Flügelaltar für Maria

1. Wenn der Nebel aufzieht

Ich erzähle hier die Geschichte vom Platz, den Maria im Leben »eines katholischen Mädchens« einnahm, und davon, wie sie im Nebel verschwunden und daraus wieder neu zum Vorschein gekommen ist. Zwischen Kindergarten und Studentenzeit war mein Leben voll von Mariennamen und Marienbildern. Uns drei Schwestern wurde allen »Maria« als dritter Name gegeben, und in vielen Zimmern meines Elternhauses stand ein Marienbild, oft mit einer Kerze oder einer Blume davor. Meine Mutter war eine große Verehrerin der Heiligen, und so machte ich schon früh Bekanntschaft mit Heiligen wie Joseph, Antonius, Theresia oder Gerhard. Noch heute kann ich mir ihr Bild, deutlich in Farbe und Form, in Erinnerung rufen. Maria dominierte zuhause nicht: in aller Unbefangenheit standen Christusbilder (Heiliges herz) und Marienbilder nebeneinander, ohne daß wir dies als Konkurrenz erlebt hätten. Mutter war immer mit Blumen und Kerzen beschäftigt, und sowohl die erste Rose aus dem Garten, im Mai, wie die letzte, im Oktober, wurde zu Maria gebracht. In der Glasveranda stand ein Kästchen, eine Art kleiner Altar, voll von Blumen und Pflanzen (und von uns Kindern gepflückten Gänseblümchen) für den Heiligen des Monats - für Maria im Mai und Oktober, für das Heilige Herz im Juni und für St. Joseph im März.
Ganz zarte und liebe Erinnerungen gehen zurück zur Maienandacht in der Kirche: Maria hoch zwischen Blumen und Kerzen, in einer Aureole von Licht, dann der Weihrauch und die vielen Liedlein wie »Der liebe Mai ist kommen ...«. Schön und häßlich gab es für mich noch nicht; wenn ich nur mitsingen und zu Ihr emporschauen durfte. Den kleinen Rosenkranz nahm ich nur zur Hand, weil es sich so gehörte, denn damit habe ich nie viel anfangen können. Ich fühlte mich aufgenommen in eine Wolke von Zärtlichkeit, Poesie und Lieblichkeit; ich hatte alle Menschen gern, und alles war Friede. Das war »comfort«.[1]
Und nachher mußte ich mich erst wieder an die Kälte der Straße gewöhnen. Später war ich auf einem römisch-katholischen Mädchengymnasium, das »Maria Virgo« (Jungfrau Maria) hieß, und Mitglied einer Maria-Kongregation mit blauen Bändern. Dann unterrichtete ich selbst an zwei Schulen mit den Namen »Maria Regina« (Königin Maria) und »Maria As-sumpta« (Aufgefahrene Maria). Und plötzlich wurde mir das alles zuviel. Denn für uns Mädchen und Frauen gab es nur ein einziges Vorbild: das der niedrigen und reinen Jungfrau Maria. Immer wieder wurde uns verkündigt, daß auch für uns - dienstbar, züchtig und im Hintergrund, bescheiden und unsichtbar - eine Gott wohlgefällige Aufgabe bereitlag. Dies paßte schon damals, in den dreißiger Jahren, nicht mehr zu unseren Erfahrungen, und Maria wurde ein Schatten in meinem Dasein.
In den fünziger Jahren begann eine zweite Periode. Es war die Zeit der »nouvelle theologie«; wir gingen zurück zu den Quellen und versuchten alles wegzuräumen, was das Ursprüngliche verdeckt hatte, und die Ökumene trat deutlicher ins Blickfeld. Grund genug also, um kurzen Prozeß zu machen mit allem römischen Aberglauben, aber damit auch mit tiefverwurzeltem Glauben. Wir hatten Mühe mit dem ungelegen kommenden Dogma von Maria Himmelfahrt (1950) und waren unfähig, mit der Maria von Lourdes und der Maria von Fatima, die damals von Stadt zu Stadt getragen wurde, irgend etwas anzufangen. Immer mehr fühlte ich mich der mir verkündigten Marienverehrung entfremdet. Nur die Maienandacht ließ ich mir nicht nehmen, und ich nahm meine Kinder dazu mit. Wer an Maria Heimsuchung geboren wurde und an Maria Lichtmess Hochzeit gefeiert hat, läßt sie doch nicht so leicht fahren![2]
Die Wende kam, als mich ein reformierter Nachbar einlud, im Rahmen der Ökumene einmal in seiner Gemeinde über die Marienverehrung zu berichten. Es war mir nicht genug, bloß mit meiner Dürftigkeit anzurücken, und ich las deshalb die neuen Bücher, die damals gottseidank gerade erschienen: von K. Rahner, E. Schiliebeeck und Ft. Guardini. Meine Augen gingen endlich auf, und ich entdeckte die Maria der Evangelien als die erste Gläubige des Neuen Bundes. Ich erinnere mich noch immer an meine Freude und Überraschung, aber auch an meine Entrüstung, daß uns diese Maria nicht überliefert worden war.[3]
Seit dieser Entdeckung haben zwei Episoden aus den Evangelien tief in meinem Leben Fuß gefaßt: Marias Besuch bei Elisabeth und die Zeit der Erwartung, die wir Advent nennen. Um mit der zweiten zu beginnen: Wer diese vier Wochen vor Weihnachten mit der Bibel erlebt, begegnet drei Gestalten: Jesaja, Johannes, dem Täufer und Wegbereiter, und Maria, die ihr Kind erwartet, das der Messias werden wird. Hier kommen tiefe Glaubenszusammenhänge ans Licht. In Maria jedoch erlebt das gläubige Herz auch Rührung: in all ihrer Verletztlichkeit ist sie nicht das Bild der Passivität, sondern das der bewußten Empfänglichkeit fürein Heil, das ihr verkündigt worden ist und das sie dank ihrer Haltung auch zur Welt kommen läßt. An den kurzen Tagen vor Weihnachten kann mich in der stillen Stunde zwischen Hell und Dunkel ein Licht vor dieser >Maria-in-Erwartung< ganz nah zu mir selbst bringen. Mir wird dann bewußt, daß Glauben ein empfängliches Herz braucht, das sich für die Frucht des neuen Lebens öffnet, und einen Schoß, der sich aufschließen läßt, um dieses neue Leben hervorzubringen, wenn es gereift ist.
Während ihrer Schwangerschaft besucht Maria ihre Verwandte Elisabeth. Sie beide stehen in der Heilsgeschichte ihres Volkes neben Sara, Rachel und Hanna, die selber in gnadevollen Augenblicken, die aus dem Lauf der Zeit besonders hervorgehoben sind, >Leben zum Heil< hervorbrachten, indem sie sich in Gottes Heilshandeln mit den Menschen einfügten. »Ich bin gekommen, meine liebe Cousine«, dichtet der Schritsteller Anton van Duinkerken, »weil die Welt jetzt einen neuen Anfang bekommt ...«.* (* So beginnt das Gedicht »Maria by Elisabeth« in der Sammlung »Hart van Brabant« in »Verzamelde Gedichten«, Utrecht/Antwerpen o. J., S. 61) Kaum hat Maria, erfüllt von Leben, Elisabeth begrüßt, fühlt diese ihr Kind in ihrem Schoß aufspringen. Leben weckt auf zum Leben. Ich sehe die beiden Frauen vor mir, erfüllt von ihrem Geheimnis und vom Geist, der sie umfing und sie verstehen ließ, daß dieses Geheimnis weiterreicht als sie auch nur ahnen konnten. Leben verlangt nach Gemeinschaft; Freude will geteilt sein - und darum machte sich Maria auf den Weg.
Und in dieser geistigen Verzückung läßt die Bibel Maria mit den Worten reden, die sie aus ihrer Tradition kennt, aus den Psalmen und aus dem Gebet, das Hanna, die Mutter Samuels, schon gesprochen hat: >Meine Seele erhebt den Herrn; die Niedrigen erhöht er; aber Gewaltige stürzt er von ihren Thronen.< Maria verkörpert hier nicht das Bild der mächtigen Frau, sondern das des Gemeinschaft stiftenden, Leben weckenden und zum Heil (das heißt zur Ganzheit) gelangenden Menschen, zu dem wir alle bestimmt sind. Ein auf diese Wiese durch die Bibel inspiriertes Glauben an Maria ist ein Glauben, das einem Tätigkeitswort entspricht: challenge, Herausforderung. Aufruf an Frauen und Männer, geheilt zu werden, indem sie Macht ablegen, einander zum Leben wecken und nicht in den Tod führen. Der südamerikanische Theologe Gutierrez läßt uns sehen, wie sehr das Magnificat die Spiritualität der Befreiung zum Ausdruck bringt, die ihren Ursprung in der Spiritualität der »anawim«, der Armen Jahwes, hat.
Was beobachte und erfahre ich nun so an Marienverehrung um mich herum? Wenn ich durch die Stadt gehe, sehe ich, wie Menschen in eine Marienkapelle hineingehen, ihr Bild grüßen, ihre Sorgen kurz bei ihr niederlegen und dann wieder weiterziehen. Ich höre, daß viele nach Lourdes und anderen Wallfahrtsorten gehen. Die comfort-Funktion lebt nicht als einzige, aber sie nimmt an Bedeutung wahrscheinlich zu. Daß ich die zweite Phase - die selbst entdeckte biblische Maria -auch so stark um mich herum feststellte, kann ich jedoch nicht sagen. Ich vermisse Maria-in der Liturgie, in den Fürbitten, in den Schriftlesungen, im Feiern ihrer Festtage, und vor allem in der Verkündigung. Es ist typisch, daß das apostolische Mahnschreiben von Papst Paul VI. über die Marienverehrung vom 2. Februar 1974 in der niederländischen Presse kaum behandelt worden ist, jedenfalls nicht zu tiefergehenden Besprechungen geführt hat (von ein paar Ausnahmen, und zwar von reformierter Seite, einmal abgesehen). Ist es Allergie auf Rom oder auf Maria, daß wir davon nicht einmal ernsthaft Kenntnis nehmen?

