Glückel von Hameln

Jüdische Händlerin, Hamburg-Metz, 17. Jahrhundert

Glückel von Hameln war eine jüdische Händlerin, die im 17. Jahrhundert lebte. Sie wurde 1646 in Hamburg geboren, heiratete den jungen Chajim Hameln und brachte vierzehn Kinder zur Welt, von denen die meisten überlebten, heirateten und selbst Kinder hatten. Solange ihr Mann lebte, half sie ihm bei seinen Geschäften, die ihn auf alle deutschen Messen führten. Nach seinem Tod im Jahre 1689 verheiratete Glückel ihre Kinder an jüdische Familien in Mitteleuropa und übernahm das Familiengeschäft. Sie verlieh Geld, verkaufte Perlen und andere Waren und ging mit ihren älteren Söhnen auf die Messen.
Sie begann, auf Jiddisch ihre Memoiren zu schreiben, aus der tiefen Melancholie heraus, in die sie durch den Tod von Chajim geraten war. Darin erzählt sie, warum sie nach Jahren der Witwenschaft beschloß, sich wieder zu verheiraten, und zwar mit einem reichen jüdischen Bankier aus Metz. Kurz nach ihrer Heirat machte Hirz Levy Bankrott.
Der folgende Auszug gibt uns einen Eindruck von der religiösen Sensibilität einer jüdischen Frau, von ihrem Bewußtsein ihrer selbst als Mutter und von der Art und Weise, wie sie ihre Vergangenheit konstruierte.
N.Z.D.

»Es waren mir in dieser Zeit viele Partien vorgeschlagen worden und darunter wirklich die vornehmsten in ganz Deutschland. Aber so lange ich konnte und so lange mir deuchte, daß ich mich mit dem, was mein seliger Mann mir hinterlassen, ernähren könnte, kam es mir nicht in den Sinn, mich zu verändern. Der Höchste hat wohl meine vielfältigen Sünden angesehen und mir nicht in den Sinn gegeben, einen Mann zu nehmen, als mir Partien vorgeschlagen wurden, durch die ich mit meinen Kindern hätte glückselig sein und mich auf mein betrübtes, mühseliges Alter hätte in einen ruhigen Stand versetzen können. Solches war dem großen Gott nicht wohlgefällig und er hat mich wegen meiner Sünden veranlaßt, mich zu dieser Partie zu resolvieren, von der ich jetzt sprechen werde. Bei alledem danke ich doch meinem Schöpfer, der mir mehr Gnade und Barmherzigkeit in meiner schweren Strafe erweist, als ich unwürdige Sünderin wert bin, und der mich bei allen Leiden Geduld lehrt. Zwar müßte ich Gott mit vielem Fasten oder sonstigen Bußübungen meinen Dank bezeigen; aber meine großen Sorgen und der Aufenthalt im fremden Lande haben mich nicht dazu kommen lassen. Ich weiß, daß solche Entschuldigungen mir vor Gott wenig helfen werden. Darum schreibe ich dies mit zitternder Hand und mit bitteren, heißen Tränen; denn es steht (in der heiligen Schrift), daß wir Gott >mit ganzem Herzen und mit ganzem Vermögen dienen sollen. Also gehört es sich, daß der sündige Mensch im Dienste Gottes seinen Körper und sein Vermögen nicht achte, und alle Rechtfertigungen (derer, die dies vernachlässigen) sind eitel Nichtigkeiten. Ich bitte Gott den Allmächtigen, daß er mich in seiner Gnade kräftige und mir in den Sinn gebe, nichts andres zu tun als ihm zu dienen, auf daß ich nicht in meinen beschmutzten Kleidern vor ihn trete, wie es heißt (Sprüche der Väter 2,10): Kehre einen Tag vor deinem Tode um!
