Teil II Fortsetzung

Geschichte des Fräuleins von Sternheim

Briefverkehr Madam Leidens

Madam Leidens an Emilien

Meine liebenswürdige Witwe, Frau von C., hat eine schöne Seele voll zärtlicher Empfindungen. Sie bemerkte letztlich das kurz abgebrochene Ende meiner Vorstellungen sehr genau, und kam etliche Tage nachher zu mir, um mit freundlicher Sorgsamkeit nach der Ursache davon zu fragen. Ich hatte die stutzige Art meines schnellen Stillschweigens selbst empfunden, aber da meine Beweggründe so stark in mir arbeiteten, und ich ihren Empfindungen nicht zu nahe treten wollte, so sah ich keinen andern Weg, als abzubrechen, und nach Hause zu gehen, wo ich den Unmut recht deutlich fühlte, den ich bloß deswegen über sie hatte, weil sie den Aussichten von Wohltätigkeit nicht so eifrig zueilte, als ich an ihrer Stelle würde getan haben. Es freut mich auch, daß der Mann meiner Emilie den warmen Ton meiner Fürsprache zum Besten der Liebe allein in meiner Neigung zum Wohltun suchte, ob er mich schon einer Schwärmerei in dieser Tugend beschuldigt. (Oh! möchte doch dieses Übermaß einer guten Leidenschaft der einzige Fehler meiner künftigen Jahre sein!) -
Ich antwortete der lieben Frau von C. ganz aufrichtig: daß es mich sehr befremdet hätte: eine Seele voller Empfindlichkeit so frostige Blicke in das Gebiete der Wohltätigkeit werfen zu sehen - Sie antwortete: »Ich erkenne ganz wohl: daß Ihr tätiger Geist mißvergnügt über meine Unentschlossenheit werden mußte; Sie wußten nicht, daß die Idee des Wohltuns meine erste Wahl bestimmte; aber ich habe so sehr erfahren, daß man andere glücklich machen kann, ohne es selbst zu werden; daß ich nicht Herz genug habe, mich noch einmal auf diesen ungewissen Boden zu wagen, wo die Blumen des Vergnügens so bald unter dem Nebel der Sorgen verblühen. -«
Der äußerste Grad der Rührung war in allen Zügen der reizenden Bildung dieser sanften Blondine ausgedrückt; ihr Ton stimmte mit ein, und rief in mir die Erinnerung des jähen Verderbens zurück, welches meine kaum aus-gesäete Hoffnung betroffen hatte. Meine eignen Leiden haben die Empfindung der Menschlichkeit in mir erhöhet, und ich fühlte nun ihre Sorgen so stark, als ich die Vorstellung der Glückseligkeit der andern empfunden hatte.
»Vergeben Sie mir, liebe Madam C—! (sagte ich) ich erkenne: daß ich gegen Sie die beinahe allgemeine Unbilligkeit ausübte, zu fodern: daß Sie in alle Gründe meiner Denkensart eingeben sollten; und ich foderte es um so viel eifriger, als ich von der innerlichen Güte meiner Bewegursachen überzeugt war. Warum hab ich mich nicht früher an Ihren Platz gestellet; die Seite, welche Sie von meinen Vorschlägen sehen, hat in Wahrheit viel Abschreckendes, und ich werde, ohne Ihnen unrecht zu geben, nichts mehr von allem diesem reden.« »Es freut mich: daß Sie mit mir zufrieden scheinen; aber Sie haben mir viele Unruhe und Mißvergnügen über mich selbst gegeben.« Ich fragte sie eilig, wie, und worin? »Durch die Vorstellung aller dieser Gelegenheiten glückliche Personen zu machen. Mein Widerwille und Ausweichen schmerzt mich; ich möchte es in irgend etwas anders ersetzen. Können Sie mir nichts bei Ihrem Gesindhause zu tun geben?«
Sie bekam ein freimütiges Nein zur Antwort. »Aber«, sagte ich lächelnd, da ich sie bei der Hand nahm: »Ich möchte mir bald das Gefühl Ihrer Reue, und die Begierde des Ersatzes zunutze machen, und Sie verbinden: daß, da Sie durch Ihr eigen Herz keinen Mann mehr glücklich machen wollen, Sie die liebreiche Mühe nähmen, durch Ihren Umgang und gefälligen Unterricht den Töchtern Ihrer Verwandten und Freunde Ihre edle Denkensart mitzuteilen, und dadurch Ihrem Wohnorte liebenswürdige Frauenzimmer zu bilden, und für der Madam Hills gute Mädchen auf ihrer Seite gute Frauen zu ziehen. Dieser Vorschlag gefiel ihr; aber gleich wollte sie von mir einen Plan dazu haben.
»Das werde ich nicht tun, Madam C—, ich kann mich nicht von meinem Selbst so losmachen, daß der Plan zu Ihrer Absicht und Ihrem Vergnügen zugleich paßte. Sie haben Klugheit, Erfahrung, Kenntnis der Gewohnheiten des Orts, und ein Herz voll Freundlichkeit. Diese vereinigte Stücke werden Ihnen alles anweisen, was zu diesem Plan das Beste sein kann.«
»Daran zweifle ich sehr; sagen Sie mir nur ein Buch, darin ich eine Ordnung für meinen Unterricht finden würde.«
»Nach der Ordnung eines Buchs zu verfahren, würde Sie und Ihre junge Freundinnen bald müde machen. Diese sind nach verschiedener Art erzogen; die Umstände der meisten Eltern leiden keine methodische Erziehung, und fünfzehnjährige Mädchen, wie die Gespielinnen Ihrer Tochter, gewöhnen sich nicht gerne mehr daran. Sie sollen auch keine Schule halten; nur einen zufälligen abwechselnden Unterricht in dem Umgange mit dem jungen Frauenzimmer ausstreuen. Zum Beispiel: es klagte eine über den Schnee, der während der Zeit fiel, da sie bei Ihnen zum Besuch wäre, und sie wegen ihres Zurückgehens ungeduldig über die Beschwerde machte; - so würden Sie fragen: ob sie nicht wissen möchte, woher der Schnee kömmt? - es kurz und deutlich erzählen, die Nutzbarkeit davon nach der weisen Absicht des Schöpfers anführen, sanft von der Unbilligkeit ihrer Klagen reden, und ihr mit einem muntern liebreichen Ton in dem heut unangenehmen Schnee nach etlichen Tagen das Vergnügen einer Schlittenfahrt zeigen. Dieses wird Ihre jungen Zuhörerinnen auf die Unterredungen von schöner Winterkleidung, schöner Gattung Schlitten, usw. führen. Unterbrechen Sie selbige ja nicht durch irgendeine ernste oder mißvergnügte Miene; sondern zeigen Sie, daß Sie gerne ihre verschiedenen Gedanken anhörten. Sagen Sie etwas vom guten Geschmack in Putz, in Verzierungen, und wie Sie ein Fest anstellen und halten würden; lassen Sie Ihren Witz alles dieses mit der Farbe der heitersten Freude malen; gestehen Sie Ihren jungen Leuten das Recht ein, diese Freude zu genießen, undsetzen Sie mit einem zärtlichen rührenden Ton dazu: daß Sie aber Sorge haben würden den Schauplatz dieser Ergötzlichkeit durch die Fackeln der Tugend, und des feinen Wohlstandes zu beleuchten. Bei dieser ersten Probe können Sie die Herzen und Köpfe Ihrer Mädchen ausspähen; aber ich müßte mich sehr betrügen, wenn sie nicht gerne wiederkämen, Sie von etwas reden zu hören.«
»Das denke ich sicher; aber erlauben Sie mir einen Zweifel! - Sie führen das Mädchen zur physikalischen Kenntnis des Schnees, und zum moralischen Gedanken der "Wohltätigkeit Gottes darüber; aber wird nicht die Schlittenfahrt das Andenken des erstem auslöschen, und also den Nutzen des ernsten Unterrichts verlieren machen?«
»Dies glaube ich nicht; denn wir vergessen nur die Sachen gerne, die mit keinem Vergnügen verbunden sind; und die lächelnde, zu der Schwachheit der Menschen sich herablassende Weisheit will daher, daß man die Pfade der Wahrheit mit Blumen bestreue. Die Tugend braucht nicht mit ernsten Farben geschildert zu werden, um Verehrung zu erhalten; ihr inneres Wesen, jede Handlung von ihr ist lauter Würde. Würde ist ein unzertrennbarer Teil von ihr, auch wenn sie in der Kleidung der Freude und des Glücks erscheint. In dieser Kleidung allein erhält sie Vertrauen und Ehrfurcht zugleich. Lassen Sie sie die Hand ja niemals zu strengem Drohen, sondern allein zu freundlichen Winken erheben! Denn, solange wir in dieser Körperwelt sind, wird unsere Seele allein durch unsere Sinnen handeln; wenn diese auf eine widerwärtige Weise und zu unrechter Zeit zurückgestoßen werden, so kommen aus dem Kontrast des Zwanges der Lehre, und der Stärke der durch die Natur in uns gelegten Liebe zum Vergnügen lauter schlimme Folgen für den Wachstum unsers moralischen Lebens hervor. Umsonst hat der Schöpfer die süßen Empfindungen der Freude nicht in uns gelegt; umsonst uns nicht die Fähigkeit gegeben, tausenderlei Arten des Vergnügens zu genießen. Mischen Sie nur eine fröhliche Tugend unter den Reihen der Ergötzlichkeiten, und sehen Sie, ob die junge Munterkeit noch von ihr fliehen, und in entlegenen Orten, mit Unmäßigkeit und wilder Lust vereinigt, sich über versagten Freuden schadlos halten wird. Gibt nicht die göttliche Sittenlehre selbst reizende Aussichten in ewige, himmlische Glückseligkeiten, wenn sie uns auf die Wege der Tugend und Weisheit leitet?«
Das schöne Auge der Madam C— war mit einem staunenden Vergnügen auf mich geheftet. Ich bat sie um Verzeihung so viel geredet zu haben; sie versicherte mich aber ihrer Zufriedenheit, und wollte wissen: warum ich nicht lieber gesucht hätte, als Hofmeisterin junger Frauenzimmer zu erscheinen, als eine Lehrerin von angehenden Dienstmädchen abzugeben?
Ich sagte ihr: weil ich in Vergleichung des Anteils von Glückseligkeit, so jedem Stande zugemessen wurde, den von der niedrigen Gattung so klein, und unvollständig gefunden, daß ich mich freute etwas dazuzusetzen. Die Großen und Mittlern haben mündlichen und schriftlichen Unterricht neben allen Vorteilen des Reichtums und Ansehens; und die geringe, so nützliche Klasse bekömmt kaum den Abfall des Überflusses von Kenntnissen und Wohlergehen.
»Sie reden von Kenntnissen; soll ich suchen meine junge Frauenzimmer gelehrt zu machen?« »Gott bewahre Sie vor diesem Gedanken, der unter tausend Frauenzimmern des Privatstandes kaum bei einer mit ihren Umständen paßt! Nein, liebe Madame C—, halten Sie sie zur Übung jeder häuslichen Tugend an: aber lassen Sie sie daneben eine einfache Kenntnis von der Luft, die sie atmen, von der Erde, die sie betreten, der Pflanzen und Tiere, von welchen sie ernähret und gekleidet werden, erlangen; einen Auszug der Historie, damit sie nicht ganz fremde dasitzen und Langeweile haben, wenn Männer sich in ihrer Gegenwart davon unterhalten, und damit sie sehen, daß Tugend und Laster beständig einen Kreislauf durch das ganze menschliche Geschlecht gemacht haben; lassen Sie sie jedes Wort, so eine Wissenschaft bezeichnet, verstehen. Zum Ex., was Philosophie, was Mathematik sei - aber von der Bedeutung des Ausdrucks Edle Seele, von jeder wohltätigen Tugend geben Sie ihnen den vollkommensten Begriff, teils durch Beschreibung, teils und am meisten durch Beispiele von Personen, welche diese oder jene Tugend auf eine vorzügliche Art ausgeübt haben.« »Soll ich sie auch Romane lesen lassen?« »Ja, zumal da Sie es ohnehin nicht werden verhindern können. Aber suchen Sie, so viel Sie können, nur solche, worin die Personen nach edlen Grundsätzen handeln, und wo wahre Szenen des Lebens beschrieben sind. Wenn man das Romanenlesen verbieten wollte, so müßte man auch in Gesellschaft vermeiden, vor jungen Personen, bald einen kurzen, bald weitläufigen Auszug von einer Liebesgeschichte zu erzählen, die in der nämlichen Stadt oder Straße, wo man wohnt, vorging; unsere Väter, Mütter und Brüder müßten nicht so viel von ihren artigen Begebenheiten und Beobachtungen auf Reisen usw. sprechen; sonst machte auch dieses Verbot und die Gegenübung wieder einen schädlichen Kontrast. Ein vortrefflicher Mann und Kenner des Menschen wünscht: daß man jungen Personen beiderlei Geschlechts zur Stillung der Neugierde die meisten großen Reisebeschreibungen gäbe, wo von der Naturhistorie und den Sitten des Landes viel vorkömmt, weil dadurch viele nützliche Wissenschaft in ihnen ausgebreitet würde. - Moralische Gemälde von Tugenden aller Stände, besonders von unsrem Geschlechte, möchte ich gesammlet haben; und darin sind die Französinnen glücklicher als wir. Das weibliche Verdienst erhält unter ihnen öffentliche und dauernde Ehrenbezeugungen.«
»Vielleicht aber verdienen wir mehr als sie, weil wir uns auch ohne Belohnung um Verdienste bemühen.« »Dies ist wahr, aber nur für die kleine Anzahl von Seelen, die sich über alle Schwierigkeiten erheben, die sie antreffen, und worüber andere durch nichts als Ermunterungen siegen. Ich möchte daher in jeder Standesklasse Beispiele aufstellen, die aus ihrem Mittel gezogen wären, damit man sagen könnte: ihre Geburt, ihre Umstände waren wie die eurige; der Eifer der Tugend, und die gute Verwendung ihres Verstandes haben sie verehrungswert gemacht. Ein vorzüglicher Platz in einer öffentlichen Versammlung, ein besonderes Stück Kleidung könnte den Wert der Belohnung erhalten, wie es die alten großen Kenner der menschlichen Herzen gemacht haben. Aber wir sind nicht mit dem Auftrag beladen, diese Einrichtung anzuordnen, sondern allein mit der Pflicht so viel Gutes zu tun, als wir können. Ich stehe würklich in dem Kreise armer und dienender Personen; also achte ich mich verbunden: diese durch Unterricht und Beispiel zu ihrem Maß von Tugend und Glück zu führen; wobei ich aber sehr vermeiden werde, ihnen Begriffe oder Gesinnungen einzuflößen, die meinen glänzenden und angesehenen Umständen gemäß waren, weil ich fürchten würde: daß aus der vermischten Denkensart vermischte Begierden und Wünsche mit allen ihren Fehlern entstehen möchten. Sie sind eine Witwe von erstem Range Ihres Orts. Ihre Leutseligkeit, Ihr vernünftiger angenehmer Umgang macht, daß Sie von allen Personen Ihres Standes gesucht werden. Sie haben eine Tochter zu erziehen. Sie würden also an allen Mädchen ihres Alters und Standes Edelmütigkeit ausüben, wenn diejenigen unter denselben mit bei den Lehrstunden Ihrer Tochter wären, deren Mütter durch Haussorgen oder kleinere Kinder verhindert sind: mit ihren Töchtern viel zu lesen, oder zu reden. Machen Sie sie denken, und handeln wie Frauenzimmer vom Privatstande es sollen, um in ihrer Klasse vortrefflich zu werden. Dieses wird das einzige Mittel sein, womit Sie den Schaden ersetzen können, welchen Sie durch den Vorsatz verursachen, unverheuratet zu bleiben.« Sie lächelte über dieses, und über meine Abbitte ihr eine Vorschrift gemacht zu haben, und gab mir alle Merkmale von Freundschaft und Zufriedenheit.

Madam Leidens an Emilien

Ungern, sehr ungern, meine Emilia, begleite ich die Madam Hills ins Bad. Es ist wahr, meine Gesundheit zerfällt, aber ich erkenne, daß ich die Hülfe brauche, die mir die Wasserkur verspricht: denn mein stillschweigender Gram benagt die Kräfte meines Körpers, und der jastige ***467.2.6 Eifer, den ich diese Zeit über in mein moralisches Leben legte, hat auch vieles zu der Schwächlichkeit beigetragen, über welche Sie, liebe Freundin, so jammerten, als ich die letzten zehn glückliche Tage bei Ihnen zubrachte. Ihr Mann hat gestern meinen Widerwillen überwältigt, aber allein damit, daß er die erste Woche bei uns bleiben wird; bis dahin, hofft er, werde mein Haß gegen große und fremde Gesellschaft gemindert sein. Er behauptet auch: daß mein Herz diesen Winter über alle Kräfte meines Geistes in Dienstbarkeit gehalten und ermüdet hätte, und daß dieser sich allein in freier Luft und durch Umgang erholen würde. Ich bin so hager und blaß, meine Augen, denen man Anzüglichkeit zuschrieb, erheben sich so selten, und meine Kleidung ist so einfach, daß ich keine Verfolgungen von Mannsleuten zu befürchten habe. Also auf zwei Monate adieu, liebste Freundin; morgen früh reisen wir mit Ihrem Manne, einem Aufwartmädchen und einem Bedienten ab.

Madam Leidens an Emilien aus Spaa

Sagen Sie mir, meine Freundin, woher kommt die Gewalt, mit welcher Ihr Mann über meine Seele herrschet? Erst führte er mich in den geschäftigen Kreis, den ich bei Madam Hills durchlief; dann brachte er mich, ungeachtet meines Widerstandes, nach Spaa, macht mich den vierten Tag mit Lady Summers bekannt, und nun, meine Liebe, bin ich durch seine Hände an die Lady gebunden, und ich werde mit ihr nach England gehen.
Sie wissen von ihm, daß unsere Reise glücklich war; daß der Reichtum der Madam Hills uns vier sehr bequeme Zimmer verschaffte, und uns ein Ansehen gibt, so wir nicht einmal suchten. - Er ging gleich den ersten Abend zur Lady; den zweiten Tag wies er mir sie auf dem Spaziergang. Ihre Gestalt ist edel, obgleich sehr schwächlich; ihre Gesichtsbildung lauter Leutseligkeit; ihr schönes großes Auge voller Empfindung, und alle ihre Bewegungen Würde voller Anmut. Sie grüßte und betrachtete uns zwei Frauenzimmer mit Aufmerksamkeit, ohne uns etwas zu sagen, ob sie schon den Herrn B. von uns wegrief. Den folgenden Tag nahm sie ihn auch von unsrer Seite weg zum Mittagsessen, und sagte nur auf englisch zu mir: »Diesen Abend sollen Sie meine Gesellschaft sein.« Als ich mich verbeugt hatte, und antworten wollte, war sie schon weit weg. Aber ich würde auch gestottert haben, denn Sie können nicht glauben, was für einen Schmerzen der Seele ich bei dem wahren Akzent der englischen Sprache fühlte; schnell wie die Würkung des Blitzes fühlte ich ihn, und ebenso schnell drangen sich traurige Erinnerungen und Bilder in meine Seele. Gut war es, Emilia, daß die Lady mich nicht gleich mit sich begehrte, meine Verlegenheit war zu sichtbar. Abends speisete Madam Hills und Herr B. mit mir bei der Lady; sie war sehr gütig, aber mit untersuchenden Blicken war ihr Auge bei allem, was ich vornahm und redete. Sie lobte Madam Hills wegen der Stiftung des Gesindhauses, und setzte hinzu, daß sie ihrem Beispiel folgen, und auch eins in England errichten wollte. Herr B., welcher der Madam Hills dieses übersetzte, machte der guten Frau viel Freude damit, und ihr redliches Herz lächelte durch tränende Augen, da sie schnell meine Hand nahm und zu Herrn B. sagte: er möchte die Lady unterrichten: daß sie nur ein überflüssiges Geld, ich aber die Erfindung dazu gegeben hätte. Ich errötete außerordentlich dabei, und die Lady streichelte meine Wange, indem sie sagte: »Das ist gut, meine Tochter, wahre Tugend muß bescheiden sein.«
Die Achtsamkeit, welche ich hatte, Madam Hills zu unterhalten, und ihr alles zu übersetzen, wovon die Lady mit mir oder Herrn B. in gleichgültigen Dingen redte, erhielt auch den ganzen Beifall der Lady. »Sie muß noch gute Tage erleben«, sagte sie, »weil ihre Tugend das Alter glücklich zu machen sucht.« Diese Anweisung auf meine künftige Tage bewegte mein Innerstes, und unmöglich war's meine Augen trocken zu erhalten. Die Lady sah es, und neigte sich gegen mich mit festem zärtlichem Blick.
»Arme, gute Jugend«, sagte sie, »ich weiß eine Hand, die alle deine künftige Zähren abwischen wird.« Ich verbeugte mich und sah Herrn B. an; er antwortete mir mit munterm Nicken; die Lady winkte ihm. »Heute nichts«, sagte sie; »aber morgen sollen Sie alles versichern. «
Und dieser Morgen war vor sechs Tagen, wo mein Herz zwischen Vorschlägen und Entschließungen wankte, und endlich auf dem Gedanken befestigt wurde, dieses Jahr bei der Lady auf ihrem Landhause zuzubringen, und künftige Wasserszeit [7] wieder mit ihr zurückzukommen.
Nach London würde ich nicht gegangen sein; Gott bewahre mich vor der Gelegenheit Engländer, die ich schon kenne, zu sehen! Aber keiner von diesen wird eine alte Frau in ihrem einsamen Wohnorte suchen, und ich kann ruhig meine lange Begierde stillen, dieses Land zu sehen, und nach der Familie Watson mich zu erkundigen. Herr B. hat der Madam Hills eine Pflicht daraus gemacht: mich nicht aufzuhalten, weil ich ein Gesind-haus einrichten solle, und hat sie am meisten durch den Gedanken beruhiget: daß es in England heißen werde, es sei nach dem Plan des ihrigen und durch ihr edles Beispiel erbauet worden. Meine Lady, Emilia - Oh! diese ist ein Engel, der lange Jahre unter den Menschen wandelte, um den süßen Balsam der edelsten Freundschaft in fühlbare Seelen zu gießen. Meine Seele lebt wieder ganz auf.

