Befreiungstheologie:

Erfahrung und Reflexion - zwei Parallelen

»Das Hoffnungsvollste besteht darin, daß es noch immer Menschen und Gruppen - so wenig es auch sein mögen - gibt, die nicht aufhören daran zu glauben, daß eine andere, gerechtere Welt und eine andere, evangelischere Kirche möglich sind. Europa kennt zahllose Aktionsgruppen, Südamerika hat seine Basisgemeinschaften, und vielleicht ist eine der reichsten Früchte der 68-Bewegung der Feminismus«.
(Redaktion von »de Bazuin«, 12. Mai 1978)

Der Feminismus, die radikalere Richtung der Frauenbefreiungsbewegung, ist nicht nur aus dem gärenden und fruchtbaren Boden der revolutionären sechziger Jahren heraus gewachsen; es stellt sich heute heraus, daß er selber immer tiefer und deutlicher eine Umwälzung in unserem Erleben, Denken und Handeln zuwege bringt. Und - das sei hier angefügt - auch in unserem Glauben. Deshalb will ich hier versuchen, den Feminismus unter die zahlreichen Befreiungsbewegungen einzuordnen, die Menschen, Gruppen und Weltteile auf die Beine bringen, vor allem in der Dritten Welt und bei den farbigen Völkern. Selbstverständlich zeige ich dies alles im Zusammenhang mit der Glaubenserfahrung und -reflexion von Christen, die in ihrem Leben Unterdrückung oder Einschränkung erfahren und zu ihrer Befreiung aufgebrochen sind.
Ich denke hier in erster Linie an die schwarze Theologie aus Südafrika, weil ich finde, daß Hautfarbe und Geschlecht zumindest das gemeinsam haben, daß sie für unser Leben von vitaler Bedeutung und unauslöschlich damit verbunden sind. Wenn ich mich mit der schwarzen Theologie befaßt habe, bin ich jedesmal wieder überrascht worden von den zahlreichen offensichtlichen Parallelen, die sich zwischen »Black Movement« (»Schwarzer Bewegung«) und »Women's Liberation Movement« (»Frauenbefreiungsbewegung«) ziehen lassen. Ein paar davon will ich hier aufzeigen.

1. Die Befreiung schwarzer Menschen

  • a) Die Schwarzen sind jahrhundertelang von einer sie beherrschenden Kultur unterdrückt worden. Sie hat sich den Schwarzen aufgedrängt und sich nicht die Mühe genommen, ihre Normen und Werte kennenzulernen, sondern sie als minderwertig eingestuft, die Neger nicht ernstgenommen, sondern zu Objekten erniedrigt,  über die man verfügt, und sie unsichtbar gemacht, ohne Macht, ohne Einfluß, ja sogar ohne Gesicht und Stimme.
  • b) Durch diesen Prozeß haben sich Schwarze selber ein niedriges Bild von sich selbst zu eigen gemacht: sie sind dumm, faul, machtlos, wissen es nicht besser und nehmen das ergeben hin. Das ist die schlimmste Form von Armut: nicht einmal wissen, daß man arm und seiner selbst entfremdet ist.
  • c) Mit der Zeit werden sich die Schwarzen dieser Situation bewußt und es wächst in ihnen das Bedürfnis nach einer Gemeinschaft, in der sie ihre Leidenserfahrungen teilen können. Schwarzsein wird nun als eine eigene, positive Lebenskategorie entdeckt und bekräftigt; black is beautiful (schwarz ist schön). Man ist nicht länger bereit, sich mit weißen Maßstäben zu messen oder messen zu lassen. Im Gegenteil: die eigene Hautfarbe wird zu einer Quelle, aus der alle schwarzen Institutionen aufgewertet werden. Die Sehnsucht, weiß zu sein, herrscht nicht mehr vor, sondern man ist auf die schwarze Eigenart stolz und verstärkt sie eher noch. Und man akzeptiert auch das so bequem zu predigende Stereotyp vom Adel des Dienens, das vor allem auf die Schwarzen angewendet wurde, nicht länger; man will selber herausfinden, wer man ist und wie man anderen auf persönliche Weise dienen kann, ohne ihnen unterworfen zu sein.
