Die Entstehung einer Frauenwahlrechtsbewegung

Kap. II, 10 bis II, 13

Die Sklavenemanzipation hatte die Frage der Vergrößerung der Wählerschaft aufgeworfen. Wenn der Neger frei und Staatsbürger war, standen ihm auch die Wahlrechte des Staatsbürgers zu (wenn auch bald offensichtlich werden sollte, daß er sie im Süden ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen nicht ausüben konnte). Die Frauenführerinnen sahen, daß dieser Moment auch den Frauen das Wahlrecht bringen könnte.
Mrs. Stanton stand mit ihrem Glauben, daß Frauen ebenso wie die Männer ein angestammtes Recht zur Wahl hatten, nicht länger allein da. Die siebzehn Jahre von 1848 bis 1865 hatten weitreichende Veränderungen mit sich gebracht, die den vielen Frauenrechtskongressen, Reden, Artikeln und Pamphleten ebenso zu verdanken waren wie den Beiträgen der Frauen für die Kriegsanstrengungen im Norden und der Tatsache, daß immer mehr Lohnempfängerinnen unter ihnen waren. Mrs. Stanton hatte noch viel Mühe gehabt, Unterstützung für ihre epochemachende Resolution auf dem Seneca-Falls-Kongreß zu erhalten, die sich für die Bemühungen von Frauen um das Wahlrecht aussprach; inzwischen teilten viele ihre und Miss Anthonys Überzeugungen (obwohl es, wie sich herausstellte, längst nicht so viele waren, wie beide Frauen erwartet hatten).
Die Führerinnen der Frauenrechtsbewegung, die während des Bürgerkriegs ihre eigene Sache zurückgestellt hatten, waren überzeugt, daß, sowie der Frieden da war, ein dankbares Land, angespornt von der republikanischen Partei, sie belohnen würde. Noch immer waren sie so unerfahren in der Politik, daß sie das Ausmaß und die Vielschichtigkeit der Kräfte, die gegen sie angetreten waren, falsch einschätzten. Die Klagen von Konservativen, die den Untergang von Heim, Kirche und Staat voraussahen, wenn die Frauen wählen durften, waren sie zwar gewohnt, aber sie waren völlig unvorbereitet für den Widerstand von Seiten republikanischer Politiker. Letztere hatten nur noch Augen für den glücklichen Zufall von 2 Millionen potentiellen schwarzen Wählern im Süden und durchaus nicht die Absicht, diese durch einen unnötigen Sturm um das Frauenwahlrecht aufs Spiel zu setzen. Die Frauen hatten auch nicht damit gerechnet, daß die Abolitionisten nach langer, zuverlässiger Allianz ihre Sache in der Überzeugung fallenlassen würden, daß jetzt die »Stunde des Negers« geschlagen habe und nichts dazwischenkommen dürfe.
Was auf sie zukam, deutete sich zunächst dunkel im Wortlaut eines Vorschlags für den Vierzehnten Verfassungszusatz an, der im Frühsommer 1866 dem Kongreß vorgelegt wurde. Die problematische Stelle stand im zweiten Abschnitt, der die Absicherung des Wahlrechts und anderer Rechte für den befreiten Sklaven darstellte:
«Den verschiedenen Staaten sollen proportional ihrer jeweiligen Einwohnerzahl Vertreter zugeordnet werden, gezählt wird die Gesamtzahl der Einwohner in jedem Staat, nicht-steuerpflichtige Indianer ausgeschlossen. Wenn aber das Recht, bei jeder Wahl der Wahlmänner des Präsidenten und Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, der Kongreßabgeordneten, der Exekutive und der Richter des Staates oder der Mitglieder seiner Legislative die Stimme abzugeben, irgendeinem der männlichen Einwohner eines Staates, der über einundzwanzig Jahre alt und Bürger der Vereinigten Staaten ist, verweigert oder in irgendeiner Weise beschränkt wird, außer aufgrund der Teilnahme an einer Rebellion oder irgendeinem anderen Verbrechen, wird die Zahl der Vertreter entsprechend der Anzahl, die solche männlichen Bürger im Verhältnis zur Gesamtzahl der männlichen Bürger über einundzwanzig eines solchen Staates darstellen, reduziert werden.«
Frauen von Mrs. Stantons, Miss Anthonys und Miss Stones Scharfsinn waren natürlich entsetzt darüber, daß zum ersten Mal in der Verfassung das Wort »männlich« auftauchte. Daß es dreimal in dem Vorschlag auftrat, und zwar immer im Zusammenhang mit dem Begriff »Bürger«, führte zu einer Diskussion darüber, ob Frauen überhaupt Bürger der Vereinigten Staaten seien.