Weder bei Freunden und Bekannten noch bei meinen Theologiestudenten in Nimwegen, von welchem Jahrgang sie auch seien, ist je die Rede von Maria. Sie ist einfach nicht mehr da. In den sieben Jahren, in denen ich an der Katholischen Universität Nimwegen mit pastoraler Superversion beschäftigt war, habe ich weder von Priestern noch von Studenten je eine Predigt über Maria gehört noch ein Gespräch mit jemandem, der oder die sie zur Sprache gebracht hätte (diese Erfahrung ist natürlich beschränkt, aber sie sagt doch etwas aus). Ich betrachte das als Gefühlsverlust, als Verlust für das Ausdrücken unserer Affektivität. Inzwischen hat Maria dank meines Lehrauftrages für Christentum und Feminismus und dank eines Seminars über ihre Gestalt an der Theologischen Fakultät ein Comeback erlebt! In der Studentenkirche ist in einem der letzten Jahre immer wieder und oft beeindruckend die Geschichte von Abraham laut geworden und damit der Aufruf »Geh aus deinem Vaterland«, aus deinem Eingeschlossensein heraus. Aber in der Adventszeit hätte das Bild von Maria, das ziemlich verlassen hinten in der Kirche steht, bei der Bibel und beim Altar stehen müssen - als ein Hinweis auf ihren Lebensweg. Wenn wir das unterlassen, halbieren wir unser Leben und damit unseren Glauben. Auch Maria muß wieder beim Namen genannt werden.

Seit einiger Zeit treiben mich vor allem, wenn ich an die Zukunft denke, ein paar wichtige Fragen um, die einen Mißklang bilden zum harmonischen Akkord der Freude über die neu-entdeckte schriftgemäße Maria. Es wäre nicht ehrlich, wenn ich den Eindruck erweckte, daß ich mit der Mariologie ins reine gekommen und mit ihr zufrieden bin. Bis vor kurzem vielleicht schon. Heute bin ich mir jedoch bewußt: Menschen, die beunruhigt sind über das Heillose eines überwiegend, manchmal ausschließlich männlichen Christentums (das aus einem noch patriarchalischeren Israel hervorgegangen ist), müssen noch eine ganze Reihe von Fragen näher untersuchen. Es ist nicht schwer einzusehen, daß der Mythos von Eva, der verführten Verführerin, in den Kontext einer patriarchalischen Art des Denkens und Erfahrens gehört. Sie ist eine Projektion und der Sündenbock für alle tiefen und unbewußten menschlichen (männlichen) Ängste und Schuldgefühle. Eva ist nicht, wie in vielen anderen alten Religionen, die Magna Mater, die Urmutter, die anzieht, aber auch Furcht einflößt, weil sie das Mysterium von Leben und Tod in sich trägt. Es ist, als wenn das Zweifache im Symbol der weiblichen Seinsweise auseinandergelegt worden wäre. Eva erscheint in der Bibel nur noch als blasser Schatten der reicheren kosmischen Urweiblichkeit, weil sie - kaum ist sie da - auch schon sündigt. Ihre dunkle Kraft ist reduziert und abgeschwächt worden zur Verführung des Mannes Adam.[4] Seine Schuld wird allgemein, aber Eva hat ihn dazu angestiftet. Sie wird zur Pforte der Hölle (so sagt es Tertullian) und verliert den tieferen kosmischen Sinn, auf den uns ihr Name noch heute hinweisen könnte.
In der Mariologie geschieht das Umgekehrte. Auch aus Maria ist das Ambivalente verdrängt worden; von ihr strahlt nur noch unzweideutige Heiligkeit aus. Sie ist die Pforte zum Himmel. Und die Tochter des Vaters, die Mutter des Sohnes, die Braut des Heiligen Geistes, Gibt es Maria eigentlich nur in Beziehung zu ...? Oder verweist ihre »Jungfräulichkeit« auf eine Geschlossenheit, ein Vollständigsein in sich selbst; könnte sie ein Bild weiblicher Autonomie sein? Das sind Fragen, mit denen sich eine radikalere Theologie beschäftigt: Befreiungstheologien, die in einer feministischen Perspektive stehen.[5]
Maria, die erste der Gläubigen, die in der Frömmigkeit der Armen Jahwes lebt, und Maria, die Himmelskönigin: sind sie dieselbe? Oder ist eine ein Auswuchs der andern? Bedarf unser Gottesbild nach Jahrhunderten ausschließlicher Männlichkeit und einer unerbitterlichen Ethik, die die menschliche Sexualität unterdrückte, nicht dringend der Ergänzung? »Wir haben Maria überdeckt mit Bildern, die der Niederschlag unserer unbewältigten Konflikte sind ... unter anderem mit der ungelösten Spannung zwischen Erotik und Sexualität«.[6] Die Menschen von Ephesus waren nicht grundlos so begeistert, als die Konzilsväter Maria im Jahre 431 zur Theotokos, zur Gottesmutter, ausriefen. Tief in ihnen drin lebte ein Urbedürfnis nach einer göttlichen Frau, nach einem Bild für den kosmischen Grund ihres Lebens, in dem sie sich erkennen konnten. Warum sind wir dem immer so abgeneigt gewesen? Warum haben wir davor so viel Angst?
Im Text des Papstes lese ich, daß die Marienfeste vom 2. Februar und 25. März einen neuen Namen bekommen haben: nicht mehr Maria Lichtmeß, sondern Darbringung des Herrn; nicht mehr Maria Verkündigung, sondern Ankündigung des Herrn. Wenn die Mariologie nur noch auf die Christologie bezogen wird, so stellt das eine »Korrektur« dar, über die ich vor kurzem selber noch recht glücklich gewesen wäre. Aber jetzt sind mir doch Zweifel gekommen. Konsequent ist dieser Schritt sicher. Aber auch heilsam?

