Feminismus als Weg zur Befreiung: Woher und Wohin?

Wer im Zusammenhang mit dem Phänomen »feministische Theologie« etwas erzählen, beschreiben und erklären will, tut meiner Meinung nach gut daran, sich zuerst auf den Begriff »Feminismus« zu konzentrieren und erst nachher auf die Theologie einzugehen. Denn so sehr die Theologie auf abstrakte Weise als »logos «, als das Wort, die Reflexion, ja selbst die systematische Wissenschaft von Gott umschrieben werden kann, konkret sind es immer Menschen, die Theologie betreiben. Die Sozialwissenschaften haben uns gelehrt, daß es sehr viel ausmacht, wer (über welches Thema auch immer) spricht und wer seiner oder ihrer Aussage zuhört. Das Thema mag »neutral« oder sogar banal erscheinen, wie etwa das Reisen in Spanien; aber selbst dann ist die Person, die darüber redet, nicht neutral. Die Sprecherin bringt ihre ganze Welt von Erlebnissen, Gefühlen und Projektionen mit ein, und auch der Zuhörer hört mit seinem Hintergrund, seinen Erfahrungen, Erinnerungen und Frustrationen. Kein Wunder, daß schon zwei Menschen zwei sehr verschiedene Vorträge über das Reisen in Spanien halten würden. Nun haben wir es mit der bemerkenswerten Tatsache zu tun, daß sich bis vor kurzem nur eine Sorte Menschen mit Theologie befaßt hat, nämlich männliche Menschen, und daß dies Jahrhunderte lang als selbstverständlich gegolten hat. Jetzt wo Frauen dank ihrer wachsenden Bewußtwerdung auf allen Gebieten, mit denen sich das menschliche Denken befaßt, mitmachen wollen, stoßen sie auf einen Wissenschaftsbetrieb, eine Philosophie und Theologie, die einseitig, halb oder zumindest unvollständig ist. Da stimmt etwas nicht; da ist in praktisch allen historischen Kulturen und in der Konkretisierung aller großen Religionen etwas schief gelaufen - und das hat mit der Abwesenheit der Frauen in Kultur und Religion zu tun. Davon handelt der Feminismus; deshalb ist es unsere Aufgabe, zunächst darauf näher einzugehen. Feminismus ist ein älterer Begriff, der während der sogenannten zweiten und radikalen Welle der Frauenbefreiungsbewegung, die in den sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten entstanden ist und nachher ziemlich schnell auf Europa übergegriffen hat, wieder aufgetaucht ist. Frauen begannen zu entdecken, daß sie die formale Freiheit der Ausbildung, Berufsausübung, des Stimmrechts und der Teilnahme an der Politik, die man ihnen zugestanden hatte, zwar etwas weiter, aber nicht weit genug gebracht hatte. Die Forderungen nach der Vollendung der Frauenemanzipation wurden lauter gestellt: gleicher Lohn für gleiche Arbeit und viele andere. Aber damit verändert die Welt ihr Angesicht noch nicht, und gerade jene Frauen, die am kritischsten sind, machen die Erfahrung, daß es nach wie vor wie früher ist: man's world - woman's place (die Welt des Mannes - der Platz der Frau). So entsteht der Feminismus, der weiter gehen will als der Kampf für die Anerkennung der Gleichwertigkeit von Mann und Frau, für gleiche Rechte und Pflichten für beide Geschlechter, für eine gleichberechtigte Teilhabe an allen Strukturen des Mitdenkens und Führens auf allen Gebieten. Denn solange Frauen nur unter der Bedingung mitmachen »dürfen«, daß sie das Bestehende so lassen, wie es ist, und nicht durch abweichendes Verhalten zur Last fallen, ist noch immer etwas grundlegend falsch. Die Männer bleiben weiterhin Maß und Norm für alles, was besteht, und Frauen können sich bloß noch anpassen.

