Jede bereitet der nächsten den Weg

Chafik Sellami-Meslem, UNO-Beauftragte für Frauenfragen, Wien

  • Chafik Sellami-Meslem ist eine beeindruckende Person. Klein, mit einem sehr schönen, aristokratischen Gesicht, schwarzen Haaren und graziösen Bewegungen, lenkt sie von ihrem Büro im UNO-Turm hoch über der Donau aus in energischen drei Sprachen - arabisch, französisch, englisch die Frauensektion. Nicht erst mit dieser Arbeit, sondern schon zuvor als Diplomatin Algeriens und früher noch als Angehörige einer liberalen, kosmopolitischen Revolutionsgeneration ist ihr Leben für uns interessant. Interessant war aber auch ein Grundgedanke, der in ihren Überlegungen immer wiederkehrt. Sich als Teil eines Prozesses sehen, an die Veränderung glauben, Probleme nicht als unüberwindbar akzeptieren, sondern manchmal mit Humor, manchmal mit ironischem Bedauern - erkennen, daß die Unmöglichkeiten von heute die Selbstverständlichkeiten von morgen sind, das waren einige der Gedanken, die sich von dieser Grundhaltung ableiteten.

Vor allem für Frauen empfiehlt sich in trüben Augenblicken die historische Sicht. Die gar nicht sehr weitsichtig sein muß, denn schon innerhalb von Dekaden kann sich das Bild dessen, was erlaubt und möglich ist, grundlegend wandeln. »Ich komme aus einer Mittelschichtfamilie in Algerien. Meine Eltern waren Analphabeten, beide, und sehr traditionell in ihren Einstellungen. Aber sie bestanden darauf, daß wir in die Schule gingen und lernten. Ich war das jüngste Mädchen in der Familie, und das war für mich sehr vorteilhaft. Meine älteren Schwestern bahnten mir immer einen Weg. In Algerien war es üblich, daß ein Mädchen, wenn es schon in die Schule gehen durfte, dann aber spätestens mit vierzehn wieder herausgenommen wurde. Wir aber durften die Schule abschließen und danach sogar studieren. Das war sehr ungewöhnlich, daß mein Vater das erlaubte; absolut ungewöhnlich. Er wurde dafür sehr kritisiert im Verwandtenkreis. Er war in der ganzen Familie, die sehr groß ist, der erste, der seinen Töchtern das erlaubte. Denn daraus folgte zum Beispiel auch, daß wir keinen Schleier trugen, denn das war an der Universität nicht erlaubt. Meine Onkel haben meinen Vater sehr kritisiert, weil er mit der Tradition brach. Woher es kam, daß mein Vater so avantgardistisch dachte., Doch, ich glaube schon, daß es dafür eine Erklärung gibt. Mein Vater war einmal in seinem Leben, während des Zweiten Weltkriegs, schwer erkrankt. Er war sehr krank und konnte nicht arbeiten. Bis dahin war meine Mutter wie alle anderen traditionellen algerischen Frauen gewesen; sie verließ fast nie das Haus, selbstverständlich arbeitete sie nicht. Als aber mein Vater so krank wurde, mußte sie notgedrungen viele seiner Arbeiten übernehmen.
Durch dieses Erlebnis wurde ihm klar, wurde ihnen beiden klar, wie wichtig es für eine Frau ist, selbständig sein zu können. Denn jede Frau kann in eine solche Situation kommen. Was würde mit uns Mädchen geschehen, wenn mein Vater einmal nicht mehr da war, um uns zu versorgen und beschützen? Daß eine solche Situation nur allzu schnell eintreten kann, machte seine Krankheit ihm bewußt. Er wollte nicht, daß wir eines Tages hilflos und auf andere Menschen angewiesen sind. Daher war es sein Ziel, daß jede von uns einen Beruf erlernen sollte. Zugleich wollte er aber nicht, daß wir andere Kompromisse mit der Tradition eingingen. Und wir akzeptierten das natürlich. Seine Hauptsorge galt der Gefahr, daß unsere Ehre im sehr weit gefaßten Sinn Schaden nehmen könnte, und ganz konkret hieß das: Wir durften auf keinen Fall den Eindruck erwecken, daß wir mit Männern ausgingen oder auch nur mit ihnen redeten, daß unsere Tugend auch nur im entferntesten etwas anderes war als unantastbar. Unser Ruf, der Ruf der Familie, das war ihm sehr wichtig. Zum Beispiel durften wir später alle unsere eigenen Ehemänner aussuchen, aber mein Vater bat uns, zumindest nach außen hin den Schein zu wahren, daß es arrangierte Ehe waren. Allerdings hatte mein Vater immer ein sehr offenes und tolerantes Verständnis von Religion und Islam.