  • d) In ihrem Befreiungsprozeß machen die Schwarzen die Erfahrung, wie sehr sie sich selbst entfremdet worden sind, indem sie eine Sprache - mit all ihren Bildern und Symbolen - sprechen und hören mußten, die nicht ihre eigene ist, ganz zu schweigen von einer abstrakten Art des Denkens, in der sie sich gar nicht erkennen.
  • e) Das Verlangen erwacht, in der Geschichte die eigene unbekannte Vergangenheit zurückzufinden und ihre Spuren aufzuzeichnen.
  • f) Man wird sich aufs neue der eigenen, ursprünglich starken Gemeinschaftsstrukturen bewußt und will den Gemeinschaftssinn als Lebensstil wieder beleben. Von daher kommt die heftige Kritik an jeder falschen Form von Macht, die nicht organisch aus der Gemeinschaft herauswächst, sondern die Spitze einer starr gegliederten Hierarchie ist, die mit der Gemeinschaft nicht mehr in einem auf- und niedergehenden Prozeß der Kommunikation verbunden ist.
  • g) »Schwarz-sein« erhält eine Bedeutung, die über den wörtlichen Sinn hinausgeht: jeder Weiße sollte »schwarz« werden, das heißt die Erfahrung der Unterdrückung, Bewußtwerdung und Befreiung durchmachen, um dadurch ganzheitlicher zu werden und zu einer echten Brüderlichkeit mit den Schwarzen zu kommen.
  • h) Der Solidarität, die Schwarze, die sich ihrer Unterdrückung bewußt werden, auf diese Weise zurückgewinnen, wird durch eine zu frühe und billige »Versöhnung« Gewalt angetan, die ein paar Schwarze mit den weißen »Herren« aus dem Verlangen heraus eingehen, in die Kreise der herrschenden Kultur aufsteigen zu dürfen.

2. Die Befreiung weiblicher Menschen

Es würde mich nicht erstaunen, wenn - dank der Lektüre des vorangegangenen Abschnitts - der ziemlich oft verwendete Ausdruck »Frauen sind die Neger der westlichen Kultur« etwas mehr Farbe bekommen hätte. Es ist jedenfalls nicht schwer, die Parallelen zu ziehen:

  • a) Nach einer eher mutterrechtlichen und sich nach dem Verwandtschaftssystem der Frau richtenden Kultur, über die wir historisch nicht viel sagen können, aber auf die — unter anderem - aufgrund zahlreicher Ausgrabungsfunde und verschiedener Hypothesen - geschlossen werden darf, ist in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern - wie auch immer - eine einschneidende Veränderung eingetreten. Sie lief darauf hinaus, daß der Mann bestimmt hat, wer die Frau war. Dreißig Jahrhunderte und länger ist es nun so, daß die herrschende Kultur, die sprachbildende Gemeinde, die ein Volk vertretenden Instanzen und die machthabenden Autoritäten ziemlich ausschließlich aus Männern bestanden haben, für die Frauen auf dem Niveau der Entscheidungen, der Strukturen, der Wirtschaft, der Politik und der Kirchen einfach keine ernstzunehmenden Gesprächspartner waren. Frauen hatten in diesem Kontext kein Gesicht, keine Stimme, keinen Namen, sondern sie waren Objekte, über die entschieden und geurteilt wurde. Wir hatten keine - und haben noch immer kaum - Macht, um im öffentlichen Leben als Mit-Subjekte aufzutreten. Wenn wir heute dennoch mitmachen »dürfen«, dann noch sehr oft nur auf die Art und Weise, wie es eben gang und gäbe ist, und unter den schon jahrhundertelang feststehenden männlichen Bedingungen.
  • b) Viele Frauen haben sich die uns aufgezwungene Projektion so zu eigen gemacht - daß wir nämlich auf zahllosen Gebieten und vor allem dort, wo es um Führung und das Treffen von Entscheidungen geht, minderwertig sind -, daß wir noch immer meinen, daß wir dazu wirklich nicht imstande sind. Sexistische Apartheid hatte und hat meistens subtilere Züge als rassistische Apartheid, weil sie mit physiologischen oder biologischen Unterschieden erklärt und auf ein fixiertes Rollenverhalten reduziert wird. Ein solches Objektsein und Reduziertwerden auf unsere körperliche Erscheinung erfahren junge Frauen immer wieder, wenn sie von Männern angeschaut werden, wenn nach ihnen gepfiffen wird, wenn man sie anfaßt oder Witze über sie reißt und sie nicht mehr zu sein scheinen als eine »Zusammenstellung attraktiver Masse mit einem Kopf darauf«.
