Frauen in den Knights of Labor und in der American Federation of Labor

Kap. II, 14 bis II, 16

Die 1880er und 1890er Jahre waren eine Phase großen und raschen industriellen Wachstums. Der Gründung der Standard Oil Company folgten weitere »Trusts«, zunächst in der Alkohol-, Zucker- und Bleiindustrie, später in der Stahl- und der Tabakbranche sowie anderen Gewerbezweigen. Das Eisenbahnnetz dehnte sich im Norden und Süden bis zur Pazifik-Küste aus, vorangetrieben von Finanzmagnaten wie Henry Villar, James J. Hill und anderen.
Für solche gigantischen Unternehmen wurde billige und fügsame Arbeitskraft gebraucht: Im Jahrzehnt nach 1880 überstieg die Immigration aus verarmten europäischen Ländern die Fünfmillionengrenze. Die Nachfrage nach Arbeiterinnen stieg, und zwar immer für die am niedrigsten bezahlten Jobs; die Zahl von 2 647 000 erwerbstätigen Frauen 1880 war zehn Jahre später auf 4 005 500 gestiegen, von 15,2% auf 17,2% der gesamten Arbeitskraft.[1]
Neben der großen Zahl der als Haushälterinnen, Serviererinnen, Dienerinnen und Hausmädchen jeder Art klassifizierten Frauen, insgesamt fast eine Million, fand sich der größte Teil von Frauen in Beschäftigungen, die sie vor der Ära der Industrialisierung zu Hause verrichtet hatten: bei der Herstellung und Reinigung von Stoffen und Bekleidung und bei anderen sogenannten Dienstleistungen. Die größten Gruppen von Fabrikarbeiterinnen verteilten sich wie folgt[2]:

Bekleidungsindustrie  389 231
Wäscherei und Reinigung 109 280
Baumwolltextilien 92 394
Andere Textilien    42 420
Schuhe 21 007
Behälter und Verpackungen 14 126
Tabak 10 868
Druckerei 9 322
Seide und Kunstseide 9 211
Teppiche 7 674
Hüte 6 357

Obwohl die Nachfrage nach Arbeitskräften unersättlich schien, ermöglichte der Zustrom von Immigranten den Arbeitgebern, die Löhne niedrig zu halten. Infolgedessen fand in den 80er Jahren der erste ernsthafte Versuch statt, eine nationale Arbeiterorganisation aufzubauen. Die Knights of Labor (Ritter der Arbeit) wurden ab 1869 als geheime Bruderschaft gegründet, entledigten sich aber 1881 ihres rituellen Ballasts und begannnen, Arbeiterinnen und Arbeiter gleichermaßen zu organisieren.[3] Manchmal waren sie  in gemeinsamen, manchmal in getrennten Lokal- oder Regionalorganisationen dar; diese sogenannten »Versammlungen« wurden entweder nach Branchen oder auf geographischer Basis aufgebaut - die Knights haben niemals eine einheitliche und festgefügte Organisationsform geschaffen. Die erste »Frauenversammlung« wurde 1881 aufgenommen, und bis 1886 traten in immer rascherer Folge weitere dazu; das Jahr 1886 stellt den Höhepunkt der Organisation dar; um diese Zeit waren ihr 113 Frauenversammlungen angeschlossen.
Da die Mitglieder ständig fluktuierten und viele Versammlungen unzulänglich Protokoll führten, ist es weder für einen bestimmten Zeitpunkt noch für die Gesamtdauer der Organisation möglich, die Zahl der weiblichen Mitglieder exakt anzugeben. In Massachusetts jedoch, wo die industrielle Beschäftigung von Frauen vergleichsweise hoch war, lag der Anteil der weiblichen Mitglieder ungefährt bei einem Achtel; anderswo war er vermutlich niedriger.[4]
Wie immer die genaue Zahl gewesen sein mag, die Frauen traten in einem nie gekannten Ausmaß im ganzen Land den Knights of Labor bei. Zu ihnen gehörten Büroangestellte, Schuharbeiterinnen, Kellnerinnen, Druckerinnen, Glasverpackerinnen, Dienstbotinnen, Textilarbeiterinnen, Schneiderinnen, Tabakarbeiterinnen, Arbeiterinnen aus der Bekleidungsindustrie, Farmerinnen, Lehrerinnen, Wäscherinnen, Uhrmacherinnen, Studentinnen, Schriftstellerinnen (die Knights kannten keine enge Grenzziehung und ließen als Mitglieder viele zu, die nach heutiger gewerkschaftlicher Definition keine Lohnempfänger waren), Gummiarbeiterinnen, Vertreterinnen, Musiklehrerinnen, Modistinnen, Maschinenarbeiterinnen jeder Art, Schriftgießerinnen, Ösenmacherinnen, Hutmacherinnen, Nadelmacherinnen und Feuerwerksherstellerinnen.[5]
Die meisten dieser Frauen hatten nie zuvor einer Arbeiterorganisation angehört, aber einige führten zweifellos die Tradition früherer Organisationen wie der Daughters of St. Crispin weiter. Es gab Versammlungen von Schuharbeiterinnen in Lynn und anderen Städten von Massachusetts und eine Versammlung von Kragenmacherinnen in Troy, wo sich in den 60er Jahren die umkämpften Frauengewerkschaften gebildet hatten. Es gab Versammlungen von Strumpfwirkerinnen in St. Louis, Weißnäherinnen in San Francisco, Bleistiftmacherinnen, Federkräuslerinnen und Goldschneiderinnen in New York, Kunsttischlerinnen in Detroit, Schneiderinnen in Newark und Milwaukee und Mantelnäherinnen in Chicago und Boston. Es gab Versammlungen von »Haushälterinnen« im Süden, von Wäschereiarbeiterinnen in Pensacola (Florida), von Wäschereiarbeiterinnen, Köchinnen, Wäscherinnen und Haushälterinnen in Virginia, und eine von Farmerinnen in Arkansas.[6]
Obwohl die Frauen aufgenommen wurden und ihre Mitgliedsbeiträge willkommen waren, gingen die wenigen Bemühungen zu ihrer Hilfe und Organisierung alle auf die kleine Gruppe von Organisatorinnen zurück, die sich aus den Reihen der Frauen selbst gebildet hatte. Die Schuharbeiterin Miss Mary Stirling aus Philadelphia war die einzige weibliche Delegierte der »Generalversammlung« von 1883, wie die Knights ihre jährlichen Kongresse nannten, und nahm aktiv und scheinbar unbeeindruckt durch die große Übermacht von Hunderten von Männern an den Sitzungen teil. Ein Jahr später hatten zwei Frauen einen Sitz als Delegierte; eine von ihnen, Miss Mary Hanafin, war Gründungsmitglied der ersten von den Knights of Labor aufgenommenen Frauenversammlung. Sie erwies sich als furchtlos und energisch genug, um die Unterstützung der Jahreskonferenz gegen einige Funktionäre zu gewinnen, die versuchten, in Konkurrenz zu der von ihr als Delegierter repräsentierten Versammlung eine andere zu gründen. Bei der Generalversammlung von 1885, wo sie wieder als Delegierte anwesend war, wurde sie und zwei andere Frauen auf ihr Betreiben hin zu einem Komitee ernannt, das »Statistiken über Frauenarbeit sammeln« sollte. (Wir werden sehen, wie der Ruf nach Fakten und Statistiken seit dieser Zeit wiederholt erhoben wird, aus dem einfachen Grund, weil so wenig zuverlässige Informationen zur Verfügung standen. Die Informationen der Gewerkschaften waren in bezug auf die Frauen wenig aussagekräftig, denn nur wenige von ihnen waren organisiert; die ersten einzelstaatlichen Arbeitsministerien waren gerade erst im Entstehen und folgten dem bahnbrechenden Beispiel von Massachusetts unter der Führung von Carroll D. Wright, der später zum ersten Beauftragten für Arbeiterfragen der Vereinigten Staaten (US Commissioner of Labor) wurde und immer sein Augenmerk auf die besonderen Nöte der Arbeiterinnen richtete.)
Keine der drei in das Komitee zur Bestandsaufnahme berufenen Frauen hatte vorher irgendeine Erfahrung, die sie zu dieser Aufgabe befähigt hätte: Miss Hanafin war Verkäuferin, die anderen beiden Schuharbeiterinnen. Sie machten sich trotzdem an die Arbeit; sie versandten einen Fragebogen an die Frauenversammlungen innerhalb der Knights of Labor - die einzige ihnen zugängliche Informationsquelle und berichteten auf der Jahresversammlung von 1868 ordnungsgemäß, daß die Antworten einen durchschnittlich 10-stün-digen Arbeitstag für Frauen und einen wöchentlichen Lohn von 5 Dollar ergaben, außer in der Schuhindustrie, wo der Lohn etwas höher lag.[7] Diese Generalversammlung von 1886 in Richmond (Virginia) bezeichnet nicht nur den Höhepunkt der Knights of Labor als Organisation; sie machte auch Geschichte für die Arbeiterinnen. Von den 660 Delegierten waren 16 Frauen: die unermüdliche Miss Hanafin, sechs Schuharbeiterinnen, fünf Textilarbeiterinnen, eine Maschinenarbeiterin, eine Kleidermacherin, eine Büglerin und eine Hausfrau. Die Hausfrau war Mrs. George Rodgers; sie hatte die Position des Meisterarbeiters, d. h. Vorsitzenden, der gesamten Organisation der Knights im Chicagoer Gebiet mit Ausnahme der Schlachthöfe erlangt. Sie war Mutter von zwölf Kindern und brachte das jüngste, ein dreiwöchiges Baby, mit zum Kongreß, wo sie von Frances Willard, selbst Mitglied der Knights of Labor, »interviewt« wurde:
»Mrs. Rodgers ist etwa 40 Jahre alt; mittlere Größe; Statur weder gedrungen noch zartgliedrig; Gesichtsfarbe hell, klar und gesund; Augen von einem ehrlichen Grau; Mund weich und lächelnd; meisterhafte römische Nase; Kopf kantig und voll; Profil stark und gütig . . . >Mein Mann hat immer geglaubt, daß Frauen alles tun sollten, was ihnen gefällt, was gut ist und was sie gut könnten<, sagte Mrs. Rodgers stolz, >aber ohne ihn hätte ich mich als Meisterarbeiter nie so bewähren können. Ich war die erste Frau in Chicago, die den Knights beitrat. Sie boten uns die Gelegenheit und ich sagte mir, >Eine muß die erste sein, und so werde ich vorangehend >Wie sprichst Du mit ihnen?<, fragte ich. >Oh, genauso wie ich hier zu Hause mit meinen Kindern sprechen antwortete sie schlicht. >Ich habe keine Zeit, um irgendwelche Reden vorzubereiten, denn ich mache all meine Arbeit selbst und habe sie immer selbst gemacht, aber ich rede dann eben, so gut ich es kann.<«[8]
Eine der Textilarbeiterinnen war Miss Mary O'Reilly aus Providence (Rhode Island). Miss O'Reilly arbeitete die nächsten drei Jahre aktiv bei den Knights of Labor. Nach der Verabschiedung des ersten Fabrikaufsichtsgesetzes in Pennsylvania war sie sechs Jahre lang stellvertretende Fabrik-inspektorin, eine der ersten Frauen in derartiger Stellung. Das außergewöhnlichste Mitglied in der Gruppe war die Maschinenhilfskraft einer Trikotspinnerei in Amsterdam (New York), Leonora M. Barry. Als die Frauen, die einen Ausschuß zur Erörterung von Miss Hanafins Bericht an die Generalversammlung und zur Erarbeitung von Vorschlägen für das weitere Vorgehen bildeten, empfahlen, es solle ein Ressort für Frauenarbeit mit einer Generalinspektorin eingerichtet werden zur Untersuchung »des Mißbrauchs, dem unser Geschlecht durch skrupellose Unternehmer unterworfen ist, und zur Diskussion der von unserem Orden vertretenen Prinzipien der gleichen Bezahlung für gleiche Arbeit und der Abschaffung der Kinderarbeit«, empfahlen sie Mrs. Barry für diesen Posten. Mrs. Barry wurde daraufhin von der Versammlung gewählt. Während der nächsten dreieinhalb Jahre reiste sie durch das Land, stellte Untersuchungen an, hielt Reden und wirkte als eine Organisatorin, mit der bis dahin nur zwei Frauen zu vergleichen waren: Susan Anthony und Frances Willard. Das erstaunt um so mehr, wenn man bedenkt, daß diese beiden Frauen nach den Maßstäben ihrer Zeit eine gute Ausbildung und lange Lehrjahre in solchen Tätigkeiten hinter sich hatten; Mrs. Barry dagegen war von der Strumpfmaschine weg direkt in die nationale Führung hineinkatapultiert worden, und ihre einzige Schulung für ein Vorwärtskommen war ihre Erfahrung. Sie war in Cork in Irland geboren und noch als kleines Kind nach Amerika gekommen. Ihre Eltern ließen sich in Pierrepont im St. Lawrence Bezirk, oben im Staate New York, nieder. Sie war verheiratet, wurde aber noch vor ihrem dreißigsten Lebensjahr Witwe und blieb zurück mit kleinen Kindern, die sie versorgen mußte; da ihr keine andere Möglichkeit offenstand, wurde sie ungelernte Fabrikarbeiterin.
