Die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts lebten die amerikanischen Frauen unter Bedingungen, die sehr verschieden waren von den Lebensumständen, unter denen ihre Großmütter und selbst ihre Mütter aufgewachsen waren. Neben den Veränderungen, die überall im Lande in Gestalt einer raschen Industrialisierung und Urbanisierung stattfanden, hatte sich die Stellung der Frau weitaus drastischer gewandelt als die der Männer. Änderungen der rechtlichen Stellung der Frauen waren zwar in den einzelnen Staaten unterschiedlich verlaufen und nicht ohne Rückschläge vor sich gegangen, trotzdem waren aber viele der gravierendsten rechtlichen Benachteiligungen abgeschafft, andere bedeutend vermindert worden.
Es war leichter, den Weg des Fortschritts in manchen Staaten an der Ostküste zu verfolgen; im großen und ganzen hatten andererseits die Staaten westlich des Alleghany Gebirges zu keiner Zeit die gesetzliche Diskriminierung von Frauen in ihrer schlimmsten Form gekannt. Grundsätzliche Gleichheit vor dem Gesetz (wenn auch nicht des politischen Status) war Bestandteil der Verfassungen einiger westlicher Staaten, als sie in die Union aufgenommen wurden. In anderen war der Fortschritt unter dem Druck der Bedingungen des Pionierlebens rascher vor sich gegangen als an der Atlantikküste, wo bereits eine differenzierte Klassengesellschaft existierte, der Einfluß von Blackstones Kommentaren auf die Rechtsprechung noch vorherrschte und das Erbe religiöser Auffassungen von der Minderwertigkeit der Frau schwer abzuschütteln war. Hier brauchte es in den meisten Staaten noch ein halbes Jahrhundert, bis einer verheirateten Frau das Recht nicht nur auf eigenen Besitz, sondern (für Arbeiterinnen eine lebenswichtige Unterscheidung) auch auf ihre Einkünfte sicher war. Obwohl um 1900 entsprechende Gesetze in den meisten Oststaaten in Kraft waren, konnte eine verheiratete Frau in Pennsylvania nach wie vor keinen Geschäftsvertrag ohne die Zustimmung ihres Mannes abschließen.
Obwohl gemeinhin der Süden das bei weitem rückständigste Gebiet war, unterschieden sich in seinen einzelnen Staaten die Bedingungen doch beträchtlich. Der wirtschaftliche Wiederaufbau ging dort langsam voran, da der Bürgerkrieg größtenteils in den Südstaaten ausgefochten worden war. Vor dem Krieg hatten dort verhältnismäßig weniger Frauen als im Norden ihren Lebensunterhalt selbst verdient. In den Jahren nach dem Krieg beschränkte sich Bildung für Frauen immer noch weitgehend auf das Niveau von Hauptschulen. Selbst in den späteren Jahrzehnten des Jahrhunderts wurde nur mit relativ geringem Druck gegen die bestehenden rechtlichen und politischen Restriktionen vorgegangen. Die diskriminierenden Bestimmungen des »Code Napoleon«, ein Erbe der französischen Herrschaft in Louisiana, besaßen noch immer volle Gültigkeit - das ging so weit, daß eine verheiratete Frau nicht einmal einen rechtlichen Anspruch auf die Kleider hatte, die sie trug. In Georgia gehörte das Einkommen der Frau immer noch ihrem Ehemann. Im nahegelegenen Mississippi jedoch waren ihre Eigentumsrechte ziemlich gut geschützt, während sie in Florida sogar über ihre eigenen Einkünfte frei verfügen konnte.