Madam Leidens an Emilia aus Summerhall

Mein erster Brief hat Ihnen schon gesagt, daß ich glücklich, sehr glücklich mit der gütigen Lady angelangt bin. Ich hoffe auch, meine Rosina und Herr B. sind ebenso wohl zurückgekommen. Es war mir leid, daß Rosina nicht über die See wollte; Übelkeit macht sie, aber es ist leicht zu überstehen.
Gewiß haben Sie schon Beschreibungen von englischen Landhäusern gelesen. Denken Sie sich das schönste im alten Geschmacke davon, und nennen es Summerhall; legen Sie aber an die Seite des Parks ein großes hübsches Dorf, und stellen Sie sich meine Lady und mich vor, wie wir, einander im Arme, die Gassen durchgehen, mit Kindern oder Arbeitern reden, einen Kranken besuchen, und den Bedürftigen Hülfe reichen. Dies ist nachmittags und abends das Geschäfte meiner Lady; morgens lese ich ihr vor, und besorge ihr Haus; Besuche, die sie von der wenigen Nachbarschaft erhält, und der Umgang mit dem vortrefflichen Pfarrherrn des Orts füllen das übrige der Zeit so aus, daß mir wenig zu meinem besondern Lesen übrig bleibt. Die Bücher, welche sich meine Lady ausgesucht hat, bezeichnen den Nationalgeist, und die Empfindung der sich immer nähernden Grenzen Ihres Lebens. Jenes Fach füllen die Geschichtschreiber von England und die Hofzeitungen, dieses die besten englischen Prediger aus. Ich habe mir die Naturhistorie von England dazu genommen, und hievon reden wir in den Spaziergängen mit des Pfarrers Familie, weil seine Frau und zwo Töchter sehr vernünftig sind, und ich meine Lieblineskenntnisse gern vermehre und ausbreite. Ich bin wohl, und genieße einer sanften Zufriedenheit, die aber eher einer Beruhigung als einem Vergnügen gleichet, indem ich die eifrige Geschäftigkeit nicht in mir fühle, welche sonst meine Empfindungen und Gedanken beherrschte. Vielleicht hat mich der Hauch der sanften Schwermut getroffen, welche die besten Seelen der britischen Welt beherrschet, und die lebhaften Farben des Charakters wie mit einem feinen Duft überzieht. Ich habe meine Laute und meine Stimme wieder hervorgesucht; beide sind mir unschätzbar, wenn ich bei meinem Singen meine Lady mir einen Kuß zuwerfen, oder bei einem wohlgespielten Adagio [8] ihre Hände falten sehe. Aber urteilen Sie überhaupt, wie stark meine Liebe zu England sein mußte, da ich, ungeachtet der grausamen Erinnerungen, die ich von einem Eingebornen habe, dennoch mit einiger Freude die Luft eines Parks atme, und dieses Land für mein väterliches Land ansehe. Ich habe die Kleidung und den Ton der Sprache ganz, und wünschte auch das Tun, und das Bezeigen der Engländerinnen zu haben; aber meine Lady sagt, daß alle meine Bemühungen den liebenswürdigen fremden Genius nicht verjagen würden, der jede meiner Bewegungen regierte. Das Vertrauen ihrer Leute, welches ich erworben; die außerordentliche Aufmerksamkeit auf ihre Lady, und die Ergebenheit, die sie ihr beweisen, welches sie als Folgen von jenem ansieht, und meinem Einfluß auf ihre Gemüter zuschreibt, dies ist von allem, was ich für sie tue, dasjenige, wovon sie am meisten gerührt scheint, und wofür sie mir die zärtliche Dankbarkeit bezeugt. Wenige Abende bin ich hier ohne Empfindung einer reinen Glückseligkeit schlafen gegangen, wenn mich die gute alte Lady aus ihrem Bette segnete, und ihre Hausbediente mit zufriedener Miene und einem liebenden Ton mir gute Ruhe wünschten; und mit einer süßen Bewegung gehe ich morgens bei Aufgang der Sonne in den Park, wo der Hirt mich wundernd ansieht, und mir mit seinem Knaben guten Morgen, gute Miß, zuruft. Dieser Zuruf dünkt mich in dem Augenblick, wo ich auf der Flur die Wohltaten Gottes verbreitet sehe, ein Zeugnis zu sein, daß ich auch gerne die Pflicht des Wohltuns übe; mit tränenden Augen danke ich dann unserm Urheber, daß er mir diese Macht meines Herzens gelassen hat. Sie wissen, daß mir ein Mooswäldchen und die geringsten Arten von Blümchen vergnügte Stunden geben können; und Sie denken also wohl, daß ich in unserm Park diese alten Freunde meiner besten Lebenszeit aufsuche, und mit Rührung betrachte. Denn immer binden sich in mir die Ideen des Vergangenen mit der Empfindung des Gegenwärtigen bei allen Anlässen zusammen. Ein freundliches Moos, und Zweige, die aus der Wurzel eines gestürzten Baums aufgewachsen waren, machten mich sagen: bin ich nicht wie ein junger Baum, der in seiner vollen Blüte durch Schläge eines unglücklichen Schicksals seiner Krone und seines Stammes beraubt wurde? Lange Zeit steht der Überrest traurig und trocken da, endlich aber sprossen aus der Wurzel neue Zweige hervor, die unter dem Schutz der Natur wieder stark und hoch genug werden können, in einem gewissen Zeitlauf wieder wohltätige Schatten um sich zu verbreiten. Mein Ruhm, mein glückliches Aussehen, meine Stelle in der großen Welt hab ich verloren; lange betäubte der Schmerz meine Seele, bis die Zeit meine Empfindlichkeit verringerte, die Wurzeln meines Lebens, welche mein Schicksal unberührt ließ, neue Kräfte sammleten, und die guten Grundsätze meiner Erziehung, frische, obwohl kleine Zweige von Wohltätigkeit und Nutzen für meine Nebenmenschen emportrieben. Sie sind, wie die Wurzelzweige meines Ebenbildes bei niedrigem Moos, und kleinen Grasarten aufkeimten, auch unter der geringen Klasse meiner Nebenmenschen entsprossen; aber es erfreut mich diese Klasse in der Nähe gesehen zu haben; denn ich habe manche schöne Blume darunter entdeckt, die dem erhabenen Haupte eines großen hochgewachsenen Baums ungekannt verblühet; und kann ich nicht zu meinem süßesten Tröste sagen, daß unter dem Schatten meines Umgangs und meiner Sorgen die freigebige Aussaat der liebreichen Stifterin des Gesindhauses so viele nützliche Kreaturen erwachsen macht? Und nun ruhet das edle Herz meiner geliebten Lady Summers von großen und kleinen Lebenssorgen ungestört unter der vereinigten Bemühung aller meiner Fähigkeiten und meiner Dankbegierde von den mühsamen Schritten aus, welche das sechzigste Jahr unsers Alters zwischen fliehenden Freuden, und ankommenden Schwächlichkeiten zu machen hat.

Madam Leidens an Emilien

Nicht wahr, meine Emilia, es gibt Reiche, die eine Art von Mangel fühlen, welchen sie durch Häufung aller Arten von Ergötzlichkeiten zu heben suchen, und dennoch dem Übel nicht abhelfen können, weil sie von niemand unterrichtet wurden, daß unser Geist und Herz auch ihre Bedürfnisse haben, zu deren Befriedigung alles Gold von Indien, und alle schönen wollüstigen Kostbarkeiten Frankreichs nichts vermögen, weil die wahren Hülfsmittel dagegen allein in der Hand eines empfindungsvollen Freundes, und in einem lehrreichen und unterhaltenden Umgang zu finden sind. Wie klein ist die Anzahl glücklicher Reichen, welche diese Vorteile kennen? Würklich bin ich im Besitze mancher angenehmen Güter des Lebens, ich fühle den vergnügenden Reiz, welcher darin liegt, ich genieße die Geschenke des Glücks mit aller Empfindung, welche das Schicksal für diese Gaben fordern kann; aber es mangelt meinem Herzen der Busen einer vertrauten Freundin, in den es das Übermaß seiner Empfindungen ausgießen könnte. Ich bin beliebt; meine hie und da mit Bescheidenheit erscheinende Grundsätze ziehen mir Verehrung zu; das Gefühl der Schönheiten Schakspears,[9] Thomsons,[10] Addisons [11] und Popes [12] haben meinem Geiste eine neue lebendige Nahrung in den Unterhaltungen unsers Pfarrers und eines sehr philosophisch denkenden Edelmanns in der Nachbarschaft erworben. Die älteste Tochter des Pfarrers ist sanft, gefühlvoll, und dabei mit wahrem Verstände begabt; ich liebe sie; aber mitten in einer zärtlichen Umarmung empfinde ich, wie viel mein Herz noch zu wünschen hat, um den Ersatz für meine Emilia zu erhalten. Schelten Sie mich deswegen nicht undankbar; ich weiß, daß ich Ihre Freundschaft noch besitze, und die von der liebenswürdigen Emma zugleich habe; Ihnen schreibe ich von dem Teile meiner Seele, den ich hier nicht zeigen kann, und mit Emma rede ich von dem, der in dem Zirkel meines englischen Aufenthalts sichtbar wird; aber ich kann mich nicht verhindern die Länge des Weges abzumessen, den meine armen Briefe durchlaufen müssen, bis sie zu Ihnen kommen, und zu fühlen, daß diese Entfernung der liebsten Gewohnheit meines Herzens schmerzlich fällt. Vielleicht, meine Emilia, bin ich bestimmt die ganze Reihe moralischer Empfindnisse durchzugehen, und werde dadurch geschickt, mit schneller Genauigkeit ihre mannichfaltige Grade und Nuancen im Bittern und Süßen zu bemerken. Ich will mich auch diesem Teile meines Geschickes gerne unterwerfen, wenn ich nur zugleich den nämlichen Grad von Fühlbarkeit für alles Weh und Wohl meines Nächsten behalte, und, so viel ich kann, seine Leiden zu vermindern suche.
Lady Summers hat zu gleicher Zeit für ihre Ehre und für meinen vermuteten Stolz zu sorgen geglaubt, da sie mich als eine Person von sehr edlem Herkommen dargestellt hat, welche elternlos sich mit wenigem Vermögen ver-heuratet, und ihren Mann gleich wieder verloren hätte. Meine Hände, meine feine Wäsche und Spitzen, die in Feuer so schön gemalten Bildnisse meiner Eltern, und der Ton meines gesellschaftlichen Bezeugens haben mehr zu Bekräftigung dieser Idee beigetragen, als meine eigentliche Denkungsart hätte tun können. Aber ein
schönes, und für die Tugend der Lady Summers fest errichtetes Denkmal ist der Glaube an die Reinigkeit meiner Sitten, in welche, weil sie mich liebt, keine Seele den geringsten Zweifel setzt; denn, sagt der Pfarrer, die Luftsäule, in welcher die Lady atme, wäre so moralisch geworden, daß der Lasterhafte sich ihr niemals nähern würde. Denken Sie nicht mit mir, daß dieses die erhabenste Stelle des wahren Ruhms ist? O was für ein Kenner der Menschen, des Guten und Edlen ist Ihr Mann, der mir in den ehrwürdigen Falten der Stirne meiner Lady alles dies zeigte, als er mir in ihrem Hause die Bestärkung meiner Tugend, und Übung meiner Geisteskräfte versprach! Lord Rich, der philosophische Edelmann, von dem ich im Anfange dieses Briefes schrieb, hat sein Haus nur eine Meile von hier; es ist ganz einfach, aber in dem edelsten Geschmacke gebauet. Die besten Auszierungen des Innern bestehen aus verschiedenen schönen Sammlungen von Naturalien, aus einem vollständigen Vorrat mathematischer Instrumenten, und einer großen Büchersammlung, worunter zwanzig Folianten sind, in denen er beinahe alle merkwürdige Pflanzen des Erdbodens mit eigner Hand getrocknet hat. Sein wohlangelegter Garten, in welchem er selbst arbeitet, und sein Park, der an den unsern stößt, haben uns das erstemal angelockt hinzugehen. Aber die simple deutliche Art, womit er uns alle seine Schätze vorlegte und benennte, die großen asiatischen Reisen, welche er gemacht, und seine weitläuftige Kenntnis schöner Wissenschaften machen seinen Umgang so reizend, daß die Lady selbst entschlossen ist, ihn öfters zu besuchen, weil es ihr, wie sie sagt, sehr erfreulich ist, nah an dem Abend ihres Lebens so ergötzende Blicke in die Schöpfung zu tun. Lord Rich, der bisher ganz einsam gelebet, und niemand als den Pfarrer zu sehen pflegte, ist sehr vergnügt über unsre Bekanntschaft, und kömmt oft zu uns. Sein Tun und Lassen scheint mit lauter Ruhe bezeichnet zu sein, gleich als ob seine Handlungen die Natur der Pflanzenwelt angenommen hätten, die unmerksam, aber unablässig arbeitet; doch dünkt mich auch, daß sein Geist den moralischen Teil der Schöpfung nun ebenso untersuchend betrachtet wie ehemals den physikalischen. Meine Emma, und meine Lady Summers gewinnen viel dabei; aber mich hat er schüchtern gemacht. Da ich letzthin seine Meinung über meine Gedanken wissen wollte, sagte er: »Gerne möchte ich von den Wurzeln der schönen Früchte Ihrer Empfindungen reden, aber wir erhalten sie nur von der Hand Ihrer Gefälligkeit, welche sie uns mitten aus dem dichten Nebel darbietet, der ihr ursprüngliches Land beständig umgibt.« - Ich fand mich in Verlegenheit, und wollte mir durch den Witz helfen lassen, der ihn fragte: ob er denn meinen Geist für benebelt hielte? - Er sah mich durchdringend und zärtlich an; »gewiß nicht auf die Art, wie Sie meinen«, sagte er; »beweist nicht diese Träne in Ihren Augen, daß ich recht hatte, da ich Ihren Geist für umwölkt hielte? Denn warum kann die kleinste Bewegung Ihrer Seele diesen Nebel, wovon ich rede, in Wassertropfen verwandeln? Aber, liebe Madam Leidens, ich will niemals mehr davon sprechen; aber fragen Sie auch mein Herz nicht mehr um sein Urteil von dem Ihrigen.«
Sehen Sie, Emilia, wie viel mir mit Ihnen fehlt; alle Empfindungen, die sich in mir zusammendringen, würde ich Ihnen sagen; da wäre mein Herz erleichtert, und schien' nicht durch diesen bemerkten Nebel hindurch. Ich war froh, mich genug zu fassen, um ihm in seinem physikalischen Ton zu antworten, daß er glauben möchte, diese Wolken würden durch meine Umstände, und nicht durch die Natur meines Herzens hervorgebracht. »Ich bin es überzeugt«, sagte er, »auch sein Sie ruhig! Es gehört alle meine Beobachtung dazu, dieses feine Gewölke zu sehen. Andere sind nicht so aufmerksam und erfahren, als ich es bin.« Unsere Unterredung wurde durch Miß Emma unterbrochen, und MyLord Rich trägt seitdem Sorge, daß er mich nicht zu genau betrachtet.

Madam Leidens an Emilia

Sagen Sie, meine Emilia, woher kömmt es, daß man auch bei der besten Gattung Menschen eine Art von eigensinniger Befolgung eines Vorurteils antrifft. Warum darf ein edeldenkendes, tugendhaftes Mädchen nicht zuerst sagen, diesen würdigen Mann liebe ich? Warum vergibt man ihr nicht, wenn sie ihm zu gefallen sucht, und sich auf alle Weise um seine Hochachtung bemühet?[4] Den Anlaß dieser Fragen gab mir Lord Rich, dessen Geist alle Fesseln des Wahns abgeworfen zu haben scheint, und der allein der wahren Weisheit und Tugend zu folgen denkt. Er bezeugt eine Art Widerwillen gegen die zärtliche Neigung der Miß Emma, von welcher er doch allezeit mit der größten Achtung sprach, ihren Verstand, ihr Herz rühmte, alle ihre Handlungen seines Beifalls würdigte, und den ihrigen liebte. Nun setzt er der sanften Glut, die seine Verdienste in ihrem Herzen angefacht haben, nichts als die kälteste Heftigkeit entgegen; und gewiß aus dem nämlichen Eigensinne fängt er an, mir, die ich außer meiner Hochachtung für seine Kenntnisse ganz gleichgültig gesinnt bin, eine anhaltende zärtliche Aufmerksamkeit, die mir Zwang antut, zu bezeigen. Ich unterdrücke zehnmal die Aussprüche einer Empfindung, oder eines Gedankens, nur um seinen Beifall zu vermeiden, und nicht einen Tropfen Ol wissentlich in das anglimmende Feuer zu gießen. Denn, da ich nicht geneigt bin, seine Liebe anzunehmen, warum sollte ich sie meiner weiblichen Eitelkeit zu Gefallen vergrößern? Wir werden heute nach Mittag zu ihm gehen, um einem neuen Versuch von Besäung der Äcker mit einer Maschine zuzuschauen. Meine liebe Lady ist gar zu gerne dabei, wenn etwas umgegraben oder gepflanzet wird; »jeder Tag«, sagt sie, »führt mich näher zu der Vereinigung mit unserer mütterlichen Erde, und ich glaube, daß dieses meine innerliche Neigung gegen sie bestärkt.« Ich würde, liebste Emilia, einen glücklichen Tag gehabt haben, wenn nicht der Zufall wider mich und den guten Lord Rich gearbeitet hätte. Der Pfarrer war da, ich kam neben ihm zu sitzen, als uns Lord Rich von dem Feldbau und der Verschiedenheit der Erde, und der daher erforderlichen Verschiedenheit des Anbaues redte. Sein Ton war edel, einfach, und deutlich; er erzählte uns von den vielfachen Erfindungen, wozu der schlechte Ertrag der Güter die Landleute dieser und jener Nation getrieben hätte, und wie weit ihre Mühe belohnet worden sei. Da er zu reden aufhörte, konnte ich mich nicht hindern dem Pfarrer zuzulispeln, daß ich wünschte, die Moralisten möchten durch ihre Kenntnis der verschiedenen Stärke und Gattung angeborner Neigungen und Leidenschaften auch auf Vorschriften der mannichfaltigen Mittel geraten, wie alle auf ihre Art nützlich und gut gemacht werden könnten.
»Es ist schon lang geschehen«, sagte er, »aber es gibt zu viel unverbesserlichen moralischen Boden, wo der beste Bau und Samen verloren ist.«
»Es ist mir leid«, erwiderte ich; »daß ich denken muß, es gebe in der moralischen Welt auch sandige Striche, in denen nichts wächst - Heiden, die kaum kleines trocknes Gesträuche hervorbringen, und morastige Gegenden, welche die allgemeine moralische Verbesserung ebenso weit hinaussetzen, wie in der physikalischen viele Menschenalter vorbeigehen, ehe Not und Umstände sich vereinigen, den Sand mit Bäumen und Hecken durchzuziehen, um dadurch wenigstens zu verhindern, daß ihn der Wind nicht auf gutes Land treibe, und auch dieses verderbe. Lange braucht's, bis man Heiden anbaut, Morästen ihr Wasser abzapft, und sie nützlich macht; dennoch beweisen alle Ihre Versuche, daß die Tugend der Nutzbarkeit in der ganzen Erde liege, wenn man nur die Hindernisse ihrer Wirkung wegnimmt. Der Grundstoff der moralischen Welt hält gewiß auch durchgehends die Fähigkeiten der Tugend in sich; aber sein Anbau wird oft vernachlässiget, oft verkehrt angefangen, und dadurch Blüte und Früchte verhindert. Die Geschichte beweist es, wie mich dünkt. Barbarische Völker werden edel, tugendhaft; andere, die es waren, durch Nachlässigkeit wieder verwildert: wie ein Acker, der einst Weizen trug, und eine ganze Familie ernährte, durch Unterlassung des Anbaues Dornbüsche und schädliches Gehecke zu tragen anfängt.« Mit ruhiger Geduld hörte der Pfarrer mir zu; aber Lord Rich, der sich hinter uns gesetzt hatte, stund auf einmal lebhaft auf, und indem er mich über meinen Stuhl bei den Armen faßte, sagte er gerührt: »Madam Leidens, was haben Sie mit dem Ton Ihres Herzens in der großen Welt gemacht? Sie können nicht glücklich darin gewesen sein.« - »Dannoch Mylord«, antwortete ich: »Man lernt da die wahre Verschiedenheit zwischen Geist und Herz kennen, und sieht, daß der erste als ein schöner Garten angelegt werden kann.« Mit Enthusiasmus sagte er: »Edelangebaute Seele, in einer gesegneten Gegend bist du erwachsen, und die schöne Menschlichkeit pflegte dich!«
Aus Bewegung meines Herzens küßte ich die Bildnisse meiner Eltern, die ich immer an meinen Händen trage; Tränen fielen auf sie; ich ging ans Fenster; Lord Rich folgte mir; eine anteilnehmende Traurigkeit war in seinen Zügen, als ich nach einigen Minuten ihn ansah, und er seine Blicke auf die Bilder heftete. »Dies sind die Bildnisse Ihrer Eltern, Madam Leidens, leben sie noch? -« sagte er sanft. - »Oh, nein, Mylord, sonst wäre ich nicht hier, und meine Augen würden nur Freudentränen zu vergießen haben.« - »Also hat Sie ein Sturm nach England geführt?« - »Nein, Mylord, denn Freundschaft und freie Wahl ist kein Sturm«, versetzte ich, indem ich mich zu lächeln bemühte. Lebhaft sagte Lord Rich, »Dank sei Ihrer halben Aufrichtigkeit, daß sie mich Ihrer Freiheit zu wählen versichert. Die edelste Neigung, welche jemals ein Mann ernährte, wird auf diesen Grund ihre Hoffnung bauen.« - »Das kann nicht sein, Mylord, denn ich sage Ihnen, daß die Eigentümerin dieses Grunds auf ewig mit der Hoffnung entzweiet ist.« Lady Summers war bei uns, als ich dieses sagte, und streckte bei den letzten Worten ihre Hand aus, mir den Mund zuzuhalten; »das sollen Sie nicht sagen«, sprach sie; »wollen Sie eigenmächtig die künftigen Tage zu den vergangenen werfen? Die Vorsicht wird Ihrer nicht vergessen, meine Liebe, machen Sie nur keine eigensinnigen Foderungen an sie.« Dieser Vorwurf machte mich aus Empfindlichkeit erröten, ich küßte die Hand der Lady, mit welcher sie meinen Mund hatte zuhalten wollen, und fragte sie zärtlich: »Teure Lady, wenn Sie mich eigensinnig in meinen Foderungen gefunden?« - »In Ihrer beständigen Traurigkeit über das Vergangene, wo Sie Zurückfode-rungen aus dem Reiche der Toten machen«, war ihre Antwort. - »O meine geliebte würdige Lady Summers, warum, ach - warum -« Diese Ausrufung entfloh mir, weil ich, gerührt über ihre Güte, innig bedauerte, daß wir sie durch eine falsche Erzählung betrügen mußten; aber sie nahm es anders, und fiel mir ein: »Meine Tochter, sagen Sie mir kein >Ach warum< mehr; leiten Sie das Gefühl Ihres Herzens auf die Gegenstände der Zufriedenheit, die sich Ihnen anbieten, und zählen Sie auf meine mütterliche Zärtlichkeit, solange Sie sie genießen mögen.« Ich drückte ihre Hand an meine Brust, und sah sie voll Rührung an mit dem vollkommnesten Gefühle kindlicher Liebe; ihr Herz empfand es, und belohnte mich durch eine mütterliche Umarmung. Lord Rich hatte uns mit Bewegung betrachtet, und ich sah den nämlichen Augenblick die schönen Augen der Emma voll schmelzender Liebe auf ihn geheftet; ich sagte ihm auf italienisch, dort wären unvermischte Empfindungen, die allein fähig sein, die Tage eines edeldenkenden Mannes mit der feinsten Glückseligkeit zu erfüllen. Er antwortete in nämlicher Sprache: »Nicht so, Madam Leidens, denn diese Art Empfindlichkeit ist nicht diejenige, welche eine einsamwohnende Person beglücken kann.« Was wollte er damit sagen? Ich schüttelte den Kopf halb mißvergnügt und sagte nur: »O Mylord, von was für einer Farbe sind Ihre Empfindungen?« - »Von der aller-dauerhaftesten, denn sie sind aus übender Tugend entstanden.« - Ich gab keine Antwort, sondern wandte mich, nach einer Verbeugung gegen ihn, zur Emma, die an meinem Arm, aber ganz in ein trauriges Stillschweigen gehüllt, nach Summerhall zurückging; und nun höre ich, daß sie wegreisen wird.