»Ich blieb zurück ohne Ahnung von Geschäft und Arbeit, und ohne zu wissen, was die Welt war, mit drei vaterlosen Kindern, die auf mich angewiesen waren. Um diese Kinder zu versorgen, wurde es meine Pflicht, in das Heer der Arbeitslosen einzutreten; ich ging in eine der größten Fabriken von New York und blieb vier Jahre und sieben Monate lang Fabrikarbeiterin, um meine Kleinen zu versorgen.«[9] Ihr Verdienst am ersten Arbeitstag waren 11 Cents; für die erste ganze Woche betrug er 65 Cents.[10] Kein Wunder also, daß Mrs. Barry den Knights of Labor bei der ersten Gelegenheit beitrat. Sie machte sich rasch bemerkbar, wurde Vorsitzende einer Versammlung von nahezu tausend Frauen und Delegierte zur Generalversammlung von 1886. 1888 konnte sie den wieder einmal versammelten Delegierten als Vorsitzende des Frauenressorts berichten: »Im Frauenressort sind vom 1. November 1887 bis zum 1. Oktober 1888 537 Bitten um meine Anwesenheit eingegangen, 213 davon habe ich an Ort und Stelle entsprochen, alle anderen wurden vom Büro bearbeitet. 789 Bitten um Rat und Informationen sind eingegangen, sie wurden alle von der gewissenhaften und tüchtigen Sekretärin Mary A. O'Reilly beantwortet.«[11]
Trotz des enormen Umfangs ihrer Arbeit hinterließ Leonora Barry keine dauerhafte Organisation, in der sich ihre Anstrengungen manifestiert hätten. Das mag einer der Gründe dafür sein, daß sie von Historikern und Studenten so leicht übersehen wird. Ihr Mißerfolg lag nicht in erster Linie an eigenen Mängeln. Sie konnte ihre Aufgabe, die Arbeitsbedingungen von Frauen aus erster Hand zu untersuchen, nicht erfüllen, weil die Unternehmer sie nicht in ihre Betriebe ließen, und die Arbeiterinnen selbst wagten aus Furcht vor Repressalien nicht, freimütig zu sprechen. Auf der anderen Seite wurden ihre Bemühungen, mehr Frauen zu den Knights of Labor zu bringen oder ihren Versammlungen beizuwohnen, um ihnen größere Festigkeit und Wirksamkeit zu verschaffen, durch die Tatsache beeinträchtigt, daß sie in einer von Fraktionskämpfen zerrissenen Organisation arbeitete. Die Aufgabe kann nicht leicht gewesen sein für eine Frau, die keine so überzeugte Feministin wie Miss Anthony oder Miss Willard war. Leonora Barry war der Meinung, daß Frauen ihr Haus nur dann verlassen und arbeiten gehen sollten, wenn es - wie in ihrem Falle - absolut notwendig war. Es gefiel ihr gar nicht, in ihrer eigenen Organisation Feinde zu haben, die sie als »Herumtreiberin« bezeichneten, und sie lehnte es schlichtweg ab, irgend etwas zu tun, das sie als unweiblich empfand, selbst wenn es wie bei dem Fabrikaufsichtsgesetz von Pennsylvania um eine Gesetzgebung ging, an der sie selbst größtes Interesse hatte: »Ich achte zu sehr auf meinen Ruf, als daß ich im Kapitol irgendeines Staates Lobby-Arbeit machen oder Parlamentarier am Kragen packen würde.«[12]
Trotzdem war sie, solange sie für die Knights of Labor arbeitete, das Gewissen der Arbeiterbewegung und eines wachsenden Teils der öffentlichen Meinung, soweit es um die Belange der Arbeiterinnen ging . Wo immer sie eine Tribüne finden konnte - bei Reden vor Mitgliedern der Knights of Labor oder bei ihren Versammlungen, vor Frauen, die sich organisieren wollten, vor Gremien wie dem Internationalen Frauenrat -, erhob Leonora Barry kompromißlos und beredt ihre Stimme gegen die widerwärtigen Bedingungen, unter denen allzuviele Frauen ihren Lebensunterhalt verdienen mußten. Sie hielt sich durchaus nicht mit Allgemeinplätzen auf: Als Hilfsarbeiterin an einer Wirkmaschine wußte sie ihren Protest in Dollars, Cents und Rückenschmerzen zu konkretisieren.
Waren die Löhne niedrig? Es reichte nicht, diese Tatsache zu konstatieren, sie mußte belegt werden: »Ein Seehundsplüschmantel mit einem Verkaufspreis von 40 bis 75 Dollar wird von der Mantelnäherin für einen Lohn von 80 Cents bis zu einem Dollar pro Stück hergestellt, das ist für eine erfahrene Maschinenarbeiterin das Pensum eines Arbeitstages.«[13] Ihre Berichte sind gespickt mit solchen Zahlen. Ihrer Meinung nach war das Schlimmste, was ihnen drohte, die »Schwitzbude«, wo Stückarbeit - für Kleidung, künstliche Blumen etc. - ausgegeben und zu skandalös niedrigem Lohn und unter schlimmsten gesundheitlichen Bedingungen ausgeführt wurde: »Ich rede von den ausbeuterischen Kontraktmachern oder der Billigfertigung, die sich als Ruin, Elend, Sünde und Schande für die auswirkt, die sich dort abplagen müssen, und als Tod und Untergang für die nach Recht und Gesetz eingerichtete Industrie, mit der sie konkurriert. Hier ein Beispiel: Männerhosen, die im Einzelhandel ein bis sieben Dollar kosten, werden vom Kontraktmacher für 15 Cents abgenommen. Da werden die Arbeiterinnen angeheuert und in einem engen stickigen Hinterzimmer zusammengepfercht, Maschinenarbeiterinnen müssen die Nähmaschinen und in den meisten Fällen auch das Garn selbst stellen, und machen alle Maschinenarbeit mit Ausnahme des Heftens für 5 Cents die Hose. Die Hosen gehen dann weiter an die Endfertigerin, die die Knopflöcher macht, Knöpfe und Schnallen annäht, für 5 Cents die Hose; sechs Hosen sind das durchschnittliche Arbeitspensum pro Tag. Angenommen, fünf Maschinenarbeiterinnen werden eingestellt, und es sind oft sehr viel weniger, dann verdient der Kontraktmacher, der auch eine Frau sein kann, 30 Cents pro Kopf; das bringt ihm bzw. ihr 1.50 Dollar pro Tag ein, während sein bzw. ihr Opfer 30 Cents pro Tag bekommt. Aufträge für Männerwesten werden für 10 Cents das Stück vergeben, wobei die Maschinenarbeiterinnen und die Endfertigerinnen jeweils 2 l/2 Cents pro Stück erhalten, das sind 5 Cents für die Fertigung einer Weste. 20 Westen sind ein Tagespensum. Bei fünf Arbeiterinnen macht der Kontraktmacher oder die Kontraktmacherin wieder einen Gewinn von einem Dollar pro Tag mit Nichtstun, während das unglückliche Opfer 50 Cents für 11 oder 12 Stunden ihrer Lebensenergie bekommt.«[14]
Dies berichtete Mrs. Barry einer Generalversammlung der Knights of Labor; außer ihr selber waren nur noch zwei andere Frauen anwesend. In ihrer Rede vor dieser Menge von Männern brachen Zorn und Mitleid einer Frau hervor: »Von diesen Frauen verlangt die Gesellschaft, daß sie allen Anforderungen an das Wesen einer anständigen Frau genügen. Überlegt, wie sie dazu unter solchen Bedingungen imstande sein soll! Oh Brüder von den Knights of Labor, ich flehe euch an, um der Liebe zu euren Müttern, Schwestern, Frauen und Töchtern willen, dieser süßen kleinen unschuldigen Mädchen, die heute euer Herz erfreuen und euren Herd erhellen,
vereint euch wie ein Mann auf irgendeinem Weg, der diesen Fluch von unserem schönen Land nehmen kann - diesen Schandfleck der amerikanischen Freiheit und Unabhängigkeit -, ehe die zarten Füße eurer Lieben gezwungen sein werden, die dornigen Pfade dieses Lebens zu beschreiten.«[15]
Leider hielt sie diese Rede vor einer Organisation, die immer weniger imstande war, sich überhaupt für irgendeinen Weg zu vereinen, und die infolgedessen rasch zerfiel. Überdies gab Mrs. Barry selbst zu, daß angesichts dieser von ihr beschriebenen Bedingungen das Echo von Frauen auf Organisierungsversuche enttäuschend war; die Gründe dafür lagen in ihrer Unkenntnis, ihrer Apathie, ihrer Hoffnungslosigkeit und darin, daß sie »gewohnt waren, sich zu unterwerfen und widerspruchslos alle ihnen gebotenen Bedingungen anzunehmen, mit ihrer pessimistischen Einstellung zum Leben, in dem sie keinen Hoffnungsschimmer sehen. Man kann nicht behaupten, daß diese Leute leben, denn Leben bedeutet, die Gaben der Natur zu genießen; sie vegetieren vielmehr wie teilweise versteinerte Kreaturen einfach dahin. Wir haben alles unternommen, um die Organisierung von Frauen zu vervollständigen und auszudehnen, aber unsere Anstrengungen sind nicht auf den Widerhall gestoßen, den die Sache verdient - zum Teil deshalb, weil die Frauen mit festen Anstellungen, relativ guten Löhnen und einem bequemen Zuhause in der Organisierung über das ureigenste Interesse hinaus scheinbar keinen Sinn sehen, und es, da sie von sich selber anzunehmen belieben, es sei alles >in Ordnung<, nicht als ihre Pflicht empfinden, irgend etwas zu unternehmen, um ihren weniger glücklichen Mitarbeiterinnen beizustehen. Des weiteren werden viele Frauen durch dümmlichen Stolz, prüde Bescheidenheit und religiöse Skrupel davon abgeschreckt, Arbeiterorganisaionen beizutreten; und ein Hauptgrund, der all die betrifft, die sich in der Blüte ihrer Weiblichkeit befinden, ist die Hoffnung und Erwartung, daß in naher Zukunft die Heirat sie aus dem Leben in der Industrie fortheben wird in das eines ruhigen und bequemen Heims, die törichte Hoffnung also, daß mit der Heirat ihre Verbindung zu und ihr Interesse an Angelegenheiten der Arbeiter enden; sie müssen dann allerdings oft feststellen, daß ihr Kampf jetzt erst richtig angefangen hat, wenn sie zurück in den Betrieb müssen, um für zwei statt für einen zu verdienen. All das sind Folgen und Auswirkungen von Milieu und Bedingungen, von denen Frauen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart umgeben sind, und sie lassen sich nur durch dauernde Agitation und Bildung beseitigen.«[16]
Spiegelt dieser Ausbruch auch die Bitterkeit einer Frau wider, die aus eigener Erfahrung wußte, daß Heirat keine Garantie gegenüber den Problemen von Lohnabhängigen war, so zeigt er doch, daß Leonora Barry die Ursachen solcher Illusionen verstand. Im großen und ganzen sind die Zurückhaltung der Frauen, Gewerkschaften beizutreten, und die Schwierigkeit, sie zu organsieren, immer noch vorhanden. Alle Versuche jedenfalls, sie innerhalb der Knights of Labor zu organisieren, endeten, als Mrs. Barry 1890 von ihrem Posten zurücktrat und Obadiah R. Lake, einen Drucker aus St. Louis heiratete. Sie kehrte nie wieder in die Arbeiterbewegung zurück. Vielleicht lag es daran, daß sie sich während all der Jahre, in denen sie mit den Knights of Labor arbeitete und das ganze Land bereiste, von ihren kleinen Kindern trennen mußte, wenn sie glaubte, Frauen sollten nur aus zwingenden finanziellen Gründen außerhalb des Hauses arbeiten.