Das heißt: Feministinnen sind jene Frauen, die nach ihrem Emanzipationsprozeß feststellen, daß sie an einen entscheidenden Kreuzpunkt gelangt sind, weil ihr Gefühl des Unbehagens gegenüber den bestehenden Strukturen nach wie vor da ist, und die es sich nun zur Aufgabe machen, die vorher genannten Rechte und Pflichten, Strukturen, Werte und Normen selber der Kritik zu unterziehen und sie auf ihre Gültigkeit und Menschlichkeit hin zu untersuchen. Für diese Frauen wird Feminismus zu einem persönlichen, manchmal schmerzhaften, aber auf die Dauer befreienden Prozeß, in dem wir uns bewußt werden, wie stark und in welchem Ausmaß wir uns durch Erziehung, soziale Konditionierung sowie berufliche und wissenschaftliche Ausbildung die herrschende Kultur zu eigen gemacht und sie verinnerlicht haben. Wollen wir zu uns selbst kommen und konstruktiv zur Verwandlung einer Kultur beitragen, die in ihrer Einseitigkeit festzufahren und in ihrer technologischen Entwicklung außer Rand und Band zu geraten droht, dann müssen wir uns Schritt für Schritt aus der Entfremdung von uns selbst befreien.
Feminismus umfaßt also mehr als die Emanzipation der Frau, auch wenn diese eine notwendige Voraussetzung ist.

  1. Er beinhaltet eine fundamentale und radikale Befreiung von Frauen zu autonomen Menschen; er ist also ein (sozial-)psychologischer Prozeß.
  2. Er setzt eine genaue Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Faktoren voraus, die bei der Unterdrückung der Frauen im Spiel (gewesen) sind; er ist auch ein sozialer und ökonomischer Prozeß.
  3. Feminismus lehnt sich gegen die einseitig maskuline Kultur auf; er ist damit eine Form von Gegen-Kultur.

1. Befreiung zur Autonomie

Wenn wir den Feminismus als einen Befreiungsprozeß von Frauen zu autonomen Menschen verstehen, steht die Frage: wer bin ich als weiblicher Mensch? statt: wer soll ich gemäß Meinung und Erwartung anderer sein? im Zentrum. Nach allen Protesten nach außen geht es hier letztlich um eine Wendung nach innen. Die Zeit liegt noch nicht so weit hinter uns, daß eine Frau aufgrund ihrer Leiblichkeit dazu bestimmt war, zu heiraten und Mutter zu werden. Das war das Erwartungsmuster der Gesellschaft und auch ihre eigene Prognose. Wurde nicht um ihre Hand »angehalten«, so drückte dies ihrem Leben ein Stigma auf. Sie war dann frei für eine manchmal fesselnde, oft aber eintönige Berufstätigkeit, die der verheirateten Frau und Mutter untersagt blieb oder erst möglich wurde, wenn die Kinder groß waren. Frauen aus gläubigen Kreisen konnten der Ehe entgehen, wenn sie einer religiösen Gemeinschaft beitraten, mußten damit aber auch jeder sexuellen Erfahrung abschwören. Frauen unterstanden nicht nur dem Gesetz: biology is destiny (Biologie ist Schicksal). Es geschah noch etwas viel Eingreifenderes: mit ihrer Körperlichkeit und der Selbstverständlichkeit ihrer Mutterschaft wurden Werte und Normen gekoppelt, die als »typisch weiblich« bezeichnet und in einem so starken Ausmaß als Vorschriften gehandhabt wurden, daß sie als auferlegte Charaktereigenschaften zu wirken begannen: weich, zärtlich, nahe, gefühlsvoll, herzlich, fürsorglich.
Der Status der Ehefrau und Mutter bestimmte die Frau für Wohnstube und Schlafzimmer, und ihre Rolle als Hausfrau schloß sie in Haus, Garten und Küche ein. Dadurch wurde die Frau nur noch wahrgenommen als die, die »hinein« gehörte, in die kleine, wenn auch nicht unwichtige Welt des Persönlichen und des Privatlebens. Damit machte sie es Mann und Kindern überhaupt erst möglich, »draußen« im vollen Leben zu stehen, während sie selber zurückblieb und ins Hintertreffen geriet. Mit dieser Beschneidung des Lebensraums für Frauen wurden »Eigenschaften« oder Etiketten verbunden wie: einfach, bescheiden, niedrig, im Hintergrund, ergänzend, auf Personen bezogen. Diese wurden allerdings mit negativen Werten wie: unwissend, kein Partner für Gespräche über die wichtigen öffentlichen Dinge, bei der Meinungsbildung zu vernachlässigen, assoziiert. »Drinnen« war für die herrschende Kultur ja weniger wichtig als »draußen« - außer als Objekt für jene Wachstumsbranche, die sich in den letzten Jahrzehnten mit ihren Geräten und ihrer übertriebenen Betonung einer künstlichen »Gemütlichkeit« auf Haus, Garten und Küche gestürzt hat.