2. Maria - ein Vorbild für die Frau in der Römisch-Katholischen Kirche?

»Ob ich Maria verehre? Ich glaube nicht. Wohl habe ich heute ein bißchen das Gefühl, daß ich mit ihr die Hoffnung auf unsere Befreiung und die Aussicht auf das Reich Gottes teilen darf. Das ist mir Gnade genug.«
(Eine Studentin)
Über das Verhältnis zwischen der Verehrung von Maria und ihrer Vorbildlichkeit für katholische Frauen zu schreiben, ist ein schwieriges Unterfangen, das noch kaum in Angriff genommen worden ist. Es verlangt nicht nur eine Vertrautheit mit mehreren Gebieten der Theologie und der Humanwissenschaften, sondern muß auch berücksichtigen, daß sich die Marienverehrung in verschiedenen Teilen der Kirche in einem sehr unterschiedlichen Zustand befindet; zudem gibt es »die« katholische Frau gar nicht. Frauen stehen heute auf allen Gebieten des Lebens in ganz unterschiedlichen Phasen ihrer Entwicklung und Bewußtwerdung; das gilt auch für Glauben, Religion und Kirche. Auf die Frage: ist Maria für sie eine Identifikationsfigur, läßt sich somit keine eindeutige Antwort geben. Ich kann nicht viel mehr als ein paar Eindrücke wiedergeben, auf Entwicklungen hinweisen und Fragen stellen. Denn wir stehen heute an einem Kreuzpunkt: viele wenden sich enttäuscht oder erleichtert ab, viele machen aber auch ganz ruhig in der Kirche weiter wie bisher, und wieder andere suchen nach neuen Wegen, um auf diese Weise ihrem Gewissen und ihrem Auftrag zu verantwortlichem Leben die Treue zu halten.
Auch mit dem Studium der Mariologie ist diese Frage nicht zu beantworten. Sie spielt natürlich mit, aber ich mußte noch mehr Quellen heranziehen. Neben Schrift und Tradition ist in der römisch-katholischen Kirche ja auch die Lehrautorität von großer Bedeutung.[1]
Ferner habe ich in Predigten, Monatszeitschriften aus der Frauenbewegung und ähnlichen Quellen gesucht, um zu sehen, wie es dort um diese Frage steht. Darin fällt auf, daß nach einem nicht aufzuhaltenden Strom der Beredsamkeit bis tief in die fünfziger Jahre hinein (de Maria numquam satis! von Maria kann gar nie genug die Rede sein!) ein Stillschweigen oder doch eine starke Mäßigung entstanden ist, von der noch nicht auszumachen ist, ob es sich um eine fruchtbare Pause handelt, die zu einer neuen Besinnung und Verehrung führt. Ich werde nur ein paar Beispiele wiedergeben, um das Klima zu schildern. Inzwischen gehen die Wallfahrten etwa nach Lourdes weiter, als wäre nichts geschehen. Die Zahl der Pilger ist zwischen 1950 und 1970 sogar von rund eineinhalb auf dreieinhalb Millionen angestiegen. Was erleben gläubige Menschen auf solchen Wallfahrten? Sind die Erfahrungen, die Frauen machen, anders als die der Männer? Das wäre eine Untersuchung wert...
In der Verlegenheit, daß es so wenig konkretes Material gibt, habe ich fünfunddreißig Frauen aus meinem Bekanntenkreis geschrieben und sie gefragt: was bedeutet Maria heute in deinem Leben? Ist ihre Bedeutung für dich heute anders als sie es früher war? Beinahe jede hat darauf reagiert, so daß wir wenigstens ein paar persönliche Erfahrungen zur Hand haben, auch wenn wir daraus natürlich nichts von allgemeiner Bedeutung ableiten dürfen. Und wieder stehen wir am Kreuzpunkt auseinander laufender Wege, was mich zu ein paar Bemerkungen aus der Sicht der feministischen Theologie veranlassen wird. Und es zeigt sich auch, daß wir dank der gefühlten, geäußerten und zusammen reflektierten Erfahrungen von Frauen mit ihrer »Menschwerdung«, ihrem Glauben und ihrem Kirchesein auf tiefe Schichten stoßen, die in vielen Lesern und Leserinnen Fragen, und bei einigen - so vermute ich - wohl auch Widerstand hervorrufen werden.
Es scheint mir sinnvoll, zuerst ein paar begriffliche Unterscheidungen aus der Mariologie anzuführen. Sowohl biblisch wie liturgisch unterscheiden wir eine christozentrische und eine ekklesiotypische Mariologie. In der ersten wird die Übereinstimmung der Funktionen Marias mit den erlösenden Funktionen Christi betont: Maria ist mit Christus der Menschheit zugekehrt, »Marie, au service de notre redemption«.[2] (»Maria im Dienst unserer Erlösung«) In der ekklesiotypischen Mariologie ist Maria unzertrennbar mit der Menschheit verbunden. Maria ist Dienerin des Herrn, »Urbild der Kirche« (Semmelroth). Für Asmussen ist die Frage zentral: »Steht Maria auf der Seite Gottes oder auf der Seite des Menschen?«.[3] Obwohl im letzten Kapitel der Konstitution des II. Vatikanums über die Kirche beide Auffassungen vorkommen, ist die zweite doch deutlich besser ausgearbeitet worden - eine Entscheidung, die sich auf die Ökumene günstig ausgewirkt hat. Denn je biblischer und einfacher die Zeugnisse über Maria werden, desto leichter können sich die protestantischen Kirchen der Darstellung Marias als der ersten Gläubigen des Neuen Testaments - analog zu Abraham im Alten Testament — anschließen: sie ist dann Bild der Glaubenshaltung, die aktiv für Gottes Wort empfänglich ist.
Die nicht-liturgische Marienverehrung macht sich über ihren theozentrischen, christozentrischen oder ekklesiotypischen Charakter viel weniger Sorgen. Denn hier vollziehen sich die Dinge zwischen der Seele oder der betenden Gemeinde und der Person von Maria. Das Gemüt kommt zum Zuge und kümmert sich nicht darum, ob es Maria um Fürsprache oder um Beistand bittet.[4] Maria verkörpert das mütterliche Mitleid; sie ist die Barmherzige, ihr Sohn der Gerechte. Per Mariam ad Jesum (über Maria zu Jesus). Manche fühlten sich Mutter Anna sogar noch näher, und dann ging der Weg über Großmutter Anna und Mutter Maria zu ihrem Sohn.[5] Wir werden noch sehen, wieweit die auf die Ökumene ausgerichtete Tendenz, liturgische und nicht-liturgische Marienverehrung miteinander in Übereinstimmung zu bringen, Erfolg haben wird oder nicht.
1950. In der apostolischen Konstitution, die das Dogma von Maria Himmelfahrt verkündet, wird überhaupt nicht auf Maria als Vorbild für Frauen angespielt. Auffällig sind Formulierungen wie: »dieser hehren Gefährtin unseres Erlösers« (Nr. 14) oder »hochherzige Gefährtin des göttlichen Erlösers« (Nr. 40) oder: »Die Ähnlichkeit nämlich der Muttergottes und des Gottessohnes in bezug auf den Adel und die Würde von Leib und Seele - wegen welcher Ähnlichkeit wir nicht einmal denken können, daß die himmlische Königin vom himmlischen König getrennt werde« (Nr. 33). In derselben Nummer heißt es weiter: »Überdies ist es der Vernunft entsprechend und angemessen, daß, wie eines Mannes, so auch einer Frau Leib und Seele schon die ewige Herrlichkeit im Himmel erlangt haben«. Dreimal also eine Parallele männlich-weiblich.
Damit Pius XII. noch einmal zu Wort kommt, zitiere ich aus seiner Ansprache vor dem 14. Kongreß der Weltunion katholischer Frauenverbände am 29. September 1957. Im Abschnitt »Zugehörigkeit der Frau zu Christus« sagt der Papst: »Die Verbindung zwischen Christus und der Frau hat ihren größten Glanz und vollendete Erfüllung gefunden in der Jungfrau Maria«. Etwas später fährt er fort: »Wenn das Leben offenbart, bis zu welchen Abgründen des Lasters und der Verwerflichkeit die Frau hinabsteigt, so zeigt Maria, bis wohin die Frau in Christus und durch Christus emporsteigen kann, so daß sie sich hoch über alle anderen Geschöpfe erhebt. Welche Kultur, welche Religion hat je das frauliche Ideal zu derartigen Höhen emporgehoben, es zu dieser Vollendung gebracht? ... Weder in der persönlichen Lebensführung, noch in eurem Apostolat verliert je dieses Beispiel aus den Augen!«.[6]
1964. Im achten Kapitel der dogmatischen Konstitution über die Kirche »Die selige jungfräuliche Gottesmutter Maria im Geheimnis Christi und der Kirche« heißt es in Nr. 56 »Maria bei der Botschaft des Engels«: »wie eine Frau zum Tode beigetragen hat, auch eine Frau zum Leben beitrüge«. Damit wird bei den Kirchenvätern angeknüpft: »Der Tod kam durch Eva, das Leben durch Maria«.[7]
1974. Im apostolischen Mahnschreiben »Marialis Cultus« spricht Paul VI. von der Sendung Marias und vom «weisen Plan Gottes, der in seiner Familie - die Kirche -, wie in jedem Heim, die Gestalt einer Frau gegenwärtig wissen wollte, die verborgen und in der Haltung einer Dienerin wach >und in Güte schützend ihre Schritte zum Vaterland lenkt, bis der glorreiche Tag des Herrn kommt<«.[8] In diesem »ersten Liturgischen Traktat über Maria«[9] kommt Paul VI. im mittleren Teil über die Erneuerung der Marienverehrung auf die Schwierigkeiten zu sprechen, die sich aus einer veralteten Lehre vom Menschen ergeben, die nicht mehr zu den veränderten Lebensumständen der Frau von heute paßt. Ausführlich (und zu lang, um es hier zu zitieren) wird die emanzipierte Frau beschrieben. Beinert faßt diesen Abschnitt so zusammen: »Man hatte die historischen Gegebenheiten ihres Lebens zu einem unveränderlichen Maßstab für das Leben der Christen, vor allem für die christliche Frau erklärt. Dadurch wurde das nötige Gespräch über die Frage nach der Rolle der Frau in der Kirche verhindert, obwohl gerade die Mutter Christi eine Quelle lebendiger Inspiration hätte sein können«.[10] Der Papst ruft dazu auf, diesen Mangel zu ergänzen, denn: »die Jungfrau Maria ist von der Kirche den Gläubigen nicht wegen der Art des Lebens, das sie geführt hat, zur Nachahmung empfohlen worden und noch weniger wegen der soziologisch-kulturellen Umgebung, in der es sich zugetragen hat und die heute fast überall überholt ist, sondern vielmehr stets deswegen, weil sie in den konkreten Lebensbedingungen vorbehaltlos und verantwortungsbewußt dem Willen Gottes Folge geleistet hat« (Nr. 37). Dann bezeichnet der Papst Maria als die Frau, die frei und aktiv zustimmte, die frei und mutig handelte und auf eine gewinnende Weise die Befreiung durch Gott verkündigte; die starke Frau unter den Niedrigen und Armen des Herrn. Und schließlich keine übermäßig besorgte Mutter, sondern eine Frau, »die durch ihr Handeln den Glauben der apostolischen Gemeinde in Christus förderte (vgl. Joh.2,1-12)«(Nr.37).
Der gleiche Papst sagt am 6. November 1974 zur Generalsekretärin des Internationalen Jahrs der Frau: »Alle, die bei der Vorbereitung zusammenwirken ... weisen wir auf die Gestalt der gesegneten Jungfrau als eines dauerhaften Vorbildes hin«. Und unter Bezug auf »Marialis Cultus«: »Unsere Zeit ist aufgerufen, ihre Vorstellungen vom Menschen und die Probleme, die sich daraus ergeben, an der Figur der Jungfrau zu überprüfen und mit ihr, so wie sie im Evangelium dargestellt ist, zu vergleichen«.[11] Und am 14. September 1975 sagt Paul VI. bei der Heiligerklärung der Amerikanerin Elisabeth Ann Seton: »Wir denken an die neue Heilige, wenn wir jetzt die Mutter der Kirche für die Frauen von heute anrufen, damit sie stets der Würde ihrer Aufgaben gerecht werden und ihre menschlichen und übermenschlichen Ziele erreichen«.[12]
Zusammenfassend läßt sich sagen: Neben neueren Zügen wie der »aktiven freimütigen Verkündigung« begegnen uns in diesen Texten die altbekannten Charakteristika wie die Jungfrau neben der Mutter, die schlechte Eva neben der heiligen Maria und »die bescheidene Dienstbarkeit«.
In der pastoralen Verkündigung und im Nachdenken von Frauen über sich selbst sehen wir verschiedene Linien durcheinanderlaufen. In den «Predigtvorschlägen« tönt es: »Maria ist nur noch für sehr wenige Mädchen und Frauen ein Vorbild, nach dem sie sich ausrichten. Sie spiegeln sich lieber in einer Miss Universum« -»Die moderne Frau steht in schroffem Gegensatz zum biblischen Bild von Maria« - und im Zusammenhang mit der heutigen Sex-Welle: »Der Kult der Frau feiert in unseren Tagen Hochzeit«, womit die Frau wieder einmal mit der Sexualität gleichgesetzt wird; Eva ist der Gegenpol von Maria.[13] In einem belgischen Frauenblatt beginnt ein Artikel über Maria mit dem Titel »Die Frau für jedes Jahr« mit den Worten: »Dank dieser Frau ist jedes Jahr eine gesegnete Zeit«. Später ist zu lesen: »So ist jede Mutterschaft eine stets neue Einladung, an das Leben, das Heil, den Menschen und an Gott zu glauben ... Weil Maria ihre Mutterschaft so erlebt hat, kann jede Mutterschaft für jeden, der aus einer Frau geboren wird, der Weg zum Heil werden«.[14]
In einer Fernsehpredigt am 15. August (Maria Himmelfahrt) sagt Pfarrer Jack de Valk: »Wenn wir Maria in unserer Kirche wirklich hochhalten, dann werden wir in unserer Kirche auch die Frau hochhalten müssen«. Was de Valk hier anrührt, stimmt mit dem Schluß von Noordmans überein, einer der Reaktionen auf »Marialis Cultus« aus dem protestantischen Lager: »Wenn Maria in ihrem Engagement für Befreiung ernstgenommen wird, dann wird ihr Lobgesang, das Magnificat, zum Kampflied gegen das Unrecht der Welt. Wenn die Kirche von Rom diese Maria ernstzunehmen beginnt, bedeutet das Dynamit unter den männlichen Strukturen der Kirche«.[15]
Auch in den sogenannten Predigtzeitschriften sind die Marienpredigten dünn gesät; allein um den 15. August herum häufen sie sich jedes Jahr.[16] In einer Predigt schildert Fred Keesen die Figur von Maria so: Bei Maria wird immer betont, daß nicht die Leistung, sondern das empfängliche Herz Leben hervorbringt, das der Mühe wert ist. Wir müssen in unseren Herzen rein werden, »damit wir den lieben Gott Fleisch werden lassen können«.[17] Er weist dann auf die Kennzeichen der Männlichkeit hin: Potenz, Können und Leisten. »Mehrere Mütter in der Schrift empfangen ihr Kind nicht durch Zutun ihrer potenten Ehemänner, sondern zuallererst durch ihre Empfänglichkeit für Gottes Güte«.[18]
J. van Kilsdonk predigt um Weihnachten 1973 in der Amsterdamer Dominicus-Kirche über die »jungfräuliche Geburt«: »Im antiken Denken ist der Mann der Träger der Souveränität, der Kultur und vor allem der Fortpflanzung. Diese Männer kannten nur den männlichen Samen. Vom Vorhandensein einer eher verborgenen Keimkraft, dem Ei der Frau, wußten sie nichts. Nur der Mann zeugt, sogar im Schoß der Frau. Dieser Macht, dieser Potenz des Mannes wurde ein Halt zugerufen; sie stieß an ihre Grenzen, als es um die Zeugung eines Kindes ging, das uns allen auf entscheidende Weise Heil und Verheißung brachte ... So geschieht die Geburt des Menschseins und der Menschlichkeit nicht mehr aus dem Willen des Fleisches oder aus dem Willen des Mannes (Joh. 1,13), nicht mehr aus Mann und Macht, sondern aus Menschen, die die radikale Unfruchtbarkeit und Anspruchslosigkeit einer Jungfrau haben. >Excite potentiam tuam et veni< - erwecke deine Potenz und komm<, schrien die Adventsgebete noch im Römischen Missale«.[19]
Ich glaube, daß diese Beispiele für die Vielfalt unterschiedlicher Akzente in der Beziehung Maria - Frau exemplarisch sind. Die Skala ist reicher als die früher immer wiederkehrende Mahnung, die ich im Gebetsbuch meiner lieben Mutter von 1939 zurückfinde: «Wenn wir von Maria lernen, daß wir immerzu geben und immerzu opfern müssen, dann erst wird Maria ihre eigene Seele in uns, ihren Kindern, wiederfinden«.[20] Was hier fromme Priester in ihrer oft unbewältigten Spannung zwischen Erotik und Sexualität anderen aufbürdeten, hat im Leben vieler Frauen tiefe Spuren und sogar Narben hinterlassen; denn diese Männer haben starke Gefühle in vergeistigter Form in Maria investiert, deren Konkretisierung aber den Frauen aufgehalst. Christliche Frauen und Mütter waren oft heldenhafte Vorbilder der Selbstaufopferung, aber um welchen Preis? ... Heute auf jeden Fall sehen wir, daß Maria als Vorbild der Reinheit, von nichts als Hingabe, als aufopfernde Mutter auch entgegengesetzt gewirkt hat: die Infantilisierung durch ein solches Leitbild wird abgelehnt, und die Fremdheit dieses »vollkommenen«, aber auch »unmöglichen« Vorbildes stößt eher ab. Dies geht auch deutlich aus den Reaktionen hervor, die ich auf meine Anfrage erhalten habe. Beinahe jede Frau hat geantwortet, von den zwei angefragten Klostergemeinschaften sogar eine Anzahl Schwestern einzeln.[21] In den 51 Antworten sind alle möglichen Varianten der Reaktion auf Maria vertreten, manchmal in ein und derselben Antwort.
So schreibt eine: In mir ist gleichzeitig Abkehr von und Heimweh nach der Lieblichkeit und Poesie von früher; damals war Maria Trost. Freude und Fröhlichkeit.
Eine unabhängige junge Frau knüpft ganz ruhig bei der Marientradition an und betet manchmal sogar im Auto einen Rosenkranz; einige stellen gern eine Blume zu ihrem Bild - gleich aufmerksam, wie sie neben das Bild der eigenen Mutter manchmal eine Rose stellen. Diese Frauen gehen auch ab und zu in eine Marienkapelle und feiern auch gern ihre Feste - vor allem Nonnen, aber auch ein paar andere. Nur eine denkt noch an Wallfahrten; eine Nonne nennt das »zu Maria auf Besuch gehen«. Ziemlich viele beten zu Maria als Fürsprecherin bei ihrem Sohn: »Sie ist eine hilfreiche Mittlerin, denn sie kannte früher auch schwierige Augenblicke«. Nonnen beten noch ab und zu (oder oft) einen Rosenkranz, die meisten Laien nicht mehr. Als Mutter ist Maria eine Inspiration der Geborgenheit, der Liebe und Hingabe; sie ist das Vorbild einer weisen Mutter, die ihren Sohn loslassen kann (»aber du stehst deinen Kindern weiter zur Verfügung, wenn sie dich nötig haben, wie Maria, als Jesus litt«). Maria läßt an die eigene Mutter denken: es ist tröstlich, daß »es« Maria «mit einem so unmöglichen, eigenwilligen Sohn« wohl auch nicht immer »gesehen« hat. Eine Frau befiehlt ihr ihre Familie an. Von den dreißig Frauen, die Maria heißen, beziehen sich zwei ausdrücklich auf ihren Namen, wie es auch die Rektorin einer Maria-Schule tut. Als weitere inspirierende Züge werden genannt: Quelle von Hingabe und Vertrauen, Weisheit, Maria als die bescheidene, im Hintergrund lebende Figur. Mehrere Frauen (auch Laien) drücken Enttäuschung darüber aus, daß die Kirche Maria heute zu wenig verehrt. Die meisten Nonnen vermissen die Freude der Marienfeste, die das kirchliche Jahr früher markierten. Einer Antwortenden tut es leid, daß Maria in der Advents- und Osterliturgie in ihrer Beziehung zu Jesus und zum auferstandenen Christus so wenig zur Sprache kommt.
Zurückgedrängt worden ist die Marienverehrung vor allem bei Frauen, die keine Nonnen sind: für sie ist Maria höchstens noch eine anziehende Frau, mehr nicht. Ziemlich viele Frauen können nichts mehr mit ihr anfangen, und zwar aus folgenden Gründen:

  1. Ihr ganzer Glaube ist hinfällig geworden und damit auch Maria;
  2. Aus Protest gegen die Süßlichkeit ihrer Verehrung und gegen die Infantilisierung;
  3. Aus Ärger über das Stereotyp der niedrigen, dienenden Frau, das sowohl Maria wie den Frauen unrecht tut;
  4. »Maria ist uns hinter den Dogmen entschlüpft«.

Auf den Ärger komme ich zurück. Zuerst überraschte mich aber das unbefangene Nebeneinander von Gott, Christus und Maria. Eine Nonne sagt: Maria ist ja keine Konkurrentin von Christus. Eine andere: Maria ist für mich das Christus ergänzende Vorbild. Und wieder eine andere: Christus und Maria sind beinahe identisch; oder in aller Arglosigkeit: wie eine Art Vater und Mutter. In einem ganz klaren und hellen Brief schreibt eine Frau: Gott, ich danke dir; Mutter, ich danke dir. Und eine andere: Früher betete ich zu Maria, heute zu Gott als dem Grund meines Lebens; aber eigentlich weiß ich, wenn ich zu einem »Oben« bete, nicht, ob ich zu Gott, zu Christus oder zu Maria bete ... Im Leben ziemlich vieler Frauen (auch bei ein paar Nonnen) hat es unterschiedliche Phasen gegeben: nach einem traditionellen, manchmal rationalen und ziemlich apologetischen (die kirchliche Lehre verteidigenden) Glauben tritt ein Vakuum ein, in dem Maria entweder verschwindet oder ausgerechnet sie als letzter Rettungsanker übrig bleibt (eine Art Urerfahrung nennt das jemand). Aber es kommt auch vor, daß Maria als erste ausfällt, weil sie so einseitig verkündigt worden ist. Viele dieser Frauen sind der Kirche wegen des verzeichneten Bildes von Maria böse:

  1. Maria ist keine Frau von Fleisch und Blut, sondern eine unantastbare Madonna, oder: eine unwirkliche Gestalt von einem anderen Planeten;
  2. Maria ist als Jungfrau und Mutter »eine sexlose Frau und damit mein Gegenpol geworden«;
  3.  Wir kennen Maria, so sagen andere, nur in ihrer Beziehung zu Jesus, in einem ziemlich realitätsfernen Verhältnis von Mutter und Kind. Wer aber ist sie selbst, was ist der Inhalt ihres »Dienstes«? Bis heute, schreibt eine, sind in der Gestalt von Maria »comfort« und »challenge« völlig auseinandergerissen worden: sie tröstet, aber Maria als Herausforderung? Dabei klingt im Magnificat Streitbarkeit und Engagement an...