  • c) Es ist auffallend, wie sich immer mehr Frauen, quer durch alle sozialen Schichten hindurch, ihres niedrigen Selbstbildes, der Geschlechtsstereotype und ihrer Machtlosigkeit bewußt werden, sich davon befreien wollen und einen ersten Schritt in den Raum hinaus wagen. Wie die Neger haben auch die Frauen ein Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach »Schwesterlichkeit« in der Form von allerlei Gruppen, in denen wir aneinander wirklich eine therapeutische Funktion erfüllen: ich darf den tiefsten Schrei der Zerrüttung und der Geburtswehen ausstoßen, ich werde aufgefangen und festgehalten, bis ich aufs neue lerne, meinen Weg zu gehen. Wir beginnen, unser Frausein von den Wurzeln her neu zu schätzen und daran eine größere Bedeutung zu knüpfen. Wir fangen auch an, unseren Körper, die Erde und alles, was geschaffen ist, in einem neuen Licht zu sehen - nicht mehr als Objekte, die wir beherrschen wollen, sondern als Mit-Subjekte, zu denen wir in Beziehung stehen. Daß von dieser Warte her auch die Fragen der Ökologie und Technologie neu und kritisch gestellt werden, braucht wohl nicht weiter belegt zu werden. Frausein ist nicht mehr eine abgeleitete Form des Menschseins, nicht mehr untergeordnet und minderwertig, sondern das sogenannt »Weibliche« will aufgewertet werden -nicht nur um der Frau willen, sondern ebenso sehr, um die Männer und damit auch unsere ganze Kultur menschlicher zu machen.
    Allmählich gewinnt diese Selbstwerdung von Frauen den Vorrang vor einer allzu bequemen und undurchdachten Nachgiebigkeit gegenüber dem uns so flott gepredigten »Dienen«. Erst das Bewußtsein: wie kann ich für andere auf eine Art verfügbar sein, bei der auch ich selber Mensch werde, führt zu einer guten Form der Dienstbarkeit.
  • d) In den verschiedenen Befreiungsbewegungen gibt es in bezug auf Sprache, Bilder und Symbole deutliche Parallelen. Die Sprache ist eines der Instrumente, das die in einer Gemeinschaft herrschenden Werte und Normen am feinfühligsten wiedergibt. Frauen, die für ihre abgeleitete Existenz sensibel geworden sind, erkennen sich nur mit Mühe oder selten in der gebräuchlichen Umgangssprache, in der »Mensch« im allgemeinen »Mann« heißt. In verstärktem Ausmaß gilt das für die Sprache von Glauben und Liturgie, in der wir zur Bruderschaft gehören und im übrigen unsichtbar und unhörbar sind oder in jenen herkömmlichen Bildern und Symbolen vorkommen, die nun gerade die traditionelle Fixiertheit aufrechterhalten. Von daher rührt unser Suchen nach unverbrauchten Bildern und das Aufnehmen neuer Symbole (forcieren läßt sich das natürlich nicht: was jahrhundertelang festgefroren war, kann nicht in einer Generation wieder ein lebendiger Strom werden).
    Denn wenn Bilder und Symbole nicht mehr überraschen, verweisen und erweitern, sondern Menschen festlegen, dann werden sie zu Stereotypen, die eine lähmende Wirkung haben: was Männer und Frauen nicht mehr in sich selber zulassen, wecken und gestalten, stoßen sie gleichsam ab, verlegen es aus sich heraus und »bekleiden« damit das andere Geschlecht. Dann entsteht jene Unfreiheit, in der ein Mann ein Kerl sein muß, aber kein Schwächling sein darf, in der die Frau eine Maria sein muß, aber keine Eva und ebensowenig ein Mannweib sein darf. Deshalb suchen wir in der Sprache und den Bildern nach tieferen Schichten, um auch Frauen bei ihrem Namen zu nennen und sie aus der Einschränkung heraus zu einem neuen Leben aufzurufen.