Zuvor war die Frage, ob sie wählen dürften oder nicht, als Angelegenheit der einzelnen Staaten betrachtet worden, ebenso wie ihre Eigentumsrechte, die Bedingungen von Ehe und Scheidung und ihre rechtliche Stellung. In den ersten Jahren nach der amerikanischen Revolution war das Recht der Frauen zu wählen lediglich durch die Annahme von Verfassungen durch einzelne Staaten explizit negiert worden, die das Wahlrecht auf weiße männliche Wähler bestimmter Eigentumskategorien beschränkten (bevor dies in New Jersey geschah, hatten Frauen in einigen Teilen des Staates tatsächlich gewählt). Das Wahlrecht war allmählich in einem Staat nach dem anderen erweitert worden, so daß es zunächst alle weißen Männer über einundzwanzig umfaßte, dann (im Norden und Westen) alle Männer.[1] Sollte der Vierzehnte Verfassungszusatz angenommen werden, würde eine weitere Verfassungsänderung nötig werden, um auch Frauen bei Bundeswahlen das Stimmrecht einzuräumen. Die erschreckende Aussicht auf eine Arbeit von herkulischen Ausmaßen tat sich vor den Frauenführerinnen auf; Mrs. Stan-ton war der Ansicht, daß mit der Ratifizierung des vorgeschlagenen Verfassungszusatzes das Frauenwahlrecht um ein Jahrhundert zurückgeworfen würde. (Sie lag nicht so falsch damit; es brauchte zwar nicht mehr hundert, aber immerhin noch sechzig Jahre.)
Sie und Miss Anthony waren maßlos entrüstet. Letztere schwor: »Ich werde eher diesen meinen rechten Arm abschneiden, als für das Stimmrecht des Negers zu arbeiten oder es zu fordern, ohne daß das Stimmrecht der Frauen eingeschlossen ist«.Mrs. Stanton machte abfällige Bemerkungen über »Sambo« und darüber, daß »Afrikaner, Chinesen und alle möglichen igno-ranten Ausländer, sowie sie nur den Fuß auf unseren Boden setzen«, wählen dürften. Sie warnte davor, daß die Fürsprache der Republikaner für das Wahlrecht von Männern »einen Antagonismus zwischen schwarzen Männern und allen Frauen schafft, der in fürchterlichen Übergriffen gegen Frauen vor allem in den Südstaaten gipfeln wird«***179.12.***
Sie hätte Frederick Douglass genau zuhören sollen (der ihr unerhörtes Plädoyer für das Stimmrecht der Frauen bei dem Kongreß von Seneca Falls so rückhaltlos unterstützt hatte), als er - in einer Rede im Frühjahr 1869 - zwischen der schlimmen Lage der befreiten Sklaven im Süden und der der Frauen einen Trennungsstrich zog:
»Wenn Frauen, weil sie Frauen sind, aus ihren Häusern gezerrt und an Laternenpfählen aufgeknüpft werden, wenn ihnen die Kinder aus den Armen gerissen und mit dem Kopf auf das Pflaster geschlagen werden, wenn sie in jedem Augenblick Objekt von Beleidigungen und Exzessen sind, wenn ihnen droht, daß ihnen das Haus über ihrem Kopf angezündet wird, wenn ihre Kinder keine Schule besuchen dürfen, dann erst haben sie ein dringendes Bedürfnis, das Stimmrecht zu erhalten.«
Als eine Stimme aus dem Publikum fragte »Gilt das etwa nicht für schwarze Frauen?«, antwortete Douglass heftig: »Ja, ja, ja; das gilt für die schwarze Frau, aber nicht, weil sie eine Frau ist, sondern weil sie schwarz ist.«[3] Frances Harper, die während der Nachkriegszeit den ganzen Süden bereiste, hatte die gleiche Haltung:
»Wenn die Frage sich um die Rasse drehte, ließ sie die geringere Frage des Geschlechts fallen. Die weißen Frauen dagegen behandeln alle nur das Geschlecht und geben der Rasse den kleineren Raum .. . Wenn die Nation nur eine einzige Frage erledigen könnte, sollte nach Frances Harper sich eine schwarze Frau nicht widersetzen, solange wenigstens die Männer ihrer Rasse durchsetzen könnten, was sie wollen.«