Es gibt noch eine dritte Schicht, bei der wir zum Kern der Sache vorstoßen: die Frau als Verkörperung ihrer Sexualität. Um das in den Griff zu bekommen, müssen wir die Ambivalenz des westlichen Mannes im Hinblick auf die sexuelle Erfahrung in den Mittelpunkt stellen. Offenbar ist die Frau in der herrschenden androzentrischen (auf den Mann bezogenen) Kultur zum Opfer eines immer dualistischeren Denkens, eines Denkens und Erlebens in Gegensätzen, geworden. Ursprünglich war sie gerade wegen ihrer Sexualität und ihrer Fähigkeit, neues Leben zu tragen, hervorzubringen und zu ernähren, mit einem mysteriösen und heiligen Schauder und mit Ehrfurcht umgeben. In den historischen Zeiten jedoch, als der Mann seine Rolle als Träger des Samens entdeckte und die Funktion des Eis in der Frau noch nicht bekannt war, wurden die Rollen umgekehrt: die Frau wird zum passiven Nährboden, auf den gesät wird, und der Mann erlebt sich selbst als die lebenerweckende Kraft, die, wenn es gut geht, Söhne zeugt, und wenn es schiefgeht, Töchter. Frauen sind - gemäß Aristoteles, Thomas von Aquin und Freud - mißratene Männer.
Der Frau ist nicht nur dieser Verlust an Respekt und Ehrfurcht widerfahren; sie wurde auch noch zur Verkörperung der Lust, der düsteren Kräfte im »Menschen«, zur Verführerin des Mannes, die ihn in der Ekstase außer sich geraten läßt. In einem dualistischen und vor allem polarisierenden Denken (in dem das Spannungsfeld zwischen zwei Polen nicht ausgehalten wird und der eine Pol deshalb zugunsten des anderen »untengehalten« werden muß) hat der Mann die Seele und vor allem den Geist höher geschätzt als den Leib, was zu einer Unterdrückung des Leibes um des Geistes willen führte. »Meistens bedeutete das nicht, daß die sexuelle Aktivität aufgegeben wurde, aber wenn immer der Mann seine sexuellen Bedürfnisse zum Ausdruck brachte, betrachtete er das als eine Nachgiebigkeit gegenüber seiner Schwachheit. Könnte er ohne eine Beschneidung seiner sich selbst übersteigenden Persönlichkeit Geschlechtsverkehr haben, wäre nicht viel Schlimmes dabei; aber in Wirklichkeit war es für ein vollständiges Genießen der Sexualität unerläßlich, daß er die bremsende Kontrolle über seinen Körper aufgab. Das machte eine Konzentration auf seine körperliche Seite erforderlich, was als entwürdigender Abstieg erlebt wurde. Aus der Perspektive des Geistes konnte die Lust, die mit diesem Gefühl des Abstiegs zusammenhing, nur Abkehr bewirken. Das Problem ließ sich abschwächen, sofern das Gefühl vorhanden war, daß der sexuelle Partner ganz auf dem Niveau, zu dem sich der Mann herabließ, zuhause war. Sich der Leiblichkeit in Gegenwart einer Person hinzugeben, mit der er eine Beziehung auf der Ebene von Verstand und Geist hatte, war schwieriger und weckte mehr Widerstand, als Körper zu werden in Gesellschaft eines anderen Körpers. Von daher kam das Verlangen des Mannes, daß sein sexueller Partner soweit wie möglich rein körperlich sein soll. Er konnte dann sogar das Gefühl haben, daß der Tadel für seinen Abstieg auf der Frau lag, die den Mann auf ihr eigenes Niveau herunterzog«[1]
Wir wissen alle, wie sehr sich in dieser Sache das Denken der damaligen Kultur und der jungen christlichen Kirche gegenseitig verstärkt und legitimiert haben. Ich komme darauf selbstverständlich wieder zurück. Aber es ist eine Tatsache, daß den Frauen nun noch ein drittes Set von »Eigenschaften« und »Werten« zugeschrieben wurde: emotional, irdisch, verführerisch, unzuverlässig, labil. Sah die Frau in frei gewählter Jungfräulichkeit von jeder Form der Sexualität ab, erhob sie sich darüber, um sich zu den Dingen des Geistes zu bekennen, »quasi vir« (fast wie ein Mann), dann konnte sie als intuitiv, rein und sauber, als Zuflucht und Quelle des Trostes auf ein Podest gestellt werden. In der höfischen Minne ist sie auf diese Weise zur madonna, zur inspirierenden Dame, Schirmherrin und Muse erhöht worden.