                                 

                                                                   
Sie selbst engagierte sich weiterhin dort, wo sie an die Sache glaubte: das Frauenwahlrecht gehörte dazu; ihre größten Anstrengungen in ihrem späteren Leben galten der Mäßigkeitsbewegung, und sie wurde als »Mutter Lake« weithin bekannt durch Vortragsreisen, die ihren Ausgang vor allem von Chautauqua* (* Ort im Staat New York, bekannt als Ausgangspunkt der Volksbildungsbewegung (A.d.Ü.) nahmen. Die Knights of Labor, die schon in der Auflösung begriffen waren, ernannten keine Nachfolgerin für Leonora Barry. Während der 90er Jahre und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts unternahmen Frauen immer wieder sporadische und gewöhnlich erfolglose Versuche, Gewerkschaften zu gründen. Trotz der langen Depression 1893-1896, die hohe Arbeitslosigkeit und Verelendung mit sich brachte, konnten sie Gewerkschaften von unterschiedlicher Lebensdauer auf die Beine stellen, und zwar in der Fleischverpackungsindustrie, der Handschuhherstellung, im Einzelhandel, im Dienstboten- und Portierbereich, in der Textilindustrie, in der Herren- wie Damenbekleidungsindustrie, in Strickereien, in Betrieben der Blusen- und Hutherstellung für Männer und Frauen, in Reinigungen und Färbereien, in der Pappschachtel-, Zwirn-, Gummi-, Stiefel- und Schuhindustrie, in Wäschereien, in der Tabakindustrie, in Druckereien, unter Lehrerinnen und in vielen anderen Bereichen.[18]
Einige dieser Gewerkschaften waren vollkommen unabhängig, und ihnen ging es gewöhnlich am schlechtesten, da ihnen Mittel und Erfahrungen fehlten; andere waren sogenannte »Bundesortsgruppen« (Federal Locals), die der AFL angehörten und auf Frauen eines Berufszweigs beschränkt waren; wieder andere schlössen sich etablierten Gewerkschaften innerhalb der AFL an oder waren aus deren Organisationsversuchen entstanden. Die AFL (American Federation of Labor), die 1881 gegründet wurde, ihren heute bekannten Namen aber erst 1886 annahm, war jahrzehntelang ein Verband weitgehend autonomer Gewerkschaften, in denen sich vorwiegend Facharbeiter mit verhältnismäßig hohen Löhnen, getrennt nach Berufszweigen organisierten, z. B. Zimmerleute, Klempner, Drucker usw. Versuche der AFL, Frauen auf irgendeine Weise in großem Umfang zu organisieren, scheiterten an der Abneigung der Mehrheit der Gewerkschaften, für die Organisierung von schlechtbezahlten und ungelernten Branchen, die fernab ihres eigenen unmittelbaren Interesses lagen, Geld auszugeben. Trotz gelegentlicher Resolutionen auf Kongressen oder Erklärungen des Vorsitzenden Samuel Gompers, mit den Grundsätzen der Organisierung von Frauen und des gleichen Lohns ernstzumachen, wurden doch nur sporadische Versuche unternommen, solche Äußerungen in die Tat umzusetzen, und diese wenigen gewöhnlich von den Frauen selbst.[19] 1892 ernannte die AFL endlich eine Organisatorin für Frauenfragen - für die Dauer von fünf Monaten. Mary E. Kenney war Buchbinderin und hatte bereits in Chicago die Frauen ihrer Branche zu einer »Damen-Gewerkschaft« (Ladies Federal Union) organisiert. Während ihrer kurzen Amtszeit als Organisatorin arbeitete sie zusammen mit Frauen aus einer Reihe von Fabriken in New York und den Staaten Neuenglands. Es muß eine undankbare Aufgabe gewesen sein, denn zusätzlich zu den von Leonora Barry berichteten Hindernissen erhielt sie durch die AFL-Funktionäre nicht gerade begeisterte Unterstützung für ihre Arbeit; sie wurde abgebrochen, noch bevor Mary Kenney überhaupt die Möglichkeit gehabt hatte, deren Wert unter Beweis zu stellen. Glücklicherweise war ihr Interesse an der Organisation von Frauen nicht so kurzlebig; während Florence Kelleys Amtszeit war sie stellvertretende Fabrikinspektorin in Illinois und nahm teil an den Streiks in der Schuh- und Textilindustrie in Haverhill und Lawrence (Massachusetts). Zehn Jahre später - sie hatte inzwischen einen anderen Arbeiterführer, Jack O'Sullivan, geheiratet, dessen Tod sie als Witwe mit vier Kindern zurückließ - wurde sie eine der Gründerinnen der Frauengewerkschaftsliga.[20]
Mary Kenney O'Sullivan gehört zu einer Generation von Gewerkschaftlerinnen, deren Leben die Kluft zwischen zwei Epochen überspannte: zwischen der Ära der scheinbar ergebnislosen Opfer und der Hingabe und der Ära der Erfolge. Die bekannteste dieser Gewerkschaftlerinnen war zu ihrer Zeit Leonora O'Reilley, sie ist heute fast vergessen.[21]
Wie so viele Organisationspionierinnen war sie Irin; ihre Eltern waren mit der durch die Hungersnöte in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hervorgerufenen Auswanderungswelle nach Amerika gekommen. Die Mutter Winifred O'Reilley hatte einen Drucker geheiratet, der bei seinem Tod seine Frau und die einjährige Tochter in bitterer Not hinterließ, und während der großen Depression von 1873 mußten Mutter und Tochter oft frieren und hungern. Leonora erinnerte sich, wie ihre Mutter jeden Abend mit Bergen von Arbeit aus der Hemdenfabrik nach Hause kam, in der sie angestellt war, und bis nach Mitternacht nähte, um dann noch ihre Haushaltspflichten zu erledigen. Winifred O'Reilly nahm ihre Tochter zu Arbeiterkundgebungen und politischen Veranstaltungen mit, sogar als Baby auf dem Arm. Leonora hat nie einen Schulabschluß gemacht. 1881, als sie elf Jahre alt war, ging sie nach New York und arbeitete in einer Kragenfabrik, wo sie einen Dollar für ein Dutzend fertiger Kragen verdiente; innerhalb von drei Jahren sank die Bezahlung auf die Hälfte. 1886 trat sie den Knights of Labor bei und nahm zum ersten Mal an einem Streik teil.
Im selben Jahr tat sie sich mit anderen Frauen zusammen und organisierte eine Arbeiterinnengesellschaft, die von längerer Dauer war, da sie zur Gründung der Verbraucher-Liga führte. So lernte sie einflußreiche Frauen wie Josephine Shaw Lowell und Louisa Perkins kennen, die ihr schließlich ermöglichten, die Fabrik zu verlassen und sich etwas weiterzubilden. Sie war eine derart starke und beeindruckende Persönlichkeit, daß sie die Freundin und einflußreichste Beraterin einiger der gesellschaftlich regsten Geister ihrer Zeit wurde: Lilian Wald, Felix Adler, William Dean Howells, Mary Dreier, Margaret Dreier Robins und vieler anderer. Sie ging nie wieder in die Fabrik arbeiten, blieb aber aktiver Teil der Arbeiterbewegung und kümmerte sich immer zuerst um die Frauen. Während der Jahre, in denen sie an der Gewerbeschule für Mädchen in Manhattan unterrichtete, gehörte sie auch zu den Gründerinnen der Frauengewerkschaftsliga und half beim Aufbau der Gewerkschaften in der Bekleidungsindustrie, die noch heute existieren.
Als leidenschaftliche Suffragette, Sozialistin und wortgewaltige Rednerin war Miss O'Reilly begehrt als Organisatorin, als Rednerin bei Parlamentsanhörungen und wo immer heftiger Protest notwendig war. Gegen 1915 war sie, obwohl erst 44 Jahre alt, fast ausgebrannt. Mit Ausnahme kurzer Einsätze in der Frauenpartei und für die irischen Fenier lebte sie zurückgezogen bis zu ihrem Tod im Jahre 1927.

Die Ära der Reformen und die Rechte der Frau

Die schnelle Entwicklung einer vorwiegend industriellen Gesellschaft brachte nicht nur einen ungeheuren Aufschwung von Produktivität und Reichtum mit sich, sie verstärkte auch die Armut und die sozialen Spannungen. Gigantische Einkommen auf der einen Seite (die New York Tribüne schätzte 1892 die Zahl der Millionäre in den Vereinigten Staaten auf 4047) standen in scharfem Gegensatz zu den »Schwitzbuden« und den übervölkerten Slums auf der anderen.[1] Gewalttätige Fabrikkämpfe, gewaltsam wie nie zuvor, wurden zwischen einer stärker werdenden Arbeiterbewegung und den Unternehmern geführt; letztere kämpften für gewerkschaftsfreie Betriebe (»open shop«) und billige Arbeitskräfte als wesentliche Quelle ihrer riesigen Profite.
Auch die Farmer sahen sich in einer Notlage: Es gab immer weniger »Grenzland«, und der zu erwerbende Boden war immer abgelegener und immer kostspieliger zu bebauen; der lange und legendäre Landboom brach zusammen, und die Preise für Landwirtschaftserzeugnisse machten eine weltweite Rezession durch. Es gab eine breite Basis für die Abneigung gegen das, was von Mark Twain das Vergoldete Zeitalter genannt und später von Vernon L. Parrington das »Große Barbecue« getauft wurde.
Wie alle sozialen Protestbewegungen wurzelte diese Reaktion nicht nur in einem Sinn für ethische Ungerechtigkeit. Im Gegensatz zu der früheren Antisklavereibewegung, die weitgehend auf der philosophischen Lehre von den Menschenrechten fußte, war sie von neueren Evolutionstheorien beeinflußt.
Der Sozialwissenschaftler Lester Ward entwickelte als erster ein System jenes Denkens, das wir heute Soziologie nennen; dabei ging er über eine rigide, mechanische Anwendung der Darwinschen Prinzipien biologischer Entwicklung auf den Prozeß sozialen Wandels hinaus. Ward behauptete, daß die gesellschaftliche Evolution nicht eine bloße Fortsetzung der natürlichen Auslese und des Überlebens des Stärkeren ist, sondern daß der menschliche Wille bewußt in den Prozeß eingreifen und in ihm zu einer lenkenden Kraft werden könne.
Ein solches Denken wirkte enorm befreiend auf Geister, die den Tribut an menschlichem Leiden, die der sogenannte Fortschritt besonders im industriellen Bereich forderte, ablehnten und die bezweifelten, daß es unmöglich sei, die Lebensbedingungen der Menschen durch einen Kampf um soziale Gerechtigkeit zu verbessern. Wards Buch Dynamic Sociology erschien 1883 und war nur das erste einer langen Reihe von Werken, in denen er seine Ansichten ausbreitete; keines davon war leicht zu lesen, und sein unmittelbarer Einfluß war deshalb begrenzt. Trotzdem erschienen viele führende Feministinnen, darunter Mrs. Stanton, zu einem Treffen des sogenannten Scchs-Uhr-Club im April 1888 in Washington, D.C., bei dem Lester Ward einen Vortrag zum Thema der Gleichberechtigung der Geschlechter hielt und »den größten Teil der Grundsätze und viele der Tatsachen, die ich jetzt die gynäkozentrische Theorie nenne«,[2] ausführte.
Für den gewöhnlichen Leser verständlicher war Edward Bellamys 1888 erschienenes Buch Looking Backward, die Beschreibung einer auf utopischsozialistischen Grundsätzen beruhenden idealen Gesellschaft, und Henry Demarest Lloyds Wealth against Commonwealth von 1894, eine der ersten »nestbeschmutzenden«*(* »Muckrakers« nannte man die Sozialkritiker der Fortschrittsära. (A. d. Ü.)) Enthüllungen über das Big Business, die sich vor allem gegen die Standard Oil Company richtete.
Auch eine Reihe von Kirchenführerinnen, besorgt über die Kluft zwischen der christlichen Ethik und der augenfälligen Ungleichheit des Lebens um sie herum, begannen, Reformen zu fordern; es waren vor allem die Vertreter des Kirchlichen Vereins zur Förderung von Arbeiterinteressen (Church Association for the Advancement of the Interests of Labor), der von Walter Rauschenbusch, W. D. P. Bliss und anderen geleitet wurde. Auf der politischen Ebene organisierte sich die Auflehnung gegen die mächtigen Interessengruppen in der Populistischen Partei, die sich für die Forderungen von Farmern nach einer Geldreform, billigerer Währung und freiem Silber und für die Einschränkung der Macht der Konzerne, Eisenbahnen (deren Frachtgebühren für die Farmer vernichtend waren) und Bodenspekulanten einsetzte.
Diese Gärung führte zu neuen Organisationsformen, durch die Frauen eine größere Beteiligung an gesellschaftlicher Aktivität erreichen konnten. Sie machten es möglich, daß eine reiche Erbin wie Grace Dodge oder einfühlsame und verantwortungsbewußte Frauen aus der Mittelschicht wie Josephine Shaw Lowell, Margaret Dreier Robins und Jane Addams die Kluft zwischen ihrer eigenen Privilegierung und den in Geschäften und Fabriken arbeitenden hilfsbedürftigen Frauen überwinden konnten. Ihre vereinten Bemühungen hatten nicht nur die settlement-Hüuser zum Ergebnis, sondern auch Organisationen wie die Nationale Verbraucherliga (National Consu-mers League) und die Frauengewerkschaftsliga, die den Arbeiterinnen neue mit Geld, Einfluß und Hingabe ausgestattete Verbündete brachte.[3] Das Anwachsen des Protests und die Zunahme der intellektuellen Aktivität brachte immer mehr Mädchen ins College und später in unabhängige Berufe, vor allem solche, die einen Hang zum Dienst am Gemeinwesen hatten. Die meisten dieser jungen Frauen wurden außerdem aktive Suffragetten, denn sie wurden bei jedem Schritt mit ihrer eigenen politischen Ohnmacht konfrontiert.[4] 1884, zur selben Zeit, als immer mehr Frauen den Knights of Labor beitraten, entstand eine weitere Form von Organisation unter den Arbeiterinnen. Der erste »Arbeiterinnen-Club« (Working Girls Club) wurde in New York von zwölf Fabrikarbeiterinnen und einer jungen Frau namens Grace Dodge in der Wohnung einer Seidenarbeiterin im Obergeschoß einer Mietskaserne der 10th Avenue gegründet.[5]
Miss Dodge entstammte einer Familie, die ein Vermögen im Kupferbergbau machte. In dem Alter, in dem sie eigentlich in die feine Gesellschaft hätte eingeführt werden sollen, sagte sie ihren Eltern, sie sei mehr daran interessiert, etwas Nützliches zu tun. Obwohl bereits in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts Dorothea Dix als erste eine Gefängnisreform und die Versorgung von bedürftigen Kranken und Schwachsinnigen zur Sache sozial denkender Frauen gemacht und die Sanitätskommission solche Interessen gerechtfertigt hatte, war dieses Problem noch immer ungewöhnlich genug, so daß Mr. Dodge es für nötig befand, seine Tochter zur Beratung zu Miss Louisa Schuyler zu schicken. Miss Schuyler hatte früher der Sanitätskommission angehört und ihr philanthropisches Werk in Friedenszeiten fortgesetzt; sie war Gründerin des Vereins für Wohltätigkeitshilfe des Staates New York (New York State Charities Aid Association) und Mentorin für junge Frauen wie Grace Dodge geworden.