Die größten Ungerechtigkeiten gab es überall im Bereich des Scheidungsrechtes. Eine Frau, die Ehebruch begangen hatte, wurde durch das Gesetz streng bestraft, wohingegen ein Mann keinerlei Strafe erfuhr. In Minnesota z. B. galt, daß eine wegen Ehebruchs geschiedene Frau sogar den Grundbesitz verlor, der ihr gehört hatte; in Pennsylvania wurde ihr die Verfügungsgewalt darüber verboten, sofern sie nach der Scheidung fortfuhr, mit dem Mann zusammenzuleben, mit dem sie den Ehebruch begangen hatte. In keinem der beiden Staaten wurde ein Mann derart bestraft. Einzig South Carolina verbot die Scheidung ganz grundsätzlich.[1]
Im ganzen Land waren viele der eingetretenen Veränderungen Ergebnis harter Kämpfe in den Parlamenten. Sie spiegelten allgemein die stetige Ausdehnung der Interessen und Aktivitäten der Frauen in der Industrie, im Geschäfts- und Berufsleben wider. Die Zahl der erwerbstätigen Frauen nahm ständig zu. Die Volkszählung von 1890 registrierte 4 005 532 Erwerbstätige; 1900 war die Zahl auf 5 319 397 angestiegen und 1910 auf 7 444181.[2] 1900 bestand die größte Gruppe dieses Heers von Lohnempfängerinnen aus 1 800 000 Frauen, die in Haushalten (von anderen Familien, nicht ihren eigenen) oder im sogenannten Dienstleistungsgewerbe beschäftigt waren. Um die 700 000 wurden pauschal als »Farmarbeiterinnen oder Verwalterinnen« klassifiziert. 325 000 waren Lehrerinnen und 217 000 arbeiteten als Verkäuferinnen. Von den Fabrikarbeiterinnen arbeiteten die meisten, nämlich rund 671 000, in der Bekleidungsbranche, während weitere 261 000 in Baumwoll-, Seide-, Strickwaren- oder sonstigen Textilfabriken beschäftigt waren.[3]
Ein anderes schnell wachsendes Arbeitsfeld für Frauen waren die Büros. Expandierende Großkonzerne erforderten mehr als den altmodischen Buchhalter, der die Bücher ohne technische Hilfsmittel führte, oder einen Bob Cratchit, der die Geschäftskorrespondenz in einer wunderschönen fließenden Handschrift erledigte. Die Einstellung von Frauen in Regierungsbehörden während des Bürgerkrieges hatte dazu beigetragen, den Frauen den Weg in die Geschäftswelt zu ebnen, ebenso die Erfindung der Schreibmaschine im Jahre 1867. 1888 waren bereits 60 000 Schreibmaschinen in Gebrauch.[4] Andere Büromaschinen folgten nach; und die Zahlen aus der Volkszählung von 1900 zeigen, daß fast 74 000 Frauen als Buchhalterinnen und Kassiererinnen angestellt und über 100 000 als Stenographinnen, Maschinenschreiberinnen und Sekräterinnen sowie in anderen Berufen tätig waren, die wir heute »Angestelltenberufe« nennen.[5]
Die steigende Zahl berufstätiger Frauen bot neue Argumente für das Frauenwahlrecht. Im Jahr 1894, als die Verfassung des Staates New York überarbeitet werden sollte, publizierte Dr. Mary Putnam-Jacobi eine Schrift mit dem Titel: »Common Sense« Applied to Woman Suffrage (Gesunder Menschenverstand, angewandt auf das Frauenwahlrecht); sie wurde zu einem Klassiker der Wahlrechtsliteratur, und eines ihrer Hauptthemen war die Einbeziehung der Frauen in die moderne Industriegesellschaft. Frau Putnam-Jacobi folgte schon früh den Spuren Dr. Blackwells - 1864 erwarb sie den Titel als Doktor der Medizin - und wurde die erste Ärztin, die in die erlauchte Namensliste der New Yorker Akademie der Medizin gewählt wurde; in ihrem Buch zeigte sie einige der stattfindenden einschneidenden Veränderungen auf. Nicht nur war eine große Zahl von Frauen, was ihren Unterhalt betraf, nicht mehr von Männern abhängig; die sogenannte >»Frauenarbeit< war nun so häufig und so offensichtlich außerhäuslicher Natur, . . . daß sie nicht länger als eine Tätigkeit betrachtet werden konnte, die ausschließlich im persönlichen Dienst an Vater und Ehemann bestand«; dadurch war sowohl der Kontrolle des Mannes über Besitz und Einkommen seiner Frau wie auch seinem Anspruch, sie politisch »vertreten« zu können, jegliche Grundlage entzogen. Eine andere traditionelle Vorstellung, daß nämlich der Mann den Frauen in der Familie »Schutz« angedeihen lasse, hatte nur wenig Bezug zu der Realität der Frauen, die in Schwitzbuden und Textilfabriken beschäftigt waren, wo sie eine gänzlich andere Art von Schutz brauchten: den durch Gesetze und deren ordnungsgemäße Anwendung, der für eine des Wahlrechts beraubte und daher politisch ohnmächtige Bevölkerungsschicht sehr schwer zu erreichen war.6
