Die Gewalt der Bilder

Zuerst vier Erfahrungen: 1967 hat eine katholische Frauenvereinigung ein Seminar über die Frau in den kirchlichen Amtsstrukturen veranstaltet. Noch immer erinnere ich mich lebendig an die erste spontane Reaktion des Religionspsychologen Han Fortmann auf die Einleitung, die ich eben gehalten hatte: was für eine Ausdauer, um noch so viel Zeit und Argumente aufzuwenden für etwas, das so selbstverständlich ist und auf der Hand liegt... Noch immer sehe ich das aufrichtige Erstaunen auf seinem Gesicht, und ich weiß, daß mich damals eine Verwirrung überwältigte, die mich nie mehr ganz verlassen hat. Den plötzlichen Schock: was mache ich da eigentlich, habe ich noch lange gespürt, obwohl ich den Kampf für eine Erhellung der »Sache« der Frau und des »Platzes« der Frau in der Kirche noch ein paar Jahre eifrig weitergeführt habe.[1]
Der zweite unvergeßliche Schock war noch viel verwirrender für mich. 1970 wurde an der fünften Sitzung des niederländischen Pastoralkonzils der Bericht über das Amt und die damit zusammenhängende Frage des Zölibats besprochen. Eine heftige Diskussion über diesen letzten Punkt nahm einen großen Teil des Tages in Beschlag, aber es sollte »auch noch kurz« Zeit übrig bleiben für die Besprechung eines anderen Kapitels dieses Dokuments, nämlich für den Abschnitt über die Frau in allerlei Funktionen von Amt und Dienst. Während der hitzigen Zölibatsdebatte und der Abstimmung darüber bin ich (als Kommissionsmitglied saß ich oben auf dem Podium und schaute in den Saal hinunter) über die Polarisierung des Gefechts und die manchmal geradezu verzerrten Kriegsgesichter der Kämpfer erschrocken (obwohl ich selbstverständlich immer solidarisch gewesen bin mit jenen, die eine Entkoppelung von Amt und Zölibat verteidigten). Als ich dann nachher, in einer Atmosphäre, die mir schon nicht mehr lag, wahrscheinlich etwas stockend und unsicher »unsere« Frage beleuchtete, legte sich das Interesse und es stand kaum noch Zeit zur Verfügung. Nach der Abstimmung wollte ich für einen bestimmten Punkt noch um etwas Aufmerksamkeit bitten, worauf der Vorsitzende zu mir sagte: Sind Sie denn noch nicht zufrieden? Ich dachte, daß Sie Ihren Kopf nun doch durchgesetzt haben ... Nach dieser Sitzung habe ich zuhause vor Wut, Verzweiflung und Unsicherheit ausgiebig geheult.
Nach dieser Episode habe ich mich ein paar Jahre zurückgezogen - wegen persönlicher Lebensumstände, aber auch weil ich intuitiv wußte und fühlte, daß wir nicht auf dem guten Weg waren. Bis ich mich etwa 1974 in der damals in den USA gerade entstandenen feministischen Theologie erkannte, in einem größeren Raum zu leben begann und von weiteren Versuchen absah, an einem Gespräch teilzunehmen, das kein Gespräch ist, weil die andere Partei nicht zuhört und nicht antwortet.
Diese Erfahrung wurde noch einmal bekräftigt, als ich an einem UNO-Seminar, das 1977 in Groningen stattfand, vor den ausländischen Teilnehmern über »Feminismus und Christentum« sprechen mußte. Dort stellte sich - wenn auch erst im nachhinein - heraus, daß einer der wenigen anwesenden Katholiken ein Vertreter des »Heiligen Stuhls« war. So ein Mann kann es sich offenbar leisten, unmittelbar nach dem Referat den aufliegenden Text einzustecken, zu verschwinden und sich der Diskussion zu entziehen, zu der Marxisten, Ungläubige und zögernde Christen offen ihre Beiträge lieferten. »Wie finden eure Bischöfe diesen Ansatz und was sagt Rom dazu«, wurde gefragt. Erst da hörte ich, daß »Rom« schon weg war.
Schließlich ließ ich mich Ende 1977 wieder einmal dazu verleiten, an einem Podiumsgespräch über den Zustand der Kirche mitzumachen: schafft sie es noch bis 1984? Auch da überfiel mich wieder dieses ohnmächtige Gefühl von Enge, Wut und Verärgerung, weil ein paar progressive Priestermänner genau zu wissen vorgaben, wer es gut mit der Kirche meinte. Wer nicht mit ihnen einig war, wurde naiv genannt und war eigentlich schon aus dem Boot gefallen. Die Gewalt ihrer Stimmen hinderte sie daran, die Nuancen in dem, was andere sagten, überhaupt noch zu hören.
