht als Rebellin, sondern als Loyalistin; nicht als Lehrerin, sondern als Lernende.[11] In einem Artikel, dessen Titel Lu Hsüns ehrenvollen Beinamen (den ihm Mao gegeben hatte) auf Tschiang Tsching übertrug - »Gruß an Genossin Tschiang Tsching, die große Bannerträgerin der Kulturrevolution« schrieben die den Roten Garden angehörenden Verfasser:
»35 Jahre sind vergangen, seitdem sie [Tschiang Tsching] während des Zwischenfalls vom 18. September (1931) erstmals an der Revolution teilgenommen hat. Welch herzbewegende 35 Jahre! In diesen 35 Jahren hat sie viel für die Partei getan, aber sie ist nie in der Öffentlichkeit aufgetreten. Als Hu Tsung-nans Banditenclique ihren erbitterten Angriff vortrug, ist Genossin Tschiang Tsching an der Seite des Vorsitzenden Mao geblieben, und sie hat zu der letzten Gruppe gehört, die Jenan verlassen hat. In der kritischsten Zeit hat sie den Vorsitzenden Mao auf Märschen und in Kämpfen im Norden und Süden begleitet, bis die mehrere Millionen starke Streitmacht der Familie Tschiang [Kai-schek] vernichtet war. Seit der nationalen Befreiung hat Genossin Tschiang Tsching dem Vorsitzenden Mao unablässig als Sekretärin gedient und seine Lehren befolgt. ..«[12]
Diese Wertung war ihrer Ansicht nach schon sechs Jahre zuvor in Maos Gedicht auf der Rückseite ihres Photos von der Geisterhöhle am Lu-schan beglaubigt worden. Damals hatte der Vorsitzende Mao geschrieben: »Dämmerschein, blaue Weite; seh stämmige Kiefern, wirbelnde Wolken, im Flug dahin, doch gelassen. Himmelsschöpfung die eine Geisterhöhle, unbegrenzter Rundblick auf schroffem Gipfel.«
Dieser Kommentar der Roten Garden wurde in den folgenden Monaten von Jugendlichen, die Tschiang Tsching anbeteten, in abgewandelter Form übernommen: »Gewaltig, herrlich und inspirierend enthüllt [das Gedicht des Vorsitzenden Mao] die großen Bestrebungen einer proletarischen Revolutionärin und stellt unserer Ansicht nach das umfassendste, vollkommenste, eindrucksvollste und lebensechteste Porträt der Genossin Tschiang Tsching dar. Liest man die eindrucksvollen Gedichtzeilen heute wieder, so empfindet man tiefe Rührung und grenzenlose Bewunderung für Genossin Tschiang Tsching.«
Im Mai 1967, am 25. Jahrestag von Maos Reden bei der Aussprache in Jenan über Literatur und Kunst, brachten mehrere radikale Studentenzeitschriften ein Porträt von Tschiang Tsching auf ihren Titelseiten. Sie wurde stets in schlichter Militäruniform abgebildet, das Rote Buch in der rechten Hand haltend und von den Strahlen erhellt, die von Maos sonnengleichem Gesicht ausgingen, während im Hintergrund die Massen das Bild füllten. Diese revolutionäre Ikonographie wurde durch weitschweifige und phrasenhafte Leitartikel ergänzt. Die »Neue Peking-Universität« lobte sie als Maos »beste Schülerin«, als ein Muster an Loyalität gegenüber dem Vorsitzenden und seiner proletarischen Linie auf dem Kultursektor, die es ermöglichte, im Hinblick auf klassenspezifische Gesinnungen »zwischen Liebe und Haß zu unterscheiden«.[13] Erwähnt wurden zahlreiche Charakteristika ihrer Persönlichkeit, auch ihre pikante Angewohnheit, Exemplare der »Ausgewählten Werke« des Vorsitzenden, die von ihr signiert waren, zu verschenken. Unerwähnt blieben allerdings die besonderen Vorteile, die sie aus ihrer Ehe mit Mao gezogen hatte, und ihr seit Jahren (stillschweigend) geführter Kampf als Frauenrechtlerin.
Nicht nur die Jungen, sondern auch einige der ganz Alten sahen sich veranlaßt, ihr Lob zu singen. Der ehrwürdige Schriftsteller Kuo Mo-jo pries sie anläßlich der Fünfundzwanzigjahrfeier, die jetzt von Tschiang Tsching, die bei der Aussprache in Jenan nur als stumme Beobachterin zugegen gewesen war, dirigiert wurde.
»Liebe Genossin Tschiang Tsching, Sie sind ein leuchtendes Beispiel für uns, Sie verstehen es, die unbesiegbaren Maotsetungideen schöpferisch zu studieren und anzuwenden. Furchtlos stürmen Sie an der Literatur- und Kunstfront voran, so daß das heroische Bild der Arbeiter, Bauern und Soldaten jetzt die chinesische Bühne beherrscht; Und wir müssen das Gleiche auf allen Bühnen der Welt erreichen! Chinas Gestern ist das Heute vieler afro-asiatischer Länder, Und Chinas Heute wird ihr Morgen sein. Wir werden für die völlige Gleichberechtigung der unterdrückten Nationen und Völker kämpfen, Wir werden das große rote Banner der Maotsetungideen über allen afroasiatischen Ländern wehen lassen,
und über den sechs Erdteilen und vier Weltmeeren.«[14]
Solche Loblieder verblaßten jedoch vor den politischen Realitäten, die im Sommer dieses Jahres Tschiang Tschings ganze Aufmerksamkeit erforderten. Die im Jahr zuvor aus strategischen Gründen mobilisierten Bevölkerungsgruppen agierten nach eigenem Gutdünken, so daß ein Bürgerkrieg in bedrohliche Nähe gerückt war. Die vor allem aus Arbeitern und Bauern bestehende Volksbefreiungsarmee wurde zur Stabilisierung der sich herausbildenden neuen Ordnung benötigt. Andererseits stellte die VBA einen ständigen Gefahrenherd dar, da ihre in ganz China stationierten Einheiten von regionalen Kommandostrukturen geprägt waren. Falls die Armee sich nicht entschieden auf die Seite der Kulturrevolutionäre schlug, war nicht auszuschließen, daß die VBA oder der eine oder andere Truppenteil sie bekämpfte. Im Februar 1966 hatte Lin Piao Tschiang Tsching zur Beraterin der VBA in Kulturfragen ernannt, und dieser hohe Rang wurde im Januar 1967 bestätigt, als sie zur Beraterin einer innerhalb der VBA neu konstituierten Gruppe für die Kulturrevolution ernannt wurde. Beide Ernennungen sollten ihr Image in der Öffentlichkeit aufwerten, den politischen Führungsanspruch der Gruppe für die Kulturrevolution insgesamt verteidigen, die Armee in ihrem Kurs bestätigen und Maos Position stärken.