  • e) Auch Frauen haben entdeckt, daß sie auf die Suche nach ihrer Geschichte gehen müssen, wenn sie ihren Vormüttern gerecht werden und selber Menschen mit geschichtlichen Wurzeln werden wollen. Nur wer ihre Vergangenheit nicht verdrängt, sondern auf sich nimmt, kann damit in ihrem Heute kreativ umgehen und den Groll vermeiden, so daß sie auch den Raum in die Zukunft hinein öffnet und offen hält. Frauengeschichte ist ein neues Forschungs gebiet geworden.
  • f) Es liegt auf der Hand, daß Frauen in ihrem Befreiungskampf alle Formen patriarchalischer Bevormundung und männlicher Machtstrukturen zurückweisen, daß sie der Machtpyramide den Kreis der Gleichwertigen vorziehen und versuchen, die Autorität, die Menschen aus ihrem Inneren heraus zukommt, nicht dadurch zu gefährden, daß alle Macht dann bei solchen Menschen zentralisiert wird. Man hat uns gelehrt, daß Macht korrumpiert. Aber das ist eine Lüge: der Mißbrauch der Macht korrumpiert, aber es ist auch die Machtlosigkeit von Menschen, Rassen und Weltteilen, die menschenunwürdige Zustände verursacht. Die Wahrheit ist eigentlich ganz einfach: Macht ist da, um geteilt und nicht, um bei einem einzelnen zentralisiert zu werden.
  • g) Gleich wie der Begriff »schwarz« erweitert und intensiviert worden ist, wandelt sich auch die Bedeutung von »Schwesterlichkeit« und »Feminismus«. Gerade darum wollen wir uns diese Bilder oder Bezeichnungen - allen Widerständen und allem Lächerlichmachen zum Trotz - nicht nehmen lassen. Denn es geht um die Befreiungsprozesse von Frauen, die- quer durch soziale und kulturelle Schichten hindurch - spezifische Erfahrungen der Unterdrückung, Einschränkung und Entfremdung von sich selbst durchmachen und in der Folge die herrschenden Strukturen der Macht der wenigen und der Machtlosigkeit der vielen erkennen. Die Intensivierung drückt sich vor allem in der wachsenden Solidarität zwischen all den Schwestern aus, die sich in einem solchen Befreiungsprozeß befinden. Die Erweiterung kommt in der Erfahrung zum Ausdruck, daß auch Männer »Feministen« sein können: jene Männer nämlich, die für die Apartheid, die jedem Geschlecht auferlegt wird, sensibel geworden sind und es wagen, das »Weibliche« oder die »Anima« in sich selbst zuzulassen. Auch sie machen dann die gleiche Erfahrung, wie sehr dieser Aspekt in unserem menschlichen Leben »unterliegt«, nach Aufwertung verlangt und zur Ganzwerdung des Menschen beiträgt. Um diese Aufwertung -wenigstens in einem Aspekt - zu beleuchten: es ist nicht zuletzt die Überschätzung des griechischen logischen und abstrakten Denkens gewesen, das die Trennung zwischen dem Hellen und Dunklen, dem Bewußten und Unbewußten, dem Unabhängigen und Abhängigen, den abstrakten, allgemeinen Vorstellungen und der konkreten, komplizierten Wirklichkeit mit-bewirkt und sichtbar gemacht hat. Und wir wissen, wie sehr das Dunkle, Unbewußte, Abhängige und Komplizierte auf die Frauen projiziert worden ist ... Dabei ist beides in beiden Geschlechtern vorhanden und kann dort einen fruchtbaren Nährboden für die Entfaltung androgyner Menschen bilden.
  • h) Es gibt auch äußerst emanzipierte Frauen, die im Feminismus eine Regressionserscheinung sehen und sich darüber ärgern oder lustigmachen. Sie haben sich »freiwillig« in die herrschende Kultur integrieren lassen, sich ihr angepaßt und können nun nicht mehr viel anderes tun, als die Männer imitieren und im besten Fall manchmal ein bißchen den Kurs korrigieren. Sie haben kein Bedürfnis, gegen die bestehende Kultur vorzugehen und Breschen hineinzuschlagen, sondern voreilig eine Art oberflächliche »Versöhnung« zwischen den Geschlechtern zustandegebracht, die niemanden befreit und der Solidarität in der Schwesterlichkeit Abbruch tut.