Vierzehn Jahre später vertrat M. Carey Thomas, die Präsidentin der Universität Bryn Mawr, die Ansicht, daß »die althergebrachten Argumente für das Frauenwahlrecht in den Hintergrund gedrängt würden durch die heute von den Frauen als dringend empfundene praktische Notwendigkeit des Wahlzettels«. (Sie bezog sich auf frühere philosophische Argumente, die Grundlage für die ersten Forderungen nach Wahlrecht und allen Formen der Gleichberechtigung gewesen waren, wie sie auch Mary Wollstonecraft, John Stuart Mill und Elizabeth Cady Stanton benutzt hatten.) Miss Thomas warf Frauen wie Männern Furcht vor der gegenwärtigen »gewaltigen sozialen Revolution« vor: »Ob wir sie wünschen oder nicht, die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen vollzieht sich vor unseren Augen.« Sie ging ferner auf Zeitungsberichte über die Brutalität der Polizei gegen streikende Textilarbeiterinnen ein und zitierte Carroll Wright, den Regierungskommissar für Arbeiterfragen: »Der Mangel an direktem politischen Einfluß ist ein maßgeblicher Grund dafür, daß die Frauenlöhne auf ein Minimum beschränkt blieben.«[7]
Aus den sich ändernden Lebensumständen der Frauen ergaben sich Veränderungen in der Ideologie der Frauenrechtsbewegung; wie andere Aspekte in der Entwicklung Amerikas entsprang aus diese Ideologie viel eher aus praktischen Notwendigkeiten als aus philosophischen Theorien. Keine Frau war bis jetzt an die Stelle einer Sarah Grimke, Margaret Füller oder Elizabeth Cady Stanton getreten (oder an die einer Mary WoUstonecraft, die ihrer aller Vorläuferin auf dem Gebiet der Philosophie war). Es ist bezeichnend, daß Mrs. Stanton ihre Vorstellungen am grundsätzlichsten in Form einer Rede darlegte, die sie am 20. Februar 1892 - gegen Ende ihres aktiven Lebens -während einer Anhörung vor dem Rechtsausschuß des Senats hielt: »Die Einsamkeit des Selbst« (The Solitude of Seif) war eher ein Arbeitsprogramm als ein ausgefeiltes philosophisches Essay und sollte einem unmittelbaren, praktischen Zweck dienen.[8]
Es überrascht daher nicht, daß der nächste ideologische Schritt nach vorn als Reaktion auf die sich schnell verändernden Lebensumstände, auf das bereits erwähnte Anwachsen der Zahl arbeitender Frauen erfolgte. Die Argumente, die Miss Thomas, Dr. Jacobi und andere vertraten, sowie die philosophischen Argumente, auf die frühere Reformerinnen sich gestützt hatten, gründeten sich größtenteils auf die Vorstellung von den gleichen Rechten der Frau, die aus der Zeit stammte, als das Recht eines jeden Menschen auf »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück« für alle ebenso gefordert wurde wie die Freiheit von nichtgewählter, tyrannischer Herrschaft. Nachdem die Frauen ein gewisses Maß rechtlicher Gleichstellung erreicht hatten und ihrer politischen Freiheit in naher Zukunft entgegen sahen, war das nächste überwältigende Problem, dem sie gegenüberstanden, ökonomischer Natur. Die beredtesten Argumente für gesetzliche und politische Rechte sollten im aufkommenden Kampf zwischen Kapital und Arbeiterinnen um ein anständiges Auskommen unbrauchbar werden.
Die Frauen, die in steigender Zahl in die moderne Industrie gingen, arbeiteten größtenteils für einen Lohn unterhalb des Existenzminimums, unter erbärmlichen Bedingungen und ohne die Vorteile einer gewerkschaftlichen Organisation. Die wenigen mit besserer Ausbildung kämpften um die wenigen ihnen offenstehenden qualifizierten Berufe. Alle aber hatten gegen die heilige Lehre zu kämpfen, daß der »Platz der Frau« zu Hause, ihre Rolle immer noch auf die der Hausfrau und Mutter beschränkt und ihre Verpflichtungen mehr familiärer als staatsbürgerlicher oder gesellschaftlicher Natur seien.
Journalistinnen, ihrerseits eine neue Gattung, berichteten für immer mehr neue Publikationen und deren Leser über diese Tatsachen. Die aufsehenerregende Invasion weißer Frauen in die Textilfabriken des Südens wurde beschrieben von Cläre de Graffenried, einer Sozialarbeiterin und Reporterin, die für keine ihrer beiden Tätigkeiten eine unserem Verständnis entsprechende Ausbildung genossen hatte. Sie war jedoch eine begabte Frau mit Phantasie und Mitgefühl und ging in die Fabriken und Wohnungen, wo sie mit jenen Frauen sprechen und deren Kinder sehen konnte (die oft selbst in erschreckend jungem Alter schon arbeiteten). Ihre Artikel waren wortgewaltige Plädoyers für eine Abhilfe schaffende bundesweite Schutzgesetzgebung und für einen leistungsfähigen Verwaltungsapparat, der allein auf ihre Durchführung hoffen ließ.[9]