Drei Reaktionen führe ich an, die auf den kritischen Bewußtwerdungsprozeß der Frau und auf die Notwendigkeit ihrer Befreiung aus vorgeschriebenen Rollen anspielen: »Maria hat die Befreiung zu ihrem eigenen Wesen nötig«, sagt die junge Frau, von der das Zitat am Anfang dieses Kapitels stammt. Eine andere: »Exegeten und Theologen haben Maria diskriminiert, indem sie sie zum voraus heilig erklärt haben«. Maria ist mißbraucht worden, um Frauen auf ihrem Platz festzuhalten. Eine andere überraschende Reaktion: »Maria als Lebensform höchster Freiheit«, mit einer Fülle des Geistes, die sie fähig macht, die Zeit des Wunders zu spüren und abzuwarten: Symbol jener Frauen, die die Zeit der Veränderung kommen fühlen und deuten. Als Jungfrau ist sie »Bild der Eingekehrtheit«. - Soweit die Blütenlese von fast durchweg wörtlich zitierten Stellen. Interessant ist auch, daß keine einzige Frau die Jungfrau Maria mit jener »Reinheit« und »Sauberkeit« in Verbindung brachte, wegen derer wir früher dreimal täglich das »Sei gegrüßt« beteten. »Jungfrau« beginnt etwas anderes zu bedeuten, mehr zu bedeuten.
Daß diese Frage gestellt wurde, hat neben emotionalem Widerstand auch Freude ausgelöst: aus den Antworten ging hervor, daß Gespräche darüber geführt wurden, daß Frauen über die wenigen eigenen Erlebnisse erschrocken sind, das Evangelium wieder einmal zur Hand genommen und gelesen haben, und »ich stelle mein altes Bildchen doch noch nicht weg«. Andere waren darüber bekümmert, daß wir »Maria wieder aus der Versenkung hervorholen« und das erst noch besonders für Frauen. Aber wenn dabei ein erwachsenes, wirklichkeitsnahes Bild entsteht, wird es wohl allen etwas zu geben haben ... auch den Männern. Zwei konstatieren: Unsere Kinder wissen offenbar einfach nichts von Maria. Aber eine Nonne schreibt: Tatsächlich gehen immer noch Jugendliche auf Wallfahrten. Es wäre wirklich interessant, auch Männer nach ihren Erfahrungen mit Maria zu fragen, vor allem mit einem Marienbild, das so stark von einer im Zölibat lebenden männlichen Priesterschaft gezeichnet worden ist. Aber das stand hier nicht zur Diskussion. Die Frage, wie Maria heute von den Gläubigen - Frauen, aber auch Männern - erlebt wird, scheint mir wichtiger als früher. Ist sie eine Identifikationsfigur für Frauen - und wenn ja, in welcher Hinsicht? Was bedeutet die Marienverehrung für das kirchlich-religiöse-kulturelle Klima? Und wie steht es um das Verhältnis zwischen Rom und den Protestanten? Ein paar Randbemerkungen mögen die Notwendigkeit meiner Fragen und ihrer systematischen Untersuchung verdeutlichen. Zuerst etwas über das religiöse Klima: Durch alle Jahrhunderte hindurch hat die Verehrung von Maria als Jungfrau und Mutter das Klima in der ausschließlich von Männern geleiteten römisch-katholischen Kirche milder und vielseitiger gemacht. Dank der Verehrung von Maria und der Heiligen macht der Katholizismus als Religion trotz allem, so Vestdijk, einen viel integrierteren Eindruck als der Protestantismus,[22] wo ein «einsamer Gott« eine hohe, aber auch strenge Ethik aufstellt.[23] Diesen Sommer ist mir unterwegs in den Ferien in Kathedralen und Kirchen - vor allem des Barocks - die immer wiederkehrende Darstellung von Maria aufgefallen: wie sie gekrönt wird, neben ihrem Sohn oder inmitten der drei Personen der Trinität thront. Woher kommt es dann, daß sich in verschiedenen Ländern immer mehr Frauen in der römisch-katholischen Kirche »displaced« oder »nowhere« fühlen?...

Über Bilder und Symbole zu sprechen ist immer eine komplizierte Sache. Symbole sind auf eine andere Art wahr und wirklich als die konkreten »eindimensionalen« Dinge. Sie umfassen unser inneres und äußeres Leben, unsere tiefen Schichten wie die Oberfläche, Un(ter)bewußtes und Bewußtes. Schon anderswo habe ich über den Schaden und die Erstarrung nachgegrübelt, die dem Bild der Frau angetan wird, wenn das, was als Spannung zusammengehört, in zwei völlige Gegensätze auseinandergelegt wird: Eva - Pforte der Hölle, Maria - Tor des Himmels. Für Frauen ist damit eine echte Identifikationsfigur weggefallen, und sie fühlen sich deshalb im Raum schweben. Denn die »vollkommene Frau« Maria heißt ja darum so, weil sie »Tochter Gottes, des Vaters, Mutter Gottes, des Sohnes, Braut Gottes, des Heiligen Geistes« ist. Das ist den Frauen zu hoch und zu weit.
Wegen dieser radikalen Auseinanderlegung von Eigenschaften in Bildern möchte ich Psychologen und Theologen ernsthafte Fragen stellen: Wieweit haben die Bilder von Gott-dem-Vater, die in einer patriarchalischen Kultur entstanden sind, und des Logos, den wir aus dem griechischen Denken übernommen haben, die Dimension des Gemüts, des Herzens, aber auch des Körpers und - am meisten von allen - der Frau verwahrlost, ja unterdrückt und damit das religiöse Klima und die Glaubenshaltung halbiert und verarmen lassen? Inzwischen will ja doch der «ganze« Mensch zu seinem Recht kommen: von Ephesus bis Mexiko City (Unsere Liebe Frau von Guadelupe) ist überall, wo früher eine Magna Mater (Große Mutter) als fascinosa (anziehende) und tremenda (zu fürchtende) erfahren und verehrt wurde, dem Volk eine Maria geschenkt worden, eine Gottesmutter, Königin des Himmels, eine »göttliche Frau«, der die Menschen sich hingeben konnten.[25] Ich fürchte, daß sich jetzt ziemlich viele Leser und Leserinnen über diesen Abschnitt über »Religion« ärgern. Aber es ist meine heilige Überzeugung, daß der christliche Offenbarungsglaube erst dann richtungsgebend, beschneidend und damit wachstumsfördernd wirken kann, wenn den Menschen auf der Ebene der Bilder eine Fülle geschenkt wird, die das ganze Dasein von uns allen, Männern und Frauen, sowohl verdichtet wie erweitert. Und es wirkt einschränkend und darum nicht heilend, wenn aus Fürsorglichkeit und zum voraus die Spannung des Ambivalenten aus ihnen entfernt und verschleiert wird. Dasselbe gilt, wenn Bilder, die in einer früheren Kultur entstanden sind, allgemein gültig und verpflichtend bleiben »müssen«.
Ich will das von zwei Gesichtspunkten her etwas näher beleuchten. Der erste entspricht einem Vortrag, den die sich an C. G. Jung orientierende Psychologin Ann Belford Ulanov vor einer Gruppe von Pfarrern, die sich mit Clinical Pastoral Training befassen, gehalten hat.[26] Ulanov unterscheidet in den Untersuchungen über das Weibliche drei theoretische Ansatzpunkte: den biologischen, der mehr oder weniger eng mit Freud und seiner Schule in Zusammenhang zu bringen ist; den kulturellen, zum Beispiel von Margaret Mead; und den symbolischen, mit dem Jung begonnen hat. Das Eigene dieser dritten Betrachtungsweise und damit der Unterschied zu den beiden anderen besteht darin:

  1. Der symbolische Ansatzpunkt nimmt Bilder des Weiblichen nicht wörtlich, sondern sieht sie eher symbolisch, »als die Hälfte der Sprache des Menschen und als zentral für die Sprache des Unbewußten«. Diese Sprache bringt Bilder des Weiblichen hervor, aber keine (und das ist sehr wichtig) Beschreibungen, geschweige denn feste Vorschriften, die auf alle Frauen passen;
  2. Der radikalste Unterschied zu den beiden anderen Ansätzen, vor allem wegen seiner Bedeutung für das kulturelle Klima, liegt darin, daß das Weibliche nicht allein auf Frauen bezogen wird: es hat gleich viel Bedeutung für Männer (und umgekehrt ist auch das Männliche für Frauen bedeutungsvoll).[27] Es würde hier leider zu weit führen, auf die theologischen und pastoralen Konsequenzen dieses Ansatzes einzugehen. Aber es sollte deutlich geworden sein, daß wer immer die zentralen männlichen und weiblichen Aspekte in sich selbst verwahrlosen läßt, nicht fähig ist zu vollständiger religiöser Erfahrung, zu vollständiger Erfahrung der Seele.[28]