Miss Dodge fand schließlich, obwohl sie eine Zeitlang an philanthropischen Arbeiten teilgenommen hatte, ihren eigenen Weg, der vor allem von ihrer stark religiösen Neigung und ihrem wachsenden Interesse für Bildung bestimmt war. In der von ihr geleiteten Klasse einer Sonntagsschule lernte sie einige Fabrikarbeiterinnen kennen und eröffnete eine Reihe von »praktischen Gesprächen« über religiöse und moralische Fragen. Sie war einsichtig genug, um zu erkennen, daß diese Frauen mehr als Predigten brauchten - daß sie sich sehnten nach Bildung und Schönheit, nach der Möglichkeit, sich selbst auszudrücken und schöpferisch zu sein, und daß sie mit etwas Hilfe durchaus fähig wären, diese Dinge für sich zu erreichen. 1885, nur ein Jahr, nachdem der erste Club eröffnet worden war, gab es in New York bereits genügend Clubs, um den Verein der Arbeiterinnengesellschaften (Association of Working Girls Societies) zu gründen. Die Idee kam aus Neuengland nach New York und in andere große Städte wie Philadelphia, St. Louis und Chicago. Einzelne Clubs entstanden nicht nur in den großen Industriezentren, sondern auch in kleineren Orten, in denen die meisten Arbeiter Beschäftigung in einer oder zwei Fabriken fanden. Nationalkongresse der Arbeiterinnengesellschaften wurden 1890 und 1894 abgehalten, und einige Jahre lang hatte die Organisation ihre eigene Monatsschrift, Far and Near, die von Maria Bowen Chapin herausgegeben wurde.[6]
Zwar besorgte Miss Dodge finanzielle Hilfe und war selbst richtungweisend, aber die einzelnen Clubs verfuhren nach demokratischen Regeln. Sie trugen die Namen einer Straße oder eines Stadtteils oder Namen, die auf die verschiedenen Anlässe hinwiesen, aus denen sie entstanden waren: Club Eifriges Streben, Fortschrittsgesellschaft der Arbeiterinnen, Wagemut, Unerschütterlich, Fern und Nah, Guter Wille usw. Die größten Clubs unterhielten eigene Häuser - Wohnhäuser mit Hausmeistern, einer Kinderschwester, Dauermietern, Bibliotheken und einem breiten Programm von Veranstaltungen: Kurse im Hüte- und Kleidernähen, Stenographie, Literatur, Sport und Gesundheitspflege. Die »praktischen Gespräche« waren in Wirklichkeit Gruppendiskussionen, häufig über religiöse Themen, über »Reinheit« oder »Frau sein«, wie auch zu Themen, die damals wie heute in den Köpfen von Mädchen die wichtigste Rolle spielen: »Wie man einen Ehemann bekommt« und »Geld - wie man es bekommt und wie man es behält«.[7] Die Clubs waren als Organisationsform nicht von Dauer, denn sie konnten das grundlegendste Problem nicht lösen, das eine junge Frau bedrängte, die gleichzeitig versuchte, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihre eigene persönliche Würde und Individualität zu erhalten. Sie konnten nicht dabei helfen, daß sie einen ausreichenden Lohn unter Bedingungen verdiente, die ihr ermöglichten, Krankheiten und Prostitution zu entgehen. In diesen Kampf konnte sie Miss Dodge nicht führen. Aber sie konnte einen andern wertvollen Beitrag leisten, und sie tat es auch - im Bereich der Bildung: Sie gehörte als erste Frau dem Bildungsausschuß der Stadt New York an und unterstützte den Aufbau des College für Lehrerbildung. Des weiteren widmete sie sich jungen Arbeiterinnen, und zwar als Vorsitzende der vereinten und stärker gewordenen Christlichen Vereinigung Junger Frauen (Young Women's Christian Association), deren Arbeit bei jungen Fabrikarbeiterinnen Miss Dodges Erfahrungen mit den Problemen der Arbeiterin sehr viel verdankte.
Typischer als Grace Dodge war für dieses neue Interesse an Reformen, das sich unter bemittelten Frauen entwickelte, Josephine Shaw Lowell, die schließlich einen Weg fand, der sie noch näher an den Kern des Problems heranführte, als es Miss Dodge je gelungen war. Sie schrieb an eine Freundin: »Die Interessen der arbeitenden Menschen sind von überragender Bedeutung, einfach weil es die Mehrheit aller Menschen ist, und ich finde die Gleichgültigkeit, Unwissenheit und Rohheit, die so viele gute Leute ihnen gegenüber haben und ausdrücken, einfach schrecklich; ich muß versuchen, ihnen zu helfen, wo ich kann, und muß die hoffnungslos Verarmten anderen überlassen.«[8]
Mrs. Lowell war die Witwe eines im Bürgerkrieg gefallenen jungen Offiziers und hatte ebenfalls Mrs. Schuylers Rat dazu eingeholt, wie sie ihr Leben nach dem Krieg wieder aufbauen könnte. Sie war eine gelehrige Schülerin und die erste Frau, die, im Jahr 1876, in den Wohltätigkeitsausschuß des Staates New York (New York State Board of Charities) berufen wurde; sie machte sich einen Namen mit ihrer Tüchtigkeit und mit ihrer harten Arbeit für die Gefängnisreform und für die Verbesserung der staatlichen Institutionen der Armenhilfe und der Versorgung bedürftiger Frauen und Kinder. Aber ihre Unzufriedenheit wuchs, als sie sah, daß dies alles das menschliche
Leiden nur bemäntelte. Es schien wichtiger, das Problem bei den Wurzeln zu packen, bevor der einzelne Mann oder die einzelne Frau der Öffentlichkeit aufgrund von Verelendung zur Last fiel. 1889, als sie von ihrem Posten im Wohltätigkeitsausschuß zurücktrat, schrieb sie an ihre Schwester: »Nellie sagt, Du meinst, ich sollte im Ausschuß bleiben, aber ich glaube, es gibt für die arbeitenden Menschen viel wichtigere Sachen zu tun. 500 000 Lohnempfänger in dieser Stadt, 200 000 davon Frauen und Kinder, und 75 000 von diesen arbeiten unter schrecklichen Bedingungen für Hungerlöhne. Das ist ein entscheidenderes Problem als die 24 000 Sozialfälle, die Kinder eingeschlossen. Wenn die arbeitenden Menschen alles hätten, was ihnen zusteht, hätten wir keine Armen und Kriminelle. Es ist besser, sie zu retten, bevor sie untergehen, als das Leben damit zuzubringen, sie wieder herauszufischen, wenn sie halb ertrunken sind, und danach für sie zu sorgen! Was ich genau tun kann, weiß ich noch nicht, aber ich möchte Zeit zum Ausprobieren.«[9]
Innerhalb eines Jahres hatte Miss Lowell die Mittel entdeckt, mit denen sie einige ihrer Ziele erreichen konnte. 1886 gründete eine Gruppe von Arbeiterinnen eine Gesellschaft, denn, wie sie erklärten: »Für gemeinsame Anstrengungen ist eine zentrale Gesellschaft nötig, die sich bereits jetzt der Sache der Organisierung unter Frauen widmet, die Statistiken zusammenstellt und Tatsachen veröffentlicht, die imstande ist, Informationen und Ratschläge zu erteilen, und die vor allem die Agitation über dieses Thema weiterführt und verbreitet.«[10]
Treibende Kraft war eine Frau namens Alice Woodbridge, die etwas älter war als die anderen und jahrelang als Angestellte und Verkäuferin im Einzelhandel gearbeitet hatte. Wesentlich auf ihr Betreiben hin erstellte die Arbeiterinnengesellschaft eine Übersicht über die Arbeitsbedingungen in den Geschäften in New York. Ohne Geld oder ein ausgebildetes Team, stattdessen durch persönliche Befragungen fanden die Frauen Arbeitsbedingungen, die - was einige von ihnen, wie Miss Woodbridge, bereits aus erster Hand wußten - so erbärmlich waren, daß sie ihre Ergebnisse einer Gruppe einflußreicher Bürger, darunter Mrs. Lowell, Miss Louisa Perkins, Mrs. Frederick Nathan, Dr. Mary Putnam-Jacobi und einigen interessierten Vertretern der Kirche vorlegten.
Das Problem ließ sich nicht einfach dadurch lösen, daß man versuchte, eine Gewerkschaft der im Einzelhandel Beschäftigten zu organisieren; die Gründe dafür führt ein Bericht der Verbraucherliga von 1895 an:
»Sie sind alle Frauen und infolgedessen gewöhnlich schüchtern und gemeinsame Aktionen nicht gewöhnt. Sie sind jung, viele zwischen vierzehn und zwanzig,  und infolgedessen fehlt ihnen das Wissen, die Charakterstärke und die Erfahrung,  die es ihnen ermöglichen würde, in ihrem eigenen Interesse zu handeln. Ihre Branche  hat zwar einige hochqualifizierte Abteilungen, besteht aber zum größten Teil aus ungelernten Tätigkeiten, und infolgedessen gibt es ein fast unbegrenztes Angebot von Anwärtern auf ihre Arbeitsplätze, für den Fall, daß sie die ihnen gebotenen Bedingungen nicht akzeptieren.«[11]
Es war nötig, eine Gruppe zum Handeln zu bringen, die bisher noch nie mobilisiert worden war: die kaufende Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit bestand, wo es sich um Kleidung, Essen, Möbel und Weißwaren handelte, weitgehend aus Frauen, damals wie heute, mit einem Unterschied: Da die Löhne niedrig waren und in Familien mit niedrigem Einkommen viele der zum Leben notwendigen Dinge noch zu Hause von der Hausfrau selbst hergestellt wurden, bestand der größte Teil der Verbraucher aus wohlhabenden Frauen der Mittel- oder Oberschicht, denen oft noch jede Art von öffentlichem Einsatz oder Interesse sehr fern lag.
Die 1890 gegründete New Yorker Verbraucherliga setzte sich zum Ziel, diese Gruppe aufzurütteln. Kurze Zeit später entstanden in Philadelphia, Massachusetts und anderswo ähnliche Ligen. 1899 wurde die Nationale Verbraucherliga gegründet. Sie entwickelte sich zum militanten und äußerst entschiedenen Gewissen der kaufenden Öffentlichkeit, wo es um Lebensbedingungen wie diese ging: zwei Dollar Wochenlohn für Frauen, die nicht zu Hause lebten, Arbeitszeiten von 7.45 Uhr bis Mitternacht mit nur wenigen Minuten Pause zum Mittagessen, die 6-Tage-Woche, wobei manchmal sonntags ohne Lohnzuschlag Inventur gemacht werden mußte, keine Stühle hinter den Verkaufstresen, keine Schließfächer, keine Ferien und kein Platz zum Essen außer in den Toiletten oder Lagerräumen.[12]
Eine der ersten Waffen der Liga waren die »Weißen Listen«, in denen die Betriebe geführt wurden, die den von der Liga festgelegten »Standards eines gerechten Betriebes« entsprachen, die z. B. einen wöchentlichen Mindestlohn (für geschulte Arbeiterinnen) von 6 Dollar zahlten, deren Arbeitstag nicht länger als von 8.00 bis 18.00 Uhr dauerte und eine dreiviertelstündige Mittagspause einschloß, in denen sechs Tage in der Woche gearbeitet, im Juli und August ein halber Tag pro Woche Ferien und eine Woche bezahlter Urlaub gewährt wurde, die keine Kinder arbeiten ließen und in denen es Stühle hinter den Tresen, Schließfächer für die Kleider und einen angemessenen Eßraum gab. Die erste »Weiße Liste« von New York enthielt die Namen von nur 8 Betrieben, die diesen Forderungen entsprachen.[13] Die Liga, zuerst geleitet von Mrs. Lowell, die bis 1896 Vorsitzende der New Yorker Liga war, und später von Maud Nathan und Florence Kelley, wurde stärker und hatte auf ihrem Höhepunkt Unterorganisationen in zwanzig Staaten. Ihr Engagement erstreckte sich bald über den Bereich des Einzelhandels hinaus auf die Bedingungen, unter denen Kleidung hergestellt wurde (was zu einem Zusammenstoß mit den »Schwitzbuden« führte) und auf die Herstellung gewisser Nahrungsmittel, z. B. Milch.[14] Als die Liga erkannte, daß öffentliche moralische Appelle nicht ausreichten, setzte sie sich für eine Gesetzgebung ein, die die Unternehmer zwingen sollte, Standards zu akzeptieren, die nicht von Privatorganisationen, sondern von der Regierung gesetzt wurden. Als diese Gesetze als verfassungswidrig angefochten wurden, führte die Nationale Verbraucherliga vor den Gerichten einen langen Kampf, um die Beschränkung der Arbeitszeit und andere Aspekte der Sicherheit und des Wohlergehens der Arbeiter der Verantwortlichkeit der einzelnen Staaten und schließlich der Bundesregierung zuzuweisen.