Die VBA war von kleinbürgerlichem Konservatismus und Egoismus jedoch nicht weniger durchsetzt als jede andere Massenorganisation. Zudem war Lin Piao nicht bedingungslos bereit oder imstande, die scharfe Kursänderung, welche die Kulturrevolutionslinie nach sich zog, auch für die Armee für verbindlich zu erklären. Die Wuhan-Meuterei im Juli 1967, die sich im Zentrum des chinesischen Industriegebiets ereignete, markierte einen der bedrohlichsten Konflikte zwischen regionalen und zentralen Interessen.[15] Obwohl die Einzelheiten umstritten sind, scheint festzustehen, daß es auf einer Yangtse-Brücke zu einer mörderischen Konfrontation zwischen Mitgliedern einer konservativen Massenorganisation, die die »Million Helden« genannt wurden, und Angehörigen einer Organisation Wuhaner Arbeiter gekommen war. Tschen Tsai-tao, der für seine konservative Einstellung bekannte lokale Militärbefehlshaber, unterstützte die »Million Helden«. Das war Marschall Lin Piao offenbar peinlich, und er veranlaßte den Vorsitzenden dazu, Ministerpräsident Tschou EnIai, Wang Li (den stellvertretenden Chefredakteur der »Roten Fahne«) und Hsie Fu-tschih nach Wuhan zu entsenden, um Tschen maßregeln und die Ordnung wiederherstellen zu lassen. Als die »Million Helden« mit Unterstützung von Tschens Truppen in der Stadt die Macht übernahmen, kam es zu einem Aufstand gegen die Maoisten. Tschou En-Iai entkam durch eine List, während Wang Li und Hsie Fu-tschih entführt, gedemütigt und gefoltert wurden. Nachdem Wang Li freigelassen worden war, kehrte er nach Peking zurück, wo er als Held empfangen wurde. Tschou En-Iai, Tschen Po-ta, Tschiang Tsching und Kang Scheng begrüßten ihn auf dem Flughafen, ließen die maotreuen Führer der Nation auf der Ehrentribüne am Tor des Himmlischen Friedens auf marschieren und mobilisierten »Millionenmassen«, die im Namen des Vorsitzenden auf den breiten Boulevards demonstrierten.
Tschiang Tsching, die über diese Meuterer in einem wichtigen Industriezentrum erzürnt war, sprach nun eine andere Sprache. Obwohl sie in diesem konfliktreichen Sommer darauf bestanden hatte, daß der Kampf mit verbaler und nicht mit physischer Gewalt geführt werde, änderte sie nach der Wuhaner Meuterei ihre Taktik. Sie gab die harte Parole aus: »Mit Argumenten angreifen und mit Gewalt verteidigen!« Sie warnte die Pekinger Jugendlichen davor, sich jemals so wie die Abgesandten des Vorsitzenden einschüchtern zu lassen. »Greift zu den Waffen und verteidigt euch!« befahl sie ihnen.[16] Eine ähnlich radikale Kehrtwendung vollzog sich im Zentrum. In kurzer Zeit wurden zuverlässige Einheiten der Roten Garden und revolutionärer Rebellen (hauptsächlich Arbeitereinheiten) in Peking und den Provinzen bewaffnet, damit sie sich vor Vergeltungsmaßnahmen konservativer Truppenteile schützen konnten.[17]
Die Meuterei und ihre Auswirkungen zwangen die Führer der Kulturrevolution zu äußerst schwerwiegenden Entscheidungen. War es ratsam, für junge Leute, die auf den Straßen marschierten und Parolen riefen, Waffen aus den Arsenalen holen und im Bürgerkrieg die Initiative ergreifen zu lassen? Inwieweit waren bewaffnete Studenten zuverlässig? Unter welchen Gesichtspunkten interpretierte die von Tschiang Tsching beherrschte Gruppe für die Kulturrevolution Maos Überlegungen in bezug auf die Vorteile und Risiken einer Bewaffnung von Tausenden, vielleicht sogar von Millionen ziviler Verteidiger seiner politischen Ideale? Wie zu erwarten gewesen war, waren bewaffnete Jugendliche nur schwer unter Kontrolle zu halten. Im Spätsommer 1967 trafen aus allen Provinzen Meldungen über jugendlichen Anarchismus und Vergeltungsmaßnahmen lokaler Interessengruppen ein. Nachdem alle Schulen und Universitäten geschlossen worden waren, griffen die freigesetzten Horden von Schülern und Studenten, die sich als eine Art Bürgerwehr verstanden, alle Formen von Autorität an - darunter auch einige neu gebildete und offiziell anerkannte Revolutionskomitees. Die durch dieses Chaos in Verwirrung gestürzte Gruppe für die Kulturrevolution gab eine Menge Weisungen aus, von denen einige die Gewaltanwendung befürworteten, während andere sie ablehnten. Der Trennungsstrich zwischen verbaler und physischer Gewalt ließ sich ideologisch viel leichter ziehen als in der Wirklichkeit.
Als Mao Tse-tung im September 1967 von einer Inspektionsreise durch die Provinzen nach Peking zurückkam, forderte er Tschou En-Iai, Tschiang Tsching und ihre Gruppe für die Kulturrevolution wahrscheinlich zur Mäßigung auf. Tschiang Tsching, die bisweilen verbale Gewalt vorgezogen und bisweilen den bewaffneten Kampf gebilligt hatte, entschied sich jetzt jedenfalls für verbale Auseinandersetzungen.