Solche Berichterstattung, wie sie auch von vielen anderen, Männern wie Frauen, kam, erweiterte den Horizont der wählenden Öffentlichkeit und unterstützte die Forderung der Frauen nach dem Wahlrecht. Aber die wichtigste Einzelveröffentlichung hierzu war ein Buch, das 1898 unter dem seltsam anmutenden Titel Women and Economics (Frauen und Ökonomie) erschien. Es wurde rasch der bedeutendste Text für den Feminismus des 20. Jahrhunderts.[10] Seine Verfasserin gehörte zur bekannten reformfreudigen Familie Beecher, aber sie schrieb unter dem Namen ihrer beiden Ehemänner, erst als Charlotte Stetson und später als Charlotte Perkins Gilman. Sie wurde 1860, am Vorabend des Bürgerkrieges, geboren und lebte bis 1935, bis weit hinein in die neue Ära, an deren Gestaltung sie stark beteiligt gewesen war. Eine andere herausragende Frauenführerin, Carrie Chapman Catt, setzte Charlotte Gilman an die Spitze einer Liste der zwölf bedeutendsten amerikanischen Frauen, und keine ihrer Zeitgenossinnen, die hart für die Frauenrechte arbeiteten, blieb von Gilmans Denken unbeeinflußt. Charlotte Gilman lebte, wie so viele Wegbereiter, ein größtenteils unglückliches Leben, und erkrankte oft an dem, was man heute neurotische Leiden nennt. Sie sehnte sich nach der Art von Glück, die man im Familienleben findet, aber sie schreckte vor der Aussicht auf ein Leben zurück, das nur um Mann und Kinder kreist, denn sie wollte ihre Unabhängigkeit nicht verlieren. Viele Jahre hindurch lebte sie am Rande der Armut und ernährte sich und ihre einzige Tochter durch unablässiges Schreiben und Vorträge. Sie war eine leidenschaftliche Verfechterin der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frauen und sah, wie wichtig, aber nahezu unmöglich es war, diesen Zustand zu erreichen. Der verblüffend einfache Titel Women and Economics hatte den Untertitel: »Eine Untersuchung des ökonomischen Verhältnisses zwischen Männern und Frauen als Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung«. Intellektuell fühlte sich die Verfasserin einzig dem soziologischen Denken Lester Wards verpflichtet, der Darwins Evolutionsprinzip mit der Dynamik von Vernunft und Willen verband und forderte, daß Menschen die Verantwortung für ihre eigene Entwicklung übernähmen.[11] Mrs. Gilman schrieb noch andere Bücher, keines jedoch von dem Format wie Women and Economics; sie befaßten sich mit Kindererziehung, Religion, Psychologie und Haushalt. Ein Buch mit dem schlichten Titel The Home analysiert auf eine heutigen Feministinnen vertraute Art und Weise die Auswirkungen einer von der Routine und dem Kleinkram des häuslichen Lebens beherrschten Existenz auf gebildete Frauen (und durch sie auf deren Kinder). Ihre Vorstellungen wurden weit verbreitet durch ihre Bücher, Vortragsreisen und die Monatszeitschrift The Forerunner, die sie 1909 bis 1916 allein verfaßte, herausgab und verlegte. Ihre Prosa und Lyrik und eine Autobiographie, Das Leben von Charlotte Perkins Gilman, werden ihrem stürmischen Leben und ihrem Einfluß auf moderne Frauen bei weitem nicht gerecht.
Noch ein weiteres Element war in der sich unablässig verändernden Alchemie sozialer Beziehungen wirksam. Der Kampf, den Emma Willard und Mary Lyon aufgenommen hatten, um der gleichwertigen Leistungsfähigkeit des weiblichen Verstands Geltung zu verschaffen, war noch immer nicht gewonnen; noch 1894 schrieb Dr. Putnam-Jacobi, daß »Männer, die den Mann gewöhnlich als Besitzer von Geschlechtsmerkmalen wie auch anderer Dinge mehr betrachten, gewöhnlich denken, die Frau habe ein Geschlecht und sonst nichts«. Aber dank der Fortschritte in Medizin, Psychologie und Soziologie konnte sie auch mit neuen Gegenargumenten aufwarten: »Die Einflüsse des Milieus werden erst heute allmählich theoretisch ernst genommen. Erst jetzt taucht langsam der Verdacht auf, daß die weitverbreitete weibliche Dummheit keine zwangsläufige organische Eigenart ist, sondern vielmehr erklärbar durch die Tatsache, daß den Frauen bis vor kurzem jegliches Lernen verboten war. Ähnlich sollten wir untersuchen, ob nicht viel von der beobachteten unpraktischen Art der Frauen, selbst bei der Umsetzung der richtigen Gedanken, die sie sich gemacht haben mögen, vielleicht den gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu verdanken ist, welche in so vielen Bereichen verbieten, daß ihr Wille irgendeine Auswirkung hat.«[12] Verglichen mit dem Heer der Arbeiterinnen war die Zahl der Frauen mit Collegeabschluß gering, aber sie bildeten eine ständig wachsende Gruppe, vielversprechend und voll neuen Lebens. Nicht nur verließen jedes Jahr mehr Frauen die Frauen-Colleges - Smith, bereits an der Spitze, hatte im Jahr 1900 219 Absolventinnen -, es kamen auch immer mehr aus den staatlichen Universitäten und den Colleges des Westens und Mittelwestens, und selbst im nachhinkenden Süden suchten junge Frauen anderswo nach Möglichkeiten, sich zu entfalten, die ihnen zu Hause verwehrt wurden. 1900 graduierten insgesamt 5237 Frauen an anerkannten Institutionen (verglichen mit 22 173 Männern); ihre Zahl stieg 1910 auf 8437 an (verglichen mit 28 762 Männern).[13]