Es gab weiße Frauen, die mit Mrs. Harper übereinstimmten. Lucy Stone drängte zwar, daß der Wortlaut des Verfassungszusatzes geändert werden müßte, stimmte aber schließlich seiner Annahme zu, falls eine Änderung sich als unmöglich erwies: »Ich will dankbar in meiner Seele sein, wenn überhaupt irgendjemand aus der schrecklichen Hölle rauskommt.«[4] Auch andere, wie Julia Ward Howe, deren »Schlachthymne der Republik« Tausende von Soldaten in die Schlacht begleitet hatte, widersetzten sich jedem Versuch, den Gesetzesvorschlag zu ändern und damit seine Annahme zu gefährden. Zur Ehrenrettung so unversöhnlicher Frauen wie Mrs. Stanton, Miss Anthony und denen, die auf ihrer Seite standen, muß jedoch gesagt werden, daß sie glaubten, der Moment in der Geschichte, den einige »die Stunde des Negers« nannten, könnte ebenfalls die Stunde der Frau werden, und solch ein Moment werde ein ganzes Lebensalter lang nicht wiederkehren. Viele Faktoren waren im Spiel gewesen, um dieses beispiellose Interesse am allgemeinen Wahlrecht zu wecken: die anerkannten Leistungen der Frauen für die Sache der Union während des Krieges, die Emanzipation der Schwarzen, der Wiederaufbau des Südens, Volksabstimmungen in Kansas 1867 zur Frage des Wahlrechts von Frauen und Schwarzen und eine Verfassungsversammlung des Staates New York im selben Jahr, die die überkommene Verfassung des Bundesstaates überarbeitete. Jene, die dabeiblieben, die zwei Fragen des Wahlrechts für Frauen und für Schwarze zu verbinden, waren ehrlich überzeugt, daß sich beide unterstützen und nicht schaden würden. Aus einer historischen Perspektive betrachtet scheint im nachhinein ihr Optimismus nicht gerechtfertigt. Sklaverei und Lage der Neger waren fünfunddreißig Jahre lang eine brennende Frage der Nation gewesen; ihretwegen war ein Krieg geführt worden. Der Status der Frauen wurde noch längst nicht mit so tiefen Gefühlen behandelt, selbst von den Frauen nicht, mit Ausnahme einer noch relativ kleinen Gruppe. Die öffentliche Meinung im Kongreß und im ganzen Norden befaßte sich mit der Sicherung des Wahlrechts für die Schwarzen; sie war relativ uninterssiert daran, wie eine so umstrittene Maßnahme sich auf Frauen auswirken könnte. Mrs. Stanton, Miss Anthony und ihre Anhängerinnen hielten unerschüttert an ihren Ansichten fest und arbeiteten hart, um Petitionen gegen den Vierzehnten Zusatz beizubringen. Die ersten Anzeichen für einen Bruch innerhalb der Kräfte, die hinter der Forderung nach größeren Rechten für Frauen standen, wurden in den Versammlungen des Amerikanischen Gleichberechtigungsvereins deutlich, der am Ende des Krieges gegründet worden war, um die Interessen beider, der Schwarzen und der Frauen, voranzutreiben, dessen Schwerpunkt sich aber unter der Führung von Wendeil Philipps, Horace Greeley, Gerrit Smith und anderen auf die Durchsetzung des Vierzehnten Zusatzes um jeden Preis verlagerte.[5]
Die sich vertiefende Kluft rückte anläßlich der Volksabstimmungskampagne in Kansas 1867 in den Brennpunkt. Ein Vorschlag, der den Wählern des Staates gemacht wurde, wollte aus den Wahlrechtsbedingungen das Wort »männlich«, der andere wollte das Wort »Neger« streichen. Zum ersten Mal wurde das Frauenwahlrecht zu einem politischen Test, und die Frauenführerinnen investierten nicht nur ihre besten Kräfte, sondern suchten auch die Hilfe ihrer früheren Unterstützer zu gewinnen - weitgehend erfolglos. Das gilt vor allem für die liberalen Zeitungen des Ostens - Greeleys Tribüne, Philips Anti-Slavery Standard und Theodore Tiltons Independent, die alle eine breite Leserschaft in jenem Staat hatten und die alle bis zum letzten Moment, als Unterstützung bedeutungslos geworden war, schwiegen. Während des Frühjahrs 1867 versuchten Lucy Stone und ihr Mann Henry Blackwell einen Vorstoß. Nach und nach folgten ihnen Olympia Brown, eine der ersten weiblichen Geistlichen, die aus ihrer weit entfernten Gemeinde in Massachusetts gekommen war, Mrs. Stanton und Miss Anthony. Die ersten, die kamen, waren höchst optimistisch, obwohl sie sich den schwierigen Bedingungen des Grenzerlebens gegenüber fanden. Henry Blackwell schrieb an Freunde im Osten:
»Lucy und ich ziehen der Länge und Breite nach durch den ganzen Staat und reden jeden Tag irgendwo, manchmal zweimal, bringen täglich fünfundzwanzig bis fünfundvierzig Meilen hinter uns, mal in einer Kutsche, mal in einem offenen oder ungefederten Wagen. Wir klettern über Hügel und poltern Schluchten hinunter, durchwaten Bäche und setzen mit einer Fähre über Flüsse, rattern durch Kalksteinbrüche, kämpfen uns durch schlammigen Boden, schlagen uns durch gegen den Wind in den hochliegenden Prärien und reden vor den erstaunlichsten (und erstauntesten) Leuten in den außergewöhnlichsten Orten. Heute "nacht mag es ein Schul-Blockhaus sein, morgen eine Steinkirche, am nächsten Tag eine Lagerhalle mit Planken zum Sitzen, und an einem Ort hätten wir, wenn es nicht geregnet hätte, in einem noch unfertigen Gerichtsgebäude weitermachen sollen, vier Steinwände, aber keinerlei Dach.«[6]
Im September berichtete Susan Anthony aus Salina: »Wir kommen phantastisch voran. Letzte Nacht bestand unser Versammlungsort hier aus dem Rohbau einer Methodistenkirche, mit Seitenwänden und einem Dach und rohen Holzlatten zum Sitzen.«[7]
Transport, Nahrung und Unterbringung waren primitiv, selbst als der frühere Gouverneur des Staates mit Mrs. Stanton zusammen reiste. Manchmal durchwateten sie in schwärzester Finsternis so tiefe Ströme, daß Ex-Gouverneur Robinson, um die Furt zu finden, mit seinem weißen Hemd voranging, damit Mrs. Stanton, die die Zügel hielt, ihm folgen konnte. Für empfindliche Mägen aus dem Osten war die Nahrung ungenießbar - in Fett schwimmender Schinken, Kaffee ohne Milch und mit Sorghum anstelle von Zucker, und kaum Obst oder Gemüse. Die Redner versorgten sich mit Einkäufen in vereinzelten Siedlungen: getrockneter Hering, Kekse, Tee aus Ulmenrinde und Akazienharz.
Die Nächte waren ein endloser, erfolgloser Kampf gegen überwältigende Hindernisse, wie sie in Mrs. Stantons eindringlichen Memoiren am besten beschrieben werden, zum Beispiel daß »nach der allgemeinen Ansicht von Pionieren eine bestimmte Sorte von Insekten die Betten einer jungen Zivilisation notwendigerweise mit ihrem Besuch beehren muß«. Eines nachts versuchte sie, den Wanzen dadurch zu entgehen, daß sie in dem ungefederten Wagen schlief:
»Ich war gerade sanft eingeschlummert, als ein Chor von deutlichen Grunztönen und ein unregelmäßiges Rütteln am Wagen mir offenbarten, daß ich von diesen langnasi-gen, schwarzen Schweinen umzingelt war, die so berühmt sind für ihren Mut und ihre Hartnäckigkeit. Sie hatten entdeckt, daß die Eisenstufen des Wagens höchst befriedigende Kratzpfähle abgaben und so rangelten sie darum, wann jedes drankam. Dieses Kratzen zog Fliegen an. Achdumeinegüte! dachte ich, ich werde zerfressen sein, bevor der Morgen anbricht. Ich war todmüde und schläfrig, aber ich langte nach der Peitsche und schwang sie träge von Seite zu Seite; ich fand allerdings bald heraus, daß nur dauerhafte und höchst energische Peitschenhiebe sie einen Moment im Zaum halten konnten ... Es war eine traurige Nacht, und ich probierte nie wieder eine Kutsche aus, obwohl ich in vier Wänden ähnlich elende Erfahrungen gemacht habe.«[8]
Ein abgeklärter Beobachter konnte der Kampagne nur einen einzigen Ausgang vorhersagen, denn schließlich war Kansas ein republikanischer Staat. Die Frauen verloren, sie erhielten nur 9000 der insgesamt 30 000 Stimmen.