Die Einrichtung der settlement-Häuser, einer einzigartigen und höchst individuellen Form sozialer Dienstleistungen, die sich während der Reformära entwickelte, entstand aus vielschichtigeren Motiven als bloßer Nächstenliebe. Zusammen mit dem Wunsch, den Bedürftigen und Unterprivilegierten zu helfen, verspürten gebildete und wohlhabende Männer und Frauen das Bedürfnis, nicht nur zu sehen, »wie die andere Hälfte lebt«, sondern tagtäglich die Probleme und Erwartungen eines großen Teils der städtischen Bevölkerung zu teilen, mit denen sie gewöhnlich keinerlei Kommunikation hatten.[15] Insofern könnte es scheinen, daß die settlement-Häuser in der Bewegung für die Rechte der Frau keinen Platz hatten.
Daß sie dennoch einen hatten, ist einer Reihe von Faktoren zu verdanken. Sie wurden oft gegründet und geleitet von Frauen, und zwar von außergewöhnlich begabten Frauen, die an Prestige und Erfolg denen gleichkamen, die aus den abolitionistischen Kämpfen hervorgingen und die Sache der Frauen vorantrieben, und sie hinsichtlich ihres Ansehens als bedeutende Bürger noch weit übertrafen. Die bekannteste unter ihnen war Jane Addams, Gründerin des Hull House in Chicago.[16] Selbst ohne irgendeine Berufsausbildung, zurückhaltend, aber von außergewöhnlicher Anziehungskraft und großem Organisationstalent, sammelte sie um sich ein erstaunliches Heer tüchtiger Frauen; unter ihnen befanden sich Florence Kelley (während ihrer Tätigkeit als Oberfabrikinspektorin für Illinois); ihre Stellvertreterin Alzina P. Stevens, deren aktiver Einsatz in der Arbeiterbewegung auf die Tage der Knights of Labor zurückging; Julia Lathrop, die als erste Frau dem Wohlfahrtsausschuß des Staates Illinois angehörte und später die erste Leiterin der Kinderabteilung des Arbeitsministeriums der Vereinigten Staaten (Children's Bureau in the U. S. Department of Labor) wurde; ihre Nachfolgerin auf diesem Posten, Grace Abbott; deren Schwester Edith, eine hervorragende Soziologin; Sophonisba Breckinridge, Dekanin der wegweisenden Schule für Staatsbürgerkunde und Philanthropie (der heutigen Schule für Sozialarbeit) an der Universität von Chicago; Dr. Alice Hamilton, die Tätigkeitsbereiche wie Arbeitsmedizin und -hygiene eröffnete.[17] Die settlement-Häuser zogen nicht nur begabte Frauen, sondern gleichermaßen Männer an. (Jane Addams bemerkte einmal, daß sie eine Generation junger Amerikaner von Philanthropen zu Reformern machte.)[18] Aber für die weiblichen »Bewohner« (wie die Mitarbeiter genannt wurden) boten sie einzigartige Chancen, denn die meisten Berufe waren Frauen noch immer verschlossen. Diese Sozialarbeit verschaffte jungen Frauen neue und anregende Vorstellungen davon, wie sie ein aktives und erfülltes Leben führen könnten. Viele College Absolventinnen (oder Mitglieder der Junior League) verbrachten ein Jahr als Bewohner im Hull-Haus oder im Denison-Haus oder im Henry Street Settlement und widmeten sich danach ihr Leben lang ähnlich konstruktiven Tätigkeiten.[19]
Aber die settlement-lrläuser spielten auch deshalb eine Rolle innerhalb der Frauenbewegung, weil man bei der Suche nach denen, die am meisten ihre Dienste benötigten, unweigerlich auf die Arbeiterinnen stieß, die in der Gesellschaft den untersten Platz einnahmen.[20] Die frühen settlement-Leiterinnen waren alle in hohem Maße phantasievoll und einfühlsam und teilten die Überzeugung, daß den settlement-Häusem keine Krise und kein Notfall fremd seien, ob sie aus Massenepidemien, Arbeitslosigkeit, Arbeitskonflikten, schlechten Wohnverhältnissen, unzureichender Müllbeseitigung oder politischer Hysterie entstehen mochten. So überrascht es nicht, daß sie auch zu ganz ähnlichen Schlußfolgerungen kamen: die grundlegende Ursache aller an der Oberfläche sichtbaren Zustände, wie überfüllte Wohnungen, Schmutz, Krankheit und Unwissenheit, bestand darin, daß die Leute zu arm waren. Zur Überwindung der Armut bedurfte es nicht nur der Ratschläge, der Pflege oder des Englischunterrichts (die überwiegende Mehrheit der Slumbewohner war erst seit kurzem aus nicht-englischsprachigen Ländern eingewandert) oder der Berufsausbildung: diese Leute brauchten gewerkschaftliche Organisation. Von den Bewohnern der New Yorker East Side oder der Chicagoer South Side oder anderer Slums wurde niemand schlechter bezahlt und brauchte so dringend Gewerkschaften wie die Frauen, die deshalb ungelernt und rückständiger waren, weil sie noch immer die aus den europäischen Traditionen herrührenden Hemmungen gegenüber Frauenfragen in sich trugen. Die AFL aber zeigte trotz der großen Nöte dieser Frauen wenig Interesse an ihnen.
Zwangsläufig, wenn auch ganz unerwartet, fanden sich die settlement-Leiterinnen in die Versuche dieser Frauen hineingezogen, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern; manchmal grenzten ihre Positionen auch ans Lächerliche. Noch bevor das Henry Street Settlement gegründet worden war, erhielt Lillian Wald, die noch als ambulante Krankenschwester in der New Yorker Lower East Side arbeitete, den Besuch einer jungen Frau, die in der Wohnung ein Stockwerk tiefer wohnte:
»In unser Vergnügen mischte sich Betroffenheit, als wir erfuhren, daß sie Hilfe bei der Organisierung einer Gewerkschaft wollte. Ich kannte nicht einmal das Wort. Sie erzählte ohne Bitterkeit von den Sorgen ihrer Kolleginnen und versuchte mir klar zu machen, warum sie sich von einer Gewerkschaft Abhilfe versprachen. Sie kam ganz offensichtlich deshalb zu mir, weil sie überzeugt war, daß jemand, der so gut Englisch spricht, wissen würde, wie man sich auf >amerikanische Weise< organisiert, und vielleicht auch, weil sie hoffte, eine Gewerkschaft könnte durch dieses Bündnis an Ansehen gewinnen. Wir erfuhren bald, daß ein großes Hindernis für die Organisierung junger Frauen in den Betrieben in ihrer eigenen Angst bestand, dies würde als >undamenhaft< erachtet und könnte sogar ihre Heiratschancen vermindern. Am folgenden Tag nahm ich mir Zeit, um in die Bücherei zu gehen und mir einige akademische Informationen zum Thema Gewerkschaften zu verschaffen. Am selben Abend hörte ich in einem Keller in einer Straße in der Nachbarschaft dem gebrochenen Englisch der Zigarettenmacherin zu, die versuchte, den Frauen zu helfen.«[21] Kein Wunder, daß Miss Wald sich in eine Bibliothek bemühen mußte, um herauszufinden, was eine Gewerkschaft war. Sie kam aus einer gutsituierten Familie der Mittelschicht, und die einzige Vorbereitung für die Welt des Slumlebens, das sie sich zueigen machen wollte, war die kurze und begrenzte Ausbildung, die damals von einer Schwesternschule geboten wurde. Sympathie und Umsicht halfen ihr über diese Kluft hinweg, und ebenso erging es Jane Addams, die in einer Kleinstadt in Illinois aufgewachsen war und deren allmählich reifende sozialreformerische Überzeugung dazu führte, daß sie im Dschungel der Chicagoer Slums entlang der Polk Street und der Halstead Street, wo es zum größten Teil nicht einmal Wasser- oder Abwasserleitungen gab, ein settlement-Haus gründete. Das Hull-Haus stand Arbeiterinnen (wie auch allen anderen, die kamen) offen, gleich, welche Interessen sie hatten: Erholung, Bildung oder Organisierung. Die Schuharbeiterin Mary Anderson, die Direktorin der Frauenabteilung des amerikanischen Arbeitsministeriums werden sollte, überliefert, was solche Gastlichkeit bedeuten konnte: »Nach meinem Eintritt in die Gewerkschaft lernte ich Jane Addams und das Hull-Haus kennen. Wir hatten Versammlungen im Hull-Haus, wo Miss Addams zu uns sprach, und manchmal traf ich sie bei Gewerkschaftsversammlungen und anderswo. Ins Hull-Haus zu gehen war immer interessant. Manchmal bat uns Miss Addams am Sonntagnachmittag zum Tee, und wir trafen prominente Leute aus anderen Teilen des Landes und aus dem Ausland . . . Für mich, und ich glaube auch für viele andere, waren das Hull-Haus und Jane Addams das Tor zu einer größeren Welt.«[22] Mary McDowell, die erste Leiterin des settlement-Hauses der Chicagoer Universität, hatte gegenüber Miss Wald und Miss Addams den Vorteil, daß sie bereits vorher breitere Erfahrungen gesammelt hatte: Sie war während der Chicagoer Feuerkatastrophe von 1871 aktiv beim Hilfswerk gewesen, war mit Frances Willard befreundet und hatte eine Zeitlang als Organisatorin für die W.C.T.U. in Illinois gearbeitet, bevor sie für kurze Zeit eine der ersten Mitarbeiterinnen des Hull-Hauses wurde. Als die Universität von Chicago 1894 im Slum »Hinter den Höfen« ein settlement-Haus errichtete, das der neuen soziologischen Fakultät als »Fenster« auf die wirklichen sozialen Probleme dienen sollte, wurde Miss McDowell auf Miss Addams Empfehlung hin zu seiner Leiterin ernannt. Bald stand sie im Kontakt zu der Bewegung für die gewerkschaftliche Organisierung der Männer, die auf den Höfen für die riesigen Fleischkonservenkonzerne arbeiteten, und 1902 kritisierte sie in einer Rede vor Männern eines Chicagoer Clubs das Versagen der Gewerkschaften bei der Organisation von Frauen, die in wachsender Zahl in dieser Branche arbeiteten, und auch die Frauen selbst, weil sie nicht dem Beispiel der Männer folgten und sich organisierten.