Eng verwandt mit dieser Sicht ist die Aufmerksamkeit verschiedener feministischer Autoren und Theologen für die »Jungfrau als Modell eines Mythos«.[29]
Penelope G. Washbourn sagt es so: »In dieser Hinsicht habe ich den Gehorsam der Jungfrau Maria gegenüber dem Geist Gottes schätzen gelernt. Sie war nicht einem Mann gehorsam. Das Kind, das geboren wurde, war die Frucht ihrer Hingabe an den Geist in ihr selbst. Der Geist Gottes ist das weibliche Prinzip in ihr. Sie bleibt ihrer eigenen Bestimmung treu«.[30] Auch die Theologen haben natürlich immer mit diesem Problem gerungen, und so stellen im 1973 erschienenen »Neuen Glaubensbuch« J. Feiner und L. Vischer die ernsthafte Frage: »Einig ist man sich, daß die Erzählung von der Jungfrauengeburt im Zusammenhang des Neuen Testaments die Einzigartigkeit Jesu als des Messias und Gottessohnes unterstreichen soll. Aber welcher Art ist die Erzählung? Ist sie Bericht über ein historisches Ereignis? Oder ist sie eine >Lehrerzählung< (Midrasch)«?[31]
Mary Daly, eine der ursprünglichsten und provozierendsten feministischen Theologinnen, hört vor allem in der Aussage, daß Maria »vor, während und nach« der Geburt von Jesus Jungfrau geblieben ist, einen »Schrei« nach einem tieferen als bloß wörtlichen Verstehen der Jungfrauengeburt. »Jungfrau« sagt im Kontext sexueller und elterlicher Beziehungen etwas über »weibliche Autonomie« aus.[32] Etwas davon ist in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche durch alle Jahrhunderte hindurch immer spürbar geblieben. Auch wenn die Lebensführung einer Nonne im Hinblick auf menschenwürdige Autonomie mehr oder weniger zu wünschen übrigließ, so stand römisch-katholischen Frauen doch immer die Wahl offen zwischen zwei Lebensformen - der Ehe und der gewählten Jungfräulichkeit im klösterlichen Leben. Und für die Frauen, die das zweite wählten, war die Jungfrau Maria ein funktionierendes (wenn auch oft verworrenes) Modell.
Die Frau im Protestantismus war da schlechter dran. Luther hatte die Nonne zur Frau genommen und damit den Raum für ein jungfräuliches Leben verschlossen. Konkret bedeutet das, so Daly: »anstelle der Klosterschwester als religiösem Ideal ist den protestantischen Frauen das Bild der »Pfarrfrau« angeboten worden. Es ist klar, daß dies kaum ein befreiendes Bild gewesen ist«.[33] Wenn es kein Zufall ist, daß das Bild der Jungfrau in der religiösen Frauenbefreiungsbewegung spürbar als neues Symbol zu wirken beginnt, dann scheinen mir Geduld und Behutsamkeit für diesen Menschwerdungsprozeß sehr am Platz. Ich spiele hier darauf an, daß die Umrisse einer »anthropologie chretienne de la femme«, die im Bezug auf Maria gesehen wird, nicht zu schnell ausgezogen werden sollten.[34] Sosehr ich vor dem sorgfältigen Artikel des bekannten Mariologen Laurentin Respekt habe: auch er sollte dem »free-wheeling symbol of the virgin«[35] Zeit und Raum lassen und abwarten, welchen Reichtum es hervorbringen wird. Und das - im Geist des symbolischen Denkens - nicht nur für Frauen, sondern auch zum Nutzen der Männer und damit der ganzen kirchlichen Gemeinschaft.