Madam Leidens an Emilia

Überfluß, ist, wenn Sie ihm die Gewalt der Wohltätigkeit nehmen, kein Glück, meine liebe Emilia; er zerstört den echten Gebrauch der Güter, er zerbricht in der Seele des Leichtsinnigen die Schranken unserer Begierden, schwächt das Vergnügen des Genusses, und setzt, wie ich erfahre, ein genügsames Herz und seine mäßigen Wünsche in eine Art unangenehmer Verlegenheit. - Sie wissen vermutlich nicht, meine Freundin, wo Sie die Ursache dieses Ausfalls auf einen Zustand, der von meinem dermaligen so weit entfernt ist, suchen sollen. Aber Sie wissen doch, daß mich alle Gegenstände auf eine besondere Art rühren, und werden sich nicht wundern, wenn ich Ihnen sage, daß die Gesinnungen des Lord Rich der eigentliche Anlaß zu meiner unmutigen Betrachtung des Überflusses waren. Er verfolgt mich mit Liebe, mit Bewunderung, mit Vorschlägen, und (was mir Kummer macht) mit der Überzeugung, daß ich ihn glücklich machen würde. Oh, hätte ich denken können, daß die Sympathie unsers Geschmacks an den Vergnügungen und Beschäftigungen des Geistes in ihm die Idee hervorbringen würde, daß ich auch eine sympathetische Liebe empfinden müßte, so sollte er nicht die Hälfte der Gewalt gesehen haben, womit die Reize der Schöpfung auf meine Seele würken, und niemals hätte ich mich in Gespräche mit ihm eingelassen. Aber ich war um so ruhiger, da ich wußte, daß er ein niedliches Bild griechischer Schönheiten von der Insel Scio mit sich gebracht, und in seinem Hause hatte. Ich hielt lange Zeit sein Aufsuchen meiner Gesellschaft und das Ausfragen meiner Gedanken für nichts anders als für die Lust der Befriedigung seiner Lieblingsideen, weil ich, ohne die geringste Zerstreuung, mit ununterbrochener Aufmerksamkeit bald die Historie eines Landes, bald einer Pflanze, bald eines griechischen Ruins, bald eines Metalls, bald eines Steins anhörte, nicht müde wurde, und ihm also die Freude gab, seine Kenntnisse zu zeigen, und zu sehen, daß ich die edle Verwendung seines Reichtums und Lebens zu schätzen, und zu loben wußte. Sein Umgang war mir durch seine Wissenschaft und Erzählungen unendlich wert; sein Entschluß, nach zehnjährigen Reisen durch die allerentferntesten Gegenden des Weltkreises seine übrigen Tage in Anbauung eines Teils seiner mütterlichen Erde zuzubringen, machte mir ihn vorzüglich angenehm; dieses erfreute mich; aber seine Liebe ist der Überfluß davon, der mich belästigt und in Verlegenheit setzt. Er hat sich bei der Lady um mich erkundiget; ihre Antwort hat seinen Eifer nicht vermehrt, aber anhaltender gemacht; und ein einziges Wort von mir gegen die Lady brachte ihn zu dem Entschluß seine Griechin zu verheuraten, und mit ihrem Manne nach London zu schicken. Sie können nicht glauben, wie schwer meinem Herzen dieses vermeinte Opfer wiegt, da er, wegen leerer Hoffnungen des künftigen Vergnügens meiner Gesellschaft, die Ermunterung von ihm entfernt, welche der Besitz des reizenden Mädchens ihm gegeben hätte. Sein Sekretär liebte sie, sagt er, schon lang, und das Mädchen ihn auch; beide hätten ihn auf den Knien für ihre Vereinigung gedankt. Er fühlt aber das Leere, so ihre Abreise in seinem Herzen gelassen hat, denn er ist seitdem mit aufgehender Sonne in unserm Park, und beraubt mich der Morgenluft, weil ich ihn vermeiden will, da er eine Anfoderung von Ersatz an mich zu machen scheint. Niemals, nein, niemals mehr werde ich den Witz um Hülfe bitten, mich aus einer Verwirrung zu reißen. Die Lady Summers hatte mit mir über die angehende Liebe des Lords gescherzt; ich widersprach ihr lange in gleichem Ton, und behauptete, es wäre nichts als Selbstliebe, weil ich ihm so gerne zuhörte. Sie bestrafte mich ganz ernsthaft über diese Anklage: »Lord Rich verehret Ihre edle Wißbegierde, er sucht sie durch Mitteilung seiner Kenntnisse zu befriedigen, und seine Belohnung soll in dieser beißenden Beschuldigung bestehen?« - Ich war gerührt, weil ich nicht einmal das Ansehen einer Ungerechtigkeit dulden kann, und nun selbst eine ausübte; aber meine Lady fuhr ganz gütig fort, mir viele Beweise seiner zärtlichen Hochachtung zu wiederholen, die ich als wahre Kennzeichen der edelsten Neigung ansehen müßte; ich gestund auch, daß sie eine Rückgabe verdienten; aber da sie bei allem, was ich von meinen freundschaftlichen Gegengesinnungen sagte, immer den Kopf schüttelte, und mehr für den Lord foderte: so versicherte ich sie, daß es unmöglich sei, daß Lord Rich mehr von mir wünschen könnte, da er bei seiner schönen Griechin alles fände, was die Liebe beitragen könne, ihn glücklich zu machen. Sie schwieg freundlich, und ließ mich nicht merken, sie dächte das einzige Hindernis meiner Verbindung mit Lord Rich entdeckt zu haben. Dieser war auch einige Tage still von seiner Liebe und sehr munter, besonders an dem, wo er mit dem ruhigsten und ungezwungnesten Ton von der Heurat und Abreise seiner Assy redte. Ich war betroffen, und fürchtete mich vor dem Erbteil seines ganzen Herzens, welches ihm ihre Heurat rückfällig machte; er sagt mir nichts, die Lady aber desto mehr. »Warum, liebste Lady, wollen Sie Ihre angenommene Tochter von sich entfernen? Bin ich Ihnen unangenehm geworden?« sagte ich. Sie reichte mir die Hand, »nein, mein Kind, Sie sind mir unendlich wert, und ich werde die zärtlichste Besorgerin meines Alters gewiß vermissen; aber ich habe für den Herbst meines Lebens Früchte genug gesammlet, ohne nötig zu haben, Ihren Frühling seiner schönsten Blüte zu berauben. Sie sind jung, reizend, und fremde, was wollen Sie nach meinem Tode machen?« »Wenn ich dieses Unglück erlebe, so gehe ich zu meiner Emilia zurück.« -
»Liebe Leidens, bedenken Sie sich! Ein Frauenzimmer von Ihrer Geburt und Liebenswürdigkeit muß entweder bei nahen Verwandten, oder unter dem Schutz eines würdigen Mannes sein. Lord Rich hat Ihre ganze Hochachtung; der edle Mann verdient sie auch; Sie wissen, daß Sie ihn glücklich machen können; seine Freundschaft, sein Umgang ist Ihnen angenehm; Ihr Wille, Ihre Person ist frei; die edelsten Beweggründe leiten Sie zu dieser Verbindung; machen Sie ihrer gefundenen Mutter die Freude, in Ihnen und dem Lord Rich die echten Bildnisse männlicher und weiblicher Tugend vereint zu sehen.« So nahe drang die teure Lady in mich. Ich legte meinen Kopf auf ihre Hand, die ich küßte, und mit den zärtlichsten Tränen benetzte; es war in meiner Seele, als ob ich den Widerhall der Stimme meiner geliebten zärtlichen Mutter gehört hätte. Ach, diese Tugenden waren das Band ihrer Ehe! Wie ungleich hatte ich gewählt! Die Verdienste des Lord Rich konnten sich an die Seite der vortrefflichen Eigenschaften meines Vaters setzen; mein Glück wäre wie das ihrige gewesen; aber meine Verwicklung, meine unselige Verwicklung! - Oh, Emilia, schreiben Sie mir bald, recht bald Ihre Gedanken. - Aber ich kann nicht mehr lieben; ich kann mich nicht mehr verschenken; ja die zärtliche Achtung selbst, welche ich für den Lord Rich habe, empört sich wider diesen Gedanken; mein Schicksal hat mich durch die Hand der Bosheit in den Staub geworfen; die Menschenfreundlichkeit nahm mich auf; an diese allein habe ich Ansprüche; meine Leichtgläubigkeit hat mich aller übrigen beraubet, und ich will kein fremdes, kein unverdientes Gut an mich ziehen.

Madam Leidens an Emilia

O meine Freundin! ein neues unerwartetes Übel drängt sich mir zu; ich zweifle, ob alle meine Standhaftigkeit hinreichen wird es zu ertragen, da ich ohnehin gezwungen bin, zu meiner gehässigsten Feindin, der Verstellung, meine Zuflucht zu nehmen. Aber weil in meinen itzigen Umständen mehr Aufrichtigkeit mir nichts nützen, und andern schaden würde, so will ich den fressenden Kummer in meine Brust verschließen, und selbst für das Vergnügen des Urhebers meiner Leiden die Überreste einer ehemals lächelnden Einbildungskraft verwenden. Hören Sie, meine Emilia, hören Sie, was für eine Rückkehr das Unglück macht, das Ihre Jugendfreundin verfolgt. Vor einigen Tagen mußte ich die ganze Geschichte von Lord Richs Herzen anhören; ihr letzter Teil enthielt die Abschilderung seiner Liebe für mich. »Es ist«, spricht er, »die Leidenschaft eines fünfundvierzigjähri-gen Mannes, die durch die Vernunft in sein Herz gebracht wurde, alle Kräfte meiner Erfahrung, meiner Kenntnis der Menschen bestärken sie.« - »Teurer Lord Rich, Sie betrügen sich; niemals hat die Vernunft für die Liebe gegen die Freundschaft gesprochen; Sie besitzen den höchsten Grad dieser edlen Neigung in meinem Herzen; lassen Sie -« - »Nichts mehr, Madam Leidens, ehe Sie mich angehört haben. Meine Vernunft machte mich zu Ihrem Freund, und wies Ihnen in meiner Hochachtung einen Platz an, den ich auch dem Verdienste eines Mannes würde gegeben haben.« - Hier rechnete er mir Tugenden und Kenntnisse zu, wovon ich sagen mußte, daß ich sie für nichts anders als schöne Gemälde liebenswürdiger Fremdlinge betrachten könnte. »Und ich (fuhr er fort) muß Ihnen in erhöhetem Maße das feine Lob zurückgeben, welches die Bescheidenheit meiner schönen Landsmänninnen von einem Fremden erhielt, da Ihnen die Vorzüge Ihres Geistes ebenso unbekannt sind als jenen die Reize ihrer Gestalt.« Hierauf beschrieb er meine mir eigenen Weiblichkeiten, wie er sie nannte, als Früchte eines feurigen Genie, und einer sanften empfindsamen Grazie, und machte aus diesem allen den Schluß; daß der Ton meines Kopfs und Herzens just derjenige wäre, welcher mit dem seinigen so genau zusammenstimmte, als nötig sei, die vollkommenste Harmonie einer moralischen Vereinigung zu machen. — Das Bild seiner Glückseligkeit folgte mit so rührenden Zügen, daß ich überzeugt wurde, er kenne alle Triebfedern meiner Seele, und wisse wohin mich der Gedanke vom Wohltun führen könne. Mit aller Feinheit der Empfindungen zeichnete er einen flüchtigen Entwurf davon. O meine Emilia, es war der Abdruck meiner ehemaligen Wünsche und Hoffnungen im ehelichen Leben. Äußerst gerührt und bestürzt konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Er stund von der Rasenbank auf, und ergriff meine beiden Hände; eine vieldenkende männliche Zärtlichkeit war in seinem Gesichte, als er mich betrachtete, und meine Hände an seine Brust drückte. — »O Madam Leidens«, sagte er, »was für ein Ausdruck von tiefen Kummer ist in Ihren Gesichtszügen! Entweder hat der Tod Ihrem Herzen alle Freuden des Lebens und der Jugend entrissen, oder es liegt in Ihren Umständen irgendeine Quelle von bitterm Jammer verborgen. Sagen Sie, teure geliebte Freundin, wollen Sie nicht, können Sie nicht dieser Quelle einen Ausfluß in den Busen Ihres treuen, Ihres Sie anbetenden Freundes verschaffen?« Mein Kopf sank auf seine Hände, die noch immer die meinigen hielten. Mein Herz war beklemmter als jemals in meinem Leben. Das Bild meines Unglücks, die Verdienste dieses edelmütig liebenden Mannes, die schwere Kette meiner wiewohl falschen Verbindung, mein auf ewig verlornes Vergnügen bedrängten auf einmal meine Seele. Reden konnte ich nicht; schluchzen und seufzen mußte ich. Er schwieg tiefsinnig, und mit einer zitternden Bewegung seiner Hände sagte er in dem traurigsten, aber sanftesten Ton, indem er seinen Kopf sachte gegen den meinigen neigte: O dieser Sie quälende Kummer gibt mir ein trauriges Licht - Ihr Gemahl ist nicht tot
Eine Seele wie die Ihrige würde durch einen Zufall, den die Gesetze der Natur herbeibringen, nicht zerrissen, sondern nur niedergeschlagen. Aber der Mann ist Ihrer unwürdig, und das Andenken dieser Fesseln verwundet Ihre Seele. - Hab ich recht, oh, sagen Sie, ob ich nicht recht habe?« - Seine Rede machte mich schauern; ich konnte noch weniger die Sprache wiederfinden als vorher. Er war so gütig mir zu sagen: »Heute nichts mehr! Beruhigen Sie sich; lassen Sie mich nur Ihr Vertrauen erwerben.« - Ich erhob meine Augen, und drückte aus einer unwillkürlichen Bewegung seine Hände. »O Lord Rich -« war alles was ich aussprechen konnte. »Bestes weibliches Herz! was für ein Unmensch konnte dich mißkennen, und elend machen?« - »Lieber Lord, Sie sollen alles, alles wissen, Sie verdienen mein Vertrauen.«
Dies sagte ich, als ein Bedienter der Lady Summers kam, mich zu rufen, weil wichtige Briefe von London angekommen wären. - Ich suchte mich so viel als möglich zu fassen, und eilte zur Lady, die mir gleich die angesehene Heurat ihrer einzigen Nichte mit Mylord N** anzeigte, und sich auf den Besuch freute, den ihr Bruder und die Neuvermählten in vierzehn Tagen bei ihr ablegen würden. »Wir müssen auf ein artiges Landfest sinnen«, sagte sie, »um den jungen Leuten Freude bei ihrer alten Tante zu machen.« Hierauf gab sie mir im Aufstehen einen Brief zu lesen, den das junge Paar ihr zusammen geschrieben hatte, und entfernte sich, um den Bedienten wieder abzufertigen. Was für ein Grauen überfiel mich, meine Emilia, als ich die Hand des Lord Derby erblickte, der nun wirklicher Gemahl der jungen Lady Alton war! Mit bebenden Füßen eilte ich in mein Zimmer, um meine Betäubung vor der Lady Summers zu verbergen. Weinen konnte ich nicht, aber ich war dem Ersticken nahe. Wie fühlte ich meine Unvorsichtigkeit nach England gegangen zu sein! Meinen Schutzort mußte ich verlieren; unmöglich war's in Summerhall zu bleiben. Ach ich gönnte dem Bösewicht sein Glücke; aber warum mußte ich abermals das Opfer davon werden? Ich ging ans Fenster, um Atem zu schöpfen, und erhob meine Augen gen Himmel; o Gott, mein Gott, der du alles zuläßt, erhalte mich in diesem Bedrängnis! Was soll ich tun? O meine Emilia, beten Sie für mich! Ein Wunder, ja ein Wunder ist's, daß ich mich sammlen konnte. - Ich beschloß, mich zu verstellen, der Lady alle Anstalten des Empfangs machen zu helfen, und dann eine Krankheit uncf Ermattung vorzuschützen, solange die Gäste dasein würden, und in meinem Zimmer bei zugezogenen Vorhängen zu liegen, als ob der Tag meinem Kopf, und meinen Augen schmerzte. - Ich fand in dieser äußersten Not kein anders Mittel; ich unterdrückte also meinen Jammer, und ging zur Lady, die ich noch aus dem Fenster dem zurückkehrenden Abgeschickten freundlich zurufen hörte. Die Lady erzählte mir die Größe des Reichtums und Ansehen des Hauses von Lord N**, der durch den Tod seines Bruders einziger Erbe war. Nun, sagte sie, würde ihr Bruder vergnügt sein, der sonst keinen Fehler als den Ehrgeiz hätte; seine Freude machte die ihrige. Dankbarkeit und Freundschaft, ihr unterstützet mich - Denn wo hätte sonst meine Vernunft, meine völlig zerstörte Seele die Kraft gehabt, mich aufrecht zu erhalten, mich lächeln zu lassen? Der Anteil, den ich an der Freude meiner Wohltäterin nahm, stärkte mich. Alles Übel war geschehen; wenn ich geredet hätte, würde nur das Gute, nicht das Böse, unterbrochen worden sein. Die erste Stunde war voll der größten Qual, die mein Herz jemals betroffen hatte; aber grausam würde ich gewesen sein, wenn ich das Herz der lieben Lady durch meine Entdeckungen geängstiget hätte. Sie liebt mich, sie ist gerecht und tugendhaft; der heftigste Abscheu würde sie gegen den bösen Menschen erfüllen, der nun ihr Neffe, der geliebte Gemahl ihrer Nichte ist. Vielleicht ist er auf dem Wege der Besserung - und gewiß wäre er selbst in der äußersten Sorge, wenn er wüßte, daß ich hier bin. - Er kannte mich niemals; niemals dachte er, daß das Schicksal mir einst die Gewalt geben würde, ihm so sehr zu schaden. Aber ich will sie nicht gebrauchen, diese Gewalt; ungestört soll er das Glück genießen, welches ihm das Verhängnis gibt, und meinem Herzen soll es nicht umsonst die Probe angeboten haben, in welcher die Tugend ihre wahren Ergebenen erkennt, den Feinden wohlzutun. Laß mich, o Vorsicht, laß mich dieses Gepräge der wahren Größe der Seele erhalten! Viele, aber milde Tränen überströmten nach diesem Gebet meine Lagerstätte. Die Wohltätigkeit, die ich meinem größten Feind gelobte, wurde durch die seligste Empfindung belohnt; mein Herz fühlte den Wert der Tugend, es fühlte, daß es durch sie edel und erhaben war. Nun falteten sich meine Hände mit der reinen Bewegung des Danks, da sie wenige Stunden vorher der Schmerz der Verzweiflung ineinander gewunden hatte. - Sanft schlief ich ein, ruhig wachte ich auch, ruhig habe ich schon einen Plan des Landfestes aufgesetzt, das die Lady geben will. - Aber bemerken Sie, meine Emilia, wie leicht sich Böses mit Gutem micht. - Einige Minuten lang war der Gedanke in mir, das Fest in kleinem so zu veranstalten, wie das vom Grafen F. auf seinem Landgut war, um den Lord in ein kleines Staunen zu setzen. Aber auch dieses verwarf ich als eine maskierte Rache, die sich in meine Einbildung schleichen wollte, da sie aus meinem Herzen verbannet war. - Ich glaube, Emilia, Rieh sieht beinahe, was ich denke. Er kam erst den vierten Tag nach meiner Unterredung mit ihm zu uns. Die Lady erzählte ihm bei dem Mittagessen die Ursache, warum wir alle so beschäftiget sein, und führte ihn nachmittags in die schon bereiteten Zimmer. Ich mußte sie begleiten, und auch die Veranstaltungen für das Pachterfest [13] vorlesen. Lord Rich schien sehr aufmerksam, lobte alles, aber sehr kurz, und begleitete alle meine Bewegungen mit Blicken, welche Neugierde und Unruhe in sich zeigten. - Lady Summers verließ uns einige Minuten, und er kam an den Tisch, wo ich italienische Blumen aussuchte und zusammenband. Mit einer sorgsamen zärtlichen Miene nahm er eine meiner Hände; »Sie sind nicht wohl, meine Freundin, Ihre Hände arbeiten zitternd; eine gewisse Hastigkeit ist in ihren Bewegungen, welche durch die angenommene Munterkeit wider ihren Willen hervorbricht; Ihr Lächeln kommt nicht aus dem Herzen; was bedeutet dieses?« -»Lord Rich, Sie machen mir bange mit Ihrer Scharfsicht«, antwortete ich. - »Ich sehe also doch gut?« -»Fragen Sie mich nicht weiter, Mylord; meine Seele hat den äußersten Kampf erlitten, aber ich will itzt dem Vergnügen der Lady Summers alles, was mich angeht, aufopfern« - »Ich besorge nur, Sie opfern sich selbst dabei auf«, sagte der Lord. »Fürchten Sie nichts«, antwortete ich, »das Schicksal hat mich zum Leiden bestimmt; es wird mich dazu erhalten.« Ich sagte dies, wie mich dünkte, ruhig und lächelnd; aber Lord Rich sah mich mit Bestürzung an. »Wissen Sie, Madam Leidens, daß dies, was Sie sagen, den größten Grad von Verzweiflung anzeigt, und mich in die tödlichste Unruhe wirft? -Reden Sie - reden Sie - mit der Lady Summers; Sie werden ein mütterliches Herz in ihr finden.« - »Ich weiß es, bester Lord! Aber es kann itzt nicht sein; bleiben Sie unbesorgt über mich; mein Zittern ist nichts anders als die letzte Bewegung eines Sturms, dem bald eine ruhige Stille folgen wird.« - »O Gott«, rief er aus, »wie lange werden Sie die Marter dauern lassen, die mir der Gedanke von Ihrem Kummer macht?« Die Lady kam zurück, und zog mich aus der Sorge weichherzig zu werden. Lord Rich ging mit einem Ansehen von trotzigem Mißvergnügen hinweg. Wir bemerkten es beide. Lady Summers sagte mir lächelnd: »Können Sie gutherzig sein und gute Leute plagen? O wenn ich denken könnte, daß eine dieser Blumen Sie als die Braut von Lord Rich zum Altare schmücken würde! - Mein Bruder soll die Vaterstelle vertreten, so wie ich die Mutter sein werde.« - »Liebste Lady«, antwortete ich in der äußersten Bewegung, »meine Widersetzung wird mir immer schmerzhafter; aber noch immer ist es mir unmöglich eine Entschließung zu fassen. Dulden Sie mich, so wie ich bin, noch einige Zeit.« Ein Strom von Tränen, den ich nicht zurückhalten konnte, machte die Lady gleichfalls weinen; aber sie versprach mir, nicht weiter in mich zu setzen.