Der September 1967, erklärte sie mir in unserem Interview (wie sie zuvor schon ihren Anhängern erläutert hatte), sei ein Wendepunkt der Kulturrevolution gewesen.[18] Am 5. September, an dem Tag, an dem ein Rundschreiben den revolutionären Gruppen untersagte, weiterhin Waffen zu beschlagnahmen, hielt Tschiang Tsching eine wichtige Rede vor Delegierten der Provinz Anhwei. Obwohl diese Rede nie offiziell veröffentlicht wurde, wurde sie gedruckt und an die Massen verteilt.[19] Auf Tschiang Tschings Wunsch hin wurde sie mir in Peking von ihren Mitarbeitern vorgelesen.
»Mein alter Freund Kang Scheng hat mich hierhergeschleppt«, sagte sie damals jovial. Obwohl sie »unvorbereitet« gekommen war, analysierte sie bis ins Detail die Veränderung der revolutionären Situation. Es waren mehr Gewalttaten geschehen, als sie es vor ihren Zuhörern eingestehen wollte. Sie verteidigte sich gegen den Vorwurf, sie habe physische Gewalt befürwortet, und ermahnte alle, es ihr gleichzutun und die Weisung des Vorsitzenden Mao, nicht gewaltsam, sondern friedlich zu kämpfen, zu beherzigen. »Lernt von Genossin Tschiang Tsching! Respektiert Genossin Tschiang Tsching!« antworteten die Delegierten im Chor. Worauf sie erwiderte: »Lernt von unseren Genossen! Respektiert unsere Genossen!« Noch vor einem Jahr, erklärte sie der Gruppe aus Anhwei, »hat eine Handvoll von Machthabern, die den kapitalistischen Weg gingen, die Partei beherrscht«. Nun seien sie »ausgeschaltet« und durch die Errichtung von Revolutionskomitees in einer Provinz und einer Stadt nach der anderen entmachtet worden. Die Spitzenfunktionäre, die den kapitalistischen Weg gingen, waren nach Tschiang Tschings Darstellung berüchtigter als Trotzki. Konterrevolutionäre Verräter und kapitalistische Halunken wie Liu Schao-tschi seien ohne Gewaltanwendung unschädlich gemacht worden. Aber falls der Feind zu Gewalt greife, fuhr Tschiang Tsching fort, werde ihre Seite zurückschlagen - und sie werde persönlich zurückschlagen. Aber der Kampf mit Worten sei auf jeden Fall vorzuziehen: Maschinengewehre sollten nur im äußersten Notfall eingesetzt werden.
Die Gruppe um Tschiang Tsching hatte in dieser Situation drei Ziele: Erstens - den Vorsitzenden Mao an der Spitze des Zentralkomitees der KPCH zu halten (hatten andere Gruppen eigene Kandidaten?); zweitens - der VBA die Möglichkeit zu geben, die Kulturrevolution zu verteidigen (keine Gegenangriffe gegen die VBA); und drittens - die Errichtung von Revolutionskomitees durch die Große Allianz, d. h. durch die Dreierverbindung, durch Kampf-Kritik-Umgestaltung und die revolutionäre Massenkritik (verbaler statt bewaffneter Kampf, Beendigung offener Kampfhandlungen).
Die Ultralinke sei eine weitere feindliche Gruppierung, führte Tschiang Tsching aus. Es gebe auch rechtsstehende Feinde, welche die Integrität des ZK der KPCH unterminierten. Tschiang Tsching erwähnte die 16. Mai-Clique in Peking, eine »konterrevolutionäre Verschwörerclique«, die sich beider Abweichungen schuldig mache. Konterrevolutionäre hätten sich das Rundschreiben vom 16. Mai Tschiang Tschings angeeignet und im Namen dieser Clique verbreitet. Der 16. Mai-Clique gehörten nur wenige und ziemlich junge Menschen an. Nur eine Minderheit von ihnen bestehe aus bürgerlichen Reaktionären; überwiegend seien es junge Menschen, die sich hätten blenden lassen - die »von den bürgerlich-reaktionären Führern getäuscht« worden seien, wie sie es ausdrückte. Obwohl unzählige Jugendliche durch die Kulturrevolution gestählt worden seien, sei ihre ideologische Haltung aufgrund ihrer Jugend noch nicht gefestigt, so daß sie von »schlechten Menschen«, die als Drahtzieher hinter den Kulissen tätig seien, manipuliert werden könnten.
Die politische Färbung der 16. Mai-Clique könne täuschen. Nach außen hin wirke sie ultralinks, und ihr erklärter Hauptfeind sei Tschou En-Iai. Die Gruppe habe über ihn und andere führende Persönlichkeiten (auch über Tschiang Tsching) Dossiers angelegt und bringe unsinnige Gerüchte, die auf inoffiziellen Biographien basierten, in Umlauf. Deshalb müßten die Führer der Kulturrevolution wachsam bleiben und die Massen erziehen, um eine Ausbreitung solcher Verschwörergruppen zu verhindern.
Die Gesellschaft sei von »Geheimagenten« durchsetzt, warnte Tschiang Tsching. Das Archiv des Zentralkomitees enthalte Beweise dafür, daß »übte Elemente sich in die Partei eingeschlichen haben«. Obwohl diese Individuen und Gruppen jahrzehntelang unentdeckt geblieben seien, seien sie jetzt hinausgesäubert worden. Trotzdem gelte es weiterhin, egoistisches Gruppendenken und »Bergspitzenmentalität« - eine Art Anarchismus - zu bekämpfen. Das Hauptziel müsse es sein, eine gemeinsame Basis zu finden und über geringfügige Meinungsverschiedenheiten hinwegzusehen (eine weitere Warnung vor einer Auflehnung gegen die militärische Macht des Vorsitzenden die VBA).
In diesem Jahr seien die revolutionären Bestrebungen der jungen Leute fehlgeschlagen, da sie in Wuhan und in anderen Orten nur einige wenige aus der Armee entfernt hätten. »Ihr dürft nicht in die vom Feind gestellte Falle tappen«, warnte Tschiang Tsching. Sobald die Rebellen von Wuhan ihre Arbeit in dieser Stadt beendet hatten, seien sie durch andere Teile des Landes gestreift. Doch dort neigten sie ohne Kenntnis der örtlichen Verhältnisse dazu, bei der Identifizierung und Maßregelung der Feinde des Vorsitzenden Mao weitere Fehler zu machen.