In einer zusammenfassenden Schlußfolgerung (die in dieser Kürze den im Lauf der Zeiten wechselnden Umständen und den Unterschieden zwischen den sozialen Schichten und Klassen nicht gerecht wird, aber auf jeden Fall dann stimmt, wenn infolge der Industrialisierung die Familien mit ihren Müttern von der Arbeitswelt abgeschnitten werden und in die Isolierung geraten) läßt sich Folgendes feststellen: der Mann verpflichtet die (seine) Frau auf Werte und Eigenschaften, zu denen er selber gar nicht kommt, die er aber gerne bei ihr antreffen will. Er privatisiert diese Werte, so daß sie sich in der Gesellschaft als solcher nicht auswirken können. Die Kehrseite der Medaille ist, daß die »männlichen« Werte damit zu den öffentlichen Werten werden. So entsteht eine Rangordnung der Werte, in der die so genannt »männlichen« den Vorrang haben. In der Folge wird die Frau in der maskulinen Kultur klein gehalten und beginnt dann oft auch ihrerseits, sich »klein« zu verhalten. Schon unsere Sprache bringt es zum Ausdruck: es liegt eine ganze Welt zwischen Männersprache und Frauengerede! Schließlich hütet sich der Mann davor und wagt das Risiko nicht, sich nach innen zu wenden und auf seine eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Ängste, kurzum auf sein unbewußtes Ich zu hören, in dem laut C. G. Jung nun gerade seine «weiblichen« Möglichkeiten schlummern. Solange er davor Angst hat, versperrt er sich den Weg zu ihrer Integration und projiziert sie auf eine ambivalente Weise auf die Frau. So hält er das Unbewußte wie das Weibliche von sich fern und erlebt beides als etwas Negatives.

2. Soziale Konditionierung und wirtschaftliche Unterdrückung

Durch Projektionen, Rollenmuster, soziale Konditionierung und noch immer gültige stereotype Erwartungen sind Frauen stark von außen und durch die Religion auch noch »von oben« bestimmt worden. Sie konnten nur selten wählen; sie wurden nicht dazu berufen, ihre Grenzen zu überschreiten, und hörten weder den Aufruf noch die Herausforderung, ihren allzu engen Kreis zu durchbrechen. Die Frau wurde auf ihre Beziehungen reduziert: die Mutter, Tochter, Frau von ... und blieb in ihrer Rolle als Versorgerin, Putzfrau und Haushälterin gefangen, im günstigsten Fall als Geliebte, im ungünstigsten als Sexobjekt.
Heute wollen Frauen Subjekt ihres eigenen Lebens und Denkens werden, ihren eigenen Erfahrungen und Meinungen auf die Spur kommen und nicht mehr dem Diktat fremder Erwartungen, sozialer Rollen und Vorurteile unterworfen sein. Frauen widersetzen sich den  leichtfertig gebrauchten  Definitionen von  »weiblich«  und »männlich« und wollen selber herausfinden, wer sie -jede auf ihre persönliche Art — sind. Nicht mehr »die andere«, definiert aus der Sicht des Mannes, sondern ein »Selbst«. Von Simone de Beauvoir, die klar und entlarvend wie keine andere zu jener Zeit in Worte gefaßt hat, daß Frauen das Los aller »Minderheiten« teilen und als »die andere«, als abweichend betrachtet oder auf Klischeevorstellungen festgelegt werden, stammt das geflügelte Wort: »on ne nalt pas femme, on le devient«, »man wird nicht als Frau geboren, man wird es ...« Dieses Wort ist von der Frauenbefreiungsbewegung aufgegriffen und gebraucht worden, um jeden Unterschied zu den Männern zu leugnen oder herabzuspielen. Nicht die Natur ist schuld, sondern die Kultur.