Auszug aus einem Briefe von Lord N. an Lord B

Du weißt, daß ich mit der reichen zierlichen Alton vermählt bin, und daß sie stolz darauf ist, mich in Hymens [14] Fesseln gebracht zu haben. Einfältig brüstet sie sich, wenn ich, um das Maß ihrer albernen Denkensart zu ergründen, mit einer Miene voller Gefälligkeit nach ihren neuen Wünschen frage. Ich wollte damit eine Zeitlang meinen Scherz haben, um mein Register über weibliche Narrheiten vollzumachen, und ich habe mir einen sehr wesentlichen Dienst dadurch getan. Denn nachdem das elende Gepränge vorbei war, womit Neuvermählte einander im Triumphe herumzuführen scheinen, fragte ich meine Lady, ob sie nicht irgendeine Landreise machen wollte, und sie schlug mir einen Besuch bei ihrer Tante Summers vor, die eine langweilige Frau, aber reich und angenehm zu erben sei. - Wir schrieben ihr, und ich schickte den John mit unsrem Briefe unsern Besuch zu melden. Die Matrone nahm ihn sehr freundlich auf; während sie mit der Antwort beschäftigt war, ging John mit ihrem Hausmeister in einem Zimmer auf und ab; die Lady hatte gleich um eine Madam Leidens geschickt. Eine Viertelstunde darauf tritt mit eilfertigem Schritte eine feine englisch gekleidete Weibsperson in den Vorsaal, und geht mit beinahe geschlossenen Augen ins Zimmer der Lady. John, wie vom Blitz gerührt, erkennt die Sternheim in ihr, erholt sich aber gleich, und fragt, wer diese Lady sei? Der Hausmeister erzählt, daß sie mit der Lady aus Deutschland gekommen wäre, und daß die Lady sie außerordentlich liebte; sie sei ein Engel von Güte und Klugheit, und Lord Rich, dessen Güter an der Lady ihre grenzten, würde sie heuraten. - Mein armer Teufel, John, zitterte vor Ängsten, zu der Lady gerufen zu werden, und betrieb seine Abfertigung. Die Alte kam, aber allein; John ließ sich so schnell als möglich abfertigen, und jagte zurück. - Urteile selbst wie ich von dieser Nachricht überrascht wurde! Über keinen meiner kleinen Streiche bin ich jemals so verlegen gewesen als diesen Augenblick über den, welchen ich dieser Schwärmerin gespielet hatte. Wo mag sie die Verwegenheit genommen haben, sich in England zu zeigen? Aber geht's nicht allezeit so? Die furchtsamste Kreatur wird in den Armen eines Mannes herzhaft gemacht. Ich hatte ihr also etwas von meiner Unverschämtheit mitgeteilt, welches sie mir in dem Hause der Lady Summers wieder zurückgeben konnte. Diesem wollte ich mich nicht aussetzen, indem meine Absichten unumgänglich die Beobachtung des Wohlstandes erfoderten. Ich wußte mir Dank, den John bei mir behalten zu haben; denn der listige Hund fand eher einen Ausweg als ich. Er schlug mir vor, sie entführen zu lassen; dies mußte aber bald geschehen, und der Ort ihres Aufenthalts mußte sehr entfernt sein. Ich bestimmte ihr den nämlichen Platz in den schottischen Gebürgen auf Hoptons Gütern, wo ich vor einigen Jahren die Nancy aufgehoben habe; und da diese von ihrem Vater, der ein Advokat war, nicht gefunden werden konnte, wer sollte eine Ausländerin da suchen? Ich gestehe Dir, es ist ein verfluchtes Schicksal für eines der artigsten Mädchen, daß sie so viele hundert Meilen von ihrem Geburtsort bei einem armen Bleiminenknecht in Schottland Haberbrod [15] fressen muß. Aber was, zum T—, hatte sie mir auf meinem Weg nach England zu begegnen? Es ist billig, daß sie diese Frechheit bezahle. Sie ist bereits sicher an Ort und Stelle angekommen, und ich habe Befehl gegeben, daß man gut mit ihr umgehen soll. John machte die Anstalten, und weil er vom Hausmeister der Lady Summers wußte, daß Lord Rich, und die Töchter und Frau des Pfarrers öfters mit meiner Heldin im Park Unterredungen hatten, so ließ er sie im Namen der Miß Emma auf einen Augenblick in den Park rufen. Sie kam, er packte sie auf, und brachte sie, wie er sagt, mit Mühe lebendig nach Schottland. Den ganzen Weg über hat sie nichts als ein paar Gläser Wasser zu sich genommen, und, eine Ausrufung über mich unter dem Namen Derby ausgenommen, wie ein totes Bild in der Schäse gesessen. Wenn du toller Narr hier gewesen wärst, so hätte ich sie Dir in Verwahrung gegeben; und gewiß, wenn der heulende Genius, der Dich ehemals regierte, um sie geschwebt wäre, hättest Du sie zahm machen können, und noch eine bessere Beute an ihr gemacht, als alles Dein Gold in den Galanteriebuden zu Paris sich erkaufen kann. Denn sie ist eine der schönsten Blumen von allen, die an dem feurigen Busen Deines Freundes verwelkt sind. Sobald ich Nachricht von ihrer zweitägigen Abreise hatte, ging ich mit meiner Lady und ihrem Vater nach Summerhall, wo die Matrone im Bette lag, und um ihre Pflegtochter wehklagte. Alle Leute im Hause und im Orte, die Familie des Pfarrers, besonders Lord Rich, ein alter Knabe, der den Philosophen spielt, bejammerten den Verlust von Madam Leidens. Lady Summers flehte mich um Hülfe an; ich gab mir auch das Ansehen aller Bewegungen, sie suchen zu helfen, und erfuhr bei dieser Gelegenheit, wie sie nach England gekommen war. Jedermann rühmte ihre Reize, ihre Talente und ihr gutes Herz; die Narren machten mich toll und müde damit; besonders Rich, der Weise, der mich zum Vertrauten seiner Leidenschaft machte, und so weise ist sich einzubilden, daß sie sich vor ihm geflüchtet habe, weil er sie so weit gebracht hätte, ihm die Erzählung ihrer Geschichte zu versprechen, die gewiß besonders sein müsse, indem das junge Frauenzimmer alle Merkmale der edelsten Erziehung, der vollkommensten Tugend, und der feinsten weiblichen Zärtlichkeit in ihrem Betragen hätte. Er vermutete, ein Bösewicht habe ihre Gutherzigkeit betrogen, und dadurch den Grund des Kummers gelegt, mit welchem er sie immer kämpfen sehen. War es nicht eine verdammte Sache, alles dieses anzuhören und fremde zu scheinen? Er wies mir ihr Bildnis, wohl getroffen, vor einem Tische, wo ein Gestelle mit Schmetterlingen war, von denen sie, ich weiß nicht welchen, Gebrauch zu einem Fest machen wollte, so mir zu Ehren angestellt werden sollte, und wovon sie die Erfinderin war. Der Einfall war nicht gut gewählt; sie verstund sich wenig auf die Schmetterlingsjagd, sonst hätte sie meine Fittige nicht frei gelassen. Aber ihr Bild machte mehr Eindruck auf mich als alle Züge von ihrem Charakter. Es ist, bei meinem Leben! schade um sie; und ich möchte wissen, was sie bei der Vorsicht, die sie doch so stark verehrt, verschuldet haben mag, daß sie in der schönsten Blüte ihres Lebens aus ihrem Vaterlande gerissen, zugrunde gerichtet, und in den elendesten Winkel der Erde geworfen werden mußte. Und was wollte das Verhängnis mit mir, daß ich der Henkerbube sein mußte, der diese Verurteilung vollzog? O ich schwör es, wenn ich jemals eine Tochter erziehe, so soll sie alle Stricke kennenlernen, womit die Bosheit unsers Geschlechts die Unschuld des ihrigen umringt! - Aber was hilft dies dir arme Sternheim? — Komm zurück, wir wollen im Frühjahre sie einmal besuchen; diesen Winter muß sie ausharren, ob sie mich schon jammert.

Einschaltung der Abschreiberin

Hier, meine Freundin, müssen Sie noch etwas von meiner Feder lesen, um eine Lücke auszufüllen, welche sich in den Papieren, wovon ich Ihnen die Auszüge mitteile, findet. Meine liebe Dame wurde nach dem Anschlag des gottlosen Lords in den Garten zu den Töchtern des Pfarrers gerufen, just, da sie eben ihren letzten Brief an meine Emilia endigte; sie steckte die ganze Rolle des Papiers zu sich, um zu verhindern, daß man nichts zum Nachteil des Lords finden möchte, ging gegen den Park zu, und da sie sich zwanzig Schritte weit an der Seite des Gartens gegen das Dorf umgesehen hatte, und niemand erblickte, ging sie zurück. Aber plötzlich zeigte sich im Park eine Weibsperson, die ihr winkte; sie eilte gegen ihr; diese Person eilte gleichfalls auf sie zu; und faßte sie an der Hand; im nämlichen Augenblicke kamen noch zwo vermummte Personen, warfen ihr eine dichte runde Kappe über den Kopf, und schleppten sie mit Gewalt fort. Ihr heftiges Sträuben, ihre Bemühung zu rufen war vergebens; man warf sie in eine Halbschäse,[16] und jagte die ganze Nacht mit ihr fort. Essen und Trinken bot man ihr in einem Walde an; sie konnte aber und mochte nichts als ein Glas Wasser nehmen! Gleich jagte man wieder weiter; äußerst traurig und abgemattet saß sie neben einer Person in Weibskleidern, von welcher sie fest umfaßt gehalten wurde; sie bat einmal auf den Knien um Erbarmen, erhielt aber keine Antwort, und wurde endlich in der Hütte eines schottischen Bleiminenknechts auf ein elendes Bette gesetzt. Dies war alles, was sie von ihrer Entführung zu sagen wußte; denn sie war beinahe sinnlos. Ihr Tagbuch kann zum Beweis dienen, wie sehr ein heftiger Schmerz des Gemüts das edelste Herz zerritten kann. Aber eben dieses Tagbuch beweist, daß, sobald ihre Kräfte sich erholten, auch die vortrefflichen Grundsätze ihrer Erziehung wieder ihre volle Wirksamkeit erhielten.
Den Kummer, in welchen durch diesen Zufall die Lady Summers gesetzt wurde, und den Jammer meiner Emilia und den meinigen über die Nachricht von ihrem Unsichtbarwerden können Sie sich leichter selbst vorstellen, als ich ihn beschreiben könnte; zumal da alles mögliche, um auf ihre Spur zu kommen, vergebens angewandt wurde. Unvermeidliche Zufälle hielten meinen Schwager den Winter durch zurück selbst nach England zu gehen, um der Lady Summers seine Vermutungen gegen Lord Derby zu entdecken; und dieser Winter war der längste und traurigste, den jemals eine kleine Familie erlebt hat, welche durch das Unglück einer innigst geliebten Freundin elend gemacht wurde.

Madam Leidens in den schottischen Bleygebürgen

Emilia! teurer geliebter Name! Ehemals warst du mein Trost und die Stütze meines Lebens, itzt bist du eine Vermehrung meiner Leiden geworden. Die klagende Stimme, die Briefe deiner unglücklichen Freundin dringen nicht mehr zu dir, alles, alles ist mir entrissen, und noch mußte mein Herz mit der Last des bittern Kummers beschweret werden, die Angst meiner Freunde zu fühlen. Beste Lady! - liebste Emilia! warum mußte euer liebreiches Herz mit in das Los von Qual der Seele fallen, welches das Verhängnis mir Unglücklichen zuwarf? - O Gott, wie hart strafest du den einzigen Schritt meiner Abweichung von dem Pfade der bürgerlichen Gesetze! -Kann meine heimliche Heurat dich beleidiget haben? -Arme Gedanken, wo irret ihr umher? Niemand höret euch, niemand wird euch lesen; diese Blätter werden mit mir sterben und verwesen; niemand als mein Verfolger wird meinen Tod erfahren, und er wird froh sein die Zeugnisse seiner Unmenschlichkeit mit mir begraben zu wissen. O Schicksal, du siehst meine Unterwerfung, du siehst, daß ich nichts von dir bitte; du willst mich langsam zermalmen; tue es - rette nur die Herzen meiner tugendhaften Freunde von dem Kummer, der sie meinetwegen beängstiget!