Vier Augenblicke aus den vielen, in denen ich zuerst nur undeutlich und dann immer klarer Macht, Gewalt und Unterdrückung erlebt habe. Die erste, positive Erfahrung hat mir geholfen, selber zu größerer Klarheit zu kommen; die anderen machten wieder einmal deutlich, daß die bequeme Aufteilung in konservativ und progressiv keinen Trost bietet in der viel tiefergehenden Problematik des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern: wie weit ist unsere Kultur, vor allem in der Kirche, eigentlich schon von ihren Wurzeln abgekommen? Nachdem ich das gesagt habe, muß ich der Ehrlichkeit halber anfügen, daß den Fragen, die der Feminismus aufwirft, in den »progressiven« kirchlichen Kreisen doch langsam etwas mehr Raum gegeben wird, was in den zähen Kirchenstrukturen und in den Herzen ihrer konservativen Anhänger keineswegs der Fall ist. Beweglichkeit verschafft also offenbar auch hier einen Vorsprung.
Dies alles dient zur Einleitung einer Betrachtung über die »Gewalt« in den kirchlichen Strukturen, soweit sie den Ausschluß der Frauen nicht nur vom Priesteramt, sondern in der Tat auch aus fast allen Instanzen, wo Politik gemacht wird, betrifft. Es ist klar, daß es uns schon lange nicht mehr um die »Frage« oder den »Platz« der Frau geht, um die Formulierung unserer »Aufgabe« oder um »Zulassung« zu den Ämtern. Schon diese Begriffe deuten die Herrschaftsstruktur an: andere, das andere Geschlecht, soll für mich ausmachen müssen, was mein Platz ist! »Man's world« (»die Welt des Mannes«) hat die Macht, »woman's place« (»den Platz der Frau«) zu bestimmen. Darauf haben wir schon unzählige Ballen Papier verschwendet.
Im komplexen Problemfeld einer einseitig männlich strukturierten Kirche ist die Frage des Amtes wahrscheinlich nur die Spitze eines Eisbergs, an dem es noch viel zu untersuchen gäbe. Darum will ich hinuntertauchen - wie kühl es mir dabei auch werden möge -, um wenigstens eine Facette nach oben zu holen: nämlich den Gebrauch und die Verwendung der Bilder und Gleichnisse, die unserer Sexualität als Mann und Frau und den ehelichen und familiären Beziehungen entlehnt sind. Eines der Argumente im Text der Glaubenskongregation gegen die Frau im Amt ist ja der Nachdruck, der auf die Sakramentalität, das Zeichenhafte des Priestertums, gelegt wird. Sakramente müssen aus sich selber etwas darstellen können; sie sind natürliche Zeichen. Christus, der auferstandene Herr, ist Mann; also kann ihn nur ein männlicher Priester darstellen und vertreten. Überdies kann in der Person von Christus auch nur der Priester die Kirche vertreten. Das bedeutet also, daß Frauen dort, wo das Sakramentale zum Zuge kommt, weder Christus noch die Kirche darstellen können. Die Kirche, die ecclesia, ist in bezug auf den Bräutigam Christus wohl die Braut, aber da geht es um die Gemeinde, die aus Männern und Frauen besteht. Ganz zu schweigen von der mater ecclesia, die durch eine ausschließlich männliche, priesterliche Lehrautorität vergegenwärtigt wird.