Überraschender noch war, daß das Wahlrecht für Schwarze, obwohl es von den Republikanern und der Reform-Presse unterstützt wurde, ebenfalls nicht durchkam, es errang nur 2000 Stimmen mehr. Die Frauen, die die Kampagne gemacht hatten, waren nicht so niedergeschlagen, wie sie es sicher gewesen wären, wenn sie gewußt hätten, daß der Kampf, den sie gerade hinter sich gebracht hatten, lediglich die erste von fünfundsechzig solcher Volksabstimmungskampagnen sein sollte, die zwischen 1867 und 1918 stattfanden.[9]
Der vierzehnte Zusatz zur Verfassung wurde im Juli 1868 ratifiziert. Sechs Monate später brachten die Radikalen Republikaner, die immer noch bestrebt waren, das Recht des befreiten Schwarzen zur Wahl zu garantieren, einen Fünfzehnten Zusatz in den Kongreß ein, der folgendermaßen lautete: »Das Recht der Bürger der Vereinigten Staaten zu wählen darf durch die Vereinigten Staaten oder irgendeinen einzelnen Bundesstaat nicht aus Gründen der Rasse, Farbe oder des früheren Standes der Leibeigenschaft abgesprochen oder beschränkt werden.«
Es wäre so einfach gewesen, argumentierten Mrs. Stanton und Miss Anthony, auch das Wort »Geschlecht« hinzuzufügen; sie übersahen, daß so ein Schritt den praktischen politischen Möglichkeiten noch immer weit voraus war. Was der Kongreß in Sachen Frauenwahlrecht für Ansichten vertrat, hatte sich 1866 während einer Debatte anläßlich eines Gesetzes über das Wahlrecht für Schwarze im District of Columbia gezeigt; Senator Cowan aus Pennsylvania hatte die Änderung vorgeschlagen, das Wort »männlich« zu streichen, was zur ersten Debatte über das Frauenwahlrecht im Senat führte.[10]
Befürworter des Frauenwahlrechts bezogen ihre nüchternen und vernünftigen Argumente aus der von Mrs. Stanton, Lucretia Mott und anderen Frauenführerinnen beschafften Munition. Ihre Widersacher gebrauchten dieselben emotionalen Argumente, die alle Debatten dieser Art bis 1919 kennzeichneten. Senator Williams aus dem jungen Staat Oregon (in dem es noch relativ wenig Aufruhr unter Frauen und überhaupt nur wenige Frauen gab) sagte:
»Sir, es ist gesagt worden, >die Hand, die die Wiege schaukelt, regiert die Welt<, und in diesem Ausdruck liegt ebensolche Wahrheit wie Schönheit. Frauen können in diesem Land aufgrund ihres hohen gesellschaftlichen Ansehens mehr Einfluß auf öffentliche Angelegenheiten ausüben, als sie mit dem Gebrauch des Wahlscheins erreichen könnten. Als Gott unsere Ur-Eltern im Garten Eden verheiratete, waren sie nach seiner Weisung >Bein von einem Bein und Fleisch von einem Fleisch<; und die ganze Regie-rungs- und Gesellschaftstheorie gründet auf der Annahme, ihre Interessen seien eins, ihre Beziehungen seien so innig und zärtlich, daß, was immer von Wohl für den einen ist, auch von Wohl für den anderen ist. . . Die Frau, die es unternimmt, ihr Geschlecht in eine entgegengesetzte Position zum Mann zu bringen, die es unternimmt, durch den Gebrauch von unabhängiger politischer Macht gegen den Mann zu kämpfen, drückt damit einen Geist aus, der, wenn es ihm gelänge, alle bis jetzt harmonischen Elemente der Gesellschaft in einen Kriegszustand versetzen und aus jedem Heim die Hölle auf Erden machen würde.«[11]