Zwei junge Frauen, Mollie Daly und Hannah O'Day, die auch in den Höfen arbeiteten, lasen in der Zeitung einen Bericht über diese Rede. Sie gehörten bereits einem Arbeiterinnen-Club an, der den Namen der irischen Freiheitskämpferin Maud Gönne trug; sie kamen in das settlement-Haus der Universität und baten Miss McDowell, ihnen dabei zu helfen, aus ihrem Club eine Gewerkschaft zu machen. Miss McDowell rief Michael Donelly herbei, den Chef der Schlachthofgewerkschaften, der die Frauen ermutigte. Auf ihre Bitten hin nahm sie selbst an ihrem Treffen teil. Sie organisierten eine Gewerkschaft, die als Ortsgruppe Nr. 183 in die Vereinigten Fleischhauer und Fleischereiarbeiter Nordamerikas (Amalgamated Meat Cutters and Butchers Workmen of North America) aufgenommen wurde und bis 1904 bestand, als ein erfolgloser Streik alle Schlachthofgewerkschaften für eine Zeitlang hinwegfegte. In welchem Ausmaß Miss McDowell zur Unterstützung der Frauenortsgruppe beitrug, die durch ihre erfolgreiche Vereinigung der verschiedenen Nationalitäten - Irinnen, Polinnen, schwarze Frauen, Deutsche usw. - neue Maßstäbe setzte, wird durch einen Brief belegt, den Miss McDowell von Mollie Daly erhielt, während sie in Ferien war: »Wir haben gestern Nacht solch eine Versammlung gehabt, daß ich es gar nicht erwarten kann, Dir davon zu berichten . . . Hannah O'Day und ich gingen am Sonntag zum Gewerkschaftsrat der Konservenbetriebe; die Männer dort hatten eine Sondersitzung für die Entscheidung über die Lohnskala, und es wurde nichts Neues behandelt außer dem Brief mit unserem Appell. Er wurde den Delegierten vorgelesen, der Rat stiftete 25 Dollar, und ein Delegierter aus jeder Ortsgruppe bekam eine Kopie mit Handlungsanweisungen für ihre erste Sitzung, und gestern Nacht schickte eine der neuen Ortsgruppen 5 Dollar, ich glaube, das ist sehr gut für eine, die erst angefangen hat. Und bei unserer Versammlung wählten wir einen Ausschuß, der eine Satzung und Statuten für unsere Ortsgruppe machen soll, und auch einen Anhörungsausschuß und einen Krankenausschuß, der unsere kranken Mitglieder besuchen soll, und schließlich und endlich einen Ausschuß, der mit Mr. Donelly zu Mr. Armour gehen soll, damit wir wieder eingestellt werden. Wir haben auch eine Resolution verabschiedet, daß wir Mr. Donelly und dem Vorsitzenden und den Funktionären des Rates der Konservenbetriebe eine schriftliche Einladung zu unserer Versammlung schicken.«[23] Da es die AFL und alle ihre Untergruppen weiterhin an jeder ernsthaften Bemühung fehlen ließen, war es unvermeidlich, daß diese kleine Gruppe von Frauen - aus der Mittelschicht, gebildet, manchmal wohlhabend - in die Organisierung der Frauengewerkschaftsliga hineingezogen wurde, die während vieler Jahre versuchte, Arbeiterinnen die Unterstützung und die Führung zu verschaffen, die ihnen von den bereits organisierten Teilen der Arbeiterbewegung verwehrt wurden. Die Liga (deren Arbeit im 18. Kapitel ausführlicher behandelt werden wird) entstand aus einer Folge von Versammlungen während der Bostoner AFL-Konferenz im Jahre 1903. Zu diesen, passenderweise in der Faneuil Hall*(* Faneuil Hall war der Versammlungsort der Bostoner Bevölkerung zur Zeit der amerikanischen Revolution. (A.d.Ü.)) abgehaltenen Sitzungen erschienen einige wenige männliche Delegierte, zumeist aus den Gewerkschaften der Bekleidungsindustrie; die Initiative aber ging aus von der unzähmbaren Mary Kenney (inzwischen Mrs. O'Sullivan), Leonora O'Reilly und Mrs. Mary Morton Kehew (einer reichen Bostonerin, die seit 1892 versuchte, Arbeiterinnen in Gewerkschaften zu organisieren), dem Philanthropen und Sozialisten William English Walling und jenem unermüdlichen Trio Miss Addams, Miss Wald und Miss McDowell. Die drei letzten zeigten durchaus nicht nur ein vorübergehendes oder oberflächliches Interesse; sie blieben aktiv in den Geschäften der Liga, bis eine neue Generation von Führerinnen hervorgetreten war, von denen viele aus den Betrieben der Bekleidungsindustrie und angeschlossener Branchen kamen und die die Liga durch ihre einflußreichsten Jahre geleiten sollten. Von eben diesen Frauen, die dank ihrer Erfahrung damit, die öffentliche Meinung aufzurütteln, das dringende Bedürfnis nach unangreifbaren und unbezweifelbaren Fakten auf nationaler Ebene erkannten, ging die Idee einer vom Kongreß in Washington finanzierten, aber von Experten durchgeführten umfassenden Untersuchung über die Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeiterinnen aus.[24] Das Projekt scheint zuerst in den Köpfen von Sophonisba Breckinridge, Edith Abbott und Mary McDowell entstanden zu sein. Es brauchte zwei Jahre, um die Gesetzesvorlage durch den Kongreß zu bringen, die die Untersuchung genehmigte, in Auftrag gab und die benötigten Geldmittel zur Verfügung stellte. Die Verabschiedung erfolgte auf Drängen der Allgemeinen Vereinigung der Frauenclubs, der Frauengewerkschaftsliga, etlicher Kirchen-, Arbeiter- und Bürgervereine und schließlich des Präsidenten Theodore Roosevelt selbst. Die Untersuchung und die Vorbereitung des neunzehnbändigen Berichts dauerte vier Jahre, von 1908 bis einschließlich 1911. Der Bericht umfaßte ebenso die Lage der Kinderarbeit wie die der Lohnarbeiterinnen und deckte ein breites Feld ab: die Arbeitsbedingungen in einer Vielzahl von Industrien, die Frauen beschäftigten, die Geschichte der Frauen in Gewerkschaften, Familieneinkommen, Kindersterblichkeit in Beziehung zur Beschäftigung von Müttern und verwandte Themen. Er war bei seinem Erscheinen ein Meilenstein, und noch heute ist er für Forscher als Quelle unersetzlich.[25] Mit der Veröffentlichung dieses Berichts und der bahnbrechenden Arbeit, die während derselben Zeit von Forscherinnen wie Edith Abbott, Mary Van Kleeck, Josephine Goldmark und anderen geleistet wurde, war das Fundament für eine Gesetzgebung zum Schutz von Arbeiterinnen und Kindern für die nächsten Jahrzehnte gelegt. Außerdem sollte die Erfahrung zeigen, daß, nachdem solche Gesetze in Kraft waren, eine umfassende Gesetzgebung, die auch männliche Arbeiter einschloß, leichter erfolgen würde. Neben dem Unternehmer, der Gewerkschaft und dem hilflosen unorganisierten einzelnen Arbeiter - Mann, Frau oder Kind - stand jetzt der Staat, der in zunehmendem Maß dafür verantwortlich wurde, das Wohl seiner Bürger im Hinblick auf Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit, Gesundheit und Feuergefahr zu schützen.
Eine solche Vergrößerung der staatlichen Macht (zu der die wirksame Durchsetzung solcher Gesetze führte) fand nicht ohne bemerkenswerten Widerstand statt. Heute hat man die Rolle, die die sogenannte »Schutzgesetzgebung« für Arbeiterinnen bei der Erweiterung der staatlichen Verantwortung für alle Lohnabhängigen spielte, aus den Augen verloren; die darin enthaltenen Beschränkungen werden eher als Grenzen für die Freiheit der Frau gesehen, in jedem Job oder zu jeder Stunde ihrer Wahl zu arbeiten. Das höhere Niveau der Gesundheitsversorgung, eine starke Arbeiterbewegung und ein ganzes System von Gesetzen zum Schutz der Arbeiter haben zusammen ein Klima der öffentlichen Meinung geschaffen, in dem die Mißbräuche der früheren Jahre nicht mehr toleriert werden würden. Aber damals, 1867, hatte der Staat Wisconsin im Glauben, daß Überarbeitung junge Frauen an der Mutterschaft hindere, das erste »Arbeitszeitgesetz« für Frauen verabschiedet. 1907 gab es bereits in zwanzig Staaten Gesetze, die in einigen Industriezweigen und in unterschiedlichem Ausmaß die Arbeitszeit von Frauen beschränkten. Die Befürworter einer solchen Gesetzgebung erkannten jedoch, daß sie ernsthaft bedroht wurde durch ein gegenteiliges Urteil des Obersten Bundesgerichts im Fall Lochner gegen New York aus dem Jahre 1905 und daß der weitere Fortschritt so lange gefährdet sein würde, bis ein die Arbeiterinnen betreffendes Gesetz vom Obersten Bundesgericht bestätigt werden würde.
Zum nächsten wirklichen Testfall kam es mit dem Prozeß Muller gegen Oregon im Jahre 1907, der die Arbeitszeit der in den Wäschereien von Oregon arbeitenden Frauen behandelte. Der Fall ist noch heute denkwürdig, nicht weil er ein für allemal die Angelegenheit regelte (es gab noch jahrelang Fort- und Rückschritte), sondern wegen des Plädoyers, das Louis D. Brandeis, der später Oberster Bundesrichter wurde, für den Staat Oregon einbrachte.[26] Brandeis hatte den Fall auf Bitten von Florence Kelley von der Verbraucherliga übernommen, der leidenschaftlichen Vorkämpferin für die Frauenschutzgesetzgebung. Neu an dem heute so genannten »Oregon-Plädoyer« war, daß es als Beleg für die These, Überstunden seien schädlich, ausführliche Fakten anführte und sich nicht einfach auf juristische Standpunkte zurückzog. Heutzutage ist die Vorgehensweise des Oregon-Plädoyers in solchen Fällen selbstverständlich; damals war sie vollständig neu (und gab nebenbei der Forderung nach weiterer Forschung Auftrieb; denn um Brandeis mit Material zu versorgen, mußten Josephine Goldmark und Mrs. Kelley vor allem auf europäische Quellen, besonders englische, zurückgreifen, weil amerikanische kaum vorhanden waren).
Im Licht weiter fortgeschrittener medizinischer Kenntnisse ist Brandeis' Behauptung, daß »Frauen gegenüber Männern hinsichtlich des Durchhaltevermögens, der Muskelstärke, der psychischen Energie, der Kraft andauernder Tätigkeit und Aufmerksamkeit grundsätzlich schwächer als Männer sind«, gewiß nicht länger gültig. Aber seine Argumente gegen die schädlichen Auswirkungen der Überarbeitung während der Schwangerschaft und danach für Mutter, Kind und nachfolgende Generationen, ebenso wie für die Notwendigkeit, verheirateten wie unverheirateten Frauen die Chance zu sichern, »die Annehmlichkeiten des Lebens außerhalb der Arbeitszeit« zu genießen, sind kaum ernsthaft in Frage zu stellen. Die Tragweite und Beweiskraft des Plädoyers von Oregon und die Tatsache, daß es die Bedeutung dieser zur Debatte stehenden Gesetzgebung für die Menschen gegenüber juristischen und verfassungsrechtlichen Erwägungen hervorhob, hatten weitreichende Auswirkungen auf den weiteren Gang der Sozialgesetzgebung. Die befreiten Frauen von heute schulden der Weitsicht und dem Kampfgeist von Florence Kelley und ihren Mitarbeiterinnen Dank.

Die Vereinigung der Wahlrechtsbewegung

In dem Jahrzehnt von 1880 bis 1890 wurde immer deutlicher, daß die Faktoren, die zur Existenz zweier getrennter Wahlrechtsvereine geführt hatten, stetig an Bedeutung verloren. Der Nationale Frauenwahlrechtsverein (NWSA) war ins Leben gerufen worden von der intellektuell unschlagbaren Elizabeth Cady Stanton und der überaus offenen Susan B. Anthony. Beide waren zur Zusammenarbeit mit jedermann bereit, ungeachtet seiner Haltung zu anderen Angelegenheiten, solange er oder sie von ganzem Herzen für das Frauenwahlrecht eintrat. Infolgedessen war die NWSA während ihrer frühen Jahre ebenso aggressiv wie unorthodox. Sie verdammte sowohl Republikaner als auch Demokraten, die die Wahlrechtsfrage beiseiteschoben. Sie wollte die Ärmel für alle notleidenden Frauen hochkrempeln, wie immer deren besondere Umstände waren, ob sie »gefallene Mädchen«, nach einer Scheidung verlangende Frauen oder unterbezahlte Näherinnen waren. Der Amerikanische Frauenwahlrechtsverein (AWSA) dagegen bezog Ton und Gestalt aus einem Neuengland, das jenen unruhigen Zeiten, als abolitio-nistische Männer wie Frauen dem aufgebrachten Mob entgegengetreten waren, den Rücken gekehrt hatte. Hier war man im Engagement für große Fragen sehr wählerisch geworden. Lucy Stone hatte kein Interesse an Gewerkschaften und wünschte, die Sache des Wahlrechts freizuhalten von Problemen wie Scheidung oder Prostitution. Die Haltung der AWSA wurde am reinsten verkörpert von ihrer angesehensten Proselytin, der Führerin Julia Ward Howe, einer gelehrten und geachteten Laienpredigerin. Sie war die gefeierte Verfasserin der »Schlachthymne der Republik« und verschaffte der Sache der Frauen eine höchst wünschenswerte Aura von Prestige und Wohlanständigkeit.
Nicht daß Mrs. Howe selbst das Wahlrecht gesellschaftsfähig gemacht hätte; vielmehr war sie ein Symbol der Kräfte, die die Wahlrechtsbewegung in die Sphäre gesellschaftlicher Wohlanständigkeit zogen. In dieser Zeit kam es zu einer raschen Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft. Die Mittelschicht lernte, die organisierte Arbeiterbewegung mit sozialem Aufruhr gleichzusetzen. Eine Folge von Streiks während der Depression von 1873 bis 1878 in Textilfabriken, Bergwerken und bei der Eisenbahn fand ihren Höhepunkt im großen Eisenbahnerstreik von 1878, an dem von der Atlantikküste bis zum Mississippital fast 100 000 Arbeiter beteiligt waren; sie trugen nicht dazu bei, die Frauen eines Besseren zu belehren, denen Presse und Kanzel beigebracht hatten, jedwede Militanz mit Radikalismus gleichzusetzen. Ebensowenig tat es die Hysterie, die aufgepeitscht wurde von den Prozessen gegen die Molly Maguires wegen ihrer geheimen Verschwörung unter Kohlenarbeitern in Pennsylvania, oder die angeblich kommunistische Unterwanderung von wachsenden Arbeiterorganisationen wie Knights of Labor und AFL. Die Existenz einer kleinen Zahl von Sozialisten wurde dazu benutzt, die gesamte Arbeiterbewegung als »anarchistisch« zu etikettieren. Dieser Trend erreichte seinen Höhepunkt 1886 während der ausgedehnten Agitation für den Achtstundentag, als von bis heute unbekannter Hand eine Bombe in eine radikale Versammlung auf dem Haymarket Square von Chicago geworfen wurde und im ganzen Land eine Welle der Panik auslöste. Die stetige Entwicklung der Wahlrechtsbewegung zu Konservatismus und Konvention während der letzten zwanzig Jahre des neunzehnten Jahrhunderts muß in diesem Rahmen gesehen werden, will man den falschen Eindruck vermeiden, daß einige wenige konservative Frauen mit Hilfe ihrer überlegenen Fähigkeit und dank der Passivität der alten Kämpferinnen die Führung an sich gerissen hätten. Denn auch diese änderten, nach ihrem Handeln zu urteilen, ihre Ansichten. Bei der Jahrhundertfeier 1876 konnten sie noch die Regeln des Anstands verletzen, zehn Jahre später wäre das denselben Frauen, die an jener Demonstration teilgenommen hatten, unvorstellbar erschienen. Auch Susan Anthony hätte zweimal überlegt, ob sie im Zeitalter der Haymarket-Hysterie ein Bundeswahlgesetz verunglimpfen und dafür ins Gefängnis gehen würde.