Die Begründung in einer solchen Symbolik ist mir schon immer unverständlich gewesen, aber nun kommt sie mir lebensgefährlich vor - wie eine Erstickung und Erstarrung des Lebens der Kirche selbst. Denn sie spricht nicht nur mehr als der Hälfte ihrer Mitglieder das Recht und die Möglichkeiten ab, ihre Gaben und Fähigkeiten unbegrenzt im Dienst der kirchlichen Gemeinschaft zu entfalten; sie verstellt sich auch die Sicht auf die volle Menschlichkeit von Jesus dem Christus, auf die Menschwerdung Gottes. Wir wissen, daß die Bibel voll von Bildern, Symbolen und Gleichnissen ist, und daß eine Anzahl davon unserer Geschlechtlichkeit und der ehelichen Beziehung zwischen Mann und Frau entnommen sind. Ein paar will ich erwähnen, weil sie in der Argumentation im vorhin genannten Text der Glaubenskongregation vorkommen. Ich beschränke mich dann auf die Bildsprache im Hinblick auf Gott, auf Christus und die Braut-Bräutigam-Symbolik von Gott und seinem Volk, um nachher noch kurz auf das Mannsein von Christus einzugehen.[2]
Obwohl die Mehrheit der Gottesbilder in der Bibel männlich ist, stoßen wir doch auch auf eine Anzahl weiblicher Bilder: Der Herr ist der Vater seines Volkes, aber seine Zärtlichkeit ist die einer Mutter für ihr Kind (Jesaja 49,14-16). Wenn der Herr auszieht, um sein Volk zu erlösen, klingt sein Kriegsgeschrei wie das eines Kriegers, aber er wimmert auch wie eine Frau, die am Gebären ist (Jesaja 42,13-14). Gott ist sowohl unser Fels und unsere Festung wie die Quelle lebendigen Wassers ... In den Evangelien trifft uns aufs neue, wie Christus für sein Werk ohne Zögern auch weibliche und mütterliche Bilder braucht: das Gleichnis von der Frau, die ihr Haus auf der Suche nach dem verlorenen Groschen sauber fegt (Lukas 15,8-10); das Bild von der Henne, die »ihre Küken unter ihre Flügel sammelt«, das er auf sich selbst anwendet (Matthäus 23,37). Sogar der maskuline Paulus vergleicht sich in seinem ersten Brief an die Thessalonicher mit einer »Mutter, die ihre Kinder pflegt« (1. Thessalonicher 2,7).
Das biblische Bild des göttlichen Bräutigams, das auf Jahwe, auf Jesus und auch auf den Bischof in Beziehung zu seiner Kirche hinweist, kommt vor allem bei den Propheten Hosea und Jeremia häufig vor. Bei näherem Zusehen erweist es sich als ein äußerst reiches und kompliziertes Bild. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß es Hosea nicht so sehr um männliche und weibliche Geschlechtsrollen geht, als um den Nachdruck, den er auf die innige Einswerdung zwischen Bräutigam (Gott) und Braut (Volk Israel) legt, um Treue und ihren Bruch. Obwohl Israel als Braut erscheint, wütet Hosea vor allem gegen seine männlichen Führer als Schänder des Hochzeitsbandes und als Huren! Hosea und Jeremia sprechen über einen neuen Exodus (Jeremia 31) aufgrund eines erneuerten und vertieften Liebesbandes zwischen Jahwe und der Tochter Zion. Und im Deutero-Jesaja werden sowohl Zion wie Gott mit einer Frau verglichen. Zion sagt: »Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen«. Und Gott wird in den Mund gelegt: »Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?« (Jesaja 41,14-15). In all diesen Beispielen sehen wir, daß Bilder ineinander übergehen: Zion, die Witwe geworden ist, wird wieder Jungfrau, worauf sie zu einer neuen Ehe berufen wird. Zugleich sehen wir, daß Bilder auch ausgetauscht werden: einerseits wird Jahwe mit dem Ehemann verglichen, andererseits wird ihm in der Beschreibung »seiner« Zärtlichkeit und Barmherzigkeit auch das Bild des Mutterschosses zugeschrieben   (hebräisch »raham« bedeutet  uterus,  Gebärmutter).
Dies ist nur eine begrenzte Auswahl aus einer viel größeren Anzahl von Beispielen; sie scheint mir aber ausreichend, um zu verdeutlichen, daß die Bilder, die aufgrund der Erfahrung gläubiger Menschen in der Bibel gebraucht werden, den Nachdruck nicht auf den physiologischen Körperbau und die durch die Biologie bestimmten Geschlechtsrollen von Mann und Frau legen, sondern den Aspekt der Beziehung in der intimen, freudigen und fruchtbaren Vereinigung von Jahwe mit seinem Volk zum Ausdruck bringen wollen. Der Vergleichspunkt ist Treue und Untreue gegenüber der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk, symbolisiert in der Liebes- und Ehebeziehung, und nicht die sexuelle Bestimmtheit eines jeden Partners. Dies ist allein schon darum unmöglich, weil so oft eine schnelle und überraschende Wende im Bildgebrauch stattfindet, die ausgerechnet die konkreten »Naturgesetze« durchbricht. Es gibt schon zu denken, daß es offenbar nicht als Schwierigkeit empfunden wird, wenn der Mann-Priester den mütterlichen Christus vertreten muß, oder wenn ausschließlich Männer-Priester die Braut, die Kirche, darstellen müssen und als sündige Kirchenführer mit den Abgöttern huren.