Nun wissen wir ja nicht, wann der Tag kommt, da wir sterben sollen; darum ist der Mensch verpflichtet, jeden Tag umzukehren und Buße zu tun. Solches hätte ich auch tun und betrachten sollen; denn ich hätte es gar gut tun können. Zwar habe ich eine lumpige Rechtfertigung für mich: ich wollte erst meine verwaisten Kinder einigermaßen versorgen und dann nach dem heiligen Lande ziehen. Aber solches hätte ich sehr wohl tun können, zumal da mein Sohn Moses verlobt war und ich nachher nur noch meine jüngste Tochter Mirjam zu versorgen hatte. Also hätte ich Sünderin keinen Mann nehmen, sondern nur meine Tochter Mirjam verheiraten und dann tun sollen, was sich für eine gute, fromme jüdische Frau geziemt; ich hätte alle Nichtigkeiten dieser Welt verlassen und mich mit dem bißchen, was ich noch übrig hatte, ins heilige Land begeben sollen. Denn dort hätte ich als eine gute Jüdin leben können und die Sorgen und Leiden meiner Kinder und Freunde und sonstige Nichtigkeiten der Welt hätten mir keine Beschwerden gemacht und dort hätte ich Gott mit meinem ganzen Herzen und meiner ganzen Kraft dienen können. Aber (wie gesagt) meine Sünden haben bewirkt, daß Gott mich zu  anderen Gedanken geführt und mich dessen nicht gewürdigt hat. Nun wollen wir wieder anfangen, wo wir gehalten haben.
Inzwischen hat es ein ganzes Jahr gewährt, ehe ich auf die Hochzeit meines Sohnes Moses habe kommen können. Unterdessen sind mir allerhand Widerwärtigkeiten und Leiden, zum Teil von meinen Kindern, zugestoßen, die mich schon vorher und allezeit viel Geld gekostet haben. Aber es ist nicht nötig, darüber zu schreiben. Es sind doch meine lieben Kinder und ich verzeihe ihnen, sowohl denen, die mich viel gekostet als auch denen, die mich nichts gekostet haben, daß ich so in meinen Vermögensverhältnissen herabgekommen bin. Dabei habe ich noch ein großes Geschäft geführt - denn ich hatte
noch großen Kredit bei Juden und Nicht-Juden - und habe mich sehr gequält, bin im Sommer bei der Hitze und im Winter bei Regen und Schnee auf die Messen gefahren und habe dort ganze Tage in meinem Gewölbe gestanden. Weil ich nun gar wenig von allem Meinigen übrig behalten habe, habe ich es mir sehr sauer werden lassen und immer danach getrachtet, in Ehren weiterzukommen um nicht, Gott behüte, meinen Kindern zur Last zu fallen und von dem Tische anderer abhängig zu sein. Obschon es meine Kinder gewesen wären, so wäre es mir doch noch weher als bei Fremden gewesen; denn meine Kinder hätten sich, Gott behüte, an mir versündigt und dies wäre mir alle Tage ärger als der Tod gewesen. Nach alledem habe ich aber doch die große Mühe und das Reisen und das Herumgehen in der Stadt nicht länger aushalten können. Denn wenn ich auch noch ein großes Geschäft hatte und einen bedeutenden Kredit genoß, so war ich doch immer in Angst, wenn mir einmal etliche Ballen Waren oder ausstehende Schulden verloren gingen, daß ich, Gott behüte, ganz bankerott gehen und meine Gläubiger um das Ihrige bringen müßte, was mir und meinen Kindern und meinem frommen Manne unter der Erde eine Schande gewesen wäre. Damals habe ich angefangen zu bereuen, daß ich so viele gute Heiratspartien hatte fahren lassen, durch die ich mein Alter in Reichtum und Ehre hätte verbringen und vielleicht auch meinen Kindern hätte wohltun können. Aber alle Reue hilft nicht; es war zu spät; Gott hat es nicht haben wollen und mir zu meinem Unstern etwas anderes in den Sinn gegeben, wie jetzt folgen wird.
Solches ist im Jahre 5459 (= 1698/99) geschehen. Wie schon erwähnt, wollte ich meinen Sohn Moses verheiraten. Es ist aber damals nicht dazu gekommen, wie schon erwähnt. Unterdessen bekam ich einen Brief von meinem Schwiegersohn Moses (Krumbach) aus Metz, der am 15. Siwan 5459 (= Juni 1699) geschrieben war. Darin stand, daß Hirz Levy ein Witwer geworden und daß er ein vortrefflicher Jude und hervorragend an Gelehrsamkeit und Reichtum sei und was er für eine Haushaltung führe. Kurz - er rühmte den Mann gar sehr, wie auch allem Anschein nach die Wahrheit war. Aber der Mensch sieht nach dem Augenschein, Gott aber sieht ins Herz. (1 Sam 16,7.)