3. Glaubenserfahrung und Glaubensreflexion

Frauen, die sich selbst entdeckt und von sich Besitz genommen haben und anfangen, an sich selber zu glauben, bekommen auch ein neues Verhältnis zu ihrem Glauben. Manche halten das ganze Paket von Glaubenslehre, Kirche und Religion für erledigt, wenden sich davon ab und sind davon überzeugt, daß ihnen hierarchische Kirchen und ein autoritär auferlegter und in männlichen Bildern dargestellter Glaube wenig Gutes und viel Übles angetan hat. Wieder andere bewahren ihren Sinn für Religion, füllen aber so wenig wie möglich hinein, um zuerst einmal eine Zeitlang in einem möglichst offenen Raum zu leben. Schließlich gibt es Feministen, die sich aufs neue auf die Suche machen nach dem, was die jüdisch-christliche Tradition auch ihnen an Offenbarung schenken kann, wenn sie ihrer Einseitigkeit entkleidet wird.
Damit werden Frauen selbst zum Subjekt ihres Glaubenshandelns, -erfahrens und -denkens. Feministische Theologie ist damit eine Form der Befreiungstheologie, die immer auch eine auf Kontext und Situation bezogene Theologie ist, das heißt: es ist immer eine ganz genaue Analyse der konkreten (Unterdrückungs-)Situation nötig, in der Menschen leben, um auf dieser Basis ihr Verlangen nach einer gereinigten, sie nicht mehr entfremdenden Theologie verstehen zu können. Das kann beinhalten, daß sich die Glaubenserfahrungen schwarzer Menschen in Südafrika von denen der Neger in Nordamerika unterscheiden; sicher bedeutet es, daß wir-wenn es um Frauen geht-die Wirklichkeit verfehlen, wenn wir von »der Frau« (einer Art universellem Konzept) oder »den Frauen« reden, denn wir bilden ja keine große, unterschiedslose Masse, kein Stereotyp ohne Namen, Geschichte und Kontext.
Die Wirklichkeit ist für uns ja gerade sehr unterschiedlich, je nachdem, ob wir weiße, middle-class, westliche, im Kapitalismus lebende Frauen sind oder im gleichen Westen dem Proletariat angehören, ob wir farbige Frauen einer sozialen Oberschicht sind oder in einer unterdrückten Gesellschaft der Dritten Welt auch noch wirtschaftlich unterdrückt werden. Wir erleben im Feminismus, daß uns die Bewußtwerdung der uns selber einschränkenden Kultur auch sensibel gemacht hat für andere Formen von Unterdrückung und Ausbeutung, wo immer sie in der Welt Männern und Frauen angetan werden. In diesem Sinn will »Schwesterlichkeit« - auch ekklesiologisch verstanden - die tiefe Verbundenheit zwischen allen Unterdrückten zum Ausdruck bringen; sie will eine inklusive kirchliche Gemeinschaft sein, ein Volk Gottes auf der Suche nach Befreiung und Menschwerdung. Man kann darin auch einen onto-logischen Prozeß sehen: eine Frage von Sein oder Nichtsein. Indem sie bei   Tillichs »Mut zum Sein« anknüpfen, entdecken Schwarze und Frauen, daß für sie bis vor kurzem »Sein« in der Tat »Weiß-sein« oder »Mann-sein« bedeutete, und »Schwarz-sein« oder »Frau-sein« folglich zu den Kategorien des »Nichtsein« gehörten. Jetzt, wo eingeschränkte Menschen auf der ganzen Welt dazu gelangen, ihr Sein mit dem Schrei »Ich bin ich selbst; ich nehme mein Leben auf mich« zu bekräftigen, erfahren sie, daß sie in einem tiefen geistigen Prozeß stehen und als Abbild Gottes teilhaben an Gottes Sein und seiner schöpferischen Macht. Der Gott Israels hat sich ja geoffenbart als »Ich bin, der ich bin; ich bin für euch und mit euch und ich werde euch zum Sein bringen«. Mehr als alle anderen Bilder in der Bibel vermittelt dieser »Gott als Tätigkeitswort«, der Seiende und die Quelle des Seins, den Frauen eine Lebenserfahrung, die dynamisch ist und Menschen nicht unbeweglich macht, die kosmisch ist und Menschen mit der ganzen Schöpfung verbindet, die heilend ist und Menschen nicht auf ihren Körper und starre Bilder festlegt.