Im Jahresrhythmus der Kulturrevolution folgten 1967 auf die Studentenunruhen des Sommers 1966 die Auseinandersetzungen zwischen revolutionären Gruppen und dem Militär, woraufhin die Arbeiterklasse im Sommer 1968 erneut in die Kämpfe eingriff - eine mit unermeßlichen Produktionsverlusten erkaufte Ausbreitung der revolutionären Bewegung. Am 14. September 1967 sprach Tschiang Tsching vor neuen Propagandatrupps, die aus Arbeitern und Soldaten bestanden, über das progressive Erbe des Proletariats in der revolutionären Bewegung. Nach einem Sommer der Gewalt und der heftigen Auseinandersetzungen in der Parteiführung, sprach Tschiang Tsching in gemäßigtem Ton. Sie rief dazu auf, Einigkeit über den Streit zu stellen. Es sei das Verdienst des Vorsitzenden Mao gewesen, am 27. Juli eine Kampf-Kritik-Umgestaltungs-Kampagne im Überbau in Gang gesetzt zu haben - im Namen der Arbeiterklasse. Studenten, die den bewaffneten Kampf fortsetzten, lösten sich von den Massen - und folglich auch von der Arbeiterklasse, die jetzt ihrerseits dazu aufgerufen sei, führende Positionen im Erziehungswesen, in der Regierung und im kulturellen Oberbau zu übernehmen.
Tschiang Tsching stellte provozierend fest, daß es sehr leicht sei, Revolution gegen andere zu machen, aber offenbar sehr schwer sei, Revolution gegen sich selbst zu machen. Damit war sie wieder bei ihrem Lieblingsthema: dem Kampf mit dem Eigennutz. Jeder Mensch habe eine Schattenseite und eine Lichtseite (damit thematisierte Tschiang Tsching einen inneren Konflikt, der aber in ihren Musteropern und Musterballetten offenbar nichts zu suchen hatte). Wer sich nicht von seiner Schattenseite - seinen kleinbürgerlichen und bürgerlichen Anschauungen - befreie, müsse eines Tages feststellen, daß er hinter der allgemeinen Entwicklung herhinke. Was war sonst noch für die Schattenseite charakteristisch? Gruppenegoismus, Individualismus, Ressortdenken, Anarchismus und mangelnde Bereitschaft, auf andere Menschen zu hören.
Wie Tschiang in unserem Interview feststellte, habe ihre Rede vor der Delegation aus Anhwei »den bösen Wind« aufhalten sollen. Was meinte sie damit? Im Herbst 1967 habe sie sich noch nicht von anderen Mitgliedern der Gruppe für die Kulturrevolution lossagen können, antwortete sie schlicht. Zu diesem Zeitpunkt beschränkten sich die meisten ihrer Genossen in dieser Gruppe [20] nicht mehr auf Propaganda. Sie nahmen Zuflucht zur Gewalt, und ihr Beispiel wurde natürlich nachgeahmt. An der Spitze derer, die Tschiang Tschings Appell, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden, mißachteten, stand Tschen Po-ta, der Leiter der Gruppe für die Kulturrevolution, dessen Manöver hinter den Kulissen unerwünschte Auswirkungen hatten.
Über die von den Ultralinken ausgelösten Gewalttätigkeiten wurde die Öffentlichkeit auf einer Kundgebung am 17. September unterrichtet. Tschou En-Iai, der in diesen Wochen häufig mit Tschiang Tschings Gruppe auftrat, war der Hauptredner. Tschen Po-ta (dessen linksradikale Einstellung Tschiang Tsching jetzt fürchtete) und Kang Scheng waren ebenfalls anwesend. Als Anwalt der Gemäßigten verurteilte der Ministerpräsident bewaffnete Aktivisten als »kleinbürgerliche Anarchisten«, die den Bürgerkrieg fortführen wollten. Tschiang Tsching berichtete ihren Zuhörern, daß am Tag zuvor mehr als dreißig Personen, »die sich wie Räuber aufführten«, die Redaktion der Parteizeitschrift (und des Organs ihrer Gruppe) »Rote Fahne« verwüstet hatten, während zehn aus der Provinz Kansu in den Tschung-nanhai und ins Hauptquartier des Vorsitzenden Mao in der Huai Jen-Halle eingedrungen waren. Dort waren sie gefaßt worden.[21] Dieser Vorfall im Tschung-nan-hai erinnerte Tschiang Tsching an eine andere Begebenheit. Erzürnt berichtete sie bei unserem Interview, was sich damals ereignet hatte. Während sie mit den Delegierten aus Anhwei zusammengekommen war, hatte der Vorsitzende sich auf einer Inspektionsreise durch die Provinzen befunden. In seiner Abwesenheit hatten die Gegner ihr gemeinsames Heim im Tschung-nan-hai von einer Menschenmenge einschließen lassen, so daß es niemand betreten konnte. Ein Mitglied des Zentralkomitees (sie nannte unhörbar seinen Namen) besaß sogar die Frechheit, dem Vorsitzenden ein Telegramm zu schicken, in der Absicht, ihn von den in Peking drohenden Gefahren abzulenken. »Was für ein Verräter!« fauchte sie wütend. Doch dann murmelte sie, daß sein Leben durch eine schlechte Ehe fast unerträglich geworden sei. Als sie und der Vorsitzende über dieses Telegramm gesprochen hatten, habe er bemerkt, daß es Wang Mings Einfluß erkennen lasse. Der Vorsitzende beschloß, von Sun Yat-sen zu lernen. Damit habe er den beträchtlichen Altersunterschied zwischen sich und Sun Yat-sen (siebenundzwanzig Jahre) gemeint, fügte Tschiang Tsching rätselhafterweise hinzu.