Weiter: der Gott Israels übersteigt unsere Bilder und Metaphern unendlich und hat darum - angesichts unserer Unfähigkeit, Gott wirklich zu erkennen - einen übermäßigen Reichtum an Bildern nötig, die sich gegenseitig ergänzen. Alle diese Bilder sagen letztlich immer mehr über unsere menschliche Erfahrung aus, als daß sie Gott Sexualität zuschreiben würden. Unser Gott ist Geist, nicht in menschlichen Formen sexueller Unterschiede, ehelicher Beziehungen oder familiärer Muster einzufangen. Wenn wir trotzdem Bilder aus diesem Sprach- und Erfahrungsbereich verwenden, dann nur, um innige Beziehung, Treue und Herkunft (Sohn Gottes) zum Ausdruck zu bringen.
Was läßt sich nun über das Mann-sein von Jesus, ja selbst des verherrlichten Christus sagen? Macht seine Männlichkeit ein so unentbehrliches Element seiner Erlöserrolle aus, daß es den Frauen schon wegen ihres weiblichen Körpers unmöglich ist, die Liebe Gottes zu den Menschen, die sich in der Inkarnation seines Sohnes niedergeschlagen hat, zum Ausdruck zu bringen und zu vergegenwärtigen? Die verschiedenen Autoren, die ich dazu zu Rate gezogen habe, heben alle hervor, daß Jesus im ganzen Neuen Testament nur dreimal »Mann« (aner), aber fast immer »Mensch« (anthropos) genannt wird. Auch Paulus nennt, wo er in den Römerbriefen den gehorsamen Christus dem ungehorsamen Adam gegenüberstellt, beide »Mensch« und nicht »Mann«. Wenn wir über die Inkarnation Gottes sprechen, dann drücken wir das auf zwei Arten aus: das Wort ist Fleisch geworden, oder: Gott ist Mensch geworden, aber nie: Gott ist Mann geworden. Die Kirche ist ganz bezogen auf Jesus als den Christus, in dem die rechte und vollständige Beziehung der Menschheit zu Gott sichtbar geworden ist. Jesus ist als Christus der Träger von Gottes Rettung und Heilung, von Gott-mit-uns.
Kirchenväter verstanden unter Inkarnation die Ähnlichkeit des Wortes Gottes in seiner Menschlichkeit mit allen, die in der Perspektive der Erlösung eingeschlossen sind. Wenn Athanasius zu sagen wagt: er wurde Mensch, damit wir göttlich würden, dann sind diese »wir« Menschen, männliche und weibliche Menschen. Wer in der Sprache der Zeichen, der Sakramente, denken will, kann nur ein Sakrament finden, das entscheidend ist, um Christus zu vertreten: die Taufe. Denn durch diese Gnade haben wir Teil an der Identität von Jesus als dem Christus, kommen wir in eine Beziehung zu Gott-in-Christus, dem Erstgeborenen der Menschheit.
Hier ist der Schluß zu ziehen - und viele haben ihn schon gezogen -, daß gerade die Priesterweihe von Frauen und ihre Amtsausübung das bestehende Bild eines einseitig männlichen Priestertums beseitigen und zu einem vollständigeren, reicheren Ausdruck der Erlösung durch Christus und seiner Vergegenwärtigung führen würde, weil dann die ganze Menschheit darin sichtbar würde, nicht mehr halbiert und auf unfrei-machende Geschlechtsrollen festgelegt. Solange das aber noch geschieht, bleiben wir in Sündenfall und Strafe stecken, obwohl wir doch aufgrund der erlösenden Wende in der Perspektive der neuen Schöpfung leben dürften, deren Erstling Christus ist (Galater 3,26-28).
Es ist hoffentlich deutlich geworden, daß eine spontan entstandene Symbolik, die der eigenen menschlichen Erfahrung entlehnt ist, diese aber auch wieder übersteigt und überrumpelt, von bestimmten theologischen Schulen und der kirchlichen Lehrautorität als Bumerang gebraucht wird, um das weibliche Geschlecht einzuschränken und auf seinem Platz festzuhalten. Statt Raum geht von dieser Bildersprache in Wirklichkeit Zwang aus. Es ist, als wenn »Rom« noch immer mit den geschlechtlichen Unterschieden zwischen den Menschen »biologisieren« würde und sich davon - weil niemand eine reale Beziehung dazu und Erfahrungen damit hat -sowohl übertrieben romantische Vorstellungen macht wie Gefahr läuft, in ein primitives Stadium zurückzufallen, wo zur Erklärung von Mensch und Kosmos nur Polaritäten zur Verfügung stehen: hell/dunkel, Himmel/Erde, gut/böse, Mann/Frau.