Ich habe zum Beispiel nie erlebt, daß er irgendwen dafür kritisierte, kein guter praktizierender Moslem zu sein. Statt dessen sagte er immer: Ich verurteile ihn nicht, denn Gott wird ihm helfen und ihm den rechtmäßigen Pfad weisen. Was aber seine Töchter betraf, so bedurfte es eines Lernprozesses. Ich werde nie den Abend vergessen, an dem mein Vater heimkam - meine Schwester und ich saßen im Wohnzimmer - und anfing, ohne ein Wort zu sagen, auf uns loszuschlagen. Er hat uns sehr geschlagen, und wir wußten nicht warum. Erst später hat sich herausgestellt, daß irgendeiner seiner Freunde ihm erzählt hatte, meine Schwester und ich seien auf der Straße mit Männern gegangen. Dabei stimmte es gar nicht. Sondern ich hatte meine Schwester von der Uni abgeholt, damals war ich 13, und dabei sind wir wohl einige wenige Schritte und ganz zufällig gemeinsam mit männlichen Studenten aus der Universität herausgekommen. Und dieser Mann hat das gesehen und ist sofort zu meinem Vater geeilt und hat ihm das mitgeteilt: »Deine Töchter sind unmoralisch, und ich habe sie mit Männern gesehen.« Und schon sechs oder sieben Jahre später sah es dann so aus, daß die jungen Männer, die meine Schulfreunde waren, zu mir nach Hause kommen durften und dort ganz freundlich von meinen Eltern empfangen wurden.
Mein Vater hatte nachgedacht und seine Meinung geändert. Wie ich ja schon sagte, meine älteren Schwestern haben es mir viel leichter gemacht, sie fingen die ganzen Widerstände auf und erkämpften alle möglichen Dinge, von denen ich dann Nutzen hatte. Als ich 18 war, hieß es nur noch: Wir vertrauen dir. Mißbrauche unser Vertrauen bitte nicht. Und das hieß eigentlich nur eines: bleibe Jungfrau. Ich besuchte eine sehr gute Mittelschule. Es war eine französische Schule, sie hatte vier Klassen in meinem Lehrgang, und in jeder Klasse gab es ein algerisches Mädchen, ein einziges. In meiner Klasse war das dann eben ich. Das hat natürlich unseren Nationalismus sehr genährt, wir waren uns sehr bewußt, daß wir im eigenen Land wie eine rechtlose Minderheit behandelt und abfällig betrachtet wurden. Männer und Frauen, diese Erfahrung teilten wir, und wir reagierten darauf auch in gleicher Weise, mit verletztem Stolz.
Der Befreiungskrieg hat die Situation der Frauen verbessert, schon allein, weil die scharfe Trennung zwischen den Geschlechtern gelockert wurde. Frauen haben aktiv mitgearbeitet, ihre Bewegungsfreiheit hat sich sehr vergrößert. Ich selbst war im Widerstand sehr aktiv und wurde 1957 verhaftet. Später mußte ich Algerien bis zur Unabhängigkeit verlassen. 1962 erhielten wir dann ja die Unabhängigkeit, und politisch stand das Frauenproblem tatsächlich auf dem Programm, das war gar keine Frage. Die Gleichberechtigung der Frauen war von Beginn an ein Prinzip der neuen Regierung, das wurde auch in der Charta von Tripoli festgehalten. Alle Algerier sollten dieselben Rechte haben. Die neue Regierung hat mich dann nach Algerien zurückgerufen, und ich arbeitete im Außenamt. 1981 wurde ich nach Bern geschickt, um dort als Kulturattaché zu arbeiten und die erste Botschaft zu eröffnen. Danach war ich Erster Sekretär an der Botschaft in Genf. Ich erlebte im Außenamt also einen sehr raschen Aufstieg, zweifellos infolge meiner Mitwirkung am Unabhängigkeitskrieg.