3. Die prophetische Maria

Wer sich, aufs neue von der Gestalt Marias gefesselt, in ihr Bild vertieft, gerät bald ob der Vielfalt von Bildern, die dann zum Vorschein kommen, in Verlegenheit. Ich jedenfalls möchte die Frage »wer ist Maria?« nicht in einem Satz beantworten müssen. Wohl kenne ich eine Maria aus der Bibel, aber ich beginne immer deutlicher eine Maria aus der viel breiteren Geschichte der Religionen zu ahnen. Es gibt eine Maria der Theologen, aber daneben wächst auch eine Maria der Feministen und ariderer Befreiungsbewegungen. Sie ist Gott sei Dank weder mit einem Namen noch in einem Symbol einzufangen und festzulegen, und wahrscheinlich ist gerade das der Grund, warum sie uns durch alle Zeiten hindurch immer wieder beschäftigt.
Sosehr mich die verschiedenen Aspekte faszinieren: ich muß mich hier einschränken und wähle deshalb die Gestalt von Maria als Ausdruck des prophetischen Lebens, des Lebens aus dem Geist, des empfänglichen und hervorbringenden Lebens. Als historische Figur bekommt Maria in der Bibel wenig Kontur. Wenn sie im Leben Jesu Erwähnung findet, wird ihre biologische, familiäre Mutterschaft eher negiert oder relativiert als besonders betont. In der Verkündigung geht es Jesus offenbar ausschließlich darum, daß wir Gottes Wort hören und tun. Dadurch gehören wir zur Mutter und zu den Brüdern und Schwestern Jesu. Auffallend ist auch, daß Jesus seine Mutter im Johannes-Evangelium zweimal als »Frau« und nicht als »Mutter« anspricht und sie eigentlich erst am Kreuz zur Mutter des Jüngers Johannes macht und damit an einen Knotenpunkt in den Beziehungen der Glaubensgemeinschaft stellt. Wie hat Maria ihre Glaubenshaltung zum Ausdruck gebracht? Ich will mich in diesem Rahmen auf die »Vorgeschichte« im Lukas-Evangelium beschränken, das voll ist von irdischem und himmlischem Heil, von Geist und Prophetie, von Messiaserwartung und Hoffnung auf Erfüllung. Maria in einer prophetischen Tradition: wie wenig ist uns diese Vorstellung bis heute vertraut. Und doch kennen wir aus dem Alten Testament die Namen von Frauen, die erfüllt von Gottes Geist auch Gottes Mund wurden, indem sie die historische Wirklichkeit in eine heilsgeschichtliche Perspektive stellten. Darum will ich ein paar von ihnen, deren Worte und Lieder aufgezeichnet worden sind, erwähnen.
An erster Stelle steht die Prophetin Mirjam, die in der Geschichte vom Auszug aus Ägypten als solche bezeichnet wird. Nach dem Sieg über den Pharao nimmt sie das Tamburin zur Hand und führt den Reigen mit einem Lied an, das die Freude und den Jubel über diesen Sieg aufklingen läßt, diesen Sieg aber auch ganz dem Gott Israels zuschreibt: »Da ließest du deinen Wind blasen, das Meer bedeckte sie, und sie sanken unter wie Blei im mächtigen Wasser« (Ex 15,10), »aber die Israeliten gingen trocken mitten durchs Meer« (Ex 15,19). Schon hier hören wir das Motiv, dem wir die ganze Schrift hindurch immer wieder begegnen werden: die Mächtigen wirft Gott nieder, aber die Armen werden erhoben. Mirjams Lied ist die älteste Lobpreisung Jahwes in der Bibel. Es ist gar nicht verwunderlich, daß sie - eine Frau - mit dem Singen einsetzt. Aus den ältesten Religionen wissen wir, daß es gerade Frauen sind, die als Seher und Propheten Gesang und Musik handhaben, um die Kluft zwischen Wort und Tat aufzuheben oder um bestimmte Dinge zu bewirken, die man nur durch Gesang oder das singend gesprochene Wort erreichen kann.[1] Und ein Prophet ist sie, Mirjam, diese Frau, die wahrscheinlich eine viel wichtigere Stellung und Rolle innehatte, als es aus den verschiedenen Stellen in den biblischen Büchern auszumachen ist.
Kritische Frauen müßten die Bücher Exodus und folgende einmal aufs neue mit ihren eigenen Augen lesen! Zuerst werden wir feststellen, daß es dem schöpferischen Ungehorsam dreier Frauen gegenüber dem Machthaber zu verdanken ist, daß es überhaupt einen Mose gegeben hat, der das Volk mitbefreite: die Hebamme weigerte sich, den Befehl des Pharao zu befolgen, alle männlichen Kinder seien zu töten; die Schwester von Mose spornte die Tochter des Pharao an, Mose als ihr Kind zu adoptieren, und die Tochter des Pharao selbst war ihrem Vater ungehorsam und zog Mose auf. Wir werden auch zum Schluß kommen, daß die Rolle von Mirjam durch die männliche Überlieferung beträchtlich geschmälert und »wegerklärt« worden ist. Im 4. Buch Mose stellt Mirjam mit ihrem Bruder Aaron fest, daß Gott doch auch durch ihren Mund und nicht allein durch Mose spricht. Obwohl also beide gegen den Solopart von Mose rebellieren, wird nur Mirjam mit Aussatz bestraft (4. Mose 12). Zum Schluß: Der Prophet Micha läßt Jahwe zu seinem Volk sagen: «Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam« (Micha 6,4). Mit anderen Worten: drei Führer gehen an der Spitze des zu befreienden Volkes. Es gibt Experten, die annehmen, daß Mirjam ursprünglich eine unabhängige Führerin in Israel war und erst in den späteren Überlieferungen des Alten Testaments zur Schwester von Moses und Aaron gemacht wurde.[2]
Dieser Exkurs sollte verdeutlichen, daß in der Religion Israels genau wie in anderen Religionen Frauen von Anfang an als Seher, Führer und Propheten auftraten, aber kaum je bis in unser Bewußtsein vorgedrungen sind. Ich denke an Debora, Prophet und Richter etwa im 12. Jahrhundert vor Christus, die mit Barak nach dem Sieg über den Heerführer Sisera ein Lied anstimmt: die Führer fehlten, in Israel war nicht einer, »bis du, Debora, bis du aufstandest, eine Mutter in Israel« (Richter 5,7). Aber das Lied selbst ist wieder ein Lobgesang auf Jahwe: »Ich will singen, dem Herrn will ich singen, dem Herrn, dem Gott Israels, will ich spielen« (Richter 5,3).
Wer kennt die Prophetin Hulda, von der das zweite Buch Könige und die Chroniken sprechen? Sie ist der Prophet, den König Josias wegen der Echtheit eines im Tempel aufgefundenen Buches zu Rate zieht (2 Kö 22,14ff.).
Weiter denke ich an Hanna, die im Tempel lebte und genannt wird, als dort das Kind Jesus von seinen Eltern dargebracht wird. Im auf unsere Zeit zugeschnittenen Evangelium für die Dritte Welt von Everardo Ramirez Toroz ist diese Frau schlicht und einfach weggelassen worden! In dieser prophetischen Linie steht auch jene junge Frau, die in der »Vorgeschichte« von Lukas eine so einzigartige Figur werden wird. Aber es gehört noch etwas dazu: da sie dem treuen Häuflein angehört, den »anawim« von Jahwe, steht sie auch ganz in der Tradition der Heilserwartung und der Freude auf seine Ankunft. In Zephanja 3,14-15 klingt es: »Jauchze, du Tochter Zion! Frohlocke Israel! Freue dich und sei fröhlich von ganzem Herzen, du Tochter Jerusalem!... Der Herr, der König Israels, ist bei dir«. Und weiter in Sacharja 2,14: »Freue dich und sei fröhlich, du Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und will bei dir wohnen, spricht der Herr«. Durch den Mund von Jeremia (31,4) sagt der Herr zu Israel: »Wohlan, ich will dich wiederum bauen, daß du gebaut sein sollst, du Jungfrau Israel; du sollst dich wieder schmücken, Pauken schlagen und herausgehen zum Tanz«. Könnte Maria in der Gestalt der Tochter Zion etwa die Lösung des Rätsels im gleichen Kapitel von Jeremia (31,22) bedeuten: »Denn der Herr wird ein Neues im Lande schaffen: Das Weib wird den Mann umgeben«?[3] Denn auch in der Sprache der Verkündigungsgeschichte klingt die Messiaserwartung durch. Das erste Wort, das dem Engel Gabriel in den Mund gelegt wird; setzt mit diesem Ton ein: Freue dich Mirjam! Freude über die Befreiung, Überschattung durch den Geist.
Hier wird Maria ihrer Person enthoben und zur »corporate Personality«, Tochter Zion, Braut Israel. Ihr >Fiat< ist kein schreckhaftes, rat- und willenloses Jasagen, sondern die Antwort eines fragenden, kritischen Menschen in einer bewußten Haltung der Verfügbarkeit, Empfänglichkeit und tragenden Kraft. Es ist die Antwort in Hingabe und Betroffenheit, wozu der ängstliche Zacharias offenbar nicht imstande war, als ihm das Wunder des nicht mehr erwarteten Sohnes angekündigt wurde.
Aber Lukas läßt uns auch Zeuge der Begegnung von Maria und Elisabeth sein, zweier Frauen, die mit prophetischem Leben schwanger sind. Der Funke des Geistes springt auf Elisabeth über, und dann äußert sich wieder Maria mit einem Lied, das eine neue Glaubenserfahrung des Singens und Bittens, des Jubels und des Protests zusammenballt. Das Magnificat bringt ebenso eine persönliche Erfahrung wie die Heilserfahrung des Volkes Israel zum Ausdruck. Es ist ein Lied voll Dank und Lobpreisung und zugleich ein kritisches, prophetisches Lied - ein biblisches Protestlied. Maria setzt die scharfe Sozialkritik der prophetischen Verkündigung fort und verbindet die politische Kritik mit einer messianischen Vision sozialer Gerechtigkeit und neuer schwesterlicher und brüderlicher Verhältnisse zwischen den Menschen. Das Magnificat ist eine radikale Parteinahme für die Armen, Entrechteten, Stimmlosen, Eingeschränkten und (sowohl ökonomisch und politisch als auch psychologisch) Unterdrückten. Aber die Formeln des Umschwungs, wie sie hier lauten: »Er stößt die Machthaber vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen sättigt er mit Gutem und läßt die Reichen leer ausgehen« (Lukas 1,52-53), bedeuten nicht bloß eine äußerliche Auswechslung der Machthaber, sondern eine völlige Umwertung aller herrschenden (un)menschlichen Werte im Licht des Reiches Gottes. Maria entwirft ein Bild der Endzeit, der Utopie, die uns verheißen und durch uns mit zu verwirklichen ist, in der jeder äußere und innere Zwang aufgehoben sein wird.
Selbstverständlich ist es nicht damit getan, dieses kritische Lied vorwiegend auf unsere Gesellschaft anzuwenden und zu vergessen, wie schief die Verhältnisse auch im Aufbau unserer Kirche mit ihren Machtstrukturen liegen. So wie Abraham im Alten Testament der im-Glauben-Aufbrechende ist, so ist Maria im Neuen Testament die visionär im-Glauben-Umkehrende. Hier wäre zu entdecken, was für eine Vision Maria für uns wieder sein könnte. Darum wähle ich sie als Symbol der prophetischen Kraft zur Befreiung und zur Schwesterlichkeit, als Symbol der gläubigen Hingabe an Gott, der zugleich Fülle und Geborgenheit ist, als Symbol der aktiven, selbstverantwortlichen Betroffenheit, die fruchtbares Leben erst möglich macht, empfänglich und hervorbringend, gebärend und nährend, liebevoll nah und kritisch, im Innenraum der Meditation und draußen auf dem Weg zu meinen Schwestern. Die Spekulationen einer oft weltfremden Theologie über die Art von Marias Jungfräulichkeit, die Bedeutung ihrer Mutterschaft und die Niedrigkeit ihrer Dienstbarkeit haben uns Maria entfremdet. Diese Theologie verlor übrigens auch ihre Verbindung zur Volksfrömmigkeit, so daß beide eigene Wege gingen und dabei oft entarteten. Nun sehen wir aufs neue, wie sehr sich die ursprüngliche Gestalt von Maria eignet, um als Symbol zu beleben. Maria als Symbol bedeutet eine Erweiterung, Bereicherung und Milderung unserer Wirklichkeit, vor allem unserer Glaubenserfahrung. Religion ist ja eine symbolische Interpretation unserer menschlichen Wirklichkeit in ihrer letztlichen Bedeutung. Symbole lassen sich auf vielfältige Weise interpretieren, haben mehrere Schichten und erhellen unser Ringen mit der Zweideutigkeit unseres Daseins auf verschiedene Art. Maria als Symbol hat ihren Bezugsrahmen in der Bibel, ist dort verwurzelt und umfaßt das Neue Testament von der Verkündigung bis und mit der Pfingstgabe des Geistes, wo die Prophezeiung von Joel in Erfüllung geht: »danach will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen« (Joel 3,1-3; Apostelgeschichte 2,16-21). Aber gerade dadurch, daß Maria auch die Tochter Zion ist, die Braut Israel, übersteigt sie ihre persönliche Bedeutung in einer kollektiven Erfahrung von Israel: in der Liebesverbundenheit zwischen Gott und seinem Volk. Wie kommt es, daß es mit der Bedeutung, die Maria für uns haben könnte, so schiefgelaufen ist, daß sie für ganze Schichten der Glaubensgemeinschaft im Nebel verschwunden ist und allerlei unangenehme Gefühle weckt, wenn bloß ihr Name fällt - bei Frauen Gefühle des Zorns und der Frustration, bei Männern der Abkehr und Sentimentalität, bei jungen Leuten der Überraschung, daß sie überhaupt noch jemand ernst nehmen kann. Ich sehe den Grund vor allem darin, daß das Denken, das in unserer Kultur, im Nachdenken über unseren Glauben, in der Theologie und den dogmatischen Äußerungen vorherrscht, eher ein trennendes als ein umfassendes, mehrdimensionales Denken ist. Dieses Denken kann wohl übersichtlich ordnen und klare und scharfe Begriffe vermitteln, aber das Herz, das Mysterium und das Symbol mit seinen vielen Schichten entgehen ihm. Und es sind allein die Armen, die Kinder und die Künstler, die dies noch unbefangen und intuitiv transzendieren.
Maria ist nicht entweder historisch oder biblisch oder symbolisch: sie ist alles zugleich. Uns auf ihre Person zu besinnen, scheint mir gut, aber sie aus Sorge um Konkurrenz mit Jesus einzuschränken, paßt eher zum erwähnten spaltenden und wettbewerbsbewußten Denken, als daß es ihr gerecht wird. Von der Kirche hat Maria prächtige Ehrentitel empfangen: Königin des Himmels, Turm Davids, Bundeslade (man lese nur einmal die ganze Litanei von Loreto!). Aber statt eine dynamische, geschichtliche und konkrete Dimension zu bekommen, die glaubwürdig und inspirierend sein könnte, ist sie ein Idealtyp geworden, ganz hoch, weit weg und blaß. Auf kleines Maß zurechtgestutzt wurde sie besonders dann, wenn eine männliche Geistlichkeit auf sie projizierte, was ihr als weibliches Ideal vorschwebte: klein, niedrig und vor allem keusch, keusch, keusch...