Hier ging es um mehr als nur um einen zahlenmäßigen Anstieg. Mit den ersten Kursen, die Harvard-Professoren 1879 für Frauen durchführten, gefolgt von der offiziellen Einrichtung der Gesellschaft für Frauen-Hochschulbildung im Jahr 1882 und der Eröffnung von Bryn Mawr 1885, stiegen wieder einmal die Aussichten, einer Situation abzuhelfen, die den aufmerksameren und anspruchsvolleren Frauen folgendermaßen erschien: »Entmutigend, abgesehen von der Freude, die Frauen am Collegebesuch zeigten. Niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, was dabei herauskommen würde. Das gegenwärtig Erreichte war gering, die Studentinnen waren unreif und schlecht ausgebildet; die wissenschaftliche Qualifikation der Professoren, die in Frauencolleges unterrichteten, war, mit wenigen leuchtenden Ausnahmen, gleich Null. In Wellesley, Mount Holyoke und Smith lehrten Frauen, die selber nicht einmal an den Grundkursen einer Collegeausbildung teilgenommen hatten.«[14]
Den ersten bedeutenden Schritt zur Überbrückung dieser Kluft unternahm im Dezember 1878 Arthur Gilman aus Cambridge, der beunruhigt war über den Mangel an Bildungschancen für seine Töchter in einer Gemeinde, deren Bildungsniveau durch die Harvard-Universität bestimmt war. Einzelne Harvard-Professoren hatten bereits einige wenige Studentinnen betreut, und Mr. Gilman bat Rektor Eliot um seine Zustimmung zu einem Projekt, mit dem dieser Unterricht systematisch den Mädchen zugänglich gemacht werden sollte, die die gleichen Aufnahmeprüfungen bestanden wie die von Harvard-Kandidaten verlangten.[15]
Im Herbst 1879 boten 20 Harvard-Professoren, darunter einige auf ihrem Gebiet führende Kapazitäten, 24 Kurse für Frauen an, die in ausgewählten Fächern die Harvard-Aufnahmeprüfung bestanden hatten. Von den 27 Kandidatinnen bestanden 25, obwohl nur drei im ersten Jahr die Veranstaltungen voll besucht hatten. Die ersten Wohnheime, Labor- und Bibliotheksplätze für sie wurden ohne jegliche formelle Organisation geschaffen, so sehr waren Gilman und seine Mitarbeiter darauf bedacht, keine Opposition seitens der Harvard-Behörden oder der konservativen Cambridger und Bostoner öffentlichen Meinung zu provozieren.
Im Jahre 1882 wurde jedoch die Gesellschaft für Frauen-Hochschulbildung gegründet (bald bekannt als »Harvard-Annex«, heute Radcliffe), ein formloses Gebilde, das diejenigen, die die Zulassung von Frauen zu den Lehrveranstaltungen in Harvard zusammen mit Männern wünschten, teilweise versöhnen sollte mit denjenigen, die jedes koedukative Projekt hartnäckig ablehnten. Diese Ambivalenz blieb auch dann noch bestehen, als Radcliffe 1893 in den Rang eines College erhoben wurde; seine Studentinnen mußten die Aufnahmebedingungen in Harvard erfüllen und konnten nur mit Zustimmung des Rektors und der Fakultäten von Harvard Examen machen, und zwar »bei befriedigendem Nachweis solcher Qualifikationen, wie sie bei gleichem Abschluß an der Harvard-Universität verlangt werden«.16 Wie unklar auch immer die Form sein mochte, Ziel und Konzeption waren klar genug und hatten tiefgreifende Auswirkung auf ein weiteres neues Frauencollege. Bryn Mawr wurde 1885 von Quäkern aus Pennsylvania und Baltimore gegründet, war aber von Anfang an geprägt von der schöpferischen Phantasie und den unerbittlich hohen Ansprüchen von M. Carey Thomas. Als eine der ersten Cornell-Absolventinnen und eine der ersten Frauen, die mit einem Doktortitel aus Europa zurückkam, wurde Miss Thomas im bemerkenswerten Alter von 26 Jahren Dekanin eines College, das zwar noch nicht eröffnet war, dessen Anforderungen aber auf ihr Drängen hin bereits vor der Eröffnung drastisch erhöht werden sollten.[17] Sie wollte nicht nur mit dem Harvard-Niveau gleichziehen, sondern auch die Schulen dadurch zu weiteren Leistungen anspornen, daß sie sie zwang, auch auf die Sonderprüfungen von Bryn Mawr vorzubereiten, und sie wollte ebenso die übrigen Colleges zu höheren Ansprüchen drängen. Sie hatte solchen Erfolg, daß jahrzehntelang eine Aufnahme in Bryn Mawr, ganz zu schweigen von einem Abschluß dort, Kennzeichen für überdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten war. Miss Thomas war als Rektorin, was sie 1894 wurde, auch die erste, die mit Erfolg die Möglichkeit der Promotion in einem Frauen-College durchkämpfte; die von Bryn Mawr angebotenen Doktorandenstipendien waren die ersten, die Frauen mit dem Wunsch weiterzustudieren zur Verfügung standen. Mit der Einführung eines solchen Programms erreichte Miss Thomas zweierlei: Sie stellte an ihre eigene Fakultät höhere Anforderungen, als der Unterricht lediglich des Grundstudiums es tat, und sie bewies zum anderen, daß Frauen zu qualifizierterer Forschungsarbeit fähig sind, indem sie ihnen die Möglichkeit dazu gab. Miss Thomas' Beharren darauf, daß Frauen gleiche Fähigkeiten und folglich auch Rechte auf Chancengleichheit hätten, führte sie über den universitären Bereich hinaus in die Arbeit für das Wahlrecht. Sie glaubte unbedingt daran, daß College-Frauen einen Beitrag in dieser Sache leisten konnten und sollten.