Im Verlauf unseres Gesprächs tadelte sie weitere damals verübte nihilistische Gewaltakte. Sie stellte fest, das Niederbrennen der britischen Botschaft* sei ein Beispiel für die Brutalität der Ultralinken, die von der 16. Mai-Clique angestiftet worden sei. Auch die Konfiszierung ausländischer Schiffe während der Kulturrevolution lasse sich nicht rechtfertigen.[22]
Im November 1967 kehrte Tschiang Tsching, die jetzt auf nationaler Ebene eine anerkannte Führerpersönlichkeit war, in die Welt der Kultur zurück. Sie entschuldigte sich dafür, daß sie während der großen Umwälzungen in den beiden letzten Jahren die Umgestaltung von Musik, Schauspiel und Film vernachlässigt hatte. In Obereinstimmung mit den ihr von Mao erteilten Anweisungen mußten die Dreierverbindungen und die Dreierkombinationen, die in anderen Bereichen verwirklicht worden waren, nun auch in den kulturellen Gruppen etabliert werden, die sich ihrer Befehlsgewalt bisher entzogen hatten. »Der Feind ist listig er hat viele Schauspieltruppen«, erklärte sie in der Sprache des Guerillakrieges. »Sobald man eine Truppe vernichtet hat, taucht er in einer anderen auf.« Deshalb sollten auf dem Kultursektor sorgfältige Ermittlungen angestellt werden. Alle, die in die VBA eintreten wollten (ein Zufluchtsort vor den Wirren der Kulturrevolution?), wurden aufgefordert, noch Geduld zu haben. Der Stellvertretende Vorsitzende Lin Piao und die Militärkommission trafen die nötigen Vorbereitungen. Aber eine Fixierung auf die Armee bewirkte nur, daß die Leute andere Dinge vergaßen.
Tschen Po-ta empfahl Tschiang Tschings Rede über die acht Musterwerke (Musikstücke, Opern und Ballette) und unterstützte ihre Absicht, sie alle zu verfilmen, da der Film das einzige Medium sei, mit dessen Hilfe diese Werke mühelos im ganzen Land vorgeführt werden konnten. Sämtliche kulturellen Institutionen Chinas sollten eine Tonbandaufzeichnung ihrer Rede erhalten, schlug Tschen vor. Am 13. November wurde eine redigierte Fassung zu einem offiziellen Dokument des Zentralkomitees erklärt.[23] Wollte man die traditionelle chinesische Terminologie gebrauchen, so hatte sich der historische Prozeß aus einem Stadium des Chaos schrittweise zu einem Stadium der Harmonie entwickelt. In der Sprache der Kulturrevolution hieß dies: Die politische Entwicklung verlagerte sich von der revisionistischen Linie Liu Schao-tschis zu der fortschrittlichen proletarischen Linie Mao Tse-tungs. Oder wie Tschiang Tsching es am 27. November ausdrückte: »Die Situation ist ausgezeichnet: Proletarischer Politik wird der Vorrang gegeben.« An diesem Tag sprach sie in Peking vor einem Arbeiterforum, das sich aus Vertretern einer wichtigen neuen Zielgruppe der Kulturrevolution zusammensetzte - den lndustriearbeitern. Die durch bewaffnete Kämpfe verursachten Produktionsausfälle waren nach Tschiangs Darstellung unterdessen wieder aufgeholt worden. Die Studiengruppen, die sich mit den Werken Mao Tse-tungs befaßten, machten gute Fortschritte. Obwohl die Studenten als erste rebelliert hatten, hatte ihr revolutionärer Elan sich auf die armen Bauern und die unteren Mittelbauern (so wurde seit der Bodenreform die große Mehrheit der Bauern bezeichnet) und die Arbeiter übertragen. In Zukunft sollten die rotgardistischen Studenten sich nicht mehr in die Arbeit in den Fabriken einmischen. Studenten, die diese Anweisung mißachteten und die Produktion unterbrachen, sollten verjagt werden. Der Anarchismus sei eine bürgerliche Ideologie, die proletarische Revolutionäre korrumpiere, behauptete Tschiang Tsching erneut. Jedermann war aufgerufen, sich am Kampf gegen den Anarchismus zu beteiligen.
Tschiang Tsching berichtete amüsiert, daß manche Leute gesagt hätten, alle Parteimitglieder über dreißig seien konservativ. Aber der Vorsitzende Mao war bereits über siebzig! Das beweise, daß Alter nicht die Hauptursache für den Konservatismus sein könne. »Ich selbst bin politisch noch immer jung«, verkündete sie strahlend. »Durch die Zusammenarbeit mit Genossen wie euch fühle ich mich politisch jung.«[25] Die Führer der Gruppe für die Kulturrevolution erkannten gefährliche Abweichungen in der revolutionären Bewegung und waren sich darüber im klaren, daß sie der Bewegung neue Anstöße geben mußten, um ein Zurückgleiten zu verhindern. Deshalb setzten sie im März 1968 eine Reihe von Versammlungen an. Am Abend des 11. März trafen der Ministerpräsident, Tschiang Tsching, Lin Piaos Frau Ye Tschün und andere mit einer Delegation Pekinger Studenten zusammen, der auch ein Vertreter der petrochemischen Hochschule des Erdölfeldes Tatsching angehörte. Obwohl Mao vier Jahre zuvor diese Kommune wegen ihrer Autarkie als vorbildlich gepriesen hatte - »Lernt in der Industrie von Tatsching« - warf ihr die neue Führung vor, sie habe es versäumt, auf die neue politische Linie einzuschwenken. Ihre gerühmte Hochschule hatte sich geweigert, die Februar Gegenströmung des Vorjahres zu verurteilen, was einer stillschweigenden Billigung der von Liu Schao-tschi (einem Verfechter des Primats der industriellen Entwicklung) unterstützten Politik der alten Garde gleichkam. Der Kommune wurde jetzt vorgeworfen, sie habe Ausstellungen über Erdölförderung und Agrarproduktion veranstaltet, die Liu geehrt, aber Mao vernachlässigt hätten.[26] Tschiang Tsching hielt es für äußerst bedenklich, daß die Kommune private Rundfunksender errichtet, Telefone abgehört und Abhöranlagen installiert hatte - durchweg illegale konterrevolutionäre Tätigkeiten. Sie verglich die dafür Verantwortlichen mit »feigen Teufeln«, die schon immer Konservative gewesen seien.[27]
Was ist die Große Proletarische Kulturrevolution? Diese Frage legte Kang Scheng am 18. März in Peking einer Delegation aus der Provinz Anhwei vor. »Die Große Proletarische Kulturrevolution ist ihrem Wesen nach eine unter den Bedingungen des Sozialismus vom Proletariat gegen die Bourgeoisie und alle anderen Ausbeuterklassen durchgeführte große politische Revolution«, stellte er fest. »Sie ist die Fortsetzung des langjährigen Kampfes zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und den von dieser geführten breiten revolutionären Volksmassen einerseits und den Kuomintang-Reaktionären andererseits, die Fortsetzung des Klassenkampfes zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie.« Dies sei die Definition des Vorsitzenden Mao gewesen, ergänzte Tschiang Tsching.