Das Bedürfnis nach Klarheit und Unterscheidung im Denken ist in einer männlichen Kultur immer sehr groß gewesen; wir haben ihm viel zu verdanken. Aber das Auseinanderlegen, um zu klaren Begriffen zu kommen, hat nicht selten zu einem bleibenden Scheiden geführt; dadurch fiel das, was auf verwickelte Weise zusammengehört, in Fragmente auseinander, und das, was in polarer Spannung festgehalten werden sollte, wurde in einem Prozeß der Polarisierung auseinandergetrieben. Unter der Oberflächen-Schicht der geschlechtlichen Kategorien liegen tiefere und komplexere Schichten, die berücksichtigt werden müssen, gibt es Ambiguität und Unterschiedlichkeit in Anlage, Charakter, Kultur und gesellschaftlicher Stellung. »Es gibt keinen einzigen Lebensaspekt, der rätselhafter, komplexer und einem Irrgarten ähnlicher ist als das Mann- oder Frausein der Menschen in bezug auf ihre Sexualität«.
Und doch denke ich, daß wir am Eisberg unter Wasser noch eine tiefere Schicht anbohren müssen. Neben der Macht der herrschenden Struktur, die zu wenig auf die Zeichen der Zeit hört, sich damit isoliert und unwiderruflich in ein Getto hineinmanövriert, außer dem Zwang einer vorhandenen Symbolik, die nicht aufruft, sondern niederdrückt, spielt wahrscheinlich noch ein dritter Faktor eine Rolle, nämlich die Angst vor der Konfrontation mit einer anderen Erfahrungswelt, die man immer auf Frauen projiziert und in sich selber verdrängt hat: die Emotionalität, die persönliche Betroffenheit, eine intuitive Art des Wissens, das Bedürfnis nach gegenseitiger Verbundenheit mit den Menschen, aber auch mit der Erde und der Natur, ein weniger gradliniges, konsequent logisches Denken, dafür aber ein erfinderischeres, improvierteres Handeln, weniger Sachlichkeit, größere Zweideutigkeit.
Wir wissen, daß die Vaterreligion Israels und des Christentums eine kräftige Gegenreaktion auf die umliegenden Mutterkulte und Fruchtbarkeitsriten war. Das Weibliche, die Mutterschaft, das Tragen, Gebären, Nähren und Bluten, der Zyklus der Frau und der Jahreszeiten, das Auf- und Niedergehen der Gestirne, die Gezeiten der Gewässer: das waren die großen grundlegenden Rätsel, zu denen unsere Voreltern eine Beziehung finden mußten. Die Offenbarung Israels hat die Entgöttlichung der Sexualität, der Natur und der Erde nach sich gezogen. Der Schoß von Mutter Erde brachte Leben hervor und nahm Leben zu sich. Nun wurde ihr die numinose Macht von einem transzendenten, geistigen, jede Gebundenheit an Sexualität übersteigender Gott weggenommen, der den Menschen aus dem festhaltenden Schoß wegzog. Es ging nun nicht mehr um das natürliche Band (aber auch die Gebundenheit) des Kindes an die Mutter, sondern um die Anerkennung und Annahme des Kindes durch den Vater, der das Kind herausführt, auf den Weg stellt und ihm Normen gibt. So hörte der Mensch auf, ein Gefangener der Erde und des Kosmos zu sein; das Bild des Exodus im Alten Testament und das des »Wegs« im Neuen Testament haben uns zu einem weiteren Prozeß der Menschwerdung verholten. Diese Entwicklung hat den Menschen in der Tat weitergebracht; durch ihre Kontrastwirkung, ihre Abkehr von und ihren Protest gegen die Mutterreligionen hat sie aber auch viel Schaden angerichtet. Die ganze Erfahrungswelt, die wir die »weibliche« nennen, mußte gleichsam untertauchen und wurde von der herrschenden Kultur abgeschnitten, zum Nachteil von beiden. Vor allem die Emotionalität mit all ihren Ausdrucksformen von Wärme, Zärtlichkeit und Nähe, aber auch ihren Höhen und Tiefen, wurde als untauglich für die »männlichen« Aufgaben des Herrschens, Eroberns und der Technologie erklärt.