Überdies veränderte sich die gesellschaftliche Zusammensetzung der Führung der Wahlrechtsbewegung merklich. Es gab nun weniger Hausfrauen oder Frauen, die ihre Hausarbeit zum größten Teil selbst machten, und mehr Frauen in akademischen Berufen, Schriftstellerinnen und solche mit beträchtlichem Vermögen. Wer einst den Kampf in Armut und Not aufgenommen hatte - und wie Lucy Stone und Abby Kelley von den geringen Einnahmen aus Vortragsreisen lebte -, hatte jetzt ein vergleichsweise bequemes und sorgenfreies Auskommen erreicht. Es bedurfte nicht mehr des Pioniermuts der Schwestern Grimke und einer Lucretia Mott, wie etwa Theodore Welds Entschuldigung zeigt, mit der er sein Fernbleiben von Wahlrechtsversammlungen in diesen ruhigeren Tagen begründete: »Seit zwanzig Jahren wurde niemand mehr angepöbelt - warum sollte ich also hingehen?«[1] Sogar die spartanische Susan Anthony, die ständig ihre spärlichen Finanzen für den guten Zweck angriff, hatte in den meisten Städten wohlsituierte Freunde, die auf ihren endlosen Vortrags- und Kampagnenreisen für sie sorgten; wenn sie in Washington war, stieg sie immer im Riggs Hotel ab, dessen Besitzer ihr manchmal über Monate hinweg eine Suite zur Verfügung stellte. Mit wachsenden Finanzen (sie waren im Leben einzelner Frauen immer sichtbarer als in den Kassen der Wahlrechtsvereine, die weiterhin von der Hand in den Mund wirtschafteten) kamen mehr Einfluß und Prestige. Innerhalb von zwanzig Jahren hatte sich die öffentliche Meinung tiefgreifend gewandelt. Das Frauenwahlrecht war noch nicht allgemein anerkannt, aber es wurde nicht mehr als Bereich von Exzentrikern und Narren erachtet. Es konnte sich einflußreicher Befürworter im Kongreß rühmen, und die Jahresversammlungen der NWSA boten Gelegenheit nicht nur zu Anhörungen vor Kongreßausschüssen und zur Lobbyarbeit im Kapitol, sondern auch zu Teestunden und Empfangen im Weißen Haus. Obwohl weiterhin Resolutionen für gleichen Lohn verabschiedet wurden und eine Leonora Barry vor Wahlrechtsversammlungen sprechen konnte und respektvoll angehört wurde, hatten die meisten Arbeiterinnen wahrscheinlich Probleme mit der Kleidung der Damen und mochten sich im Rahmen dieser jetzt als Teil solcher Versammlungen akzeptierten gesellschaftlichen Formen fehl am Platz fühlen. Die Art alltäglicher Begegnungen, die Miss Anthony die Organisierung von Arbeiterinnenvereinen ermöglicht und sie und Mrs. Stanton auf Versammlungen der Nationalen Arbeiter-Union geführt hatten, gab es nicht mehr.
Das Anwachsen von Organisationen wie dem Internationalen Frauenrat und dem Frauenkongreß auf der Weltausstellung in Chicago waren weitere Faktoren, welche die Führung durch Frauen mit eigenem Einkommen oder beruflichem Prestige verstärkten. Der Frauenrat wurde 1888 als Vereinigung bestehender Frauenorganisationen auf der Grundlage eines umfassenden Aktionsprogramms und mit Frances Willard als erster Vorsitzenden konzipiert. Er erreichte nie seine Ziele, hielt aber verschiedene Treffen ab, die zur Einrichtung eines Internationalen Frauenrats führte. Er bot vorzügliche Gelegenheit, die von Frauen erzielten Fortschritte hinsichtlich ihres rechtlichen Status, ihrer Berufstätigkeit und ihrer Stellung in der Gemeinde zu dokumentieren, und die Presse berichtete respektvoll über ihn. Dasselbe galt für den Frauenkongreß der Weltausstellung von 1893, deren Managerinnenausschuß geleitet wurde von Mrs. Potter Palmer selbst, der führenden Dame der gesellschaftlichen Elite von Chicago.[2]
Eine neue Generation führender Frauen entwickelte sich in dieser veränderten Atmosphäre, wenngleich Veteraninnen wie Miss Anthony, Mrs. Stone und Mrs. Stanton noch dabei waren. (Lucretia Mott war 1880 gestorben; sie hatte während ihrer letzten Jahre ihren Einfluß zugunsten der Versöhnung der zwei Wahlrechtsorganisationen geltend gemacht.) Die jüngeren Frauen zeichneten sich meist nicht durch ein breites Spektrum gesellschaftlicher Interessen aus. Miss Anthony behielt bis zu ihrem Tod die Gabe, Sympathie und Freundschaft von Frauen aller Klassen auf sich zu ziehen - die unscheinbarste Wahlrechtsaktivistin konnte ihrer unermüdlichen Feder oder Schreibmaschine einen Antwortbrief entlocken oder sie bei öffentlichen Anlässen als Freundin begrüßen -, doch von Rachel Foster Avery, May Wright Sewall, Carrie Chapman Catt oder Harriet Taylor Upton ließ sich das kaum behaupten. (Anna Howard Shaw war die Ausnahme; sie bewahrte sich immer die Fähigkeit, mit Arbeiterinnen wie mit ihresgleichen zusammenzuarbeiten, denn sie hatte selbst harte Kämpfe durchgefochten, um Bildung und Berufsausbildung zu erringen, und arbeitete als Ärztin in den Slums von Boston.)
Ein weiterer Grund für die tiefer werdende Kluft zwischen Arbeiterinnen und privilegierten Frauen innerhalb der Wahlrechtsbewegung ergab sich aus der Aversion der letzteren gegen die riesige und ständig wachsende Zahl von Einwanderern. Sehr viele dieser Neuankömmlinge kamen aus einer sozialen und religiösen Umgebung, die ihnen höchst konservative Anschauungen bezüglich der Rolle und der Stellung von Frauen mitgegeben hatte. Die Stimmen dieser Einwanderer, die in Slums zusammengepfercht lebten und deshalb oft von Parteiapparaten manipuliert wurden, waren das Instrument, mit dem den einheimischen, gebildeten, oft hochqualifizierten und wohlhabenden Frauen immer wieder bei einzelstaatlichen Wahlrechtsreferenden das Wahlrecht verwehrt wurde.[3]
Verständlicherweise nahmen diese Frauen übel, daß zwischen ihnen und dem Wahlrecht Männer standen, die wenig oder gar kein Englisch sprachen. Auf lange Sicht konnte solcher Groll ihnen jedoch nur selber schaden. Die Einwanderer mußten für die Sache gewonnen werden, sonst würden sie entweder entsprechend ihren Vorurteilen wählen oder dem Meistbietenden ihre Stimme verkaufen. Erst als Jane Addams und Lillian Wald immer wieder darauf hinwiesen, daß keine Frau, ob sie nun in einer Schwitzbude arbeitete oder in der eigenen Kutsche die Fifth Avenue entlangfuhr, das Wahlrecht ohne Unterstützung durch die Immigranten gewinnen würde (nicht zuletzt auf Druck von deren Frauen und Töchtern), machte sich die Wahlrechtsbewegung daran, diese Kluft zu überbrücken. Aber solche Erkenntnisse lagen in den späten achtziger Jahren noch in weiter Ferne; weil es keine grundlegenden Widersprüche in den Grundsätzen und der Taktik mehr gab, war der Zusammenschluß der beiden Wahlrechtsvereine damals nur noch eine Frage der Zeit - der Zeit nämlich, die nötig war, um alte Wunden zu heilen.
Das hauptsächliche Verdienst an dem schließlichen Ergebnis wird allgemein Alice Stone Blackwell, der begabten Tochter von Lucy Stone und Henry Blackwell, zugeschrieben. Tatsächlich jedoch war die Tatsache, daß die von der AWSA während der letzten zwanzig Jahre befürwortete Politik sich inzwischen durchgesetzt hatte, der wesentliche Grund dafür, daß diese Organisation, kleiner und organisatorisch weniger aktiv als ihre einstige Rivalin, den Vorschlag eines Zusammenschlusses unterbreiten und die NWSA auf ihre Seite ziehen konnte. Die Fusionsverhandlungen begannen 1887, zogen sich drei Jahre hin und fanden ihren Abschluß auf einer gemeinsamen Konferenz beider Vereine im Februar 1890. Obwohl Mrs. Stanton zur ersten Vorsitzenden des Nationalen Amerikanischen Frauenwahlrechtsvereins (NAWSA) gewählt wurde und diese Position bis 1892 innehatte, ging ihre aktive Führung in der Sache des Frauenwahlrechts dem Ende entgegen. Mehr und mehr interessierte sie sich für die Scheidungsfrage und das Wahlrecht für Leute mit Schulbildung (im Gegensatz zum allgemeinen). Hauptsächlich aber befaßte sie sich mit der Verantwortlichkeit der etablierten Religion für die untergeordnete Stellung der Frau. 1895 und 1898 veröffentlichte sie unter dem Titel Die Frauenbibel in mehreren Bänden eine beißende Kritik des Alten Testaments, in der sie frauenfeindliche Bibelpassagen im Detail analysierte. Unter den Suffragetten stieß das Werk auf heftigen Widerstand, weil es angeblich der Sache schade, indem es Gläubige entfremde. Trotz des leidenschaftlichen Plädoyers von Miss Anthony und anderen liberalen Geistern zugunsten der Toleranz, die in früheren Jahren gegenüber kontroversen Meinungen geübt worden war, verabschiedete der Wahlrechtskongreß von 1896 eine Resolution, die sich ausdrücklich von jeder Verantwortlichkeit für die Frauenbibel distanzierte: in der Tat eine scharfe Zurechtweisung der alten Führerin. Mrs. Stanton jedoch nahm die Schelte scheinbar gelassen hin und schrieb bis zu ihrem Tod im Jahr 1902 weiter. Sie war nicht die einzige Pionierin, die sich nach dem Zusammenschluß zurückzog. Lucy Stone besuchte 1892 zum letzten Mal einen Kongreß; sie starb im darauffolgenden Jahr. Susan Anthony blieb am Ruder und trat die Nachfolge von Mrs. Stanton als Vorsitzende des Wahlrechtsvereins an, wenngleich nicht ohne Bedenken. Sie hatte die Vereinigung begrüßt, bedauerte aber einige der Veränderungen, die sie nach sich zog: vor allem den einem Antrag von Miss Blackwell folgenden Beschluß des Kongresses von 1893, die Jahresversammlung in Washington nur jedes zweite Jahr abzuhalten.