Doch müssen wir diesen Slogan seit der Publikation des umfangreichen Werkes »Le Fait Feminin«, das unter der Redaktion von Evelyne Sullerot erschienen ist, fallenlassen. Eine Anzahl Gelehrter, unter ihnen Nobelpreisträger, hat - unabhängig von jeder festen Voraussetzung - eine Untersuchung über den Körperbau, die Biologie, Psychologie, Sexualität und das soziale Verhalten der Frau an die Hand genommen. Was sie suchten, waren Fakten, sachliche, durch empirische Forschung erworbene Erkenntnisse ohne alle ideologischen Absichten. Was sie fanden, ist vor allem dies: im Gegensatz zur Behauptung von de Beauvoir werden wir wahr und wahrhaftig als Frauen geboren - mit einer programmierten physischen Eigenart, die sich von der des Mannes unterscheidet. Nur ein Beispiel: Schon lange weiß die Wissenschaft, daß der Mensch zwei Hirnhälften mit unterschiedlichen Funktionen hat: die linke beherrscht die Sprache, die Rede, die rechte die räumliche Wahrnehmung. Erst heute hat man sich die Frage gestellt, ob das auch bei Frauen im selben Ausmaß der Fall ist und entdeckt, daß diese Verteilung bei ihnen weniger ausgesprochen ist. Bei Frauen besteht eine größere Parallelität zwischen den beiden Hälften, wodurch sich bestimmte Erscheinungen, die auch während dieser großen Untersuchung festgestellt wurden, besser erklären lassen: sowohl der verbale Reichtum und die Gewandtheit, mit der Mädchen reden, als auch ihre größere Mühe mit räumlichen Wahrnehmungen etwa beim Studium der Stereometrie und anderswo.[2] Heißt das nun, daß wir gemäß diesen Wissenschaftlern wieder auf ein uns festlegendes »weiblich« und »männlich« wie auf unabänderliche Schicksalshaftigkeiten zurückgeworfen würden? Keineswegs. Es kann keine Rede sein von Schicksal oder Notwendigkeit, die unser Verhalten determinieren. Wir können unsere biologische Anlage modifizieren und darauf je nach der Kultur, in der wir leben, Einfluß ausüben. Der Mensch, auch der weibliche Mensch, ist eine Synthese von Natur und Kultur, und was sie aus der Natur macht, hängt von zahllosen Faktoren ab. Frauen sind heute weniger von ihrem Körper, ihrer Sexualität und der Notwendigkeit zu gebären abhängig; dennoch bleiben biologische Unterschiede zum Mann bestehen. Wir können unser Leben auf persönliche Art ausdrücken, quer durch alle Kulturen, die an Zeit, Ort und Geschichte gebunden sind. Darum können wir das Wort von de Beauvoir wieder aufnehmen: wir werden Frauen, unterschiedlich voneinander, aber auf der Grundlage unwiderlegbarer biologischer Gegebenheiten. Feministinnen müssen deshalb darauf achten, daß sie in ihrem Protest gegen die gängige Polarisierung der Polaritäten nicht in das andere Extrem verfallen, indem sie sie für unwichtig halten oder verkennen. Es geht nicht darum, die Polaritäten in Abrede zu stellen, sondern ihre Fixierung auf biologische Geschlechter aufzuheben; denn Polaritäten leben in jedem Menschen, und die Kunst besteht darin, so mit ihnen umzugehen, daß sie fruchtbar aufeinander einwirken.
Feminismus ist ein Prozeß der Befreiung, habe ich behauptet. Die Antwort auf die Frage: Befreiung wovon, scheint mir nun nicht mehr schwierig: von den Projektionen, denen wir als Wand gedient haben; von den negativen Selbstbildern, die wir uns zu eigen gemacht haben; von unserer Angst, andere Wege zu gehen und deshalb ausgestoßen zu werden; von hierarchischen Denkmustern, die in hoch und niedrig, überlegen und minderwertig einteilen; von der Gewalt der ausschließlich rationalen Argumente, mit denen in Diskussionen und sogar in persönlichen Gesprächen gefochten wird.
Befreiung wozu? Zum Mut zum Sein, wir selber zu werden; zum Mut, nein zu sagen zu jeder »Verführung« zur Bequemlichkeit und Banalität; zum Mut, ja zu sagen zu jedem Aufruf, jeder Herausforderung, die uns von unserem »Platz« wegholt; zu einem Wachstum in Richtung auf Ganzheit, Menschsein und Humanität; zum Vertrauen in unser eigenes Selbst und ineinander; zu einer großzügigen, aber auch kritischen und konstruktiven Schwesterlichkeit, die uns sein und wachsen läßt.

  • a) Frauen... und Männer?