Dritter Monat meines Elendes

Noch einen Monat hab ich durchgelebt, und finde mein Gefühl wieder, um den ganzen Inbegriff meines Jammers zu kennen. Selige Tage, wo seid ihr, an denen ich bei dem ersten Anblick des Morgenlichts meine Hände dankbar zu Gott erhob und mich meiner Erhaltung freute? Itzt benetzen immer neue Tränen mein Auge und mit neuem Händeringen bezeichne ich die erste Stunde meines erneuerten Daseins. O mein Schöpfer, solltest du wohl die bittere Zähre meines Jammers lieber sehen, als die überfließende Träne der kindlichen Dankbarkeit?
Hoffnungslos, aller Aussichten auf Hülfe beraubt, kämpfe ich wider mich selbst; ich werfe mir meine Traurigkeit als ein Vergehen vor, und folge dem Zug zum Schreiben. Eine Empfindung von besserer Zukunft regt sich in mir. - Ach! redete sie nicht noch lauter in meinen vergangenen Tagen? - Täuschte sie mich nicht? -Schicksal! Hab ich mein Glück gemißbraucht? Hing mein Herz an dem Schimmer, der mich umgab? Oder ist der Stolz auf die Seele, die ich von dir empfing, mein Verbrechen gewesen? - Arme, arme Kreatur, mit wem rechte ich! Ich beseelte Handvoll Staubes empöre mich wider die Gewalt, die mich prüft - und erhält. Willt du, o meine Seele, willt du durch Murren und Ungeduld das ärgste Übel in den Kelch meines Leidens gießen? -Vergib, o Gott, vergib mir, und laß mich die Wohltaten aufsuchen, mit denen du auch hier mein empfindliches Herz umgeben hast.
Komm, du treue Erinnerung meiner Emilia, komm und sei Zeuge, daß das Herz deiner Freundin seine Gelübde der Tugend erneuert, daß es zu dem Wege seiner Pflichten zurückkehrt, seiner eigensinnigen Empfindlichkeit absagt, und vor den Merkmalen einer liebreichen immerdauernden Vorsicht nicht mehr die Augen verschließt. — Beinahe drei Monate sind's, daß ich durch einen betrügerischen Ruf in dem Park von Summerhall anstatt meiner gefühlvollen freundlichen Emma einem der grausamsten Menschen in die Gewalt kam, der mich Tag und Nacht reisen machte, um mich hieher zu bringen: Derby! Niemand als du war dieser Barbarei fähig! In der Zeit, wo ich für dein Vergnügen arbeitete, zetteltest du ein neues Gewebe von Kummer für mich an. — Ehre und Großmut müssen dir sehr unbekannt sein, weil du nicht denken konntest, daß sie mich deinen Augen entziehen, und mich schweigen heißen würden! Was für ein Spiel machst du dir aus der Trübsal eines Herzens, dessen ganze Empfindsamkeit du kennst? - Warum, o Vorsicht, warum mußten alle boshafte Anschläge dieses verdorbenen Menschen in Erfüllung kommen, und warum alle guten Entwürfe der Seele, die du mir gabst, in diese traurige Gebürge verstoßen werden?
Wie unstet macht die Eigenliebe den Gang unserer Tugend! Vor zween Tagen wollte mein Herz voll edler Entschlüsse geduldig auf dem dornichten Pfade meines unglücklichen Schicksals fortgehen, und meine Eigenliebe führt die Wiedererinnerung dazu, welche meine Blicke von dem Gegenwärtigen und Künftigen entfernt, und allein auf das unveränderliche Vergangene heftet. -Tugendlehre, Kenntnisse und Erfahrung sollen also an mir verloren sein, und ein niederträchtiger Feind soll die verdoppelte Gewalt haben, nicht nur mein äußerliches Ansehen von Glück wie ein Räuber ein Kleid von mir zu reißen, sondern meine Gesinnungen, die Übung meiner Pflichten, und die Liebe der Tugend selbst in meiner Seele zu zerstören?
Glückliche, ja allerglücklichste Stunde meines Lebens, in der ich mein ganzes Herz wieder gefunden habe; in welcher die selige Empfindung wieder in mir erwachte, daß auch hier die väterliche Hand meines Schöpfers für die besten Güter meiner Seele gesorget hat! Er ist es, der meinen Verstand von dem Wahnsinne errettete, welcher in den ersten Wochen sich meiner bemeistern wollte; Er gab meinen rauhen Wirten Leutseligkeit und Mitleiden für mich; das reine moralische Gefühl meiner Seele erhebt sich allmählig über die Düsternheit meines Grams; die Heiterkeit des Himmels, der diese Einöde umgibt, gießt, ob ich ihn schon seufzend anblicke, ebenso viel Hoffnung und Friede in mein Herz als der zu Sternheim, Vaels [4] und Summerhall. Diese aufgetürmten Berge reden mir von der allmächtigen Hand, welche sie schuf; überall ist die Erde mit den Zeugnissen seiner Weisheit und Güte erfüllt, und überall bin ich sein Geschöpf. Er wollte hier meine Eitelkeit begraben, und die letzten Probestunden meines Lebens sollen allein vor seinen Augen und vor dem Zeugnis meines Herzens verfließen! Vielleicht werden sie nicht lange dauern. Soll ich denn nicht suchen, sie mit dem Überrest von Tugend auszufüllen, deren Ausübung noch in meiner Gewalt geblieben ist! - Gedanke des Todes, wie wohltätig bist du, wenn du, von der Versicherung der Unsterblichkeit unserer Seele begleitet, zu uns kommst! Wie lebhaft erweckest du das Gefühl unserer Pflichten, und wie eifrig machst du unsern Willen Gutes zu tun? Dir danke ich die Überwindung meines Grams, und die erneuerten Kräfte der Tugend meiner Seele! Du machtest mich mit Lebhaftigkeit den Entschluß fassen, meine letzten Tage mit edlen Gesinnungen auszufüllen, und zu sehen, ob ich nicht auch hier Gutes tun kann.
Ja, ich kann, ich will noch Gutes tun; oh, Geduld, du Tugend des Leidenden, nicht des Glücklichen, dem alle Wünsche gewähret sind, wohne bei mir, und leite mich zu ruhiger Befolgung der Ratschlüsse des Schicksals! -Mühsam und einzeln sammlet man die Wurzeln und Kräuter, welche unsere leiblichen Übel heilen. Ebenso besorgt sollte man die Hülfsmittel unserer moralischen Krankheiten suchen; sie finden sich oft, wie jene, am nächsten Fußsteige von unserem Aufenthalt. Aber wir sind gewohnt das Gute immer in der Ferne zu suchen, und das An-der-Hand-Liegende mit Verachtung zu übersehen. Ich machte es so; meine Wünsche und meine Klagen führten meine Empfindung weit von dem, was mich umgab; wie spät erkenne ich die Wohltat, eine ganze Rolle Papier mit mir gebracht zu haben, die mir bisher in den Sammlungsstunden meines Geistes so große Dienste getan hat. War es nicht Güte der Vorsicht, die mich auf meiner beschwerlichen Reise hieher vor aller Beleidung schützte, und mir alles erhielt, was mir in den Zeiten meiner Ruhe nützen konnte?
Emilia, heilige Freundschaft, geliebtes Andenken! dein Bild steigt aus dem Schutte meiner Glückseligkeit lächelnd empor. Tränen, viele Tränen kostest du mich. -Aber komm, diese Blätter sollen dir geweihet sein! Von Jugend auf ergossen sich meine geheimsten Empfindungen in dein treues zärtliches Herz; der Zufall kann diese Papiere erhalten, sie können dir noch zukommen, und du sollst darin sehen, daß mein Herz die Tugend des deinigen, und seine Güte für mich niemals vergessen hat. Vielleicht benetzt einst die Zähre deiner freundschaftlichen Liebe diese Überbleibsel deiner unglücklichen Sophie. Auf meinem Grabe wirst du sie nicht weinen können; denn ich werde das Schlachtopfer sein, welches die Bosheit des Derby hier verscharret; und da der Gedanke an Tod und Ewigkeit meine Klagen und Wünsche endiget, so will ich dir noch den jähen Absturz beschreiben, der mich in meine frühe Grube bringt. Ich konnte es nicht eher tun; ich wurde zu sehr erschüttert, so oft ich daran dachte.
Halb leblos bin ich hier angelangt, und drei Wochen in einer Gemütsverfassung gewesen, die ich nicht beschreiben kann; was ich in dem zweiten und dritten Monat meines Aufenthalts war, zeigen die Stücke, die ich in meinen Erquickungsstunden schrieb. Urteilen Sie aber, Emilia, von der Zerrüttung meiner Empfindnisse, weil ich nicht beten konnte; ich rief auch den Tod nicht, aber, in dem vollen Gefühl des Übermaßes von Unglück, so mich betroffen, würde ich dem auf mich fallenden Blitz nicht ausgewichen sein. Ganze Tage war ich auf meinen Knien, nicht aus Unterwerfung, nicht um Gnade vom Himmel zu erflehen; Stolz, empörter Stolz war mit dem Gedanken des unverdienten Elends in meine Seele gekommen. Aber, o meine Emilia, dieser Gedanke vermehrte mein Übel, und verschloß jeder übenden Tugend meiner Umstände mein Herz; und übende Tugend allein kann den Balsam des Trosts in die Wunden der Seele träuflen. Ich empfand dieses das erstemal, als ich das arme fünfjährige Mädchen, die auf mich achthaben mußte, mit Rührung ansah, weil sie sich bemühte, meinen niedergesunknen Kopf mit ihren kleinen Händen aufzurichten; ich verstund ihre Sprache nicht, aber ihr Ton und der Ausdruck ihres Gesichts war Natur und Zärtlichkeit und Unschuld; ich schloß sie in meine Arme, und ergoß einen Strom von Tränen; es waren die ersten Trosttränen, die ich weinte, und in die Dankbarkeit meines Herzens gegen die Liebe dieses Geschöpfs mischte sich die Empfindung, daß Gott diesem armen Kinde die Gewalt gegeben hätte, mich die Süßigkeit des Mitleidens schmecken zu lassen. Von diesem Tage an rechne ich die Wiederherstellung meiner Seele. Ich fing nun an dankbar die kleinen Brosamen von Glückseligkeit aufzusammlen, die hier neben mir im Staube lagen. Meine erschöpften Kräfte, die Schmerzen, welche mir das Haberbrot verursachte, ließen mich meinen Tod nahe glauben; ich hatte keinen Zeugen meines Lebens mehr um mich; ich wollte meinem Schöpfer ein gelassenes, ihn liebendes Herz zurückgeben, und dieser Gedanke gab den tugendhaften Triebfedern meiner Seele ihre ganze Stärke wieder. Ich nahm meine kleine Wohltäterin zu mir in den armen abgesonderten Winkel, den ich in der Hütte besitze, ich teilte mein Lager mit ihr, und von ihr nahm ich die erste Unterweisung der armen Sprache, die hier geredet wird. Ich ging mit ihr in die Stube meiner Hauswirte; der Mann hatte lang in den Bleiminen gearbeitet, und ist nun aus Kränklichkeit unvermögend dazu geworden, bauet aber mit seiner Frau und Kindern ein kleines Stück Feld, das ihm der Graf Hopton nah an einem alten zerfallenen Schlosse gegeben, mit Haber und Hanf an; den Haber stoßen sie mit Steinen zum Gebrauch klein, und der Hanf muß sie kleiden. Es sind arme gutartige Leute, deren ganzer Reichtum wirklich in den wenigen Guineen besteht, welche sie für meine Verwahrung erhalten haben. Es freute sie, daß ich ruhiger wurde, und zu ihnen kam; jedes befliß sich, mir Unterricht in ihrer Sprache zu geben, und ich lernte in vierzehn Tagen so viel davon, um kurze Fragen zu machen, und zu beantworten. Die Leute wissen, wie weit sie mich außer dem Haus lassen dürfen, und der Mann führte mich an einem der letzten Herbsttage etwas weiter hinaus. Oh, wie arm ist hier die Natur! Man sieht, daß ihre Eingeweide bleiern sind. Mit tränenden Augen sah ich das rauhe magere Stück Feld, auf dem mein Haberbrot wächst, und den über mich fließenden Himmel an; die Erinnerung machte mich seufzen, aber ein Blick auf meinen abgezehrten Führer hieß mich zu mir selbst sagen: Ich habe mein Gutes in meiner Jugend reichlich genossen, und dieser gute Mann und seine Familie sind, solange sie leben, in Elend und Mangel gewesen; sie sind Geschöpfe des nämlichen göttlichen Urhebers, ihrem Körper fehlt keine Sehne, keine Muskel, die sie zum Genuß physikalischer Bedürfnisse nötig haben; da ist kein Unterschied unter uns; aber wie viele Teile der Fähigkeiten ihrer Seele schlafen, und sind untätig geblieben! Wie verborgen, wie unbegreiflich sind die Ursachen, die in unsrer körperlichen Einrichtung keinen Unterschied entstehen ließen, und im moralischen Wachstum und Handien ganze Millionen Geschöpfe zurücklassen! Wie glücklich bin ich heute noch durch den erhaltenen Anbau meines Geistes und meiner Empfindung gegen Gott und Menschen! Wahres Glück, einzige Güter, die wir auf Erde sammlen und mit uns nehmen können, ich will aus Ungeduld euch nicht von mir stoßen; ich will die Gutherzigkeit meiner armen Wirte durch meine Freundlichkeit belohnen. - Eifrig lernte ich an ihrer Sprache fort, und erfuhr beim Nachforschen über ihre manchmalige Härte gegen das junge Mädchen, daß es nicht ihr Kind, sondern des Lords Derby wäre, daß die Mutter des Kindes bei ihnen gestorben sei, und der Lord nichts mehr zu dessen Unterhalt hergäbe. Ich mußte bei dieser Nachricht in meinen Winkel; ich empfand mit Schmerzen mein ganzes Unglück wieder. Die arme Mutter! Sie war schön wie ihr Kind, und jung, und gut; - bei ihrem Grabe wird das meinige sein. O Emilia, Emilia, wie kann, o wie kann ich diese Prüfung aushalten! Das gute Mädchen kam und nahm meine Hand, die über mein armes Bette hing, während mein Gesicht gegen die Wand gekehrt war. Ich hörte sie kommen; ihr Anrühren, ihre Stimme machte mich schauern, und widerwillig entriß ich ihr meine Hand. Derbys Tochter war mir verhaßt. Das arme Mädchen ging mit Weinen an den Fuß meines Lagers und wehklagte. Ich fühlte mein Unrecht, die unglückliche Unschuld leiden zu machen; ich gelobte mir, meinen Widerwillen zu unterdrücken, und dem Kinde meines Mörders Liebe zu erweisen. Wie froh war ich, da ich mich aufrichtete und sie rief. Auf ihre kleine Brust gelehnt legte ich das Gelübte ab, ihr Güte zu erweisen. Ich werde es nicht brechen, ich hab es zu teuer erkauft!
O Derby! wie voll, wie voll machst du das Maß deiner Härte gegen mich! Heute kommt ein Bote, und bringt einen großen Pack Vorrat zur Tapezerei; niederträchtig spottet er: da mir bei Hofe die Zeit ohne Tapetenarbeit zu lang gewesen, so möchte es hier auch so sein; er schickte mir also Winterarbeit; im Frühjahre würde er es holen lassen. Es ist zu einem Kabinett; die Risse liegen dabei. - Ich will sie anfangen, ja ich will; er wird nach meinem Tode die Stücke kriegen; er soll die Überreste seiner an mir verübten Barbarei sehen, und sich erinnern, wie glücklich ich war, als er das erstemal meine Finger arbeiten sah; er wird auch denken müssen, in was für einen Abgrund von Elend er mich stürzte und darin zugrunde gehen machte.
Niemals mehr, o Schicksal! niemals mehr will ich mich dem Murren meiner Eigenliebe überlassen! Wie verkehrt heißt sie uns urteilen! Ich klagte über das, was mein Vergnügen geworden ist. Meine Arbeit erheitert meine trüben Wintertage; meine Wirte sehen mir mit roher Entzückung zu, und ich gebe ihrer Tochter Unterweisung darin. Mit frohem Stolz sah das Mädchen um sich, als sie das erste Blättchen genäht hatte. Unglück und Mangel hat schon viele erfindsam gemacht; ich bin es auch worden. Ich weiß, daß der Graf von Hopton, dem die Bleiminen zugehören, einige Meilen von hier ein Haus hat, und daß er manchmal auf einige Tage hinkömmt. Auf der letzten Reise hatte er eine Schwester bei sich, die er sehr liebt, und die als Witwe oft bei ihm ist. Auf diese Dame baue ich Hoffnungen, die mit der Dauer meines Lebens wieder rege in mir sind. Ich habe meinen Wirten den Gedanken gegeben, ihre Tochter Maria in die Dienste dieser Dame zu bringen; ich versprach sie alles zu lehren, was dazu nötig sei. Schon lehre ich sie Englisch reden und schreiben; die Tapetenarbeit kann sie, und da mich der Mangel dazu trieb, aus den Spitzen meines Halstuchs noch zwo Hauben zu machen, so hat sie auch diese Kunst gelernet; vom übrigen gebe ich ihr Unterricht bei der Arbeit. Das Mädchen ist so geschickt zum Fassen und Urteilen, daß ich oft darüber erstaune. Diese soll mir den Weg zur Freiheit bahnen; denn durch sie hoffe ich der Lady Douglaß bekannt zu werden. O Schicksal, laß mir diese Hoffnung!
Ich will meiner Emilia noch ein Nebenstück meines quälenden Schicksals erzählen. Sie wissen, wie reinlich ich immer in Wäsche war, und hier zog ich mich, ich weiß nicht wie lang, gar nicht aus; endlich kam mit meiner Überlegung das Mißvergnügen über den Kleidermangel, und beim Nachdenken war ich sehr froh, daß ich bei meiner Entführung ein ganz weißes Leinenkleid anhatte, welches ich gleich auszog, und der modischen Üppigkeit für die vielen Falten dankte, die sie darin gemacht hatte; denn ich konnte füglich drei Hemden daraus schneiden, und ein kurz Kleid daneben behalten; meine Schürze machte ich zu Halstüchern, und aus dem ersten Rock Schürzen, so daß ich mit ein wenig leichter Lauge meine Kleidung recht reinlich halten kann, und abzuwechseln weiß. Ich plätte sie mit einem warmen Stein. Die kleine Lidy hab ich auch nähen gelernt, und sie macht recht artige Stiche in meinem Tapetengrund. Meine Wirte säubern ihre Wohnung mir zulieb' alle Tage sehr ordentlich, und mein gekochtes Haberbrot fängt an mir wohl zu bekommen. Die Bedürfnisse der Natur sind klein, meine Emilia; ich stehe satt von dem magern Tische auf, und meine Wirte hören mich mit Erstaunen von den übrigen Teilen der Welt erzählen. Ich habe die Bildnisse meiner Eltern noch; ich wies sie den Leuten, und erzählte ihnen von meiner Erziehung und ehemaligen Lebensart, was sie fassen konnten, und ihnen gut war. Ungekünstelte mitleidige Zähren träufelten aus ihren Augen, da ich von meinem genossenen Glücke sprach, und ihnen die Geduld erklärte, die wirklich in meinem Herzen ist. Ich rede wenig von Ihnen, meine Liebe! Ich bin nicht stark genug, oft an Ihren Verlust zu denken, an Ihren Kummer um mich zu denken. Könnte ich durch mein Leiden nur Ihres um mich, und meiner gütigen Lady ihres loskaufen, ich wollte mich bemühen nicht mehr zu sagen, daß ich leide; aber das Schicksal wußte, was mich am meisten quälen würde; es wußte, daß mich meine Unschuld und meine Grundsätze trösten und beruhigen würden, es wußte, daß ich Armut und Mangel ertragen lernen würde; daher gab es mir das Gefühl von dem Weh meiner Freunde, ein Gefühl, dessen Wunde unheilbar ist, weil es ein Vergehen wäre, wenn ich mich davon loszumachen suchte. - Wie glücklich machte mich dieses Gefühl ehemals, da ich im Besitz meiner Güter jeden belauschten Wunsch meiner Freunde befriedigen, und jeden bemerkten Schmerzen lindern konnte. Zwei Jahre sind es, daß ich glänzend unter den schimmernden Haufen trat, und Aussichten von Glück vor mir hatte, mich geliebt sah, und wählen oder verwerfen konnte. - O mein Herz, warum hütetest du dich so lange vor dieser Erinnerung! Niemals mehr getrautest du dir den Namen Seymour zu denken, nun fragst du, was würde er sagen? und weinst — Vergessenheit! Oh! nimm diesen Teil weg, laß ihn nimmer in mein Gedächtnis kommen; - sein Herz kannte das meine für ihn niemals, und nun ist es zu spät! - Mein Papier, ach Emilia, mein Papier geht zu Ende; ich darf nun nicht mehr viel schreiben; der Winter ist lange; ich will den Überrest auf Erzählung meiner noch dunklen Hoffnungen erhalten. O mein Kind! einige Bogen Papier waren mein Glück, und ich darf es nicht mehr genießen! Ich will Cannevas [17] sparen und Buchstaben hinein nähen.

Im April

O Zeit, wohltätigstes unter allen Wesen, wie viel Gutes hab ich dir zu danken! Du führtest allmählig die tiefen Eindrücke meiner Leiden und verlornen Glückseligkeit von mir weg, und stelltest sie in den Nebel der Entfernung, während du eine liebreiche Heiterkeit auf die Gegenstände verbreitetest, die mich umgeben. Die Erfahrung, welche du an der Hand führest, lehrte mich die übende Weisheit und Geduld kennen. Jede Stunde, da ich mit ihnen vertrauter wurde, verminderte die Bitterkeit meines Grams. Du, alle Wunden des Gemüts heilende Zeit, wirst auch den Balsam der Beruhigung in die Seele meiner wenigen Freunde gießen, und sie in Umstände setzen, worin sie die frohen Aussichten ihres Geschickes ohne den vergällenden Kummer um mich genießen können. Du hast die Trostgründe der Güte meines Schöpfers, die das geringste Erdwürmchen unter den Schutz kleiner Sandkörner begleitet, wieder in meine Seele gerufen; du hast mich sie in diesen rauhen Gebür-gen finden lassen, den Gebrauch meiner Kenntnisse in mir erneuert, und die im Schöße des Glückes schlafenden Tugenden erweckt und geschäftig gemacht. Hier, wo die physikalische Welt wenige Gaben sparsam unter ihre traurigen Bewohner austeilt, hier habe ich den moralischen Reichtum von Tugenden und Kenntnissen in der Hütte meiner Wirte verbreitet, und mit ihnen genieße und koste ich ihre Süßigkeit. Von allem, was den Namen von Glück, Ansehen und Gewalt führt, völlig entblößt, mein Leben den Händen dieser Fremdlinge anvertraut, wurde ich ihre moralische Wohltäterin, indem ich ihre Liebe zu Gott erweiterte, ihren Verstand erleuchtete, und ihre Herzen beruhigte, da ich durch Erzählungen von andern Weltteilen und von den Schicksalen ihrer Einwohner in den Erholungsstunden meiner armen Wirte Vergnügen um sie hergoß. Ich habe die traurigen unschuldsvollen Tage einer doppelt unglücklichen Waise durch Liebe, Sorge und Unterricht mit Blumen bestreut; von dem Genüsse alles dessen, was die Menschen als Wohlsein betrachten, entfernt, genieße ich die wahren Geschenke des Himmels, die Freude wohlzutun und die Ruhe des Gemüts als Früchte der wahren Menschenliebe und erfahrner Tugend. - Reine Freude, wahre Güter! ihr werdet mich in die Ewigkeit begleiten, und für euren Besitz wird meine Seele das erste Danklied anstimmen.

Zu Ende des Brachmonats [18]

Emilia, haben Sie sich jemals in den Platz eines Menschen stellen können, der in einem elenden Kahn auf der stürmenden See ängstlich sein Leben fühlt, und mit zitternder Hoffnung hin und her um Anschein der Hoffnung sieht? Lange stoßen ihn die Wellen herum, und lassen ihn Verzweiflung fühlen; endlich erblickt er eine Insel, die er zu erreichen hofft, mit gefalteten Händen ruft er: O Gott, ich sehe Land! - Ich, mein Kind, ich fühle alles dieses; ich sehe Land. Der Graf von Hopton ist in seinem Haus auf dem Gebürge, und Lady Douglaß, seine Schwester, hat die Tochter meiner Wirtin zu sich genommen. Sie ging mit ihrem Bruder und einer Tapete zur Lady, ihre Dienste anzubieten. Voller Verwunderung über ihre Arbeit und ihre Antworten hat die Lady gefragt, wer sie unterrichtet hätte, und das dankbare Herz des guten Mädchens erzählte ihr von mir, was sie wußte und empfand. Die edle Dame wurde bis zu Tränen gerührt; sie versprach dem Mädchen sogleich sie zu nehmen, ließ den jungen Leuten zu essen geben, und schickte den Sohn allein nach Hause mit zwo Guineen für seine Eltern und dem Versprechen: sie wollte vor ihrer Abreise noch selbst zu ihnen kommen. Mich ließ sie besonders grüßen und für meine Mühe mit ihrem Mädchen segnen. Ich habe sie um Papier, Feder und Dinte bitten lassen; ich will mich dieser Gelegenheit bedienen, um an meine Lady Summers zu schreiben; aber ich will der Lady Douglaß den Brief offen geben, um ihr meine Aufrichtigkeit zu zeigen. Ich würde strafbar sein, wenn ich nicht alle Gelegenheit anwendte, um meine Freiheit zu erlangen, da sich edle Mittel dazu anbieten. Ich will auch den Lord Hopton um seine Gnade für meine armen Wirte bitten; die guten Leute wissen sich vor Freude über die Versorgung ihrer Tochter und über das Geld, so sie bekommen haben, nicht zu fassen; sie liebkosen und segnen mich wechselsweise. Meine Waise lasse ich nicht zurück; das Kind würde nun, da ich sie an gutes Bezeigen gewöhnt habe, durch den Verlust doppelt unglücklich sein, und alle meine Tage würden durch ihr Andenken beunruhiget, wenn ich zum Glücke zurückkehrte, und sie dem offenbaren Elend zum Raube ließe.
Oh! Meine Freundin, es war Vorbedeutung, die mich in meinem letztern Blatte das Gleichnis eines auf der tobenden See irrenden Kahns finden ließ; ich war bestimmt die höchsten Schmerzen der Seele zu fühlen, und dann in dem Augenblick der Hoffnung zu sterben. Die unaussprechliche Bosheit meines Verfolgers reißt mich dahin, wie eine schäumende Welle Kahn und Menschen in den Abgrund reißt. Diese Gewalt wurde ihm gelassen, und mir alle Hülfsmittel entzogen; bald wird ein einsames Grab meine Klagen endigen, und meiner Seele die Endzwecke zeigen, warum ich dieses grausame Verhängnis erdulden mußte. Ich bin ruhig, ich bin zufrieden; mein letzter Tag wird der freudigste sein, den ich seit zwei Jahren hatte. Ihnen, meine bis in den letzten Augenblick zärtlich geliebte Freundin, wird die Lady Summers mein Paquet Papiere schicken, und Ihr Herz bei dem Gedanken, daß alles mein Leiden sich in einer seligen Ewigkeit verloren hat, beruhiget werden. Meine letzten Kräfte sind Ihnen gewidmet. Sie waren die Zeugin meines glücklichen Lebens; Sie sollen auch, so viel ich es tun kann, von dem Ende meiner trübseligen Tage wissen.
Ich war voller Hoffnungen und mit fröhlichen Aussichten umgeben, als der vertrauteste Bösewicht des Derby anlangte, um mir den verhaßten Vorschlag zu tun; ich sollte mich zu dem Lord nach London begeben; er liebe seine Gemahlin nicht, wäre auch selbst kränklich geworden, und halte sich meistens auf einem Landhause zu Windsor auf, wo ihm mein Umgang sehr angenehm sein würde. Er selbst schrieb in einem Billet: wenn ich freiwillig kommen wollte und ihn lieben würde, so denke er, sich von Lady Alton scheiden zu lassen, und unsere Heurat zu bestätigen, wie es die Gesetze und meine Verdienste erfoderten; aber wenn ich aus einer meiner ehemaligen Wunderlichkeiten diesen Vorschlag verwerfe, so möchte ich mir mein Schicksal gefallen lassen, wie er es für gut finden würde. - Dies mußte ich anhören, denn lesen wollte ich das Billet nicht; das Ärgste von dieser unerträglichen Beleidigung war, daß ich den unseligen Kerl sehen mußte, durch dessen Hand meine falsche Verbindung geschehen war. Auf das äußerste betrübt und erbittert verwarf ich alle diese unwürdigen Vorschläge, und der Barbar rächte seinen Herrn, indem er mich nach der zweiten förmlichen Absage mit der heftigsten Bosheit beim Arm und um den Leib packte, zum Hause hinaus gegen den alten Turm hinschleppte, und mit Wüten una Fluchen zu einer Türe hineinstieß, mit dem Ausdruck, daß ich da krepieren möchte, damit sein Herr und er einmal meiner loswürden. Mein Sträuben und die entsetzliche Angst, so ich hatte, ich möchte mit Gewalt nach London geführet werden, hatte mich abgemattet, und halb von Sinnen gebracht; ich fiel nach meiner ganzen Länge in das mit Schutt und Morast angefüllte Gewölbe, wo ich auf den Steinen meine linke Hand und das halbe Gesicht beschädigte, und heftig aus der Nase und Mund blutete. Ich weiß nicht, wie lang ich ohne Bewußtsein dalag; als ich mich wieder fühlte, war ich ganz entkräftet und voll Schmerzen; die faule dunstige Luft, die ich atmete, beklemmte in kurzer Zeit meine Brust so sehr, daß ich an dem letzten Augenblicke meines Lebens zu sein glaubte. Ich sah nichts, aber ich fühlte mit der einen Hand, daß der Boden stark abhängig war, und besorgte daher bei der geringsten Bewegung gar in einen Keller zu fallen, wo ich nicht ohne Verzweiflung meinen Geist aufgegeben hätte. Mein Jammer und die Empfindungen, die ich davon hatte, ist nicht zu beschreiben; die ganze Nacht lag ich da; es regnete stark; das Wasser schoß unter der Türe herein auf mich zu, so daß ich ganz naß und starr wurde, und von meinem Unglück gänzlich darnieder geschlagen, mir den Tod wünschte. Ich bekam, wie mich deucht, innerliche Zückungen. So viel weiß ich noch; als ich mich wieder besinnen konnte, war ich auf meinem Bette, um welches meine armen furchtsamen Wirte stunden, und wehklagten. Meine Waise hatte meine Hand und ächzte ängstlich; ich fühlte mich sehr übel, und bat die Leute, mir den Geistlichen des Grafen von Hopton zu holen, weil ich sterben würde. Mit aufgehobenen Händen bat ich sie; der Sohn ging fort, und die Eltern erzählten mir, daß sie mir nicht hätten helfen dürfen, bis Sir John (wie sie ihn nannten) abgereiset gewesen wäre. Schreckliches Los der Armut, daß sie selten Herz genug hat, sich der Gewalt des reichen Lasters entgegenzusetzen! Der Regen hatte den Bösewicht aufgehalten, doch, sagen sie, sei er noch an die Türe des Turms gegangen, hätte sie aufgemacht und gehorcht, den Kopf verdrießlich in die Höhe geworfen, und ohne die Türe zuzuschließen, oder ihnen noch etwas zu sagen, wäre er davongegangen. Sie hätten aus Furcht vor ihm noch eine Stunde gewartet, und wären dann mit einem Licht zu mir gekommen, da sie mich denn für tot angesehen und herausgetragen hätten. Der Geistliche kam, und die Lady Douglaß mit ihm; beide betrachteten mich aufmerksam und mitleidend. Ich reichte der Lady meine Hand, der sie die ihrige mit Güte entgegengab. »Edle Lady«, sagte ich mit tränenden Augen, »Gott wird diese menschenfreundliche Bemühung um mich an Ihrer Seele belohnen; glauben Sie nur auch, daß ich es würdig bin.« Ich bemerkte, daß ihre Augen auf meine Hand und das Bildnis meiner Mutter geheftet waren; - da sagte ich ihr, »es ist meine Mutter, eine Enkelin von Lord David Watson - und hier«, indem ich die andere Hand erhob, »ist mein Vater, ein würdiger Edelmann in Deutschland; schon lange sind beide in der Ewigkeit, und bald, bald hoffe ich, bei ihnen zu sein«, setzte ich mit gefalteten Händen hinzu. Die Dame weinte, und sagte dem Geistlichen, er solle meinen Puls fühlen; er tat's, und versicherte, daß ich sehr übel wäre. Mit liebreichem Eifer sah sie um sich, und fragte, ob ich nicht weggebracht werden könnte. »Nicht ohne Lebensgefahr«, sagte der Geistliche. »Ach das ist mir leid«, sprach die liebe Dame, indem sie mir die Hand drückte. Sie ging hinaus, und der Geistliche fing an mit mir zu reden; ich sagte ihm kurz, daß ich aus einer edlen Familie stammte, und durch den schändlichen Betrug einer falschen Heurat aus meinem Vaterlande gerissen worden sei; Mylady Summers, unter deren Schutz ich gestanden, könnte ihnen Zeugnisse von mir geben. Ich hieß ihn zugleich die Papiere nehmen, welche ich an sie geschrieben hatte, und die hinter einem Brette lagen. Ich setzte selbst ohne sein Fragen ein Bekenntnis meiner Grundsätze hinzu, und bat ihn, sich mit Ihrem Mann im Briefwechsel einzulassen. Die Dame klopfte an, und kam mit Maria, der Tochter meiner Wirte, die eine Schachtel trug, zu meinem Bette. Sie hatte allerlei Labsale und Arzneien darin, wovon sie mir gab.
Die kleine Lidy kam auch herein, und warf sich bei meinem Bette auf die Knie. Die Dame betrachtete das Mädchen und mich mit zunehmender Traurigkeit. Endlich nahm sie Abschied, ließ die Maria bei mir, und der Geistliche versprach, den Morgen wieder dazusein. Aber er kam den ganzen Tag nicht; doch wurde zweimal nach mir gefragt. Ich war diesen Morgen besser, als ich gestern gewesen war; daher schrieb ich Ihnen. Nun ist's bald sechs Uhr abends, und ich werde zusehends schlechter; meine zitternde ungleiche Schrift wird es Ihnen zeigen. Wer weiß, was heute nacht aus mir wird; ich danke Gott, daß ich sterblich bin, und daß. mein Herz mit dem Ihrigen noch reden konnte. Ich bin ganz gefaßt, und dem Augenblicke nah, wo Glück und Elend gleichgültig ist. -