[18] 1900 wurde in Radcliffe eine Wahlrechtsgruppe von einer Studentin namens Maud Wood gegründet, die unter dem Namen Maud Wood Park später eine der Führerinnen der Frauenwahlrechtsbewegung wurde. Bei der Jahresversammlung des Wahlrechtsverbands von 1908 kamen auf Einladung der Rektorinnen Thomas von Radcliffe, Mary E. Wooley von Mount Holyoke und anderen, die College-Wahlrechtsgruppen aus 15 Staaten zusammen, um die Nationale Liga der College-Frauen für Gleiches Wahlrecht zu gründen. Unter den ersten Vorstands- und Ausschußmitgliedern waren Absolventinnen oder Fakultätsangehörige von Bryn Mawr, Barnard, Radcliffe, Smith und den Universitäten von Wisconsin, Kalifornien und Chicago. Die Liga brachte einer Generation von Akademikerinnen politisches Bewußtsein, mit deren Hilfe das Stimmrecht für Frauen Wirklichkeit wurde, und entsprach somit der Herausforderung, die Miss Thomas in der allerersten Versammlung aufwarf:
»Frauen sind die Hälfte der Welt, aber bis vor einem Jahrhundert führten sie ein Leben im Zwielicht, ein halbiertes Leben im Abseits, und blickten heraus und sahen Männer wie Schatten gehen. Es war eine Welt des Mannes. Die Gesetze waren die Gesetze von Männern, die Regierung eine Regierung von Männern, das Land ein Land der Männer. Jetzt haben Frauen das Recht auf höhere Bildung und wirtschaftliche Unabhängigkeit gewonnen. Das Recht auf die volle Staatsbürgerschaft ist die nächste und unvermeidliche Folge von Ausbildung und Arbeit außer Haus. Wir sind so weit gegangen; wir müssen noch weiter gehen; wir können nicht zurück.«[19]
Die alternde Susan Anthony gehörte nicht zu jenen, die sich von der Macht nicht trennen können. Besonders nach dem Zusammenschluß der beiden Wahlrechtsvereine 1890 sah sie sich nach fähigen Vertreterinnen um, denen sie ihren Posten übergeben konnte. Es war ein Glück für die Sache des Frauenwahlrechts, daß sie zwei fand, die sich in die Führung der Bewegung teilten, bis das Ziel erreicht war.
Beide gehörten zu der steigenden Zahl von Frauen mit College-Ausbildung. Beide kamen aus dem Mittelwesten; die eine stammte von Siedlern der ersten Generation ab, die andere war nur wenig weiter entfernt von den Bedingungen des Grenzerlebens. An diesem Punkt hört die Ähnlichkeit im Lebenslauf von Carrie Chapman Catt und Anna Howard Shaw jedoch auf, abgesehen von der Tatsache, daß das Frauenwahlrecht zum Brennpunkt ihrer beider Leben wurde.
Carrie Lane wurde 1859 auf einer Farm in Wisconsin geboren; ihre Familie zog in den Nordosten Iowas, als ein Teil des Landes noch ungepflügte Prärie war.[20] Sie wurde am Iowa State College graduiert und arbeitete in rascher Folge als Lehrerin, in der Schulverwaltung und als Journalistin, zuerst bei einer kleinen Stadtzeitung in Iowa und dann in San Francisco. Als ihr erster Mann, Leo Chapman, nur ein paar Monate nach der Heirat an Typhus starb, begann sie in ihrem Heimatstaat Iowa Vorträge zu halten und für das Wahlrecht aktiv zu werden, und ihre Arbeit zog rasch die Aufmerksamkeit der regionalen Frauenführerinnen auf sich. Im Jahr 1890, das die Vereinigung der Wahlrechtsbewegung brachte, trat sie in die Wahlrechtsarbeit auf nationaler Ebene ein und heiratete George Catt, einen erfolgreichen Ingenieur und unerschütterlichen Anhänger des Frauenwahlrechts, der seiner Frau die Möglichkeit gab, der Sache immer mehr Zeit zu widmen.[21] Es fiel Miss Anthony bald auf, daß hier nicht nur eine fähige Rednerin war, sondern auch eine Frau mit ungeheurem Organisationstalent; daran hatte die Wahlrechtsbewegung in Miss Anthonys späteren Jahren auffallenden Mangel gehabt. Nachdem sie ihre ersten Erfahrungen in einigen zermürbenden Kampagnen gesammelt hatte, vornehmlich in dem Fiasko von South Dakota 1890 und der siegreichen Kampagne in Colorado 1893, und nachdem sie 1895 auf der jährlichen Versammlung in ihrem Bericht den Wahlrechtsverband wegen seiner Versäumnisse und Mängel hart kritisierte, wurde Mrs. Catt zur Vorsitzenden eines neu eingerichteten Organisationsausschusses ernannt. Hier hatte sie im Laufe der nächsten fünf Jahre reichlich Gelegenheit, ihre Begabung zum Planen und Kontrollieren und für die Auswahl und Ausbildung des Führungsnachwuchses zu entfalten: charakteristische Schwerpunkte ihrer Wahlrechtsarbeit im kommenden Vierteljahrhundert.