Unterdessen waren in etwa 18 Provinzen und Städten Revolutionskomitees gegründet worden. Und in Tschekiang schien die Einsetzung eines Komitees unmittelbar bevorzustehen. Diese Provinz mit ihren 31 Millionen Einwohnern grenzte an Schanghai, Chinas verwirrendste Stadt, die seit dem Vorjahr von einem Revolutionskomitee regiert wurde. In einer Bürgerkriegsatmosphäre, die bewußt erzeugt worden war, betonten Ministerpräsident Tschou En-Iai, Ye Tschün, Kang Scheng und Tschiang Tsching vor Delegierten aus Tschekiang, die Provinz liege im vordersten Frontabschnitt der nationalen Verteidigungslinie gegen Taiwan, wo die Streitkräfte Tschiang Kai-scheks und der amerikanischen Imperialisten stationiert waren und durch ihre Anwesenheit ständig daran erinnerten, daß der Bürgerkrieg noch nicht beendet war. Außerdem waren Tschiang Tsching und die anderen fest davon überzeugt, daß Tschiang Kai-schek, die Vereinigten Staaten und Japan Hunderte von Geheimagenten in Tschekiang eingeschleust hatten. Der Abwehrspezialist Kang Scheng behauptete sogar, Liu Schao-tschis Frau, die im Vorjahr in einem Schauprozeß verurteilte Wang Kuang-mei, sei nichts anderes als eine Geheimagentin der Amerikaner, der Japaner und der Kuomintang. Wang, fügte Tschiang Tsching aufgebracht hinzu, sei eine »Geheimagentin von strategischer Bedeutung« gewesen. Die Angst vor Geheimagenten saß Tschiang Tsching ständig im Nacken. Wie Ministerpräsident Tschou und die anderen war sie nicht nur davon überzeugt, Tschekiang werde von Kuomintang- und Auslandsagenten infiltriert, sondern glaubte auch, Peng Tschen und andere »Spitzenfunktionäre auf dem kapitalistischen Weg« hätten Agenten ausgeschickt, von denen einige - nach Ministerpräsident Tschous Darstellung - Tschiang Tsching während ihrer Erholungsaufenthalte in ihrem privaten Landhaus in Hangtschou »verfolgt« hätten.
»Sie haben in den Dienstsitzen des Vorsitzenden und des Stellvertretenden Vorsitzenden Lin Abhöranlagen installiert, Telefone angezapft und sich wie Geheimagenten aufgeführt«, erklärte Tschiang Tsching. Außerdem überlebe in der Kultur von Tschekiang immer noch der Geist der Feudalzeit. Auch die Oper von Schaohsing, in der Frauen über sechzig die Männerrollen spielten, existiere noch. Kang Scheng äußerte sich spöttisch über die dort umherziehenden Horden von Nonnen und Mönchen und schlug vor, diese Nonnen sollten heiraten. Tschiang Tsching warf ein, tagtäglich seien Zehntausende solcher Faulenzer auf den Straßen unterwegs.[28]
Drei Tage später trafen Tschiang Tsching, Tschou En-Iai und Kang Scheng mit Delegierten aus Kiangsu zusammen, einer weiteren strategisch wichtigen Provinz an der Küste im Norden von Schanghai. Sie warnten erneut vor einer »Revision richtiger Urteile«, d. h. vor der Rehabilitation der alten Garde unter Liu Schao-tschi und Peng Tschen. Das sei »der Feind, der nicht freiwillig die Bühne der Geschichte räumen werde«, zitierte Kang Scheng einen Ausspruch Tschiang Tschings. Zwei Formen des Rechtsopportunismus gefährdeten das Durchhaltevermögen der revolutionären Bewegung. Jene, die sich als Linke gebärdeten, insgeheim aber rechten Ideen anhingen, behinderten die Bewegung in der zweiten Hälfte des Jahres 1967. Durch einen geschickten Schachzug Lius und Pengs wurden diese Übeltäter (Wang Li, Kuan Feng und Konsorten) in Tschiang Tschings Gruppe für die Kulturrevolution aufgenommen. Nach ihrer Entlarvung »haben wir sie herausgezerrt und aufgehängt«, sagte sie. Eine zweite Gruppe von erklärten Rechtsopportunisten habe sich geweigert, die Februar Gegenströmung zurückzuweisen und auf diese Weise versucht, Liu, Peng Tschen und andere wieder an die Macht zu bringen.[29]
Ende März flammten an der Peking- und Tsinghua-Universität sowie sporadisch in Städten und Großstädten in ganz China erneut Kämpfe auf. Die Ausführung der Weisung des Vorsitzenden Mao, die neue Ordnung durch Revolutionskomitees zu konsolidieren, hatte die Ultralinke zu unerwartet heftigen Reaktionen gereizt. Ein Zusammenstoß dieser Art hatte sich im Januar in der Provinz Hunan ereignet, wo eine ultralinke Gruppe, die sich Schengwu-lien nannte und möglicherweise von einigen 16. Mai-Anhängern in Tschiang Tschings Gruppe für die Kulturrevolution gesteuert wurde, Widerstand gegen die Bildung eines Revolutionskomitees leistete. Das Manifest der Schengwu-lien wiederholte bestimmte ultralinke Argumente, die im Vorjahr während der Januarrevolution und zur Zeit der Schanghaier Kommune vorgebracht worden waren. Tschou En-Iai wurde als Anführer einer »roten Kapitalistenklasse« verurteilt; vor allem aber forderte man, die Revolution durch die Streitkräfte durchführen zu lassen, den alten Staatsapparat zu zerschmettern und in Hunan statt eines Provinzrevolutionskomitees eine Volkskommune zu errichten.[30] Auf diese Weise zielte der Hauptstoß der Ultralinken, die bereits die neue Ordnung der Revolutionskomitees und die Integrität der VBA bedroht hatten, nun gegen das Herz der die Revolution vorantreibenden Kräfte Tschiang Tschings Gruppe für die Kulturrevolution. Aus teilweise widersprüchlichen Berichten läßt sich rekonstruieren, daß Fu Tschung-pi, der Pekinger Garnisonskommandant, am 8. März 1967 die Büros der Gruppe besetzen und dort Verhaftungen vornehmen wollte. Die Rebellen wurden festgenommen, und Tschiang Tsching ordnete als Vergeltungsmaßnahme die Verhaftung des Stellvertretenden Verteidigungsministers Yang Tscheng-wu und eines weiteren hohen Offiziers an. Dieser Vorfall war höchst fatal, da man bisher angenommen hatte, die VBA habe die Gruppe für die Kulturrevolution unterstützt. Für Lin Piao war der Vorfall peinlich, denn Yang Tscheng-wu galt als sein Schützling, und Tschiang Tsching hatte nun beide bloßgestellt.