Gepriesen sei die Weisheit unserer Kirche, die dennoch nie alle Marienverehrung, -frömmigkeit und -festlichkeit rund um ihr Bild abgeschafft hat; dadurch konnten sich wenigstens die Herzen der Menschen an ihr wärmen. Natürlich weiß ich nur zu gut, daß sich diese Trostfunktion auch schlecht auswirkt und nicht zur Bewegung und Befreiung von Menschen geführt hat, daß im Namen von Maria Menschen, und ganz besondere Frauen, unterdrückt und gelähmt wurden. Aber sie war auch als jungfräuliche Göttin der Indianer die - manchmal einzige - Gestalt, die der vergewaltigten und völlig entfremdeten einheimischen Bevölkerung Mexicos die Zukunft offen und ihren Glauben und ihre Hoffnung am Leben hielt.
Wenn wir Protestmärsche unternehmen, erzählte mir ein Schauspieler des Teatro Campesino (Landarbeiter-Theater) aus Mexico, geht die Virgen (Jungfrau) voran. Und auch während der Aufführungen in Holland spielte die Virgen eine Rolle des Trostes und der Befreiung im Spiel, Gesang und Tanz, in denen die armen und gequälten Campesinos ihre Lebensfreude und ihren Humor, aber auch ihre Verzweiflung und ihren Kummer, ihre Wut und Empörung über all das Unrecht, das ihnen angetan worden ist, ausdrücken. Zugegeben: in den stolzen Protestliedern der Campesinos fehlt die messianische Dimension; es gibt keinen Hinweis auf den Gott Israels. Aber Maria lebt als Symbol ihrer Menschenwürde und als Stimulans zur Befreiung. Und sie ist eine wesentliche inspirierendere Maria als jene jungfräuliche Mutter, die nur noch vergeistigt und erhaben, bleich und blank, unbeweglich und in sich zurückgezogen, den Tod der Entfremdung zu sterben droht. Vor allem im Verhältnis der Geschlechter zueinander hat die Kirche Maria eine zweideutige Rolle spielen lassen. »Die kirchliche Frömmigkeit hat hier den Akzent zu einseitig auf die biologische Funktion der Mutterschaft Marias, vor allem auf die >Jungfrau-Mut-ter-ldentität< gesetzt und damit mehr ihren >Archetypus< als ihren Ort im Heilsgeschehen betont. Maria diente also dazu, >den Zölibatären die Sublimation zu erleichtern, die Frauen in ihrer Jungfräulichkeit und in ihrer Mutterrolle zu bestätigen, aber sie zugleich auch darauf zu beschränken, die Virilität der Männer zu bändigen, die standesgemäße Keuschheit der Jünglinge und der Ehemänner zu stützen<. Die Folgen dieser Fixierung Marias auf eine »gegengeschlechtliche Macht< waren jedoch gerade umgekehrt: Das Frömmigkeitsleben der katholischen Kirche wurde dadurch bis in viele unbewußte Bereiche hinein geschlechtlich gefärbt, was vor allem für die Frömmigkeit der romanischen Länder gilt«.[4] Ich hoffe darauf, daß wir aufgrund der Bibel und der Theologie, aber noch viel kosmischer und allumfassender - auch mit Hilfe der Religionswissenschaft - eine Maria entdecken, die eine kraftvolle, prophetische und kritische Gestalt ist, die zur Befreiung aufruft, aber zugleich menschlich nahe sein kann, entspannt und voll Hingabe, weil sie nicht habsüchtig danach strebt, Macht zu erwerben, sondern einen Aspekt eschatologischen Seins darstellt, indem sie in ihrem Protest nicht fordert, sondern hinweist, nicht tadelt, sondern offenbart, nicht verabsolutiert, sondern offen bleibt, teilhabend an jener Fülle des Seins, dem sie so einzigartig verbunden ist. Aus diesem Grund können wir Maria auch mit jenen »weichen Kräften« in Verbindung bringen, die letztlich den Sieg davontragen werden, wie es die utopische Sozialistin und Dichterin Henriette Roland Holst van der Schalk formulierte. Und zwar nicht, weil uns eine Frau an das Weiche und ein Mann an das Harte denken läßt. Auch diese Gegensätze müssen abgebaut werden, denn wir sind aufgerufen, unsere biologischen Möglichkeiten in unserem Lebensentwurf sowohl zu integrieren wie zu übersteigen. In jedem von uns, Mann und Frau, leben harte und weiche Seiten, und es ist unsere Aufgabe, beide zur Entfaltung kommen zu lassen und sie durch Leiden und Krisen hindurch zu »weichen Kräften« umzuschmelzen. Es ist wiederum jenes spaltende Denken gewesen, das diese zwei Lebensmöglichkeiten Jahrhunderte lang so weit auseinandergerissen hat, daß wir sie heute als Gegensätze erleben.
Auf diese Weise verstehe ich auch die tiefste Bedeutung der Frauenbefreiungsbewegung, des Feminismus im besten Sinn des Wortes, des Verlangens und der Bewußtwerdung von Frauen, die nun endlich selbst Subjekt ihres Lebens werden wollen. Nicht im Haß gegen die Männer, nicht damit nun wir als einzige an die Macht kommen, sondern mit dem Ziel, Macht und Möglichkeiten zu teilen. Zuerst müssen wir Frauen aber auch durch Exodus, Absonderung und Wüste hindurch wir selber werden. Dann können wir zusammen mit den Männern eine menschliche, eine androgyne Kultur aufbauen, in der sich das, was wir früher männlich und weiblich nennen mußten, in einer spannungsvollen Einheit näherrückt, der jeder männliche und weibliche Mensch auf ihre oder seine persönliche Art Form geben wird. Aus dieser Sicht ist christlicher Feminismus ein geistiges, prophetisches Zeichen, das in Maria die Inspiration findet, um auf Befreiung zu hoffen und Befreiung zu bewirken. Ganz konkret und historisch wissen wir, daß der Feminismus den Sozialismus braucht, aber der Sozialismus ist nicht weniger auf den Feminismus angewiesen. Und beide, meine ich, haben das Magnificat von Maria nötig, um wirklich heil zu werden. Ich bin überzeugt, daß ich auf meinem Weg auf eine neue Maria hin erst auf halbem Weg bin. Denn letztlich geht es um etwas, an das bisher weder die Theologen - geschweige denn die christliche Glaubenslehre - und noch viel weniger der Protestantismus zu rühren wagten: die Androgynie (Mannweiblichkeit) des Göttlichen. Seinem neuen Buch »The Mary-Myth« (Der Mythos von Maria) gibt Andrew Greeley den Untertitel »On the femininity of God« (Über die Weiblichkeit Gottes)5. Maria ist hier die Offenbarung der weiblichen Dimension eines androgynen Gottes. Damit käme die Frau aus der Offenbarung (Kapitel 12) in jenen kosmischen Kontext, der ihr gebührt.

4. Nachwort

Dieses Triptychon schildert zunächst einmal meinen eigenen Entwicklungsgang in meiner Betrachtung und Erfahrung der Figur von Maria. Um 1962 entdeckte ich die Maria der Bibel; in den letzten fünf Jahren kamen neue Dimensionen dazu, und sie ist ein Symbol geworden, reich an Interpretationsmöglichkeiten und mit tiefen Schichten unseres Innern verbunden.
Ich weiß, daß nicht alle Feministinnen in ihrem theologischen Nachdenken in Maria ein ansprechendes Bild oder Symbol sehen können. Sie warnen vor dem Versuch, eine Maria, die die Kirche immer als untertänig dargestellt und im Hinblick auf ihren Sohn und Herrn als zweitrangig betrachtet hat, nun zu einer unabhängigen Frau emporzustilisieren, die Inspiration und Identifikationsmodell für die Frauenbefreiung sein könnte. Dieser Schwierigkeit bin ich mir voll bewußt, und niemand wird von mir hören, daß Maria schon jetzt eine spürbare Anziehungskraft als Leitbild für den Feminismus hat. Aber Feminismus ist für mich mehr als Frauenbefreiung, obwohl er das in erster Linie ist; Feminismus ist auch eine Kritik an der bestehenden Kultur und der herrschenden Religion. Dieser Religion sind durch die Vorherrschaft der patriarchalischen und männlichen Erfahrung Tiefen verstellt worden, denen frühere, archaische Kulturen Ausdruck gaben: Verbundenheit mit der Erde, verwurzelt im Grund, aufgenommen in den Kosmos, in Wasser und Lüfte, in den Himmel. Das männliche Wort allein ist nicht genug; Symbole, Bilder, Gebärden, der Ausdruck mit unserem Körper, Tanz und Erotik sind verschwunden, und uns bleibt nur noch eine strenge Ethik und eine ohnmächtige, dürftige Praxis übrig. Wenn ich als christliche Feministin auf der Suche nach der Bedeutung von Maria bin, dann suche ich mehr als ein neues Leitbild für Frauen. Denn ich suche auch nach einem ganzheitlicheren Gottesbild und nach einem ganzheitlicheren, integrierteren, humaneren Bild der Kirche. Das wird sichtbar an den drei Aspekten Marias, die natürlich aufs engste miteinander zusammenhängen:

  • an der prophetischen Maria als Inspiration für den christlichen Feminismus;
  • an der Maria, die zum heiligen Häufchen, den Armen von Jahwe, gehört, Bild von Israel und »das weibliche Gesicht der Kirche« (Rosemary Ruethei);
  • an der Maria, voll von Gnade, Braut, Tochter und Mutter Gottes, aufgenommen in den Himmel, Offenbarung der Weisheit und der Weiblichkeit, die weibliche Dimension Gottes.

Es geht um Gott und den Menschen, um den Menschen in ihrem oder seinem Aufgang zu Gott, in der Teilhabe an der Quelle des Seins, als Partner Gottes, aufgerufen durch eine Stimme in sich oder außerhalb seiner oder ihrer selbst. Wenn die Frau abgewertet und zum Anderen statt zum Partner und Gegenüber gemacht wird, dann ist die Wirklichkeit gespalten und die Bilder verkümmern, immanent wie transzendent. Neue Bilder von Maria zu entdecken, ist eine der Möglichkeiten zur Menschwerdung von Frauen, zur Ganzwerdung der Menschheit und zur Erfahrung der Dynamik Gottes.