Ich sagte immer meine Meinung, und ich wurde immer angehört. Zu meinen Vorgesetzten und überhaupt zu allen Männern meiner Generation im Außenamt und in der Regierung hatte ich immer ein sehr gutes Verhältnis. Ich könnte nicht behaupten, daß ich benachteiligt worden wäre. Aber ich muß vielleicht erzählen, daß Männer, die sich der Befreiungsbewegung sehr spät angeschlossen haben, die dabei also nicht dasselbe riskiert haben wie ich, daß solche Männer ziemlich schnell den Rang von Botschaftern erhielten. Während ich erst sehr spät ein hohes diplomatisches Amt bekam und dann zwar die Funktionen eines Botschafters ausübte, aber nicht den Titel erhielt. Es hat mir nicht allzuviel ausgemacht; ich legte schließlich auf die Funktionen mehr Wert als auf den Titel. In meinem Arbeitsalltag wurde ich mit Achtung behandelt, man hörte auf mich, ich stand Delegationen vor, in denen mir sehr viele Männer unterstellt waren. Dann aber wurden junge Männer, die ich selber ausgebildet hatte, zum Botschafter ernannt.
Da beschloß ich dann, um einen anderen Posten anzusuchen, und bat um meine Überstellung zu den Vereinten Nationen. Denn als der jüngste meiner Schüler Botschafter wurde, mußte ich einsehen, daß es eben doch Diskriminierung gab. Aber wirklich, ich leide nicht darunter. Ich betrachte mich als Angehörige einer Generation, die für kommende Frauengenerationen den Weg leichter macht. Ich wurde nicht Botschafterin, aber ich habe jüngeren Frauen ihren Aufstieg erleichert - genauso wie meine älteren Schwestern für mich den Weg leichter machten. Ich war ehrgeizig, aber nicht um meinetwillen, sondern weil ich einen Beitrag auch für die anderen leisten wollte. Und ich wußte von Anfang an, daß in einer einzigen Generation nicht alles erreicht werden kann. Ich bin Aktivistin, und ich verstehe, daß Veränderungen in einem bestimmten gesellschaftlichen Rahmen stattfinden müssen. Über mein Privatleben spreche ich nie, das möchte ich nicht.
Ich habe drei Töchter, soviel kann ich erzählen. Die älteste ist 31, sie ist Ingenieurin, ihr Spezialgebiet sind Erdbeben. Die zweite studiert in Paris Jura. Die jüngste studiert in der Schweiz Wirtschaftswissenschaften. Mein Mann und ich sind geschieden, aber darüber spreche ich nicht. Für Männer ist es schwer, wenn ihre Frauen sehr in der Öffentlichkeit stehen ... Wir haben uns kennengelernt mit 22, wir haben uns geliebt, wir haben 17 Jahre lang zusammen gelebt, und dann haben wir uns getrennt. So kann man es sagen, und das ist genug. Manchmal fragen die Leute mich, woher ich meine Kraft nehme, meine Energie. Aber das kommt daher, glaube ich, daß ich immer etwas getan habe für eine Sache, an die ich sehr glaubte. Zuerst war es die Freiheit meines Landes. Dann die Ordnung der Welt, die den Entwicklungsländern so wenig Gerechtigkeit gibt. Und jetzt ist es die internationale Lage der Frauen. Jede Phase meines Lebens erfüllte mich mit dem Gefühl, etwas sehr Sinnvolles zu tun, an einer wichtigen Sache beteiligt zu sein. Von 1962 bis 1974 war es sehr aufregend, zur Dritten Welt zu gehören.