Nachts um neun Uhr

Das letztemal, meine Emilia, habe ich meine schwachen entkräfteten Arme nach der Gegend ausgestreckt, wo Sie wohnen. Gott segne Sie, und belohne Ihre Tugend und Ihre Freundschaft gegen mich! Sie werden ein Papier bekommen, das Ihr Mann meinem Oncle, dem Grafen R., selbst übergeben soll. Es betrifft meine Güter. Alles, was von der Familie von P. da ist, soll des Grafen Löbaus Söhnen gegeben werden. Ihr Schwager, der Amtmann, hat das Verzeichnis davon. Was ich von meinem geliebten Vater habe, davon soll die Hälfte zu Erziehung armer Kinder gewidmet sein. Einen Teil der andern Hälfte gebe ich Ihren Kindern und meiner Freundin Rosina. Von dem andern Teil soll meinen armen hiesigen Hauswirten tausend Taler, und der unglücklichen Lidy auch so viel gegeben, von dem Überrest aber mir zu den Füßen der Grabmäler meiner Eltern ein Grabstein errichtet werden, mit der simplen Aufschrift:

Zum Andenken ihrer nicht unwürdigen
Tochter, Sophia von Sternheim -

Ich will hier unter dem Baume begraben werden, an dessen Fuß ich dieses Frühjahr oft gekniet, und Gott um Geduld angeflehet habe. Hier, wo mein Geist gemartert wurde, soll mein Leib verwesen. Es ist auch mütterliche Erde, die mich decken wird; bis ich einst in verklärter Gestalt unter den Reihen der Tugendhaften treten, und auch Sie, meine Emilia, wiedersehen werde. Rette indessen, o meine Freundin, rette mein Andenken von der Schmach des Lasters! Sage: daß ich der Tugend getreu, aber unglücklich, in den Armen des bittersten Kummers, meine Seele voll kindlichen Vertrauens auf Gott, und voll Liebe gegen meine Mitgeschöpfe ihrem Schöpfer zurückgegeben, daß ich zärtlich meine Freunde gesegnet, und aufrichtig meinen Feinden vergeben habe. Pflanzen Sie, meine Liebe, in Ihrem Garten eine Zypresse, um die ein einsamer Rosenstock sich winde, an einem nahen Felsstein. Weihen Sie diesen Platz meinem Andenken; gehen Sie manchmal hin; vielleicht wird es mir erlaubt sein, um Sie zu schweben, und die zärtliche Träne zu sehen, mit der Sie die abfallende Blüte der Rose betrachten werden. Sie haben auch mich blühen und welken gesehen; nur das letzte Neigen meines Haupts und den letzten Seufzer meiner Brust entzog das Schicksal Ihrem Blick. - Es ist gut, meine Emilia; du würdest zu viel leiden, wenn du mich sehen könntest. - Der Grund meiner Seele ist lauter Ruhe; ich werde sanft einschlafen, denn das Verhängnis hat mich müde, sehr müde gemacht. Lebe wohl, beste freundschaftliche Seele; laß deine Tränen um mich ruhig sein, wie die, die um dich in meinen trüben Augen schwimmet. —

Lord Seymour an Doktor T.

0 Gott, warum hindert Ihre Krankheit Sie, mich auf zween Tage zu sehen! Ich bin dem Unsinn und der Wut ganz nahe. Mein Bruder Rich, den Sie noch aus dem Hause des ersten Gemahls meiner Mutter kennen, ist mit aller seiner stoischen Philosophie, durch eben den Streich zur Erde gedrückt. In zween Tagen reisen wir in die schottischen Bleygebürge, um - 0 tötender Gedanke! um das Grab des ermordeten Fräuleins von Sternheim aufzusuchen, und ihren Körper in Dumfries prächtig beerdigen zu lassen. - Wie konntest du, ewige Vorsicht, wie konntest du dem verruchtesten Bösewicht das Beste, so du jemals der Erde gabst, preisgeben? Meine Leute machen Anstalten zu unserer Reise; ich kann nichts tun; ich ringe meine Hände wie ein tobender Mensch, und schlage sie tausendmal wider meine Brust und meinen Kopf. Derby, der Elende! hat die Frechheit zu sagen, um meinetwillen, aus Eifersucht über mich habe er das edelste, liebenswürdige Geschöpfe betrogen, unglücklich gemacht, und getötet. Er beheult es nun, der wütende Hund, er beheult es. Seine Ruchlosigkeit hat ihn an den Rand des frühen Grabes geführet, vor welchem er zittert, und das ihn vor der Rache schützt, die ich an ihm ausüben würde. Hören Sie, mein Freund, hören Sie das Fürchterlichste, so jemals der Tugend begegnete, und das Ärgste, so jemals die Bosheit ausüben konnte. - Sie wissen, daß ich vor vier Monaten krank mit Mylord Crafton nach England zurückkam, und gleich zu meiner Frau Mutter nach Seymour-House ging, dem Übel meines Körpers und meiner Seele nachzuhängen. Ich fragte endlich nach Derby, itzo Lord N., man sagte mir, daß er auf seinem Landhause zu Windsor krank liege. Ich wollte seine und meine Genesung abwarten; aber etliche Tage nach meiner Frage um ihn ließ er mich zu sich bitten. Ich war nicht wohl, und schlug es ab. Einige Tage hernach reisete ich zu meinem Bruder Rich, den ich freundschaftlich ebenso finster fand, als ich es selbst war. Die brüderliche Vertraulichkeit wurde ohnehin schon durch die funfzehn Jahre gehindert, die er älter ist als ich, und seine trockne Stille munterte mich nicht auf, eine Erleichterung bei ihm zu suchen. Wir brachten vierzehn Tage hin, ohne von was anders als unsern Reisen, und auch dieses nur abgebrochen, zu reden; bis wir endlich in einer Minute zur offenherzigen Sprache kamen, da ein Kammerdiener von Lord N. einen Brief an mich brachte, worin er mich bat, mit Lord Rich zu ihm zu kommen, in einer Sache, welche das Fräulein Sternheim beträfe; ich sollte dem Lord Rich nur sagen, daß es die Dame wäre, welche er bei Lady Summers gesehen, und welche von da entführt worden sei. Ich fuhr wie aus einem schreckenden Traume auf, und schrie nur dem Kerl zu, ich würde kommen. Meinen Bruder packte ich beim Arme, und fragte ihn auf eine hastige Art nach der jungen Dame, die er in Summerhall gesehen. Mit Bewegung fragte er: ob ich sie kenne, und was ich von ihr wisse? - Ich zeigte ihm das Billet, und erzählte ihm kurz von allem, was das ewig teure geliebte Fräulein anging; ebenso kurz, so unterbrochen, erzählte er, wie er sie gesehen und geliebt hätte; zing, mir ein Bildnis von ihr zu holen, und konnte mir nicht genug von ihrem Geiste, von ihren edlen Gesinnungen, von der Traurigkeit, womit sie beladen gewesen, sagen, besonders zur Zeit, da Derbys Heurat mit Lady Alton bekannt worden. Wir waren bald entschlossen, abzureisen, und kamen in Windsor an; Lord Rich tiefsinnig, aber gesetzt; ich voll Unruh, voller Vorsätze und Entschlüsse. Schauer und Hitze eines wütenden Fiebers befielen mich beim Eintritt in Derbys Haus. Mein Haß gegen ihn war so aufgebracht, daß ich seines elenden Aussehens und der sichtbaren Schwachheit, die ihn im Bette hielt, nicht achtete. Mit stummer Feindseligkeit sah ich ihn an; er heftete seine erstorbenen Augen mit einem flehenden Blick auf mich, und streckte seine abgezehrte, rotbrennende Hand gegen mich. »Seymour«, sagte er, »ich kenne dich; aller Haß deines Herzens liegt auf mir; - aber du weißt nicht, wie viel wütende Szenen in dieser Brust wegen dir entstanden sind.« Ich hatte ihm meine Hand nicht gegeben, und sagte mit Widerwillen und trotzigem Kopfschütteln: »Ich weiß keinen Anlaß dazu als die Ungleichheit unserer Grundsätze.« Derby antwortete: »Seymour! diesen Ton hättest du nicht, wenn ich gesund wäre, und der Stolz, mit dem du von deinen Grundsätzen sprichst, ist ein ebenso großes Vergehen als der Mißbrauch, den ich von meinen Talenten machte.« Lord Rich fiel ein: daß von allem diesen die Frage nicht sein könnte, und daß Lord Derby nur Nachricht von der entführten Dame geben möchte. »ja, Lord Rich, Sie sollen sie haben«, sagte er; »es liegt mehr Menschlichkeit in Ihrer Kälte als in Seymours kochender Empfindlichkeit. Er mag Ihnen sagen, was in der ersten Zeit unserer Bekanntschaft mit dem Fräulein von Sternheim vorging. Wir liebten sie beide zum Unsinn; aber ich bemerkte zuerst ihren vorzüglichen Hang für ihn, und wandte alles an, ihn zu zerstören. Durch Verstellung und Ränke zelun2 es mir, sie unter der Verfolgung des Fürsten und'der ~ummen Bedenklichkeit des Seymours durch eine falsche Vermählung in meine Gewalt zu bekommen. Aber mein Vergnügen dauerte nicht lange; ihr zu ernsthafter Charakter ermüdete mich, und ihre geheime Neigung gegen Seymour regte sich, sobald nur meine Gedanken im geringsten von dem ihrigen entfernet waren. Die Eifersucht machte mich rachgierig, und die Veränderung meiner Umstände, durch den Tod meines Bruders, gab mir Anlaß sie auszuüben. Ich verließ sie; doch reute es mich wenige Tage hernach, und ich schickte nach dem Dorfe, wo sie sich aufgehalten hatte, aber sie war fort. Lange wußte ich nichts von ihr, bis ich sie in England bei der Tante meiner Lady fand, wo ich sie nicht lassen konnte, und entführen ließ. Es jamrnerte mich ihrer schon damals, aber es war kein anders Mittel. - Mein Mißvergnügen mit der Lady Alton brachte die Sternheim in meine Erinnerung zurück. Ich dachte: sie ist mein, und um von dem elenden Leben im Gebürge loszuko mmen, wird sie gern in meine Arme eilen. Ich dachte es um so Mehr, als ich wußte, daß sie mein von der Nancy Hatton zurückgelassenes Mädchen liebreich besorgte und erzog; ich schrieb es einer Art Neigung zu, und schickte ihr darauf mit angenehmen Vorschlägen meinen vertrauten Kerl ab; aber sie verwarf alles mit äußerstem Stolz und Bitterkeit.« Hier hielt er mit Stocken und Bewegung inne, sah bald mich, bald den Lord Rich an, bis ich mit stampfenden Füßen und mit Schreien den Verfolg seiner Erzählung foderte. - »Seymour! - Rich!« sagte er mit tiefen traurigen Ton, mit ringenden Händen und stotternd, »0 Wäre ich Elender selbst hin, und hätte ihre Vergebung und Liebe erflehet! Mein Kerl, der Hund, wollte sie zwingen zurückzugehen. - Er wußte, wie glücklich mich ihre Gesellschaft gemacht hätte - er sperrete sie in ein altes verfallenes Gewölbe, worin sie zwölf Stunden lag, und - aus Kummer starb.« - »Sie starb«, schrie ich, »Teufel! Unmensch! Und du lebst noch nach diesem Mord? - Du lebst noch?« Lord Rich sagt, ich hätte die Stimme und das Ansehen der Raserei gehabt. Er fiel mir in die Arme, und riß mich weg in ein anderes Zimmer, lange brauchte er, mich zu besänftigen und zu dem Versprechen zu bringen, daß ich nicht reden wollte. - Er sagte: »Derby liegt auf der Folter der Reue und der Erinnerung unwiederbringlicher übel verwendeter Lebenstage; willt du deine Hand an den Gegenstand des göttlichen Gerichts legen? Glaube, mein Bruder, aller unser Schmerz ist süß gegen die Pein seiner Seele. - Mein Herz blutet über das unglückliche Schicksal der Sternheim; aber die Tugend und die Natur rächet sie an ihrem Verfolger; laß mich ihn, ich bitte dich, noch fragen, was er von uns gewollt hat; überwinde dich, sei großmütig, sei auch gegen das unglückliche Laster mitleidig!« Ich versprach's ihm, wollte aber bei der Unterredung zugegen sein. - Der elende Mensch heulte, da wir wieder zu ihm kamen, und foderte, daß wir nach Schottland reisen, den Körper des Engels ausgraben lassen, und ihn in einen zinnernen Sarg zu Dumfries beisetzen lassen sollten. Zweitausend Guineen will er auf ihr Grabmal verwenden, worauf die Beschreibung ihrer Tugenden und ihres Unglücks neben den Merkmalen seiner ewigen Reue aufgezeichnet werden soll. Er bat uns, nach D. Bericht davon zu geben; übergab uns alle Briefe, die er über sie an seinen Freund B. geschrieben hatte, und flehte uns, ihm zu schwören, daß wir unverzüglich abreisen wollten, damit er noch den Trost erleben möchte, daß dem Andenken der edelsten Seele eine öffentliche Ehrenbezeugung widerfahren sei. - Lord Rich redete ihm hierauf wenige pathetische Worte zu, und ich bezwang meinen mit der Wut kämpfenden Kummer; wir reisten sogleich ab; - morgens gehen wir nach Dumfries. - Was für eine Reise! - 0 Gott, was für eine Reise! -

Lord Rich aus den Bleygebürgen an Doktor T.

Ich glaube, Sie kennen mich nicht mehr, aber die starke Seite meiner Seele ist mit der Ihrigen verwandt, und Seymour ist mein Bruder. Von diesem und von dem Gegenstand seiner Schmerzen soll ich Ihnen reden. Wir kamen heute abend hier an; unsere Reise war traurig, und jeder nähernde Schritt zu dieser Gegend beklemmte unser Herz. Die ganze Erde hat keinen Winkel mehr, der so elend, so rauh sein kann wie der Zirkel um diese Hütte. Mit Grausamkeit hat das Schicksal in dieser Landschaft dem boshaftesten unter allen Menschen die Hand geboten, die empfindsamste Seele zu martern. Wenn ich an die edle kindliche Bewegung ihres Herzens denke, die sie bei den Schönheiten der Natur gegen ihren Schöpfer zeigte, so fühle ich das Maß des Leidens, so diese unfruchtbare Steine für sie enthielten; - und die Hütte, worin sie eine so lange Zeit wohnte, ihre arme Lagerstätte, wo sie den edelsten Geist aushauchte, der jemals eine weibliche Brust belebte. - O Doktor! selbst Ihr theologischer Geist würde, wie mein philosophischer Mut, in Tränen ausgebrochen sein, wenn Sie dieses, wenn Sie den Sandhügel gesehen hätten, der an dem Fuße eines einsamen magern Baums die Überbleibsel des liebenswürdigsten Frauenzimmers bedeckt. Der arme Lord Seymour sank darauf hin, und wünschte seine Seele da auszuweinen und neben ihr begraben zu werden; ich mußte ihn mit unsern zween Leuten davon wegziehen. Im Hause wollt' er sich auf ihr Sterbebette werfen; ich ließ es aber wegnehmen, und führte ihn auf den Platz,, wo die Leute sagen, daß sie meistens gesessen wäre; da liegt er seit zwo Stunden, unbeweglich auf seine Arme
gestützt, sieht und hört nichts. Die Leute scheinen mir eine guten Leute zu sein; ich fürchte, sie haben ihre Hände auch zu dem Einkerkern geboten. Sie sehen scheu aus; sie beredeten sich schon etlichemal vor der Hütte allein, haben auf meine Fragen nach der Dame kurz und verwirrt geantwortet, und waren sehr betroffen, wie ich sagte, das Grab müßte morgen geöffnet werden. Ich zittre selbst davor; ich befürchte Merkmale eines gewaltsamen Todes zu finden. Was würde da aus meinem Bruder werden? Ich sage nichts von mir selbst; ich verberge meinen Jammer, um Seymours seinen nicht zu vergrößern, aber gewiß hat die Angst des Untergangs in einem Sturm, und die Qual eines lechzenden Durstes in den sandigten Gegenden von Asien meine Seele nicht so heftig angegriffen als der Gedanke an den Leiden dieses weiblichen Engels. Mein Bruder ist aus Mattigkeit eingeschlafen, er liegt auf den Kleidern unsrer Leute, die sie auf den Boden gebreitet haben; immer fährt er auf, und stößt ächzende Seufzer aus; doch beruhiget mich unser Wundarzt wegen seiner Gesundheit. Ich kann nicht schlafen, der morgende Tag quält mich voraus; ich sammle Mut, um Seymourn zu stützen, aber ich bin selbst wie ein Rohr, und ich fürchte bei dem Anblick dieser Leiche, mit ihm zu sinken. Denn ich liebte sie nicht mit der jugendlich aufwallenden Leidenschaft meines Bruders; meine Liebe war von der Art Anhänglichkeit, welche ein edeldenkender Mann für Rechtschaffenheit, Weisheit, und Menschenliebe fühlt. Niemals hab ich Verstand und Empfindungen so moralisch gesehen, als beide in ihr waren; niemals das Große mit einem so richtigen Maß wahrer Würde, und das Kleine mit einer so reizenden Leichtigkeit behandeln gesehen. Ihr Umgang hätte das Glück eines ganzen Kreises geistvoller und tugendliebender Personen gemacht; - und hier mußte sie unter aufgetürmten Steinen, bei ebenso gefühllosen Menschen, unter der höchsten Marter des Gemüts, ihren schönen Geist aufgeben! O Vorsicht! du siehst die Frage, welche in meiner Seele schwebt; aber du siehst auch die Ehrerbietung für das Unergründliche deiner Verhängnisse, welche ihren Ausdruck zurückhält! -

Fortsetzung den zweiten Tag

Doktor - Menschenfreund! nehmen Sie teil an unserer Freude. Der Engel, Sternheim, lebt noch. Eine göttliche Schickung hat sie erhalten. Seymour weint Tränen der Freude, und umfaßt die armen Wirte dieser Hütte unaufhörlich. Vor einer Stunde schleppten wir uns bleich, traurig, mit einer Totenstille gegen den kleinen Garten, wo man uns gestern das Grab gewiesen hatte. Der Mann und sein Sohn gingen unentschlossen und mit einem merklichen Widerwillen mit uns. Als wir nahe an der Stelle des Sandhügels waren, und ich den Leuten kurz sagte - grabt auf - sank mein Bruder an meinen Hals, und umfaßte mich, indem er mit Schmerz »o Rieh!« ausrief, und seinen Kopf auf meiner Achsel verbarg. Diese Bewegung von ihm, just da die erste Schaufel voll Sand durch einen meiner Leute vom Grab gehoben wurde, durchbohrte meine Seele; ich schloß meine Arme um ihn, und erhob meine Augen zum Himmel, um Stärke für ihn und mich zu erflehen. Den nämlichen Augenblick aber fielen Mann, Frau, und Sohn vor uns auf die Knie, und baten um unsern Schutz. Ich geriet in die äußerste Bestürzung, weil ich mich vor der Entdeckung eines an der Dame verübten Mords fürchtete. »Leute! was wollt ihr, was soll euer Rufen um Schutz?« -»Wir haben unsern Lord betrogen«, riefen sie; »die Frau ist nicht gestorben, sie ist fort.« - »Wohin, Leute, wohin«, rief ich; »betrügt ihr uns nicht?« - »Nein, guter Lord, sie ist bei des Grafen Hoptons Schwester; diese hat sie zu sich genommen, und gesagt, wir sollten dem Lord melden, sie wäre tot; wir hatten die Frau lieb, und ließen sie gehen; aber wenn es nun der Lord erfährt, so wird er Rache an uns nehmen.« Seymour umarmte den Mann mit lautem Freudengeschrei, und sagte, »o mein Freund, du sollst mit mir kommen, ich will dich beschützen und belohnen. Wo ist der Graf Hopton? Wie ist dies zugegangen? - Rieh - lieber Bruder Rieh, wir wollen gleich abreisen.« Ich versicherte ihn, daß ich ebenso begierig sei wie er, die Dame selbst zu sehen; er solle Anstalten zur Reise machen, ich wollte indessen mit den Leuten reden. Ich beruhigte sie mit dem Verspruch, daß der Lord sie für ihre Liebe zu der Frau selbst belohnen würde; denn er habe gar nicht gerne gehört, daß John so übel mit ihr umgegangen sei; dabei gab ich ihnen eine Handvoll Guineen, und fragte sie nach dem Leben und Bezeugen der Dame. O Doktor! wie viel Glanz breitete die einfache abgekürzte Erzählung dieser Leute über die Tugend meiner Freundin aus! Gestern murrte ich über ihr hartes Schicksal; und itzt möchte ich der Vorsicht für das edle Beispiel danken, welches sie den übrigen Menschen durch die Prüfung dieser großen Seele gegeben hat. Tief, unauslöschlich sind die Züge ihres Charakters in mein Herz gegraben! - Wir reisen ab. Am Fuße des Berges schickte ich einen meiner Leute an Lord Derby mit der für ihn gewiß trostvollen Nachricht. Denn da er sich dem Zeitpunkt nähert, wo man alles versäumte Gute möchte einholen, und alles verübte Böse auslöschen können: so muß es eine Erquickung für ihn sein, die Summe seiner Vergehungen um ein so großes vermindert zu sehen.