Am 27. März berief Tschiang Tsching eine Massenkundgebung mit 100 000 Teilnehmern ein und berichtete von dem bewaffneten Angriff auf ihre Person, ihre Anhänger und das innerste Machtzentrum. Ihr energisches Auftreten ließ keine Zweifel daran, daß sie die Situation wieder im Griff hatte. Punkt für Punkt zählte sie die Herausforderungen der Rechten und die Siege der Linken auf. Leidenschaftlich unterstützt wurde sie dabei von Ye Tschün (Lin Piaos Frau, die in diesem Frühjahr in den Vordergrund trat, um Tschiang Tschings Massenchöre zu dirigieren) und Hsie Fu-tschih, der schrie: »Lernt von Genossin Tschiang Tsching! Grüßt Genossin Tschiang Tsching! Schwört, Genossin Tschiang Tsching bis in den Tod zu verteidigen!« Tschiang Tsching, die den donnernden Applaus sichtlich genoß, erinnerte ihre Zuhörer scherzhaft daran, daß es noch gar nicht lange her sei, daß Studenten gedroht hatten, sie »in Öl zu sieden und zu erwürgen«.
Nach der rituellen Verurteilung der in Ungnade gefallenen Führer machte Tschiang Tsching die verblüffende Mitteilung, der Stellvertretende Verteidigungsminister Yang Tscheng-wu sei verhaftet worden, weil er geplant habe, die Luftwaffe für konterrevolutionäre Zwecke einzusetzen. (Dies war gewissermaßen ein Vorspiel von Lin Piaos Verschwörung, die drei Jahre später aufgedeckt werden sollte.) Und Tau Tschen-lin (den Tschiang Tsching bisher stets verteidigt hatte, wie sie sich selbst vorwarf), den Führer der Februar Gegenströmung des Vorjahres, verurteilte sie als Renegaten. Nun besaß sie unwiderlegbare Beweise dafür, daß er und seine Anhänger »das Rad der Geschichte zurückdrehen und eine Restauration des Kapitalismus herbeiführen« wollten.[31] Drei Tage später kamen Tschiang Tsching, der Ministerpräsident und andere führende Funktionäre in der Großen Volkskongreßhalle zusammen und führten Klage über die Unruhen dieses Frühjahrs - besonders über die Ausschreitungen der »Renegaten und üblen Elemente« in Hunan, der Heimatprovinz des Vorsitzenden. Am verächtlichsten war die Scheng-wu-lien, diese bunt zusammengewürfelte Gruppe von Hunaner Extremisten, deren linksradikale Abweichungen seit Ende Januar kritisiert worden waren. Dieser Gruppierung wurden die gleichen Irrtümer wie der Februar-Gegenströmung vorgeworfen. Nebenbei erwähnte Tschiang Tsching auch die Zahl der Frauen, die während der Kulturrevolution bahnbrechend gewirkt hatten, und sie fügte hinzu, es gelte, mehr Frauen dazu zu ermutigen, eine aktive Rolle zu spielen.[32]
Zu den wichtigsten Besprechungen mit regionalen Delegierten, die im Frühjahr 1968 stattfanden, gehörte die Sitzung mit der Vorbereitungsgruppe für das Revolutionskomitee der Provinz Szetschuan, die am 15. März stattfand. Tschiang Tsching wurde dabei von dem Ministerpräsidenten, Kang Scheng, Yao Wen-Yüan, Wang Tung-hsing und Ye Tschün begleitet.
»Szetschuan ist stets früher als das übrige China in Schwierigkeiten geraten, und dort wird die Ordnung stets zuletzt wiederhergestellt«, begann Ministerpräsident Tschou. Dieses alte Sprichwort, bemerkte er humorvoll, wolle er jedoch nicht für die Ewigkeit gelten lassen. »Ihr seid weitgereiste Gäste«, sagte Tschiang Tsching und begrüßte die Delegierten mit konfuzianischer Höflichkeit. Mit ihren 70 Millionen Einwohnern und ihrem Reichtum an Bodenschätzen entspreche die Provinz Szetschuan einem großen europäischen Land, sagte sie, und fragte mit bemerkenswertem Geschichtsbewußtsein, ob diese Provinz nicht eines Tages wieder in ein unabhängiges Königreich verwandelt werden könne. »Das stimmt doch, Genosse Li Ta-tschang?« Mit diesen Worten wandte sie sich an einen Mann, den sie vermutlich vor fünfunddreißig Jahren zum letztenmal gesehen hatte. Er trat zögernd vor. Dieser seit langem hochgeschätzte Sekretär des Südwestlichen Regionalbüros war kritisiert worden, aber seine Kritiker hatten ihm nicht allzuviel vorwerfen können. Tschou Enlai - der ihm nicht mehr begegnet war, seitdem sie 1932 gemeinsam im Untergrund gekämpft hatten - versicherte ihm, seine schriftliche »Selbstkritik« brauche nicht lang zu sein. Es kam vor allem darauf an, daß er eindeutig von dem Szetschuaner Spitzenfunktionär Li Tsching-tschüan abrückte, dem vorgeworfen wurde, im selben revisionistischen Lager wie Liu Schao-tschi, Teng Hsiao-ping und Yang Schang-kun zu stehen. Tschiang Tsching erklärte, Li Ta-tschang habe sich bei ihrem Eintritt in die KPCH (1933) für sie verbürgt. Damit deutete sie die Dauer ihrer Mitgliedschaft an. Danach wollte sie wissen, wie alt er jetzt sei. »Achtundsechzig«, antwortete Li. »Dann wollen wir uns gegenseitig helfen und unsere politische Jugendlichkeit bewahren«, munterte sie ihn auf.