Meine Arbeit war mir immer sehr wichtig. Wenn ich dabei Probleme hatte, dann störte mich die Einschränkung meiner Arbeit bestimmt viel mehr als irgendeine mangelnde Anerkennung meiner Person. Die Arbeit steht für mich im Mittelpunkt. Ich habe mich immer sehr hart gefragt: Hast du das gut gemacht? Hat es etwas genützt? Auch die Arbeit in einer Institution wie dieser ist nicht einfach. Aber ich glaube daran: Man legt einen kleinen Stein auf den nächsten, und dann noch einen, und schließlich steht etwas da. Ich lebe jetzt in Europa und damit unter Frauen, die alle Etappen der industriellen Revolution und der modernen Gesellschaft miterlebt haben. Die Europäerin hat alle Schritte mitgemacht, und trotzdem kann man erst in den letzten 30 Jahren von so etwas wie Gleichheit hier sprechen. Und selbst heute gibt es noch viele Probleme, und erreichte Dinge können immer wieder in Gefahr geraten. Aber die Europäerin hat viel erreicht, und jetzt steht sie vor dem Problem, die Gesellschaft neu und harmonisch gestalten zu müssen. Für die Familie und die Öffentlichkeit muß ein neues Gleichgewicht gefunden werden, das nicht mehr wie bisher auf der Diskriminierung der Frauen beruht. Ich hoffe, daß die europäische Frau über ein solches neues Gleichgewicht nachdenkt. Immer müssen die älteren Schwestern für die jüngeren den Weg bereiten, und in diesem Punkt sind die europäischen Frauen, mit all ihren Leistungen und Rechten, älter als wir. Wir sind ja jetzt unter uns, und darum darf ich es sagen: Die europäische Gesellschaft hat eine Reihe von Problemen. Sie muß sich erst noch stabilisieren, nach all den vielen Veränderungen, die sie in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat, und muß eine neue Ordnung finden. Bei uns sagen die Gegner der Gleichheit, bitte, seht euch doch bloß dieses Europa an. Es ist voll von Rauschgiftsüchtigen, von Prostituierten, die Familien funktionieren nicht. Wollt ihr vielleicht, daß es bei uns auch so wird? Aber wenn die europäische Frau uns vorleben kann, daß eine Gesellschaft auch in Gleichheit gedeihen kann, dann wird der Weg für uns viel leichter werden.« Unsere erste, impulsive Reaktion auf diesen letzten Gedanken von Frau Sellami-Meslem war irritierte Ablehnung. Was denn noch?
Nun sollten Frauen nicht bloß die Diskriminierungen bekämpfen, die Ungerechtigkeiten abschaffen, die vielfachen Belastungen und Zusatzbelastungen im privaten Bereich und in der Arbeit ertragen - jetzt sollten wir auch noch dafür sorgen, daß die, die vorher ungerecht waren, sich nun wohl fühlen, daß alles harmonisch ist. Aber diese Reaktion revidierten wir ziemlich schnell, nachdem wir darüber nachdachten. Wenn Frauen einen gemeinsamen Mangel haben, dann den, daß sie die Initiative oft den anderen überlassen. Wenn man die Gesellschaft verändern will, dann geht das nicht. Und tatsächlich ist es so, daß diejenigen, die eine alte Ordnung stürzen, auch die neue Ordnung organisieren müssen. Deshalb haben sie sie ja gestürzt, weil sie danach anders sein sollte.
Die Arbeit, die sie sich damit auflasten , ist nicht sehr angenehm. Sie übernehmen von der alten Ordnung die Staatsschulden, eine völlig kaputte Wirtschaft, einen korrupten Parteiapparat. Und der Prüfstein ihrer Revolution ist nicht, ob sie gerecht war, ob ihre Werte lauter und sie selber gute Menschen sind, sondern der kritische Punkt ist dieser: Wird es ihnen gelingen, nicht bloß die alten Machthaber zu stürzen, sondern selbst an deren Stelle ein blühendes, funktionierendes Gemeinwesen aufzubauen? Und insofern hat Frau Sellami-Meslem, den Blick durch ihre Teilnahme an einer anderen, der algerischen Revolution, geschärft, ganz recht. Es liegt an den Frauen, die Gesellschaft so zu organisieren, daß sie ihren Werten entspricht und für alle Mitglieder lebbar ist. Die Frauen wollten die Veränderungen; daher ist es sehr wohl ihre Aufgabe, die veränderte Welt zu gestalten.