Manchmal stellen wir allerdings ein spontanes Verrücken der Bilder fest, wenn zum Beispiel einem männlichen Heiligen (Franziskus, Paulus) oder auch Christus hegende, nährende, zärtliche Züge zugeschrieben werden. Ein Bruder bittet Franziskus: »Gib uns deinen Segen, allerliebste Mutter, und laß mich deine Hand küssen«.[3] Anselm von Canterbury betet: »Paulus, meine Mutter, Christus hat auch dich getragen... Paulus, bitt für deinen Sohn, weil du seine Mutter bist, daß der Herr, der auch seine Mutter ist, seinem Sohn das Leben geben möge«.[4] Und Juliana von Norwich: »So wahr Gott unser Vater ist, so wahr ist Gott unsere Mutter; so ist, in unserer Vorstellung, der allmächtige Gott unser freundlicher Vater und der allweise Gott unsere liebe Mutter«.[5] Es ist nicht das Geschlecht der betreffenden Person, sondern die mütterliche Haltung, die hier dargestellt und zum Vergleichspunkt genommen wird.
Es wäre eine Untersuchung wert, der Frage nachzugehen, ob diese »Verrückung« auch umgekehrt vorkommt: ob also auch Frauen, die eine führende Rolle innehaben, Klöster stiften, einen entscheidenden Weg einschlagen, befreiende Normen aufstellen, »männliche« oder »väterliche« Züge zugeschrieben werden. Die Schlußfolgerung des Religionspsychologen Vergote, daß Vaterreligion der Mutterreligion vorzuziehen sei, betrachte ich darum als so gefährlich, weil er behauptet, daß die wichtigen mütterlichen Aspekte zwar eventuell in die väterlichen Züge aufgenommen werden können, aber nicht umgekehrt. Warum lesen wir bei ihm wohl etwas über die ungünstigen Züge des Mutterbildes, aber nichts über die Gefahren des Vaterbildes? Vergote: »Es ist wahrlich kein Zufall der Kulturgeschichte, daß Gott uns durch das Symbol des Vaters vermittelt wird«.[6] Weil nun gerade diese Art von Bildern das konkrete Leben vieler Frauen und Männer beschädigt hat, wäre es angebracht, daß sich Religionspsychologen und andere Wissenschaftler auf diesem Gebiet um äußerste Behutsamkeit und Bescheidenheit bemühen, wenn sie die Bilder von Vater und Mutter gegeneinander ausspielen. Noch eher ließe sich, mindestens vorübergehend, eine bilderlose Religion verfechten - etwas, das Israel schließlich als erstes Gebot auferlegt worden ist!
Der rigide Geschlechtsunterschied, der im Prinzip der Komplementarität zum Ausdruck kommt (auf dieses Prinzip beruft sich auch die römische Erklärung von 1977, die den Frauen den Zugang zum Priesteramt versagt), hält das Leben - auch innerhalb kirchlicher Strukturen - übersichtlich. Dazu trägt ebenfalls der hierarchische Aufbau bei, der alles und jeden »auf seinen Platz« stellt. Die Kirche ist eine der letzten Organisationen, wo noch an beiden Faktoren festgehalten wird. Es gehört zu ihrer soziologischen Erscheinungsform als wenn nicht totale, so doch »gefräßige Institution«; das ist sie, weil sie von den Menschen in ihrem Dienst ungeteilte Hingabe und exklusive Treue verlangt.[7] Die Familie hat das bis vor kurzem der Hausfrau und Mutter zugemutet; die Kirche verlangt es noch immer von ihren Amtsträgern. Es paßt schlicht und einfach nicht zu ihrer Auffassung vom Amt, daß es konkret durch Frauen (oder verheiratete Männer) ausgeübt würde, die gleichzeitig mit der Komplexität mehrerer Lebensbereiche fertig zu werden versuchen.