Madam Leidens an Emilia

Tweedale, Sitz des Grafen von Douglaß-March

Ich schreibe auf meinen Knien, um meine Dankbarkeit gegen Gott für das entzückende Gefühl von Freiheit, Leben und Freundschaft in kindlicher Demut auszudrücken. O meine geliebte, meine teure Freundin! durch wie viel Schmerzen bin ich gegangen, und wie sehr erfreut es mich, Ihren Kummer und die Sorgen meiner Lady Summers endigen zu können. Morgen schickt die Gräfin Douglaß einen Kurier an meine Lady; dieser wird auch gleich mit einem Paquet an Ihren Mann nach Har-wich abgehen, um ja Ihre Unruhe nicht einen Augenblick zu verlängern. Die Auszüge von meinen mit Reißblei geschriebenen Papieren werden Ihnen zeigen, wie hart und dornigt der Weg war, welchen ich in dem letztern Jahre zu gehen hatte. Aber wie angenehm ist mir der Ausgang davon geworden, da ich von der Hand der leutseligsten Tugend daraus geführt wurde! Ist dieses nicht eine Probe, daß ich mich in den Tagen meiner Prüfung der Vorsorge Gottes nicht unwürdig machte, weil sie eine der edelsten Seelen zu meiner Hülfe schickte? - Auf meinem letzten Blatte glaubte ich die letzte Nacht meines Lebens angebrochen zu sehen, und dachte auch, von der Gräfin Douglaß verlassen, zu sterben; aber um eilf Uhr kam der Geistliche mit einem Wundarzt, und morgens darauf ein von zwei Pferden getragenes Bette mit der Lady Douglaß selbst, die mir auf die liebreichste Art ihr Haus, ihre Vorsorge und Freundschaft anbot. Bald wäre mir das Übermaß meiner Freude schädlich geworden; denn indem ich der Lady Hand an meine Brust drückte, und von meinem Dank und von meiner Freude sprechen wollte, sank ich zurück; als ich erwachte, baten sie mich ruhig zu bleiben, und sagten, daß sie mit meinen Wirten verabredet hätten, sie sollten ein Grab im Garten aufwerfen, und dem Lord Derby wissen lassen, ich wäre tot; die Leute wären es zufrieden, und sie wollte mich nun in des Grafen von Hoptons Haus bringen. Nachmittags um vier Uhr fühlte ich mich stark genug, um aufzustehen, MoUy kleidete mich in Gegenwart der Lady Douglaß an; ich nahm die fünf Guineen, so ich bei mir hatte, und machte sie zusammen, um sie meinen Wirten zu geben. Den Augenblick, als ich aufstund, der Lady eine Bitte wegen der guten Waise zu machen, kroch die arme kleine Lidy auf ihren Knien herein, und bat mit Schluchzen und aufgehobenen Händchen, ich sollte sie doch mitnehmen; innig gerührt sah ich sie und die Lady an, welche nach einem Augenblick Nachdenken dem Mädchen die Hand bot, und mit mitleidiger Stimme sagte: »Ja, meine Kleine, du sollst auch mitkommen.« »Gott segne Sie, teure Lady«, sagte ich, »für Ihre großmütige Menschenliebe; ich wollte Sie um Erlaubnis bitten, dieses unschuldige Opfer auch zu retten.« - »Gerne«, antwortete sie, »sehr gerne, es erfreut mich, daß Sie so zärtlich für sie sorgen.« Ich umarmte meine weinende Wirte mit Tränen, sah noch seufzend mich in der traurigen Gegend um, und reiste mit der Lady ab. Graf Hopton empfing mich mit vieler Höflichkeit; aber seine Blicke durchspürten zugleich meine ganze Person mit einem Ausdruck, als ob er abwägen wollte, ob ich mehr die Nachstellungen eines Liebhabers oder des Mitleidens einer tugendliebenden Dame verdiente. Eine Bewegung seiner Augen von Betrachtung der Lidy auf mich, machte mich erröten, und dieses ihn lächeln; ich erriet, daß er mich für ihre Mutter hielt, und empfand die Verringerung seiner für mich vorteilhaft gefaßten Begriffe. Lady Douglaß führte mich in ein artiges Zimmer, und hieß mich zu Bette gehen; Molly war dabei und fragte die Dame, wo die kleine Lidy hinsollte? - »Hieher«, sagte Lady Douglaß, »denn Sie werden die Kleine am liebsten bei sich haben, und es gefällt mir sehr, daß Sie auch im Unglück der Pflichten der Natur getreu geblieben sind.« »Beste Lady«, fiel ich ein, »Sie« - »Keine Unruhe, meine Liebe«, sprach sie mit lebhaftem, aber liebreichem Tone, »legen Sie sich, ich komme dann zurück, aber von allem unangenehmen Vergangenen sollen Sie nicht reden -« und damit ging sie weg. - Ich warf mich aufs Bette mit der traurigen Betrachtung, daß ich den ersten freien Atemzug durch Erduldung eines widrigen Urteils bezahlen müsse. Ich wollte diese Begriffe keine Wurzeln in der Lady Douglaß fassen lassen, und verlangte Schreubzeug und Papier. Ich schrieb den andern Tag der Lady die Erklärung ihrer Zweifel wegen der kleinen Lidy, und zeigte die Beweggründe an, warum ich mich des Kindes angenommen hätte. Ich bat sie daneben mir bald Gelegenheit zu geben, Nachrichten an Lady Summers gelangen zu lassen; denn durch diese Dame würde sie auch überzeuget werden, daß alles, was ich ihr sagte, die Wahrheit sei, und daß sie ihre bisherige Güte für mich nicht zu bereuen haben würde. Sie konnte die drei Blätter kaum gelesen haben, so kam sie zu mir, und bat mich gleich beim Eintritt in das Zimmer, ihr die Unruhe zu vergeben, die sie mir gemacht hätte; aber es wäre nicht leicht möglich gewesen bei einer fremden Person einen solchen Grad von Liebe und Sorge für das Kind eines Feindes zu denken, und ich könne glauben, daß, da sie mich wegen meiner vermeinten Muttertreue geliebt habe, sie mich wegen meiner großmütigen Liebe gegen das Blut meines unwürdigen Verfolgers desto mehr liebe und bewundere. Zwo Stunden redte sie mit mir von vielen Sachen in einem feinen zärtlichen Tone fort. Die teure Lady besitzt eine bei den Großen seltene Eigenschaft; sie nimmt Anteil an den Leiden der Seele, und sucht mit der edelsten feinsten Empfindung Trostworte und Hülfsmit-tel aus. In den Zeiten meines ehemaligen Umganges mit der großen glücklichen Welt beobachtete ich, daß ihr Mitleiden meistens für äußerliche Übel, Krankheiten, Armut usw. in Bewegung kam; Kummer des Gemüts, Schmerzen der Seele, von denen man ihnen redete oder die sie verursachten, machten wenig Eindruck, und brachten selten eine Anteil nehmende Bewegung hervor. - Aber sie werden auch selten gewöhnt, an den innerlichen Wert oder die wahre Beschaffenheit der Sachen zu denken; durch äußerlichen Glanz verblenden sie und werden verblendet. Witz hat die Stelle der Vernunft, eine kalte gezwungene Umarmung heißt Freundschaft, Pracht und Aufwand, Glück --- O mein Kind, sollte ich jemals wieder diesem Kreise mich nähern, so will ich mit inniger Sorge alles vermeiden, was mich in den Stufen meiner Erniedrigung und meines Unglücks an den Großen und Glücklichen schmerzte. Die Gräfin Douglaß nimmt die kleine Lidy zu sich; sie sagt, ich hätte genug für das Kind getan, und es solle niemand mehr Anlaß haben, die Übung der größten Tugend als die Folge eines Fehltritts zu beurteilen; am allerwenigsten solle Derby auch nicht vermuten können, daß eine Anhänglichkeit für ihn auf irgendeine Weise Ursache an meinem Mitleiden gewesen sei. Ich sah alles Edle ihrer Beweggründe und dankte ihr zärtlich, daß sie mich nicht nur für künftigen falschen Beurteilungen schützte, sondern auch der Belästigung des Lobs enthöbe, das man meiner sogenannten Großmut noch einmal geben könnte. Meine Briefe an Lady Summers hat die Gräfin gelesen; sie wollte es nicht tun, um mich von ihrem Vertrauen in mich zu überzeugen. Die Briefe an Sie hab ich ihr durchgeblättert, weil sie aber ganz deutsch sind, so hätte die Übersetzung viele Zeit gekostet; ich redete ihr also kurz von dem Inhalt eines jedes Blatts; denn ich eilte zu sehr Ihnen Nachrichten zu geben, und gerne schlüpfte ich über das Gute darin hinweg, weil mich dünkte, daß das Vergnügen mich loben zu hören die Summe meiner innerlichen Zufriedenheit vermindert. Möchte ich doch bald Nachrichten von Lady Summers haben, und zu ihr reisen können, um mich bald, bald in die Arme meiner Emilia zu werfen. Mein Enthusiasmus für England ist erloschen; es ist nicht, wie ich geglaubt habe, das Vaterland meiner Seele. — Ich will auf meine Güter, einsam will ich da leben und Gutes tun. Mein Geist, meine Empfindungen für die gesellschaftliche Welt sind erschöpft; ich kann ihr auch zu nichts mehr gut sein, als einigen Unglücklichen eine kleine Lehrschule von Ertragung widriger Schicksale zu halten. In Wahrheit, es ist bei der neu erheiterten Aussicht in meine künftigen Tage einer der ersten Wünsche meiner Seele gewesen, daß bei jedem Anbau eines jungen Herzens diejenigen Samenkörner meiner Erziehung eingestreuet würden, deren erquickende Früchte in der Zeit meiner härtesten Leiden reif wurden, die mein anfängliches Murren besänftigten, und mir die Stärke gaben, alle Tugenden des Unglücklichen auszuüben. Mein erneuertes Gefühl der Schönheiten unsrer physikalischen Welt kann ich Ihnen unmöglich in seiner Stärke beschreiben; es war groß, mannich-faltig, wie die schöne Aussicht dieses Edelsitzes, wo man über einen jähen Absturz an dem Flusse Tweda die fruchtbarsten Hügel von ganz Schottland übersieht, die von Schafen wimmeln. Die Sehkraft meiner Augen dünkt mich vervielfältigt, wird verfeinert, so wie sie mich in den Bleygebürgen vermindert und stumpf gemacht dünkte. Können nicht, meine Emilia, alle Kräfte meiner Seele wieder so aufleben wie das Gefühl für die wohltätigen Wunder der Schöpfung, und das von der frohen Hoffnung, die Freundin meines Herzens bald wieder zu umarmen? -

Lord Rich, von Tweedale an Doktor T.

Wenn es billig ist, daß der Stärkere nicht nur seine eigene volle Last, sondern auch die Bürde des Schwächern trage, so erfülle ich meine Pflicht, indem ich nicht nur unter dem gehäuften Maß meiner Empfindungen seufze, sondern auch das überströmende Gefühl von meinem Bruder zusammenfassen muß. Meine Briefe an Sie sind die Stütze, die meine Seele erleichtert. Seymour sitzt wirklich zu den Füßen des Gegenstandes meiner Wünsche; ich entfernte mich; ihre Augen sagte mir zwar, daß sie mich gerne bleiben sähe; aber mein Bruder hielt ihre Hand, sein Herz fühlte den sanften Druck, den die ihrige ihm vielleicht ohne ihr Wissen gab; das einige fühlte ich auch, und dieses Gefühl hieß mich gehen. Zwei Tage sind's, daß wir hier angekommen. Sechs Pferde machten Aufsehen im Schloßhofe, und die Bedienten liefen zusammen; mein Bruder warf sich vom Pferde und rief: »Ist die Gräfin Douglaß mit der Lady aus den Bleygebür-gen hier?« Auf die Antwort Ja zog er mich am Arm mit einem eifrigen »Kommen Sie, Bruder, kommen Sie.« »Wen muß ich melden?« rief ein Diener; »Lord Rich, Lord Seymour«, rief mein Bruder hastig, und eilte dem Kerl nach, der kaum klopfen konnte, als wir schon in der Türe waren. Die Gräfin Douglaß saß der Türe gegenüber; Lady Sternheim aber mit dem Rücken gegen uns, und las der Dame etwas vor. Seymours Eindringen, und das eilende Rufen des Bedienten, wer wir wären, machte die Gräfin stutzen und meine englische Freundin den Kopf wenden. Sie fuhr mit Schrecken zusammen - »O Gott«, rief sie, und ließ das Buch auf die Erde fallen, als Seymour sich zu ihren Füßen warf; »O die ehrlichen Leute - sie lebt - o mein göttliches, mein angebetetes Fräulein Sternheim!« rief er mit ausgestreckten Armen. Sie sah halb außer sich ihn und mich an, wendete aber den Augenblick den Kopf weg, und ließ ihn auf ihren zitternden Arm sinken - Die Gräfin Douglaß sah mit Staunen hin und her, ich mußte reden - aber mein erstes war auf die Sternheim zu zeigen. »Teure Gräfin, unterstützen Sie den Engel, den Sie bei sich haben! Ich bin Lord Rich, hier ist Lord Seymour -« Die Gräfin hatte sich eilends meiner Freundin genähert, die ihre beiden Armen um sie schlug und ihr Gesicht einige Minuten an der Gräfin Busen verbarg. Seymour konnte dieses Abwenden ihres Gesichts nicht ertragen, und rief in vollem Schmerzen aus - »O mein Oncle, warum mußte ich meine Liebe verbergen! Alle Qual, alle Zärtlichkeit meines Herzens kann mich nun nicht von dem Widerwillen schützen, den mir meine Nachlässigkeit zuzog! - O Sternheim, Sternheim! was soll aus mir werden, wenn ich in dem Augenblicke der Freude, sie wiedergefunden zu haben, Ihren Unmut auf mir liegen sehe? Gönnen Sie mir, oh, gönnen Sie mir nur einen gütigen Blick.« Mit dem Anblick eines Engels und der ganzen Würde der sich fühlenden Tugend richtete Lady Sternheim sich auf, reichte errötend meinem Bruder die Hand, und mit gedämpfter Stimme sagte sie: »Stehen Sie auf, Lord Seymour, ich versichere Sie, daß ich nicht den geringsten Unmut über Sie habe«; und, seufzend setzte sie hinzu, »wo wäre mein Recht dazu gewesen?« Feurig-zärtlich küßte er ihre Hand; meine Augen sanken zur Erde; aber sie näherte sich mir mit freundschaftlichen Blicken, nahm meine Hand: »Teurer Lord! was für Freundschaft! Wie haben Sie mich finden können? Hat Lady Summers es Ihnen gesagt? - Was macht sie, meine liebreiche Mutter?« Ich küßte die Hand auch, die sie mir gegeben hatte; »Lady Summers ist wohl«, antwortete ich, »und wird glücklich sein, Sie wieder zu sehen; aber nicht Lady Summers hat mich hergeleitet; Reue und Gerechtigkeit riefen meinen Bruder und mich auf.« Mit einer erhöheten Gesichtsfarbe fragte sie mich: »Ist Lord Seymour Ihr Bruder?« - »Ja, und dies von der edelsten Mutter, die jemals lebte.« Sie antwortete mir nur mit einem bedeutenden Lächeln, und wandte sich zur Gräfin Douglaß.
»Meine großmütige Erretterin«, sprach sie, »sehen hier zween unverwerfliche Zeugen der Wahrheit dessen, was ich Ihnen von meiner Geburt und meinem Leben sagte; ich danke Gott, daß er mich den Augenblick erleben lassen, wo Ihr Herz die Zufriedenheit fühlen kann, daß Ihre Güte für mich nicht verloren ist.« »Nein«, fiel Seymour ein, »niemals lebte eine Seele, welche der Verehrung der ganzen Erde würdiger wäre als die Dame, welche die Gräfin errettet haben; solang ich atmen werde, sollen Sie, edelmütige Gräfin Douglaß, den ewigen Dank dieses Herzens haben.« Mit tränenden Augen drückte er zugleich die Hand der Gräfin an seine Brust. Ich hatte mich indessen gefaßt, um etwas von unserem Überfall zu erklären. Einige Minuten waren wir alle stille. Ich nahm die Hand der Lady Sternheim; »können Sie«, fragte ich, »ohne Schaden Ihrer Ruhe und Gesundheit von Ihrem Verfolger reden hören? Er ist am Ende seines Lebens, und die größte Sorge seiner Seele windet sich unaufhörlich um das Andenken Ihrer Tugend und seiner Ungerechtigkeiten gegen Sie; sein Kummer über Ihren vermeinten Tod ist unaussprechlich; er hat mich und Lord Seymour zu sich gebeten, und uns schwören lassen, in die Bleygebürge zu reisen, um Ihre Leiche da aufzuheben, und mit allen Zeugnissen Ihrer Tugend und seiner Reue in Dumfries beizusetzen. - Ich will nicht sagen, wie traurig dieses Amt uns war. Nachdem wir so lange Zeit vergebens nach Ihnen gesucht hatten, sollten wir Sie tot wiedersehen! - Mein armer Bruder und - (ich konnte mich nicht verhindern dazu zu setzen) Ihr armer Freund Rieh!« Eine Träne zitterte in ihren Augen, indem sie sagte: »Lord Derby ist grausam, sehr grausam mit mir umgegangen. Gott vergebe es ihm; ich will es von Herzen gerne tun - aber - sehen kann ich ihn niemals wieder, sein Anblick würde mir tödlich sein.« Ihr Kopf sank mit ihrer sinkenden Stimme bei den letzten Worten auf ihre Brust. Mein Seymour fühlte die rührende Verlegenheit dieser reinen Seele, und ging mit sich kämpfend ins Fenster - Lady Sternheim stund auf und verließ uns; Seymour und ich sahen ihr bewundernd nach. Nur in schottische Leinwand gekleidet, war sie reizend schön durch ihren nach dem vollkommensten Ebenmaß gebildeten Wuchs, und den schönsten Anstand in Gang und Bewegung; und ob sie schon hager und blaß geworden, so war dennoch ihre ganze Seele mit aller ihrer Schönheit und Würde in ihren Zügen ausgedrückt. Seymour und ich sagten der Gräfin Douglaß alles, was die Lady Sternheim anging, und sie erzählte uns hingegen, was sie von ihr wußte, seitdem sie die Tochter des Bleiminenknechts zu sich genommen, und wie sie gleich gedacht hätte, diese Person müsse eine edle Erziehung haben, und in einer unglücklichen Stunde von ihrer Bestimmung entfernt worden sein; zärtliches Mitleiden habe sie eingenommen, besonders da sie ihre Sorge für das Kind gesehen habe, und sie wäre gleich entschlossen gewesen, sie zu sich zu nehmen, wenn sie mit ihrem Bruder zurückginge; die Krankheit der Dame hätte es aber früher erfodert. Sie freute sich ihrem Herzen gefolgt zu haben. Sie ging hierauf nach ihrem Gast zu sehen, und wir blieben allein. Gedankenvoll blieb ich sitzen. Seymour kam, und fiel mir mit Weinen um den Hals: »Rieh! - lieber Bruder, ich bin mitten im Glücke elend, und werde es bleiben. - Ich sehe deine Liebe und deine Verdienste um sie. - Ich fühle, daß sie mißvergnügt mit mir ist; - sie hat recht, tausend recht es zu sein - Sie hat recht dir mehr Vertrauen, mehr Freundschaft zu zeigen; aber ich fühle es mit einem tötenden Kummer. Meine Gesundheit leidet schon lang auf allerlei Weise unter dieser Liebe - Ich habe sie nun gesehen; ich werde um ihrentwillen sterben, und dies ist mir genug.« Ich drückte ihn mit einer sonderbaren Bewegung an meine Brust, und ich glaube ihm etwas kalt und rauh gesagt zu haben: »Ja, Seymour, du bist im Glück unglücklich, aber andere sind's ganz; - warum müssen deine Nebenbuhler allezeit mehr Licht sehen als du? - Derby hat recht; sie zieht dich vor. Ihr Zurückhalten beweist mir alles, was er sagte. Sei ihrer würdig, und beneide mir ihre Achtung, ihr Vertrauen nicht!« - »O Rieh - o mein Bruder, ist dieses, kann dieses wahr sein? Betrügt dich deine Leidenschaft nicht wie mich die meinige? - O Gott! - ich muß sie erhalten oder sterben - wer wird für mich reden: wer? Ich kann nichts sagen - und du?« »Ich will es tun«, erwiderte ich, »aber heute noch nicht; wir müssen ihre Empfindlichkeit und geschwächte Gesundheit schonen.« Zu meinen Füßen war er, er umfaßte sie: »Bester, edelster Bruder«, rief er, »fodre mein Leben, alles, ich kann nicht genug für dich tun! Du willt - du! willt für mich reden? Gott segne dich ewig, mein treuster, mein gütigster Freund!« - »Ich will nichts, liebster Seymour, als sei glücklich, sei deines Glücks würdig! Du kennst den ganzen Umfang davon nicht so wie ich; aber ich gönne, ich wünsche dir es, so groß es ist.« Die Damen kamen zurück; wir redeten von Tweedale, und unsere Freundin erzählte, wie gerührt sie gewesen, Gottes schöne Erde wiederzusehen. Dann sprach sie von ihrer Entführung und ihren ersten Tagen im Gebürge. - Abends gab sie mir ihre Papiere; ich las sie mit Seymourn durch. O Freund, was für eine Seele malt sich darin! Wie unermeßlich wäre meine Glückseligkeit gewesen! - Aber ich ersticke meine Wünsche auf ewig. Mein Bruder soll leben! - Seine Seele kann den Verlust ihrer Hoffnungen nicht noch einmal ertragen; meine Jahre und Erfahrung werden mir durchhelfen. Seymour muß das Maß der Zufriedenheit voll haben, sonst genießt er nichts, mir reicht ein Teil davon zu, dessen Wert ich kenne. Schicken Sie uns Seymours Briefe an Sie gleich; sie müssen gelesen werden, und für ihn reden.