    Frauen brauchen einander, um sich zu äußern, anerkannt und verstanden zu werden und auf eine neue Art weiterzugehen. Es ist ihnen nur aus einem gewachsenen Selbstvertrauen und einer klaren Bewußtwerdung heraus möglich, auch auf eine neue Art mit Männern und jenen Frauen umzugehen, die in der maskulinen Kultur noch immer die Norm sehen. Feminismus kann auch Männer, die in sich zumindest das Bedürfnis nach Befreiung verspüren, zur Menschwerdung anregen. Nach den ersten Reaktionen von Unverständnis, Lächerlichmachen, unbestimmter Angst und Gefühlen der Bedrohung können Männer plötzlich für die Werte der Ganzheit, die auch sie so bitter nötig haben, empfänglich werden. Erst wenn sich Männer aus ihrer »Macht« und Frauen aus ihrer »Ohnmacht« erheben, um in Bewegung zu kommen, können sie miteinander auf eine neue Art in »a sisterhood of men« (»einer Schwesternschaft von Menschen«) umgehen; so nennt Mary Daly jene inklusive Gemeinschaft, die eine Aufwertung all jener Werte voraussetzt, die mit Gemüt, Herz, Gefühlen, Nähe und Bezogenheit zusammenhängen und in unserer Kultur so tief im Kurs stehen. Sie sollten gerade von Männern »eingeübt« werden und wären es wert, im öffentlichen Leben ein Gegengewicht zu den »harten« Werten wie Effizienz, Wettbewerb, Sachlichkeit oder autoritäres Verhalten zu bilden.
    Frauen haben eine etwas andere Aufgabe: es ist nötig, daß sie sich so entwickeln können, wie es ihren Möglichkeiten entspricht; dabei sollten sie auch die sogenannt »männlichen« Seiten hochkommen lassen, ohne deshalb die sogenannt »weiblichen« zu vernachlässigen.
    Das heißt: ich glaube nicht mehr daran, daß Mann und Frau »komplementär« sind, geschweige denn, daß die Frau eine nützliche und nötige Ergänzung des Mannes ist. Beide Geschlechter tragen die Möglichkeit in sich - das was bis heute als männliche und weibliche Komponenten oder Polaritäten bekannt war - zu integrieren und auf diese Weise autonome, auf Ganzheit und Androgynie (Mannweiblichkeit) zuwachsende Menschen zu werden. Dies bedeutet nicht, daß wir in unserem Streben nach Menschwerdung kein Bedürfnis nach menschlichen Beziehungen hätten. Im Gegenteil: daran wachsen wir ja gerade. Aber jeder Mensch - Mann oder Frau - kann sich entfalten, ohne unbedingt auf die Ergänzung durch das andere Geschlecht angewiesen zu sein. Was wir brauchen, ist ein Leben in Gegenseitigkeit; seine Akzente lassen sich jedoch nicht im vornhinein festlegen.
    Es sollte inzwischen klargeworden sein, daß ich den Feminismus als eine vorläufige, aber nötige Phase, als eine Periode der Bewußtwerdung und Besinnung, der Einkehr und der zeitweilig gesuchten Zusammenscharung betrachte und erlebe. Hinter der Polarisierung von Maskulinismus und feministischer Bewußtwerdung liegt die Ahnung einer menschlichen Bewußtwerdung. Wir werden das Androgyne nicht entdecken, indem wir uns nach außen wenden, der Welt zu, sondern in uns selbst.
  • b) Feminismus und Sozialismus
    Ich bin mir bewußt, daß ein verallgemeinerndes Schreiben über Mann und Frau oder über Frauen und Männer gefährliche Mißverständnisse hervorrufen kann. Wie wenn es »die Frau« gäbe; wie wenn alle Männer gleich wären. Die Schwierigkeit besteht darin, daß wir uns - wenn nicht ausdrücklich etwas anderes beabsichtigt ist - auf unsere westliche Kultur beschränken müssen und damit Gefahr laufen, die Frauen aus den verschiedenen Teilen der Dritten Welt aus den Augen zu verlieren. Aber auch in unserer eigenen Kultur können Frauen aufgrund ihres persönlichen Lebenslaufes, ihrer Ausbildung und ihres Berufes, ihrer Lebensumstände und noch vieler anderer Faktoren äußerst verschieden sein und deshalb auch auf ganz unterschiedliche Art auf den Feminismus reagieren. Schließlich gehören wir Frauen sehr unterschiedlichen Schichten und Klassen der Gesellschaft an und werden folglich auf unterschiedliche Art eingeschränkt, unterdrückt oder eben auch nicht!