Heute vollzieht sich meiner Meinung nach jedoch ein Wandel vom Bedürfnis nach »Totalität«, vollständiger Hingabe mit Haut-und-Haaren, alles-auf-eine-Karte-setzen, heroisch-sein zu einem Verlangen nach »Ganzheit«, Integriertheit, nach einem Bezogensein auf vielerlei Aspekte. Oder anders: die konsequente Totalität und die verletzbare Ganzheit gleichen sich weniger, als es die Ähnlichkeit der Worte vermuten ließe. An die Stelle des heroischen Zeugnisses für Christus im Martyrium in den ersten Jahrhunderten ist das Zeugnis der Askese - vor allem im Stand der Jungfräulichkeit und des Zölibats - getreten. In aller Achtung vor diesen beiden Möglichkeiten (die weiterhin verwirklicht werden können) entwickelt sich heute eine dritte Form des Zeugnisses bei Christen, denen die Komplexität der Welt zu Herzen geht und die sich gegen eine weitere Entfremdung, Atomisierung und Bürokratisierung wehren. Das verlangt, daß wir von stereotypen Geschlechtsrollen absehen und den Akzent auf die persönlichen Gaben eines jeden legen, damit sich Charismas unter allen möglichen Lebensumständen entfalten können. Dann brauchen wir aber auch eine beweglichere Verfügbarkeit von mehr Christen und weniger »gefestigte«, uns festhaltende Lebensstrukturen, weniger »bürgerliche« und bevormundende Ehen und Familien. Solange »Rom« die Konfrontation mit der lebendigen, konkreten »Frauenwelt« -von Laien und von wieder als Pionierinnen auftretender Nonnen - nicht will oder nicht wagt und der Improvisation, vielleicht sogar einem vorübergehenden Chaos, das aber voll neuer Verheißungen steckt, aus dem Weg geht, bleiben wir in der Erstarrung, der Versteinerung und der Kälte des Eisbergs sitzen.
Ich hätte mit dieser skizzenhaften, tastenden Betrachtung keine Ruhe, wenn ich nun einfach einen Strich darunter zöge. Denn es wäre zu bequem, der kirchlichen Lehrautorität alle Schuld zuzuschieben, und überdies wäre es nur die halbe Wahrheit. Denn außer den genannten Formen von Zwang und Herrschaft gibt es in jeder herrschenden Kultur so etwas wie die Macht der Gewohnheit. Diese ist nicht nur ganz gehörig in unserer Gesellschaft zu spüren,
sondern auch in fast allen Kirchen, wo man den Frauen zwar theoretisch den Zugang zu den Ämtern gibt, ihnen aber doch nicht wirklich Platz macht. Die schroffe Haltung von Rom zwingt uns wenigstens dazu, tiefer zu graben und keine formalen Scheinlösungen zu forcieren, die doch nicht von innen heraus zugestanden und darum auch nicht mit allen Konsequenzen in die Tat umgesetzt werden können. Solange die »Kirchenfürsten« davor zurückschrecken, sich selbst und ihre Positionen, ihre Werte und Normen der Kritik zu unterstellen und ihrer Einseitigkeit auf die Spur zu kommen, kann eine Frau nur mitmachen, wenn sie sich ihren Bedingungen unterwirft. Wirklich Pionierarbeit zu leisten, das heißt Druck auf die Grenzen der Kultur auszuüben, ist unter solchen Umständen nicht möglich.
Noch näher möchte ich katholischen Mitmenschen in meiner eigenen Umgebung, den Kirchenmitgliedern und Theologen, Frauen und vor allem Männern, jungen und älteren, die zusammen einen Teil der römisch-katholischen Kirche ausmachen, auf den Pelz rücken. Müssen wir nicht zuerst vor der eigenen Türe kehren? Wir können Rom doch kaum Starrheit vorwerfen, wenn wir nicht selbst in Bewegung kommen und - amüsiert oder irritiert, aber immer aus Distanz - zusehen, wie Frauen heute für ihre Befreiung kämpfen.
Worin besteht denn diese Unterdrückung eigentlich, fragen mich Männer immer wieder. Es sei hier wieder einmal gesagt: daß das eine Geschlecht bestimmt hat - und noch immer zu wissen vorgibt -, wer das andere Geschlecht ist, wie es sich aufzuführen hat, welche Rollen es ausüben kann und darf und welche Werte ihm zuzuschreiben sind. Dem liegt die feste Überzeugung zugrunde, die weiterhin festgehalten und gefördert wird, daß nämlich das biologische Geschlecht die ganze Person eines Menschen bestimmt. Wenn Menschen unterdrückt werden, heißt das immer, daß eine Partei zu viel Raum einnimmt und der anderen kaum oder auf jeden Fall zu wenig Raum läßt, um zu leben (ökonomisch), um sich auf ihre Art und nach ihrer Veranlagung zu entfalten und um eigene Lebensentwürfe zu machen (psychologisch), und um aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen und Möglichkeiten einen Beitrag an die Gesellschaft zu liefern (strukturell). Ich wage zu behaupten: solange sich Männer-jeder in seinem Kontext - nicht einmal die Mühe nehmen, sich über das, was vorgeht, zu informieren, und solange Theologen, die in ihrem Fach so gerne Schritt halten, noch immer keine einzige Publikation auf dem Gebiet der Frauenbewegung gelesen haben, solange bleiben diese Männer mitschuldig an den unterdrückenden Strukturen und am ausschließenden Klima. Verschiedene feministische Autorinnen haben bereits eine Reihe von Haltungen analysiert, die in der Tat Mitschuldigkeit am Sexismus beinhalten:

  • das Problem nicht erkennen wollen;
  • es von sich fernhalten, lächerlich machen und herabspielen;
  • bei Frauen Schuldgefühle wecken;
  • uns als unweiblich, Mannweib, alte Jungfer verurteilen oder Sprüche fallenlassen wie »sie hat es wohl nötig«, »ihre Ehe taugt sicher nichts«;
  • das Problem abschieben: »in anderen Kirchen ist es auch nicht besser« oder »schau mal, wie es in einem Land zugeht, wo eine Frau Premierminister ist«;
  • mit der wohlwollenden Haltung von jemandem, der Caritas übt und zu Dankbarkeit verpflichtet.