von Sternheim an Emilia

Was wird die Vorsicht noch aus mir machen ? In widrigen Begegnissen, in den empfindlichsten Erschütterungen aller Kräfte der Seele und des Lebens erhält sie mich. Gewiß nicht zum Unglück, aber zu jeder möglichen Prüfung. Allein, o meine Liebe, ganz allein, von niemand als zuredenden Freunden umgeben, stund ich an meinem Scheideweg. Lord Derby ist tot - diese beiliegenden Blätter meines Tagebuchs von Tweedale sagen Ihnen Seymours und Richs Ankunft, und den Ersatz, welchen Derby mir machen wollte. Gott lasse seine ewigen Tage glücklicher sein, als er die meinigen machte, die ihm hier in seine Gewalt gegeben waren! Lord Sey-mour verfolgt mein Herz; er liebte mich, o meine Emilia, er liebte mich zärtlich, rein, von dem ersten Tage, da er mich sah. Der Stolz seines Oheims, seine Abhänglichkeit von ihm, und eine übertriebene feine Empfindung von Tugend und Ehre wollte, daß er schwieg, bis ich die Versuchungen des Fürsten überwunden hätte. Sie wissen, was dieses Schweigen mir zuzog; aber Sie wissen nicht, was Lord Seymour darunter gelitten hatte. Hier, lesen Sie seine Briefe mit denen vom Lord Derby, und senden Sie sie mir mit allen den meinen an Sie zurück. Sie werden bei Derbys Briefen über den Mißbrauch von Witz, Tugend und Liebe schaudern. Hätte ich nicht selbst böse sein müssen, wenn ich seine Ränke hätte argwöhnen sollen? Was ist Seymours Herz dagegen? Ihren Rat hätte ich gewünscht, durch einen gemeinsamen Geist erhalten zu können. Die Gräfin Douglaß ist eingenommen; Lord Rich, der edle, unschätzbare Lord Rich bittet mich seine Schwester zu werden; der liebenswürdige Seymour ist täglich zu meinen Füßen! Alle Einwendungen meiner Delikatesse werden bestritten; und, o Freundin meines Herzens, du, die du alle seine Bewegungen von Jugend auf kanntest, dir kann ich, dir will ich es nicht verbergen, daß eine innerliche Stimme mich meine Vermählung mit Lord Seymour als ein von dem Schicksal gegebenes Mittel ergreifen heißt, um meiner unsteten Wanderschaft ein Ende zu machen. Und war er nicht der Mann, den mein Herz sich wünschte? Er weiß es, soll ich nun zurücke? Lord Rich, fürchte ich, würde an seinen Platz eintreten wollen. Seymour zeigte mir viele Tage die heftigste zärtlichste Liebe. Lord Rich hatte lange Unterredungen mit ihm, war aber kalt, ruhig, sah oft tiefdenkend lange mich an, und brachte mich dadurch zu dem Entschluß unverheuratet zu bleiben. Aber zwei Tage nach Seymours Briefe brachte er mir mein Tagebuch und die noch dabei gelegenen letzten Briefe von Summerhall in mein Zimmer; mit einer rührenden vielbedeutenden Miene trat er zu mir, küßte die Blätter meines Tagebuchs, drückte sie an seine Brust, und bat mich um Vergebung, eine Abschrift davon genommen zu haben, welche er aber mit der Urschrift in meine Gewalt gebe. »Aber erlauben Sie mir«, fuhr er fort, »Sie um dieses Urbild Ihrer Empfindungen zu bitten; lassen Sie, meine englische Freundin, mich diese Züge Ihrer Seele besitzen, und erhören Sie meinen Bruder Seymour. Das Paquet seiner Briefe wird Ihnen die unerfahrne Redlichkeit seines Herzens bewiesen haben. Sie werden ihn durch Annehmung seiner Hand zu dem glücklichsten und rechtschaffensten Mann machen.« Nach einigem Stillschweigen legte er seine Hand auf die Brust, sah mich zärtlich und ehrerbietig an, und fuhr mit gerührtem Ton fort: »Sie kennen die unbegrenzte Verehrung, die ewig in diesem Herzen für Sie leben wird; Sie kennen die Wünsche die ich machte, die nicht aufgehört haben, aber unterdrückt sind. Ich würde gewiß meine seligsten Tage, dafern es nur Hoffnungstage wären, nicht aufopfern, wenn ich nicht mitten unter der Anbetung, unter dem Verlangen meiner Seele, sagen müßte, und sagen könnte: Seymour sei Ihrer würdig, er verdiene Ihre Achtung und Ihr Mitleiden.« Er sah mich hier sehr aufmerksam an, und hielt inne. Mit einem halb erstickten Seufzen sagte ich: »O Lord Rich!« und er fuhr mit einem männlich freundlichen Tone fort: »Sie haben die Gewalt, einen edlen jungen Mann in der Marter einer verworfenen Liebe vergehen zu machen; wenden Sie, beste weibliche Seele, diese Gewalt zu dem Glück einer ganzen Familie an! Sie können meiner Mutter, einer würdigen Frau, den Kummer abnehmen, Ihre Söhne unverheuratet zu sehen. Ihre schwesterliche Liebe wird mich glücklich machen, und Sie werden alle Ihre Tugenden in einem großen wirksamen Kreis gesetzt sehen!« - »Teurer Lord Rich«, antwortete ich gerührt, »wie nahe dringen Sie in mich! Sehen Sie meine Bedenklichkeiten nicht?« Ich verbarg mein Gesicht mit meinen Händen; er schloß mich in seine Arme und küßte meine Stirne. »Beste, geliebteste Seele, ja, ich kenne ihre feinen Bedenklichkeiten; Sie verdienen die vermehrte Anbetung meines Bruders; aber Sie sollen den Bau seiner Hoffnung nicht zerstören. Lassen Sie mich, ich bitte Sie, ihm die Erlaubnis bringen zu hoffen.« Mit tränenden Augen sah der würdige Mann mich an; eine Zähre der meinigen fiel ihm auf seine Hand; er betrachtete sie mit inniger Rührung; als aber das anfangende Zittern seiner Hände sie bewegte, so küßte er sie hinweg, und seine Blicke blieben einige Minuten auf die Erde geheftet. Ich nahm das Original meiner Briefe und des Tagebuchs, und reichte es ihm mit der Anrede: »Nehmen Sie dieses, würdigster-Mann, was Sie das Urbild meiner Seele nennen zum Unterpfand der zärtlichen und reinen Freundschaft!« - »Meine Schwester«, fiel er mir ins Wort. »Keine List, Lord Rich! Ich will ohne Kunst werden, was Sie so sehnlich wünschen, daß ich sein möge.« Er ließ sich auf ein Knie nieder, segnete mich, küßte meine Hände mit eifriger Zärtlichkeit und eilte weg. »Sagen Sie noch nichts«, rief ich ihm nach, »ich bitte Sie.« Da war ich und weinte, und entschloß mich Lady Seymour zu werden; ich bekräftigte diesen Entschluß am Ende eines Gebets an die göttliche Vorsicht.

Nachschrift.

Nun weiß es Lord Seymour. Seine Entzückungen gehen über die Kräfte meiner Feder. Meine Gräfin Douglaß umarmte mich mütterlich, Lord Rich als ein zärtlicher Bruder. Der gute Lord Seymour bewacht mich, als ob er besorgte, es möchte jemand meine Entschließung ändern. Sein Kammerdiener ist an seine Frau Mutter geschickt, welche an Tugend und Geist eine zweite Lady Summers sein muß. O segnen Sie mich, meine Freunde! Mein Herz schlägt ruhig. Wie selig macht eine Entschließung, die von Tugend, Weisheit und Rechtschaffenheit gebilliget wird! Nun freue ich mich auf die Reise zu dem Grabe meiner Eltern. Zu den Füßen ihres Leichensteins will ich mit meinem Gemahl knien, und ihren himmlischen Segen auf diese Verbindung erflehen. Tränen des Danks will ich auf ihre Asche vergießen, für die Liebe der Tugend und der Wohltätigkeit, die sie in meine Seele gössen, und für die Sorge, die sie nahmen, mir richtige Begriffe von wahrem Glück und Unglück zu geben! - Meine Emilia werd ich umarmen, meine Untertanen sehen! O glückliche, selige Aussichten! Mein lieber Lord Seymour sucht seinem Bruder nachzufolgen; in allem fragt er ihn - und mit wie vieler zärtlicher Erkenntlichkeit sehe ich Lord Richs Bemühung um meine Glückseligkeit, indem er alles versucht, den ungleichen und oft reißenden Lauf von Seymours Charakter ins Gleiche und Sanfte zu ändern. Er ist, sagt er, ein schöner aber stark rauschender Bach, der im Grund eine Menge reiner Goldkörner führt.

Lord Rich an Doctor T.

Ich komme vom Altar, wo mein Bruder eine ewige Verbindung, und ich eine ewige Freiheit meiner Hand beschworen. Ich gab ihm jene Hand, die mein Herz sich lange wünschte, und von deren Mitwerbung ich abstund, weil ich mehr Stärke in mir fühlte einen Verlust zu ertragen, als er hat. Es war die Seele, die Gesinnungen der Lady Seymour, die ich liebte. Ihre Papiere, die sie in der vollen Aufrichtigkeit ihres Herzens schrieb, beweisen mir, daß sie das Beste mir schenkte, so in ihrer Gewalt war; wahre Hochachtung für meinen Charakter, wahres Vertrauen, zärtliche Wünsche für mein Glück. Der unauflöslich rätselhafte Eigensinn eines einmal gefaßten Vorzugs hatte schon lange und unwillkürlich die Neigung ihres Herzens gefesselt. - Ich kenne den hohen Wert ihrer Seele; ihre Freundschaft ist zärtlicher als die Umarmungen der Liebe einer andern Person. Die Herbstjahre des Lebens, in denen ich mich befinde, lassen mich alle reine Süßigkeit der Freundschaft mit Ruhe genießen. Ich werde bei diesen Glücklichen leben; der zweite Sohn soll Lord Rich, soll der Sohn meines Herzens sein! Alle Tage werde ich mit Lady Seymour sprechen, und die Schönheit ihres Geistes ist mein Eigentum; ich trage zu ihrer Glückseligkeit bei. Meine Mutter segnet mich über den Entschluß von ihrem geliebten Seymour, und mein Glück haftet an dem von den würdigsten und liebsten Personen, die ich kenne. - Bald, mein Freund, sehe ich sie und spreche sie.

Lady Seymour aus Seymourhouse an Emilia

Die erste freie Stunde meiner Bewohnung eines Familienhauses gebührte dem Dank an die Vorsicht, die allen meinen Kummer und die fürchterlichen Irrwege meines Geschicks in dem Umfang vollkommener Glückseligkeit endigte; aber die zweite Stunde gehört der treuen Freundin, die alles Leiden mit mir teilte, die mir es durch ihren Trost und ihre Liebe erleichterte, und deren Beispiel und Rat ich die Stärke meiner Anhänglichkeit an Tugend und Klugheit zu danken habe. Emilia, ich bin glücklich; ich bin es vollkommen, denn ich kann die seligsten, die heiligsten Pflichten alle Tage meines Lebens erfüllen.
Meine tugendhafte Zärtlichkeit macht das Glück meines Gemahls; meine kindliche Verehrung und Liebe wird von seiner würdigen Mutter als die Belohnung ihrer geübten Tugenden angesehen. Meine schwesterliche Freundschaft gießt Zufriedenheit in das große, aber sehr empfindliche Herz meines werten Lords Rieh. Lord Seymour hat weitläuftige Güter; er ist reich, und hat mir eine unumschränkte Gewalt zum Wohltun gegeben. O mein Kind, es war gut, daß alle meine Empfindungen durch widrige Begebenheiten aufgeweckt und geprüft wurden; ich bin um so viel fähiger geworden, jeden Tropfen meines Maßes von Glückseligkeit zu schmek-ken. Sie wissen, daß ich Gott dankte, daß er in meinem Elende mir den Gebrauch meiner Talente zu Verminderung desselben gelassen hatte, und meinem Herzen die Freude nicht entzog, wohltätig zu sein. Ich fühle nun mit aller Stärke die verdoppelten Pflichten des Glücklichen; nun muß meine Gelassenheit, Demut, und meine Unterwerfung zur Dankbegierde werden. Meine Kenntnisse, die die Stütze meiner leidenden Eigenliebe und die Hülfsmittel waren, durch welche ich hier und da einzelne Teile von Vergnügen erreichte, sollen dem Dienst der Menschenliebe geweihet sein, sie zum Glück derer, die um mich leben, und zu Ausspähung jedes kleinen, jedes verborgenen Jammers meiner Nebenmenschen zu verwenden, um bald große, bald kleine liebreiche Hülfe ausfindig zu machen. Kenntnisse des Geistes, Güte des Herzens - die Erfahrung hat mir bis an dem Rande meines Grabes bewiesen, daß ihr allein unsere wahre irdische Glückseligkeit ausmachet! An euch stützte meine Seele sich, als der Kummer sie der Verzweiflung zuführen wollte; ihr sollt die Pfeiler meines Glücks werden; auf euch will ich in der Ruhe des Wohlseins mich lehnen, und die ewige Güte bitten, mich fähig zu machen, an der Seite meines edelmütigen menschenfreundlichen Gemahls ein Beispiel wohlverwendeter Gewalt und Reichtümer zu werden! -
Sie sehen, meine Freundin, daß alle meine Bedenklichkeiten meinen Empfindungen weichen mußten. Ich sah das Vergnügen so vieler rechtschaffenen Herzen an das Glück des meinigen gebunden, daß ich meine Hand gerne zum Unterpfand meiner Liebe für ihre Zufriedenheit gab. Mylord will ein Schulhaus und ein Hospital nach der Einrichtung der Sternheimischen erbauen lassen; er betreibt den Plan, weil er den Bau während unsrer deutschen Reise führen lassen will. Künftige Woche gehen wir nach Summerhall; dort wollen wir die Briefe meines Oncles von R— erwarten, und dann (sagen Seymour und Rich) wollen sie jede heilige Stätte besuchen, wo mich mein Kummer herumgeführet habe. Sie werden also meine Emilia sehen, und überzeugt werden, daß die erste und stärkste Neigung meines Herzens der würdigsten Person meines Geschlechts gewidmet war. Morgen kommen Mylord Crafton und Sir Thomas Watson, meiner Großmutter Bruders Sohn, zu uns; ich werde aber meine übrigen Verwandten, London und den großen Kreis meiner Nachbarn erst nach unserer Zurückkunft aus Deutschland sehen.

MyLord Rich an Doktor T.

Ich bin wieder in Seymourhouse, weil mir ohne die Familie meines Bruders die ganze Erde leer ist. Mit tausendfachen geistigen Banden hat mich die Lady Seymour gefesselt, und die Herbsttage meines Lebens wurden so glühend, daß unsere Reise mich beinahe mein Leben kostete. Ich sah sie in Summerhall; zu Vaels bei ihrer Emilia; in ihrem Gesindhause; in D* bei Hofe; in Sternheim bei ihren Untertanen; bei dem Grabe ihrer Eltern! - Die anbetungswürdige Frau! In allen Gelegenheiten, in allen Stellen, wohin der Lauf des Lebens sie führt, zeigt sie sich als das echte Urbild des wahren weiblichen Genies, und der übenden Tugenden ihres Geschlechts. - Auf unserer Rückreise wurde sie Mutter; - und was für eine Mutter! O Doktor! ich hätte mehr, viel mehr als Mensch sein müssen; wenn der Wunsch, sie zu meiner Gattin, zu der Mutter meiner Kinder zu haben, nicht tausendmal in meinem Herzen entstanden wäre! Mit wie vielem Recht besitzt die Tugend der großmütigen Aufopferung unsers Glücks die erste Stelle des Ruhms! Wie teuer kostet sie auch ein edelgewöhntes Herz! - Wundern Sie sich ja nicht, wenn sie selten ist. - Doch eine Probe wie diejenige, die ich machte, hat nicht leicht statt. Mit Vergnügen hab ich das Glück meines Bruders dem meinigen vorgezogen. Die Handlung reuet mich nicht, ich litt nicht nur niederträchtigen Neid, sondern allein durch das gezwungene Stillschweigen meiner Empfindungen, die ich keinem Unheiligen anvertrauen will, um die falsche Beurteilungen meiner ehrerbietigen Leidenschaft zu vermeiden, und die reine Freundschaft meiner edlen Schwester in kein zweideutiges Licht zu bringen. Ich fiel in eine düstre Melancholie, und entzog mich Seymours Hause auf einige Monate. Die Stille meines Landguts, wo ich ehemals von meiner großen Reise ausruhete, gab mir diesmal kein ganzes Maß von Frieden; ich wollte mich überwinden; aber ich bin an den süßen Umgang der fühlbarsten Seele gewöhnt; ihre schönen Briefe sind nicht sie selbst. Mein Lord Rich wurde geboren, und ich flog nach Seymour-house; eine selige Stunde war es, in welcher Lady Sey-mour mir dieses Kind auf die Arme gab, und mit allem Reiz ihrer seelenvollen Physionomie und Stimme sagte: »Hier haben Sie Ihren jungen Rieh; Gott gebe ihm mit Ihrem Namen Ihren Geist, und Ihr Herz!« Ein entzückender Schmerz durchdrang meine Seele. Er ruht in mir; niemand soll jemals eine Beschreibung von ihm haben. Der kleine Rich hat die Züge seiner Mutter; diese Ähnlichkeit schließt ein großes Glück für mich in sich; - wenn ich das Leben behalte, soll dieser Knabe keinen andern Hofmeister,[19] keinen andern Begleiter auf seinen Reisen haben als mich. - Alle Ausgaben für ihn sind meine; seine Leute sind doppelt belohnt; ich schlafe neben seinem Zimmer; ja ich baue ein Haus am Ende des Gartens, in das ich mit ihm ziehen werde, wenn er volle zwei Jahre alt sein wird. Indessen bilde ich mir die Leute, die um ihn sein werden. Dieses Kind ist die Stütze meiner Vernunft und meiner Ruhe geworden. Wie wert macht ihn mir jede Umarmung, jede zärtliche Sorge, die er von seiner Mutter erhält - und wie glücklich wächst er und sein Bruder auf! Jede Handlung ihrer Eltern sind Beispiele von Güte und Edelmütigkeit. Segen und Freude blühen in jedem Gefilde der Gebiete meines Bruders; Danksagungen und Wünsche begleiten jeden Schritt, den er mit seiner Gattin macht. Mit einer Hand stützen sie das leidende Verdienst und helfen andrer Elende ab; mit der andern streuen sie Verzierungen in der ganzen Herrschaft aus, aber dies mit der feinsten Unterscheidung. Denn die Lady Seymour sagt: niemals müsse auf dem Lande die Kunst die Natur beherrschen; man solle nur die Fußstapfen ihrer flüchtigen Durchreise und hier und da einen kleinen Platz sehen, wo sie ein wenig ausgeruhet hätte. Unsere Abende, und unsere Mahlzeiten sind reizend; ein muntrer Geist und die Mäßigkeit beleben und regieren sie. Fröhlich treten wir in die Reihen der Landtänze unserer Pächter, deren Freude wir durch unsern Anteil verdoppeln. Die Gesellschaft der Lady Seymour wird von dem Verdienst gesucht, so wie Laster und Dummheit vor ihr fliehen; Sie können hoffen, in unserem Hause wechselsweise jede Schattierung von Talenten und Tugenden zu finden, die in dem Kreise von etlichen Meilen um uns wohnen. Und hier hat der Charakter meiner geliebten Lady Seymour einen neuen Glanz dadurch erhalten, daß sie die Verdienste anderer Personen ihres Geschlechts so lebhaft fühlt und schätzt. Mein Bruder ist der beste Ehemann und würdigste Gebieter von etlichen hundert Untertanen geworden; Seligkeit ist in seinem Gesichte, wenn er seinen Sohn, an der Brust der besten Frau, Tugend einsaugen sieht; und jeder Tag nimmt etwas von dem lodernden Feuer hinweg, welches in alle seine Empfindungen gedrungen wäre. Er hat die schwere Kunst gelernt, sein Glück zu genießen, ohne irgend jemand durch ein außerordentliches Geräusche mit seinem Glücke Schmerzen zu machen. Das einfache, obgleich edle Aussehen unserer Kleidung und unsers Hauses läßt auch die ärmste Familie unserer Nachbarschaft mit Zuversicht und Freude zu uns kommen. Von diesen Familien nimmt Lady Seymour von Zeit zu Zeit ein paar Töchter zu sich, und flößt durch Beispiel und liebreiches Bezeugen die Liebe der Tugend und schönen Kenntnisse in sie. Der reizende Enthusiasmus von Wohltätigkeit, die lebendige Empfindung des Edlen und Guten beseelt jeden Atemzug meiner geliebten Schwester. Sie begnügt sich nicht gut zu denken; alle ihre Gesinnungen müssen Handlungen werden. Gewiß ist niemals kein inniger Gebet zum Himmel gegangen, als die Danksagung war, welche ich die Lady Seymour für die Empfindsamkeit ihres Herzens, und für die Macht Gutes zu tun mit tränenden Augen aussprechen hörte. Wie viel Segen, wie viele Belohnung verdienen die, welche uns den Beweis geben, daß alles, was die Moral fodert, möglich sei, und daß diese Übungen den Genuß der Freuden des Lebens nicht stören, sondern sie veredeln und bestätigen, und unser wahres Glück in allen Zufällen des Lebens sind!

Texttyp

Briefe