Darum will ich hier kurz versuchen, die Verbindung zwischen Feminismus und Sozialismus aufzuzeigen. Immer mehr entdecken wir, daß sozio-kulturelle und geistig-religiöse Bewegungen ihr Entstehen auch der wirtschaftlichen Situation verdanken, die jeweils vorhanden ist. Als eines der vielen Beispiele sei die Beginenbewegung des 13. Jahrhunderts erwähnt; auch hier stoßen wir auf ein Zusammenspiel sozio-ökonomischer und religiöser Motive.[3] Was die Privatsphäre von Ehe und Familie und die Arbeitswelt des Mannes (manchmal auch der Frau) betrifft, nenne ich als aufwühlende Illustration die Gespräche, die Rubin in ihrem Buch »Met pijn en moeite« (mit Schmerz und Mühe) mit Männern und Frauen über ihre eigenen Erfahrungen geführt hat.[4]
Die Autoren, die sich über Feminismus und Sozialismus äußern wollen analysieren, wie Patriarchat und Kapitalismus ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärken; sie kommen zur Schlußfolgerung, daß sich Feminismus (als Kampf gegen das Patriarchat) und Sozialismus (als Kampf gegen den Kapitalismus) bedingen, wenn wir je zu einer humanen Freiheit für alle gelangen wollen. Der wirtschaftliche Sieg des Patriarchats über die Frau muß sich zu einer Zeit vollzogen haben, wo die Viehzucht eine wichtige Rolle zu spielen begann - dadurch konnte der Besitz vermehrt werden -und Erbschaften vom Vater auf den Sohn übergingen. Der Kapitalismus ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß - vor allem durch den Einzug der Maschine in die Arbeitswelt — zwei sich gegenüberstehende Klassen entstehen: die Besitzer der Produktionsmittel und das Proletariat. Die Menschen, die etwas machen werden von ihren Produkten getrennt; sie haben kein Eigentum an ihnen und kein Recht, darüber zu verfügen. Wenn ich es richtig sehe, lehnt sich der Feminismus an drei Fronten gegen den Kapitalismus auf:

  • a. Gegen die Art, wie die Haushalte und die Haushaltsarbeit organisiert worden sind: nämlich ausschließlich individualistisch, um den Konsum möglichst hoch emporzutreiben, und deshalb ohne kollektive Einrichtungen, die der Hausfrau die Zeit zur persönlichen Entfaltung geben würden.
  • b. Um es mit Anja Meulenbelt auszudrücken: wenn der Mann seine Arbeitskraft zum Kauf anbietet, verkauft er damit gleichzeitig die Arbeit seiner Frau. Das heißt: Arbeit im Haushalt, die Sorge für Mann und Kinder, die kompensatorische Funktion von Geselligkeit und Geborgenheit zuhause, kurzum die Reproduktionssphäre, liefern einen wichtigen Beitrag zum Berufsleben und zur Produktion und unterstützen damit das kapitalistische System.
  • c. Gegen die verletzbare Stellung der Frauen, die Lohnarbeit verrichten (oft Teilzeitarbeit; fast immer Doppelbelastung von »Zuhause« und »job«).

Die Überzeugung wächst, daß der Feminismus den Sozialismus braucht, weil die Frau im kapitalistischen System unsichtbar gemacht, privatisiert und sowohl im Reproduktionssektor wie manchmal zusätzlich im Produktionssektor ausgebeutet wird. Haushaltsarbeit war immer unsichtbar und unbezahlt; aber damit machen Frauen die erobernde und kreative Rolle des Mannes, die auf einer Pyramide von Frauenarbeit aufbaut, überhaupt erst möglich. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, daß Haushaltsarbeit kollektiviert und professionalisiert werden muß. Ebenso besteht die Überzeugung, daß der Sozialismus den Feminismus braucht, um den Mann von seiner Macht und die Gesellschaft von der Zweiteilung in Mann und Frau zu befreien. Der Mann muß im Reproduktionssektor mitarbeiten wollen; mit der Frau drinnen im Haus so gut wie mit der Frau außerhalb des Hauses.[5]

3. Gegenkultur

Ich will hier noch einen Augenblick bei den Ideen von H. Marcuse über Feminismus und Marxismus verweilen. Sie sind von direkter Bedeutung für unsere späteren theologischen Überlegungen und bilden einen harmonischen Übergang zum dritten Aspekt des Feminismus: zum Feminismus als Kulturkritik. Marcuse legt eine Art Glaubensbekenntnis an die radikalen Möglichkeiten der Frauenbefreiungsbewegung als einer vitalen Kraft für die Verwandlung unserer Gesellschaft ab. Frauen sind keine Klasse im marxistischen Sinn des Wortes; das Geschlecht geht durch alle Klassen hindurch, aber Frauen werden auch von ihrer Klasse konditioniert. Die Befreiung kann nur durch eine Veränderung im ganzen sozialen System erreicht werden.