Die Führung war seit mindestens einem Jahr von Berichten über Unruhen und bewaffnete Auseinandersetzungen in Szetschuan überschüttet worden. Inzwischen waren aus diesen Berichten sechs bis sieben Bände geworden. Der Ministerpräsident hatte sie nach eigener Aussage nicht genau studiert. Was ihm, Kang Scheng und Tschiang Tsching vor allem Sorgen machte, war der noch immer nicht völlig zurückgedrängte Einfluß der Kuomintang. Die alte Stadt Tschungking, die Tschiang Kai-scheks Hauptstadt gewesen war, nachdem die Japaner die Kuomintang 1937 ins Landesinnere vertrieben hatten, wurde von Tschiang Tsching jetzt als »Räubernest« voller Überreste des Regimes und der alten Gesellschaft und voller Verräter bezeichnet. Öffentliche Sicherheit, Verwaltung und Gerichte befanden sich in einem beklagenswerten Zustand. Überall waren »konterrevolutionäre« Abhöranlagen installiert. Als Li Tsching-tschüan im Februar brutal die Konterrevolutionäre unterdrückt hatte, waren fast 100 000 Menschen verhaftet und Unzählige ermordet worden. Dazu kam noch, daß Szetschuan mit den modernsten Waffen Chinas - auch mit Zwillingsflaks - ausgerüstet war. Das Spaltertum blühte dort, und die Bevölkerung leistete hartnäckigen Widerstand gegen die vom Zentrum vorgeschriebene ideologische Linie. »Heute haben wir euch bombardiert, und morgen bombardiert ihr vielleicht uns«, fügte Tschiang Tsching scherzhaft hinzu. Yang Schang-kun, gegen den sie seit einem Vierteljahrhundert persönliche Aversionen hegte, griff sie als despotischen Feudalherren an. Auch seine Familie tauge nichts. Gegen seine Frau müsse man kämpfen wie gegen die Frauen aller anderen »schlechten Männer«. Tschiang Tsching gestand jedoch ein, daß manche Genossinnen gute Arbeit geleistet hatten, und warnte die anwesenden Delegierten aus Szetschuan davor, so »feudalistisch« zu sein. »Warum sollten wir nicht einige weibliche Generale haben?«[33]
Der 18. Mai 1968 wurde zu einem schmerzlich schönen Jahrestag in Tschiangs privatem und öffentlichem Leben. An diesem Tag besichtigte sie Schaohsing in der Provinz Tschekiang, den Geburtsort Lu Hsüns. Der Gegensatz zwischen den Erinnerungen an diesen Mann, den sie bewunderte, und der zäh fortlebenden feudalen und bürgerlichen Mentalität war bedrückend. Sie stellte fest, daß das Institut der Schönen Künste von Tschekiang, das Lu Hsün besucht hatte, als es dort von ehrgeizigen jungen proletarischen Künstlern gewimmelt hatte, eine Brutstätte reaktionärer Maler war, die wenig Talent besaßen und unermüdlich der Schwarzen Linie der dreißiger Jahre folgten. Im Theater dominierten noch immer alternde Schauspielerinnen, die uralte Opern und Geisterstücke aufführten - jämmerliche Dramen über »geisteskranke Weiber, Säufer, Vampire und anderes wirres Zeug«. Die Oper »Die Suche nach Mutter im Nonnenkloster«, ebenfalls eine Spezialität von Schaohsing, war zutiefst bürgerlich und unerträglich. Die Musik war deprimierend.[34]
Im Laufe des nächsten Jahres betrat Tschiang Tsching als revolutionäre Vorkämpferin eine größere historische Bühne. Sie hatte nun großen Rückhalt in der Partei, im Militär und in den Institutionen der darstellenden Künste, jener großen revolutionären Arena, die von Außenstehenden oft herabgesetzt wird. Auf dem IX. Parteitag der KPCH im April 1969, dem ersten seit dreizehn Jahren, wurde Tschiang Tschings Aufstieg in die Parteispitze offiziell ratifiziert. Die in den Jahren zuvor als Revisionisten und Renegaten hinausgesäuberten Männer, unter ihnen Liu Schao-tschi, Teng Hsiao-ping, Peng Tschen und Tao Tschu, waren ihrer Ämter enthoben und verhaftet worden. Die Hauptthemen der Kulturrevolution - »den Eigennutz bekämpfen und den Revisionismus verurteilen«, »die Armee unterstützen und für das Volk sorgen«, »Kampf-Kritik-Umgestaltung« - wurden als Richtlinien nationaler Politik akzeptiert. Tschiang Tsching und ihre treuesten Anhänger während der Kulturrevolution, unter ihnen Hsie Fu-tschih, Yao Wenyüan und Tschang Tschun-tschiao, wurden ins Politbüro gewählt. Eine weitere Frau, die zweite in der Geschichte der KPCH, die (nach geringeren Anstrengungen) auf die gleiche Weise belohnt wurde, war Ye Tschün, die Frau Lin Piaos, des offiziell designierten Nachfolgers des Vorsitzenden Mao.
In den Nachrichten, die in die Öffentlichkeit drangen, rechtfertigte nichts die Befürchtungen, die Tschiang Tsching in bezug auf den schlauen Nachfolger Maos und seine ehrgeizige Frau angeblich schon damals hegte. Tschiang Tschings Ressentiments schwelten bis zum Sommer 1972 weiter. In diesem Sommer gab sie im Namen des Regimes ihres Mannes den Sturz von Lin Piao bekannt und legte dem Volk behutsam die daraus sich ergebenden Konsequenzen dar.