Es ist verständlich, daß schwarze Menschen auf Gottesbilder allergisch sind, die der Unterdrücker bis auf unsere Tage gebraucht hat, um den Schwarzen unten zu halten: »allmächtig, allwissend und allgegenwärtig«. Für Frauen sind die maskulinen, patriarchalischen Gottesbilder von Übel. Beide suchen nach relationalen Bildern, die Befreiung, Gerechtigkeit und Ganzwerdung des Lebens ausdrücken. Der Gott des Exodus aus den ungerechten Strukturen drückt diese Befreiung aus. Und in Jesus von Nazareth kommt uns Gottes Ganzheit in einer androgynen Menschlichkeit nahe, die Jesu Männlichkeit nicht verschleiern will, sondern sichtbar macht, in was für einer spannungsvollen Harmonie die beiden Komponenten zusammengehen können.
Ich selber bin immer mehr davon überzeugt, daß die Menschwerdung der Frauen eines jener Zeichen unserer Zeit ist, die prophetisch genannt werden dürfen; sie ist eine Frucht der Wirkung des Heiligen Geistes, der die Söhne und Töchter weissagen läßt. Diese Vision von Joel erfüllt Petrus, als er an Pfingsten das Wunder von Gottes Geist erlebt. Pfingsten ist das Fest der Mündigwerdung von Gottes Gemeinde: der Geist kommt über die Apostel, über Maria, über die Frauen, die im Obergemach zusammen sind. Der Geist atmet ihnen neues Leben ein, das Potential des Reiches Gottes muß nun in die Tat umgesetzt werden.
Zunächst schien es gut zu gehen in der Glaubensbewegung, die noch nicht in die herrschende Kultur integriert war. Aus einer ursprünglichen Quelle neuen Lebens heraus können auch Frauen in der Fülle leben, Gastgeberin, Diakon, Lehrer und Apostel sein, kurzum: die Gemeinde mit formen. Leben aus dem Geist kann nie eine marginale Existenz sein. Wenn wir heute in der schwarzen Theologie immer wieder auf die Aussage stoßen, daß Menschen ein randständiges Leben führen, daß sie zu »Nullen« reduziert worden sind; wenn in der feministischen Theologie immer wieder die Erfahrung durchklingt, daß Frauen so oft ein verkümmertes Leben führen müssen, dann müssen wir zum Schluß kommen, daß der, welcher einem andern jede Form von Weite verweigert, gegen den Geist sündigt. Nach ihrem hoffnungsvollen Anfang wurde die Kirche leider Teil der bestehenden Kultur, der politischen und sozio-ökonomischen Verhältnisse. Aus dieser Situation heraus ist die Bibel im Lauf der Zeit unzählige Male mißbraucht worden, um Menschen auf ihrem Platz festzuhalten, um die sozialen Stände zu rechtfertigen, die Kolonialisierung und Ausbeutung von Rassen und Stämmen zu beschönigen und um »die Rolle und den Platz der Frau« zu legitimieren.
Jede Form von Befreiungstheologie fängt wieder mit einem Exodus aus der Erstarrung und Erstickung an und versucht, die Bibel von jeder einseitigen - sei es rassistischen oder sexistischen - Interpretation zu reinigen. Sie will falsche Bilder abbauen, negative Selbstbilder austreiben, glaubt an die Auferstehung aus Leiden und Tod und trachtet danach, die Utopie des Reiches Gottes näher herbeizubringen, indem sie mit dem Geist als Transformator (Umwandler) zusammenarbeitet, um das Angesicht der Erde zu erneuern.

4. Dissonanzen und Harmonien

Die Frage, die Feministen immer wieder gestellt wird, läuft darauf hinaus: Ist eure Bewegung eigentlich nicht ein Luxus, den sich Frauen in den westlichen Ländern erlauben können, der aber bedeutungslos ist für Frauen in der Dritten Welt, die mit ihrem Volk zunächst für grundlegende Lebensbedingungen kämpfen, ein Ablenkungsmanöver für die schwarze Frau, die sich mit dem Kampf ihrer Männer für die Anerkennung ihrer Menschenrechte solidarisieren?