Dieser Brief kam mir gerade zu Händen, als ich über meine Sorgen nachdachte. Ich war damals eine Frau von 54 Jahren und hatte mein ganzes Leben lang so viele Sorgen um meine Kinder ausgestanden. Wenn die Verhältnisse so waren [wie mein Schwiegersohn sie schilderte], konnte ich noch in meinem Alter in eine so fromme Gemeinde kommen, wie Metz damals den Namen hatte, und dort den Rest meines Lebens in Ruhe zubringen und auch meiner Seele wohltun. Ich habe mich auch darauf verlassen, daß meine Kinder mir nicht zuraten würden, wenn es nichts für mich wäre. So schrieb ich meinem Schwiegersohn als Antwort: Ich bin vierzehn Jahre Witwe gewesen und habe niemals die Absicht gehabt, wieder einen Mann zu nehmen, wenn es auch allgemein bekannt war, daß ich die größten und vornehmsten Partien in ganz Deutschland hätte machen können; aber ich habe mich niemals dazu entschließen wollen. Nichtsdestoweniger wolle ich mich dazu entschließen, weil er mir so sehr dazu rate, wenn meine Tochter Esther auch derselben Ansicht sei. Darauf schrieb mir meine Tochter Esther gleichfalls, was sie wußte und vor sich gesehen hatte. Wegen der Mitgiftsumme haben wir nicht viel Auseinandersetzungen gehabt. Ich habe meinem Mann wirklich alles gegeben, was ich hatte, und er hat mir verschrieben, daß, wenn ich zuerst stürbe, meine Erben mein Geld wieder erhalten sollten; wenn aber mein Mann zuerst stürbe, so sollte ich 500 Reichstaler mehr erhalten als mein Eingebrachtes, welches 1500 Reichstaler betrug.
Mein Mann verpflichtete sich noch, meine Tochter Mirjam, die damals 11 Jahre alt war, umsonst bei sich zu behalten, bis sie Hochzeit hätte. Wenn ich noch viel mehr Geld gehabt hätte, hätte ich es meinem Mann auch gegeben; denn ich dachte, daß ich mein Geld nirgendwo sicherer und besser haben könnte als bei diesem Mann. Zudem meinte ich auch meiner Tochter Mirjam eine Wohltat zu tun: sie brauchte nichts zu verzehren und ihr Geld lag doch auf Zinsen. Auch hat der Mann einen großen Ruf im Geschäft. Wer weiß, was ich meinen Kindern noch ins Geschäft bringen kann. Aber viele Gedanken sind im Herzen eines Menschen. >Der im Himmel thront, lacht darüber.< Der hochgepriesene Gott hat leider über meine Pläne und Anschläge gelacht und bei ihm war schon längst mein Verderben und meine Not beschlossen um mich für die Sünde zu strafen, daß ich mich auf Menschen verlassen hatte. Denn ich hätte nicht daran denken sollen, mir einen anderen Mann zu nehmen; ich hätte doch keinen Chajim Hameln wieder bekommen können; ich hätte lieber bei meinen Kinderchen bleiben und mit Gut und Böse, wie es Gott haben wollte, vorlieb nehmen sollen.
Nun, das sind alles Dinge, die vorbei sind, und was geschehen ist, ist nicht zu ändern. Ich habe jetzt nur noch Gott zu bitten, daß ich nur Gutes von meinen Kindern hören und sehen möchte. Was mich anbelangt, so nehme ich alles von dem hochgepriesenen Gott mit Liebe auf. Möchte mir der große, gerechte Gott nur die Geduld geben, wie er es bisher getan hat, und alles eine Sühne für meine Sünden sein lassen!«[1]

Aus dem Französischen von Roswitha Schmid