Die junge Organisatorin zeigte beträchtliche Kühnheit bei dem Versuch, einige neue Methoden in einer Organisation einzuführen, die immer sehr individualistisch und zufallsbestimmt vorgegangen war: feste Arbeitsprogramme für lokale Gruppen, Hauptquartiere in jedem Staat, Studienkurse vor allem in Politologie und Ökonomie, ein Handbuch für Organisation, ein festgefügtes Mitgliedschaftssystem (worum sich früher nie jemand gekümmert hatte), und eine solide Finanzgrundlage für den nationalen Verband (ein Ziel, das erst zwanzig Jahre später erreicht werden sollte). Doch Mrs. Catt, die den anderen weit voraus war, erachtete diese Dinge als grundlegend für jede Art von beständiger und konsequenter Arbeit und für den schließlichen Erfolg. Neun Jahre arbeitete sie hart daran, ein solides organisatorisches Fundament für eine sich ausbreitende Bewegung von Frauen zu legen, die mit konfliktreichen Anforderungen an ihre verfügbare Zeit und Energie und mit vielen Hemmungen zu kämpfen hatten, selbst wenn sie von ihrer Sache fest überzeugt waren. Es war eine undankbare, aufreibende Arbeit, die ihrer Zeit voraus war. Aber die Suffragetten bekamen eine Ahnung von Organisation und Disziplin, an die sich einige unter ihnen später, als es dringend nötig war, erinnerten.
Auch Mrs. Catt selbst mußte ihre Tätigkeit erst lernen; sie brauchte Urteilsvermögen und Taktgefühl, nur leider hatte sie anfänglich von beidem nicht genug. Ihre Briefe als Vorsitzende des Organisationsausschusses zeigen noch einen deutlichen Mangel an jener Diplomatie und menschlichen Wärme, die sich in ihrer Korrespondenz späterer Jahre findet.[22] Sie glaubte sogar daran, daß es in den Südstaaten vielversprechende Möglichkeiten für die Bildung von Wahlrechtsvereinen gab. 1897 schickte sie Ella Harrison, eine junge Frau aus Missouri, mit großen Erwartungen für ein fruchtbares Ergebnis nach Mississippi: »Zwar ist der Süden dem Frauenwahlrecht noch nicht wohlgesonnen, hört aber doch freundlich zu, und ich möchte weiter sagen, wenn sich die Leute dort erst einmal überhaupt für etwas interessieren, dann sind sie unweigerlich am zuverlässigsten. Ein oder zwei Jahre Arbeit werden die Gesinnung dort unten verändern und ganz schön revolutionieren.«[23] Die Erfahrungen der ersten zweimonatigen Tour wie auch die nachfolgende Entwicklung bewiesen das Gegenteil: Die Reise erwies sich als verheerend teuer für das knappe Budget des Wahlrechtsverbands, aber sie trug auch zur schließlichen Ausbildung der fähigsten Organisatorin bei, die die Wahlrechtsbewegung hervorbringen sollte.
Als 1900 für Miss Anthony der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie abtreten mußte, fiel die Wahl der älteren Führerin auf Mrs. Catt als ihre Nachfolgerin für den Vorsitz der NAWSA, wobei deren Verdienste gegenüber persönlichen Präferenzen den Ausschlag gaben; es war eine schwierige Entscheidung, denn die einzige in Frage kommende Gegenkandidatin war Susan Anthonys engste Freundin und Mitarbeiterin während der letzten zwanzig Jahre ihres Lebens.