Es ist schade, daß ich diese Möglichkeiten hier nicht mit bestürzenden Beispielen illustrieren kann, wie sie bis heute regelmäßig vorkommen. Aber es könnte auch anders sein: in der Bereitschaft, Vertrauen auszudrücken, Interesse zu zeigen, neugierig zu sein, das Gespräch oder eine Diskussion zu wagen, einmal kritisch auf sich selbst zu schauen, sich einmal eine Zeit lang des (Ver)Urteilens zu enthalten und vor allem durch Zuhören. Wenn wir in unserer eigenen Umgebung den Weg »from machismo to mutuality«, von »gockelhafter Männlichkeit zu menschlicher Gegenseitigkeit«, nicht zurücklegen, wie sollten wir es dann von isolierten Führungsgremien erwarten können.
Ich möchte hier auf das Buch »Die Stärke weiblicher Schwächen« von Jean Baker Miller hinweisen. Aufgrund ihrer therapeutischen Erfahrung und ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen versucht sie, einen Rahmen für ein neues Verständnis der Frau zu entwerfen. Sie betrachtet das ganz bescheiden als Beitrag in einem Prozeß, in dem wir Frauen miteinander stehen, unsere Erfahrungen teilen und immer wieder einen Schritt weiterkommen. Ihr Werk geht von der Zweiteilung der Menschheit in Herrschende und Untergeordnete aus. Ihre These lautet: »Die Menschheit wurde in einer beschränkten und verzerrten Einschätzung ihrer selbst gehalten - angefangen bei der Deutung der intimsten persönlichen Gefühle bis hin zu den großartigsten Erscheinungen menschlicher Möglichkeiten -, und zwar eben wegen der Unterdrückung der Frauen«.[8] Und weiter: »Indem sich Frauen weigern, die Bürde verschiedener ungelöster Probleme der männlich-bestimmten Gesellschaft zu tragen, und zu Verfechterinnen einiger der wertvollsten Aspekte des Menschlichen werden, können wir, glaube ich, ein allgemeines Klima schaffen, in welchem auch Männer sich schließlich auf ihre Weise mit ihren eigenen Problemen auseinandersetzen werden. Dann werden sie mit ihren körperlichen, ihren sexuellen, ihren kindheitlichen Erfahrungen konfrontiert sein, ihren Gefühlen von Schwäche, Verletzlichkeit, Hilflosigkeit und anderen, ähnlich verdrängten Empfindungen. Und sie können ihre emotionale Erfahrungsbreite erweitern und ihr wirkliches Potential an Kooperationswilligkeit und Kreativität entdecken. Weil diese Persönlichkeitsbereiche dann nicht mehr von Frauen >besetzt< sind und von der männlich-orientierten Gesellschaft abgewertet werden, werden die Männer endlich selber erkennen, wie wenig adäquat ihre sozialen Formen den eigentlichen Bedürfnissen sind. Die Männer werden dann für sich selbst neue und bessere Wege finden müssen.«[9] Und als letztes: »Solange man Frauen bei dem massiven Versuch, bestimmte menschliche Grundprobleme zu unterdrücken, einspannte, blieb der Konfliktprozeß selbst verdeckt. Wenn Frauen diese alte Position aufgeben, wird man mehr über Widerstreit erfahren und sich auf angemessene Weise damit befassen können ... Frauen schaffen nicht Konflikte, sie decken nur die Tatsache auf, daß Konflikt existiert«.[10]