Zugunsten einer solchen Änderung wurden die jährlichen Reisekosten der Delegierten aus dem Westen nach Washington angeführt, außerdem der Vorteil, Kongresse mit ihrem Bildungseffekt und ihrer Publizität auch in anderen Teilen des Landes abhalten zu können. Aber Miss Anthony sah die Gefahr einer Unterbrechung des ständigen Drucks, den die alte NWSA auf das Bundesparlament ausgeübt hatte, und gab während der Debatte ihren Vorsitz auf, um aus dem Publikum gegen den Vorschlag zu sprechen: »Das einzige Ziel dieser Organisation, so scheint mir, ist, daß alle Bundesstaaten gemeinsam den Kongreß in Washington beeinflussen, eine bundesweite Gesetzgebung zu erlassen. Im selben Moment, wo ihr den Zweck dieser großen Körperschaft von bundesweiter auf einzelstaatliche Arbeit verlagert, verurteilt ihr dieses Ziel zum Scheitern. Aufgabe der einzelnen Staaten ist die regionale Arbeit, die Öffentlichkeitsarbeit und die Ermöglichung einer nationalen Organisation, um von hier aus die vereinte Macht in die Hauptstadt zu tragen und auf den Kongreß zu richten . . . Ich werde es als schweren Fehler betrachten, wenn ihr für eine rotierende Jahresversammlung stimmt. Das wird unseren Einfluß und unsere Macht schwächen.«[4] Es ging um die alte Streitfrage: einzelstaatliches oder bundesweites Vorgehen als bester Weg zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts. Miss Anthony bestand weiter auf dem Punkt, allerdings ohne Erfolg. 1899 schrieb sie einer ihrer vertrautesten jungen Helferinnen:
»Der entscheidende Grund dafür, unsere Versammlungen in Washington abzuhalten . . . , liegt darin, Anhörungen vor den Kongreßausschüssen zu erzwingen und ihnen Frauen, die die einzelnen Staaten des Bundes vertreten, persönlich vorzusetzen. Wenn wir nicht wünschten, daß der Kongreß einen Verfassungszusatz erläßt, brauchten wir tatsächlich nur die unterschiedlichen Kosten für Delegierte, Säle, Hotels und die Teilnehmerzahl zu berücksichtigen. Ich vermute jedoch, daß es unmöglich sein wird, einer größeren Zahl unserer jungen Frauen verständlich zu machen, von welch weitreichender Bedeutung unsere Anhörungen vor den Ausschüssen, die Veröffentlichung der Reden durch die Regierung und ihre portofreie Versendung an unsere Freunde in den verschiedenen Bundesstaaten sind. Ich habe immer geglaubt - und nie stärker als jetzt -, daß die erzieherische Wirkung dieser Anhörungen weiter reichte und in den ländlichen Regionen mindestens so viel bewirkte wie die Versammlungen dort.«[5]
Die Ereignisse bestätigten Miss Anthonys schlimmste Befürchtungen. Obwohl während der Jahre, in denen die NAWSA sich außerhalb von Washington versammelte, formelle Anhörungen stattfanden, erhielt die Gesetzesvorlage in keinem der beiden Häuser nach 1893 einen zustimmenden Ausschußbericht. Alles in allem verschwand der Wahlrechtszusatz zur Bundesverfassung bis 1913 von der politischen Bühne.[6]
Der alternative Weg zum Frauenwahlrecht, nämlich durch Verfassungsänderung in den einzelnen Bundesstaaten, erwies sich als nicht sehr vielversprechend, und im Verlauf der Jahre verlor er noch weiter an Wirksamkeit. Von 1870 bis 1910 fanden 480 Kampagnen in 33 Staaten statt, bloß um die Frage den Wählern zur Entscheidung vorzulegen, und nur 17 von ihnen führten tatsächlich zu einem Referendum. Außer dreien kamen alle Referenden in Staaten westlich des Mississippi zustande; von den anderen fand eines 1874 in Michigan statt und die übrigen zwei in den politisch unbedeutenden Staaten Rhode Island (1887) und New Hampshire (1902).[7] Nur zwei Referenden waren erfolgreich, in Colorado und Idaho, beides dünnbesiedelte Staaten, in denen der Sieg nur geringe Bedeutung für den Gewinn des Wahlrechts im übrigen Land hatte. Zwei weitere Staaten verstärkten den »Frauenwahlrechtsblock«, Wyoming 1890 und Utah 1896, und zwar durch ihre Aufnahme in die Vereinigten Staaten. Der Sieg in Colorado 1893 war wichtig, da es der erste Staat war, in dem männliche Wähler tatsächlich zu den Urnen gingen und den Frauen das Wahlrecht gaben; sowohl die Alkohol-Lobby wie die Parteiapparate wurden überrumpelt, da sie einen Sieg nicht für möglich hielten. In Idaho gab es 1896 nur eine kleine organisierte Opposition; hier war die Kampagne jedoch von Bedeutung als erstes Beispiel dafür, daß die Wahlrechtsagitation auf der Ebene von Wahlkreisen oder -distrikten betrieben wurde, eine Organisationsform, die ihre weiteste Entwicklung einundzwanzig Jahre später auf dem am härtesten umkämpften Schlachtfeld, New York, finden sollte und sich dort als entscheidender Faktor des Siegs erwies.[8] In beiden Fällen hatte Carrie Chapman Catt, deren Name 1896 noch recht unbekannt war, die Leitung übernommen.
Diesen unbedeutenden Siegen stand die endlose Folge von Kampagnen gegenüber, mit denen die staatlichen Gesetzgeber veranlaßt werden sollten, die Wahlrechtsfrage den Wählern vorzulegen; jede einzelne von ihnen brachte unermeßliche Arbeit und Ausgaben mit sich und eine nicht endenwollende Reihe von Niederlagen an den Wahlurnen. Jede Kampagne oder Abstimmung könnte als Beispiel dafür dienen, wie problematisch das Referendum als Waffe zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts war. Einige wenige Beispiele mögen genügen. Die Kampagne in Süd-Dakota im Jahr 1890 war eine der härtesten, die Wahlrechtsagitatorinnen je durchstanden: glühende Hitze während des ganzen Sommers, als die siebzigjährige Susan Anthony und der (bloß) fünfund-sechzigjährige Henry Blackwell durch den Staat reisten, und Eiseskälte während Mrs. Catts Reise im Herbst. Hinzu kamen primitive Unterkünfte und die großen Entfernungen, die die Sprecher zurücklegen mußten. Die Entscheidung der erst kürzlich vereinigten Wahlrechtsbewegung, bei der Kampagne mitzumachen, war abhängig gemacht worden von der Zusage von Unterstützung seitens der Farmer- und Arbeiterorganisationen. Doch mitten im Verlauf der Kampagne gründeten die Knights of Labor und der Farmerverband eine dritte Partei, die es ablehnte, sich mit dem kontroversen Gegenstand des Frauenwahlrechts zu belasten. Das Ergebnis war, nach einer mörderischen Kampagne, eine Niederlage mit einem Stimmenverhältnis von fast zwei zu eins. Unmittelbar danach wurde Mrs. Catt von Typhus ergriffen und starb beinahe daran, und als Miss Anthony zurück nach Rochester kam, bemerkte ihre Schwester Mary, daß sie ihr zum ersten Mal das Altern ansehe.[9]
Die Erfahrungen von 1894 mit dem Referendum in Kansas bestärkten Miss Anthonys tiefverwurzeltes Mißtrauen gegenüber dem »partiellen« Wahlrecht in Fragen von Schul- und Stadtverwaltung. Dieses hatten die Frauen von Kansas 1887 errungen, und der Erfolg wurde als Meilenstein des Fortschritts gefeiert. Die Schwierigkeit lag jedoch darin, daß sich die Frauen sofort einer politischen Partei anschlössen und sich von da ab in den Entscheidungen bezüglich der Wahlrechtstaktik und in anderen politischen Fragen nach ihr richten mußten. Mrs. Laura M. Johns, die fähige Vorsitzende des Wahlrechtsverbands in Kansas, wurde Vorsitzende des Frauenverbands der Republikanischen Partei und gab dem Drängen der Parteiführer nach, daß die Unterstützung der Wahlrechtsbewegung aus dem Parteiprogramm gestrichen werde: Damit wurden frühere Zusicherungen der Republikanischen Partei bezüglich des Frauenwahlrechts hinfällig. Ungeachtet des Zorns der nationalen Führung der Wahlrechtsbewegung standen die Frauen in Kansas zu ihrer Partei und nicht zu der Forderung nach ihrem Wahlrecht; sie besiegelten damit ihre Niederlage.[10]
Kein Staat im Osten, möglicherweise mit Ausnahme von Massachusetts, zeigte ein vergleichbares Interesse daran, Frauen das Wahlrecht zu verleihen. Aber auch das »Spott-Referendum« von 1895 in Massachusetts war, wie sein Name schon sagt, alles andere als ermutigend. In der Hoffnung, jene ewigen Wahlrechtsagitatoren, die nicht genug Unterstützung für das Frauenwahlrecht fanden, zu gewinnen und gleichzeitig die Frage ein für allemal zu regeln, beschloß das Parlament, der normalen Abstimmung jenes Jahres die über ein Referendum hinzuzufügen; diese sollte keineswegs bindend sein, sondern als ein Meinungsbild der Wählerschaft in dieser Frage dienen. Zusätzlich beschloß das Parlament eine besondere Liste für Frauen, die schon ihre lokalen Schulausschüsse wählen durften; auch diese Abstimmung war lediglich ein Mittel, die individuellen Interessen und Vorlieben zu erfassen.
Die Abstimmung ging entschieden negativ aus. Bezeichnenderweise lag die Gesamtzahl der Stimmabgaben in dieser Sache niedriger als diejenige für den Gouverneur und andere Fragen: von den mehr als 600 000 wahlberechtigten Frauen stimmten nur 23 000 ab. Außerdem bot dieses Rennen die Gelegenheit, die Antiwahlrechts-Opposition zu organisieren, die bekanntlich ihr Zentrum in Massachusetts hatte, und zwar in zwei Organisationen, den weiblichen und den männlichen »Antis«, und beide erhielten viel Publizität. Das Ergebnis war in jeder Hinsicht so niederschmetternd, daß es die Wahlrechtsanhänger in diesem Staat um mehr als ein Jahrzehnt zurückwarf.[11] Die Kampagne in Kalifornien, im Jahr 1896, war die bei weitem am besten organisierte unter allen, die die Frauen bisher erreicht hatten. Miss Mary Hay aus Indiana baute eine Wahlkreisorganisation in den größeren Städten auf und übernahm die Ansätze, die Mrs. Catt zuvor im gleichen Jahr in Idaho erprobt hatte; eine große Zahl im ganzen Land bekannter Sprecher trat auf, die breite Unterstützung in der Presse und eine formelle Absicherung durch die Populistische und die Republikanische Partei fanden, wenn auch die letztere in der Praxis unwirksam war.
Zum ersten Mal stellten wohlhabende Frauen wie Mrs. Leland Stanford und Mrs. William Randolph Hearst der Wahlrechtsbewegung erhebliche Summen zur Verfügung. Aber der größte Teil der Gelder kam immer noch aus bescheideneren Quellen, und Ida Husted Harper, Vorsitzende des kalifornischen Komittees für Wahlrechts-Öffentlichkeitsarbeit, schrieb:
»Für jeden Zuschuß von zwei Dollar gab es eine große Photographie von Miss Anthony und Miss Shaw, und viele arme Näherinnen und Wäscherinnen gaben ihren Beitrag in Raten von 25 Cent und kamen achtmal mit ihrem Scherflein. Oft, wenn es im Hauptquartier nicht einmal genug Geld für eine Briefmarke gab, klopfte es schüchtern an die Tür, eine ärmlich gekleidete Frau trat ein und sagte: >Ich habe diese Woche keinen Tee getrunken, damit ich euch dies Geld bringen kann.< Oder eine arme kleine Angestellte sagte: >Ich habe abends etwas feine Handarbeit gemacht und sie für diesen Dollar verkauft/ Manche Frau, die zehn Stunden am Tag schwer für ihren Lebensunterhalt arbeitete, kam spät abends ins Hauptquartier, um große Mengen von Rundschreiben zu falten und zu adressieren. Und es gab Lehrerinnen, Stenotypistinnen und andere Arbeiterinnen, die auf einen Wintermantel verzichteten und das Geld dafür dieser Befreiungsbewegung zukommen ließen.«[12]
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Die Niederlage war das Werk der Alkohol-Lobby, die sich gegen die gewaltige Bedrohung durch die Wahlrechtskampagne organisierte. Aus der gleichen Quelle erfahren wir:
»Zehn Tage vor der Wahl kam der entscheidende Schlag. Die Vertreter des Verbands der Spirituosenhändler versammelten sich in San Francisco und beschlossen, >die nötigen Schritte zur Wahrung ihrer Interessen zu unternehmen^ . . . Von diesem Augenblick an war das Schicksal des Verfassungszusatzes besiegelt. . . . Der folgende Brief, unterschrieben von den Großhandelsfirmen für alkoholische Getränke in San Francisco, wurde an Barbesitzer, Hotels, Drogisten und Lebensmittelhändler des Staats Kalifornien versandt: >Bei der Wahl am 3. November wird über den Verfassungszusatz Nr. 6, der den Frauen das Wahlrecht zuspricht, abgestimmt. Es liegt in Ihrem und unserem Interesse, gegen diesen Zusatz zu stimmen. Wir ersuchen sie dringend, mit allen Mitteln gegen ihn anzugehen und so abzustimmen, daß er zu Fall kommt. Nehmen Sie Kontakt zu Ihrem Geschäftskollegen auf und veranlassen Sie ihn zu gleichem Vorgehen«[13]
Die entscheidende Bedeutung solcher Taktiken wird deutlich, schlüsselt man die Endresultate nach Wahlbezirken auf. Der Verfassungszusatz wurde angenommen - außer in den Bezirken San Francisco und Alameda. Hier erhielt er 27 399 Nein-Stimmen mehr als Ja-Stimmen, während die Nein-Stimmen im gesamten Staat um 26 734 überwogen!
Wären nur 13 400 Stimmen anders ausgefallen, so hätte sich Kalifornien schon 1896, und nicht erst fünfzehn Jahre später, dem Wahlrechtsblock angeschlossen, und wegen der Größe und der raschen Entwicklung dieses Staats wäre dies dem Fortschritt der Wahlrechtssache überaus förderlich gewesen. Kein Wunder, daß Mrs. Catt und andere in den Spirituosen- und Brauereiinteressen den »verborgenen Feind« sahen. Erst als die Prohibition unmittelbar bevorstand, verringerte sich die Macht dieser Opposition. Das Jahr 1896 war, um eine weitere Formulierung von Mrs. Catt zu verwenden, noch nicht »die Stunde der Frauen«.