Anna Howard Shaw hatte als Siedlerkind eine schwere Kindheit und als Theologiestudentin harte Studienjahre durchgemacht. Als sie im Alter von 35 Jahren das Gefühl bekam, sich in ihrer mühsam eroberten Gemeinde auf Cape Cod nur noch bequem in ausgetretenen Geleisen zu bewegen, schrieb sie sich an der Medizinischen Hochschule von Boston ein und erwarb 1886 ihren Doktor der Medizin. Die Erfahrungen, die sie als Geistliche und Ärztin im Umgang mit den verarmten Frauen der Bostoner Slums machte, überzeugten sie, daß weder die Medizin noch die Religion das Grundproblem allein lösen konnten:
»Mein Umgang mit den Straßendirnen ließ mich bald die Grenzen meiner medizinischen und seelsorgerischen Arbeit erkennen. Als Hüterin von Seele und Körper konnte man wenig für diese Frauen tun. Für solche wie sie mußten die Bemühungen an den Grundfesten der Gesellschaftsstruktur ansetzen. Gesetzlicher Schutz und seine Einhaltung mußten für sie durchgesetzt werden, und manche solcher Gesetze konnten nur von Frauen gemacht und durchgeführt werden.«[24]
Sie begann Vorträge für den Mäßigkeitsverband (W.C.T.U.) zu halten, wobei eine enge Freundschaft mit Frances Willard entstand, und für den Frauenwahlrechtsverein von Massachusetts. Nachdem sie sich von ihren kirchlichen Ämtern zurückgezogen hatte, stand sie einige Jahre dem Wahlrechtsressort der W.C.T.U. vor. Miss Anthony war sie ursprünglich wegen ihrer rednerischen Begabung aufgefallen; das Zeitalter der großen Rednerinnen gehörte schon der Vergangenheit an, und ein Vierteljahrhundert lang hatte Dr. Shaw keine Konkurrenz im Hinblick auf Redegewandtheit und Überzeugungskraft. Sie gab bald ihre anderen Aktivitäten auf und machte die Eroberung des Wahlrechts zu ihrem Lebenswerk, obwohl sie noch jahrelang gezwungen war, ihren Lebensunterhalt mit Vorträgen zu verdienen. Als Miss Anthony sich zurückzog, brauchte die Bewegung jedoch nicht so sehr eine Rednerin als vielmehr eine Organisatorin und Führerin, die sich der Sache uneingeschränkt widmen konnte. Anna Howard Shaw war mehr als enttäuscht. Aber sie sah die Unvermeidlichkeit dieser Entscheidung ein und tat weiterhin ihr Bestes und das war beträchtlich. Da sie keine festen familiären Bande und Verpflichtungen hatte, wurde sie bald so allgegenwärtig wie Susan Anthony es gewesen war und reiste landauf und landab als meistgewünschte Kampagnensprecherin in jedem Staat und bei jeder Wahlrechtsversammlung.[25]
Nach vier Jahren legte Mrs. Catt den Vorsitz des Wahlrechtsverbands nieder: zehn Jahre zermürbender Anstrengungen hatten ihre Kräfte zerschlissen, und Krankheiten in der Familie sorgten für ernsthafte Beunruhigung (Mr. Catt starb im folgenden Jahr). Es gab noch einen weiteren Grund für ihre Amtsniederlegung: die Funktion, die sie in der erstarkenden internationalen Wahlrechtsbewegung innehatte.
Zu letzterer hatte Susan Anthony den ersten Anstoß gegeben, als sie 1884 zusammen mit Mrs. Stanton Großbritannien besuchte und die Idee für einen internationalen Wahlrechtsverein den britischen Frauenrechtsführerinnen gegenüber zur Sprache brachte. Die Gründung des Internationalen Frauenrats und seine Kongresse in den Jahren 1888, 1893 und 1902 trugen zur Weiterentwicklung dieser Idee bei; seit 1902 machte sich Mrs. Catt an ihre Verwirklichung. Der Weltbund für Frauenstimmrecht wurde im Juni 1904 auf einem Kongreß in Berlin ins Leben gerufen; beteiligt waren Frauen aus acht Staaten: Australien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden, Norwegen, Schweden und den Vereinigten Staaten. Das letztgenannte Land stellte bis 1923 in der Person Mrs. Catts die Führung des Bundes. Im Jahr 1904 übernahm Anna Howard Shaw die Präsidentschaft der NAWSA und behielt diesen Posten elf Jahre inne. Susan B. Anthony war noch am Leben und weiterhin sehr aktiv: Sie hatte dem Berliner Kongreß, der den Weltbund begründet hatte, beigewohnt und, obwohl sie nicht mehr als Kopf der Bewegung in den USA fungierte, blieb sie doch ihr Lebensnerv. Sie war voll eingespannt bis zu ihrer letzten Krankheit während der jährlichen Wahlrechtsversammlung 1906 in Baltimore; und selbst dann - krank wie sie war - hielt sie so lange durch, bis sie M. Carey Thomas und deren enger Freundin Mary Garett das Versprechen abgenommen hatte, Gelder in Höhe von 60 000 Dollar zur Unterstützung von Dr. Shaw zu beschaffen, damit in den nächsten fünf Jahren deren Arbeit für das Wahlrecht nicht darunter litt, daß sie für ihren Lebensunterhalt Vorträge halten mußte.[26] Einen Monat nachdem sie der Sache, die ihr Leben ausgemacht hatte, diesen letzten Dienst erwiesen hatte, starb Miss Anthony. Ihr Ausscheiden markierte das Ende einer Epoche. Mit ihr starb die letzte der großen Kämpferinnen, die den Kampf um die Verbesserung der Lebensbedingungen der Frauen begonnen hatten. Ohne sich zu schonen und ohne sich entmutigen zu lassen, hatte sie während der Jahre der Verhöhnung, der Verspottung und der scheinbaren Aussichtslosigkeit gelebt und gearbeitet, die heute nahezu vergessen sind. Als sie starb, leugneten nur noch wenige denkende Menschen, daß das Frauenwahlrecht eine logische und unausweichliche Sache war. Die einzig noch offenstehende Frage lautete: »Wann?«.