Seine Hypothese ist die: es sprechen keine wirtschaftlichen Gründe dagegen, daß der Kampf um die Gleichberechtigung nicht auch innerhalb eines modifizierten kapitalistischen Systems stattfinden könnte. Das zweite Stadium, »beyond equality« (über die Gleichberechtigung hinaus), setzt jedoch den Aufbau einer Gesellschaft voraus, in der eine andere Art von Realitätsprinzip herrscht, nämlich das der Beziehung zwischen männlichen und weiblichen Menschen. In der Frauenbewegung ist das Bild einer Veränderung des Bewußtseins, der Befreiung vom Bedürfnis nach Herrschen und Ausbeuten, enthalten. Feministischer Sozialismus ist eine besondere Form von Sozialismus; er transzendiert ihn. In einem solchen Sozialismus sieht Marcuse die Möglichkeit zu einer qualitativ anderen Gesellschaft, in der das Leistungsprinzip nicht mehr vorherrscht. Der Feminismus kann zu einem neuen Realitätsprinzip beitragen, und die Frauenbefreiungsbewegung erscheint so als die revolutionäre Funktion des Weiblichen beim Aufbau einer neuen Gesellschaft.[6]
Das Träumen von gesellschaftlichen Alternativen hat der Feminismus natürlich nicht für sich gepachtet. Es gibt eine ganze Anzahl von Gegenkulturen, die nach mehr Menschlichkeit statt Sachlichkeit rufen; die den Akzent vom Produkt, von der Leistung und vom Wettbewerb auf den Prozeß verlegen wollen, in dem Menschen in gemeinsamer Verantwortung miteinander kommunizieren und zusammenarbeiten; die Macht als menschliche Fähigkeit zum verantwortungsvollen Entscheiden verstehen und sie teilen wollen; die den Schwerpunkt von der Technik als Selbstzweck auf ihre menschenwürdige Anwendung, die wir erst lernen müssen, und auf die Ökologie verlagern wollen.
Das teilt der Feminismus in seinen besten Formen mit anderen Gegenkulturen. Dennoch scheint mir der Feminismus die fundamentalste Bewegung zu sein, weil all die genannten Formen der Herrschaft und Unterdrückung von Menschen durch Menschen soziale Ausdrucksformen jenes Dualismus sind, der am meisten in die Tiefe geht: der Erhebung des männlichen Geschlechts über das weibliche. Die noch immer gültige sexistische Doppelmoral ist ein unwiderlegbares Symptom für diesen Sachverhalt. Eben darum hänge ich so am Begriff »Feminismus«, denn er macht klar, woher der Protest der Frauen rührt. Damit ist nicht gesagt, daß wir nun alle Schuld und jede Ursache außerhalb von uns selbst suchen, denn vor allem die middle-class-Frauen haben es sich in der ihnen auferlegten, aber nicht immer unkomfortablen Stellung all zu lange Wohlsein lassen und tun das zum Teil noch heute. Schon das bloße Wort »Feminismus« läßt Menschen rot anlaufen, reizt sie und verursacht Widerstand. Solche Gefühle können viel über die Personen, die sie empfinden, aussagen - sei es, daß sie den Schrei von Zorn und Empörung nicht verstehen, sei es, daß sie sich davon bedroht fühlen.
Andererseits tun Feministinnen gut daran, Einkehr zu üben und in einer Gewissenserforschung zu überprüfen, ob wir den Werten, die wir bekennen, auch wirklich treu bleiben; ob wir beweglich genug sind, um uns verändern und wachsen zu können, wenn wir auf neue Aspekte und Faktoren stoßen; ob die Art, wie wir vorgehen und uns äußern, und die Methoden, die wir für unsere Befreiung anwenden, modellhaften Charakter haben und etwas von den Idealen zum Ausdruck bringen, die uns auf die Beine gebracht haben. Natürlich ist die Frauenbefreiungsbewegung in ihren Ausdrucksformen höchst unterschiedlich, und natürlich darf sie auch einmal Fehler machen. Aber sie wird sich wohl nur halten können, wenn sie auch eine geistige Bewegung sein will, wenn es ihr letztlich um eine Qualität des »Seins« und nicht nur ums »Haben« geht. Zu dieser Seinsqualität gehören ein größeres Maß an Toleranz für die, die nicht so denken wie »wir«, und eine Befreiung von jeder Form von Dogmatismus.