Aufgrund persönlicher Erfahrungen im Rahmen der Kultur, in der ich lebe und weil ich anderen Menschen zugehört habe, dazu aus der Lektüre sowohl aus Ostblockländern wie den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt komme ich jeden Tag tiefer zur Überzeugung, daß offenbar nur der Feminismus zu jener letzten und fundamentalsten Apartheid durchzudringen vermag, die die Geschlechter voneinander getrennt hat, indem sie dem einen Geschlecht eine herrschende Stellung über das andere eingeräumt hat. Das spielt sich auf zwei Ebenen ab: Persönlich müssen sich noch unendlich viele Frauen als Mensch befreien, in wachsender Autonomie ihren eigenen Raum einnehmen und Subjekte ihres Lebens werden; darüber hinaus kann der Feminismus aber auch einen Ansatz zur Vermenschlichung und Heilung einer Kultur und Religion bieten, in der bis heute einseitige Werte und Normen den Gang der Dinge bestimmt und in unserer Zeit die Welt in eine Sackgasse getrieben haben. Zur Illustration will ich die Schlußfolgerungen einiger wichtiger Denker anführen.
Andreas Burnier behauptet - übrigens in einem sehr kritischen Artikel über den Feminismus -, daß die denkerische Kraft der rein rationalistischen Philosophie etwa von Aristoteles, Thomas von Aquin und anderer von großem Wert für die Emanzipation der Menschheit war, aber auf Kosten des weiblichen Menschen gegangen ist. Was die Menschheit an Wissen gewann, verlor sie an Weisheit; was sie an Autonomie eroberte, ging ihr an Verwurzelung in der Wirklichkeit ab. Der Mensch ist dann zwar frei, aber nicht mehr in den Kosmos aufgenommen; zwar autonom, aber inmitten der sozialen Ordnung einsam. Die betonte Männlichkeit ist eine notwendige Phase in der Entwicklung der Menschheit, aber sie geht heute zu Ende. Wir stehen am Vorabend einer neuen Kulturperiode, in der die erworbene Fähigkeit des Denkens und die geistige Freiheit weiterhin neben einem Denken in Bildern eine Rolle spielen, wo das Bewußte wichtig bleibt, aber auch das Unbewußte dazugehört, wo der Dionysische Aspekt nicht weniger Bedeutung hat als der Apollinische. Dabei kann nicht die Rede sein von einer Regression, einem Zurückfallen in die »rosarote Atmosphäre des Gruppenuterus«, sondern es geht um eine neue Integration auf einem höherem Niveau.
Herbert Marcuse beschreibt in einem sehr persönlichen Artikel, wie er selbst ganz klar die Notwendigkeit des Feminismus erkannt hat, wenn wir zu einer besseren - sozialistischen - Gesellschaft kommen wollen. Die Befreiung der Frau ist ein schmerzhafter Prozeß (für Frauen, aber auch für Männer) und eine vitale Phase im Übergang zu einer für Männer und Frauen besseren Gesellschaft. Nur der Feminismus kann den Sozialismus verändern, der noch immer Elemente des Leistungsprinzips in sich trägt: die Produktion fördern, die Natur beherrschen, die Arbeit der Freizeit gegenüberstellen. Der Feminismus trägt das Potential für eine qualitativ andere Lebensform in sich, er kann Arbeit und Leben näher aneinander heranbringen, die Leistung relativieren, die Lust am »Sein« vergrößern und Sinne und Verstand von der Vorherrschaft der Rationalität befreien, so daß wir auf eine schöpferische Empfänglichkeit zuwachsen, die die repressive Produktivität verschwinden läßt.
Beim Übergang von einer Kultur des »Habens« zu einer Kultur des »Seins« kommt uns natürlich Erich Fromm in den Sinn, der die Befreiung der Frau als eines der Kennzeichen der neuen Gesellschaft bezeichnet. Wenn die Frauenbewegung, so Fromm, gegen die massive Konzentration der Macht sowohl im Kapitalismus wie im Kommunismus als Vertreterin der Anti-Macht auftreten kann, dann wird sie im Kampf für eine neue Gesellschaft von entscheidendem Einfluß sein.
Mehr implizit knüpft hier Ivan Illich an, der anstelle von »Fortschritt« auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Produktion mit dem Begriff der »Grenze« arbeitet. Nur innerhalb dieser Grenze kann von gesellschaftlicher Freiheit und Gleichheit die Rede sein. Illich steht eine »conviviale« (»gastfreundliche«) Gesellschaft vor Augen, in der die natürlichen Bedürfnisse noch nicht durch künstlich auferlegte ersetzt worden sind.
Und, so füge ich hier an, in der »convivium« (»Gastmahl«) wieder in seiner ursprünglichen Bedeutung verwirklicht wird: miteinander Mahlzeit halten, um einen Tisch herum, in einem Kreis leben, in dem sich Menschen anschauen und miteinander reden können und einander dadurch zum Leben bringen.
Mit vielen Philosophen der Dritten Welt verhält es sich wie mit der dort entstandenen Befreiungstheologie: sie nennen Frauen verhältnismäßig selten auf explizite Weise, und es ist eher so - wie Achterhuis es sieht - daß ihre »allgemeinen Analysen des Gegensatzes zwischen Unterdrückern und Unterdrückten gleichsam darauf drängen, in manchen Punkten anhand der Beziehung zwischen Mann und Frau konkretisiert zu werden«.[1]
Zum Schluß: die Befreiung der schwarzen Frau. Bei allen Parallelen, die mir zwischen der schwarzen und der feministischen Theologie aufgefallen sind, hat mich dennoch die (bis jetzt) völlige Abwesenheit der schwarzen Frau und des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern bestürzt. Auch hier ist die Gefahr, daß die Frau nach dem Freiheitskampf wieder in die Küche zurückgeschickt wird, keine Einbildung. Zum Glück haben an einer Zusammenkunft schwarzer Theologen in Accra (1978) die dort anwesenden Theologinnen offenbar die Forderung nach Zusammenarbeit aufgestellt.
Es ist ein nicht-schwarzer, südafrikanischer Theologe, Basil Moore, der auf beiden Ebenen seine Warnungen hören läßt:

  • Wenn es irgendwo Menschen gibt, die unter einem doppelten Joch seufzen, dann sind es die schwarzen Frauen Südafrikas: ein »Niemand« für die weißen und ein Besitz für die schwarzen Männer.
  • Im Hinblick auf die weißen, westlichen Gottesbilder, gegen die sich die schwarze Theologie auflehnt, legt Moore den Nachdruck besonders auf deren männliches Geschlecht, das die Schwarzen nicht übersehen sollten. Ihm mißfällt darum auch eine Strömung innerhalb der feministischen Theologie, die alle Bilder abschaffen will. Er plädiert eher für aufrufende, ja sogar provozierende Gottesbilder, die das Tabu durchbrechen, daß das Schwarze oder Weibliche nicht würdig ist, das Göttliche abzubilden. Für Moore stellt das Gottesbild »sie ist schwarz« auch eine Einladung an den Mann dar, seine eigene »Weiblichkeit« zu erkennen und zu entdecken, »wie sehr unsere eigene Menschlichkeit zu kurz kommt, wenn wir uns unsere Weiblichkeit nicht eingestehen. Hier haben wir Männer unseren äußerst wichtigen feministischen Kampf zu führen, das heißt unsere eigene soziale Weiblichkeit zu befreien. In diesem Kampf mit uns selbst, unter dem weiblichen Gottesbild, das gerade jene sozialen Züge bekräftigt, die zu unterdrücken uns das männliche Gottesbild ermutigt hat, können Frauen gar nicht unmittelbar teilnehmen« .[2] Moore ist gegen eine billige, vorschnelle Integration, eine wohlfeile Versöhnung zwischen den Geschlechtern, wenn nicht beide bereit sind, zuerst den schmerzhaften Auszug auf sich zu nehmen. Echte Versöhnung kann erst geschehen, wenn wir über die Erkenntnis von Leiden und Entbehrung, über die Anerkennung des anderen und die Bewußtwerdung des eigenen Anteils - jeder von seiner Seite her - zum Platz der Begegnung kommen, zur Quelle des lebendigen Wassers, wo der Dialog zwischen der Samariterin und Jesus von Nazareth stattfindet, der ihr verkündigt: Gott ist Geist.