Senator Frelinghuysen aus New Jersey teilte seine Befürchtungen: »Mir scheint, daß der Gott unserer Rasse die Frauen Amerikas mit einer milderen und sanfteren Natur geprägt hat, die sie nicht nur zurückschrecken läßt, sondern sie unfähig macht angesichts der Unruhe und der Schlacht des öffentlichen Lebens. Sie haben einen höheren und heiligeren Auftrag. In der Privatsphäre wird der Charakter der künftigen Männer gebildet. Die Mission der Frauen liegt im Hause, wo sie mit ihrer schmeichelnden Sanftheit und ihrer Liebe die Leidenschaften der Männer besänftigen, die aus der Schlacht des Lebens zurückkommen, und nicht darin, daß sie selbst in den Wettbewerb eintreten, um Ol in die Flamme zu gießen ... Es wird ein trauriger Tag für dieses Land, wenn diese vestalischen Feuer der Liebe und der Frömmigkeit ausgelöscht werden.«[12]
Es verdient festgehalten zu werden, daß in den fünfzig folgenden Jahren keine rationale Berufung auf die Fakten eine Bresche in diese beiden Argumentationen aus dem Lager der Frauenwahlrechtsgegner schlagen konnte. Selbst als das Wahlrecht der Frauen Wirklichkeit wurde, sich langsam in einem Staat nach dem anderen durchsetzte, man glauben sollte, es sei selbst für Blinde einsichtig geworden, daß Frauen nicht gegen die Männer wählten, sondern mit sehr ähnlichen Stimmenverhältnissen wie die Männer entlang den Linien der Parteien, beschworen die Kohorten gegen das Frauenwahlrecht noch immer die gräßliche Vision eines gegen »den Mann« angetretenen Amazonengeschlechts. Ähnlich ließen sie auch nicht einen Moment lang gelten, daß es eine beträchtliche Anzahl alleinstehender Frauen gab, die entweder verwitwet, vielleicht geschieden oder schlicht unverheiratet waren, denen die Beschützer und Verteidiger fehlten, deren ihre verheirateten Schwestern sich erfreuen durften, und die es womöglich nötig gehabt hätten, sich um ihre eigenen Interessen zu kümmern. So etwas konnten sie nicht zugeben, denn die gesamte Grundlage, auf der sich ihre Philosophie erhob, bestand darin, daß Frauen nicht wählen oder ein Amt bekleiden sollten, weil sie es nicht könnten. Hier wurde ebenfalls der lebendige Beweis des Gegenteils in der zunehmenden Zahl von Staaten, die den Frauen das Wahlrecht gaben, entweder ignoriert oder willkürlich verzerrt.
Die Entscheidung im Senat über den Änderungsantrag im District of Columbia ergab nur neun Stimmen zugunsten der Ausdehnung des Wahlrechts auf Frauen bei siebenunddreißig Gegenstimmen.[13] Es war klar, daß noch eine riesige Arbeit geleistet werden mußte, bevor die Gesinnung zugunsten des Frauenwahlrechts ebenso stark war wie die, die das Wahlrecht für Schwarze befürwortet hatte.
Die Freunde der Frauenfrage im Kongreß waren Realisten. Da wenig Hoffnung auf die Änderung oder die Ablehnung des Fünfzehnten Verfassungszusatzes bestand, taten sie stattdessen alles, um das Thema Frauenwahlrecht durch Schritte in Richtung auf einen bundesweiten Verfassungszusatz wachzuhalten. Die Ehre, der erste gewesen zu sein, der eine solche Gesetzgebung lancierte, gebührt Senator S. C. Pomeroy aus Kansas, der seinen Gesetzesantrag im Dezember 1868 einbrachte; ihm folgte der Abgeordnete George W. Julian aus Indiana, der beiden Häusern im März 1869 eine gemeinsame Resolution vorschlug.[14]
Noch bevor der Fünfzehnte Zusatz die Kluft zwischen den zwei Lagern der Frauenbewegung zu vertiefen begonnen hatte, hatten Mrs. Stanton und Miss Anthony einen neuen Freund gewonnen. Wie die Abolitionisten der früheren Zeiten stellten sie nur eine Frage an Leute, die sie unterstützen wollten: wo standen sie bezüglich der Frauenrechte? Daraus ergaben sich einige seltsame Bündnisse, die ihnen reichlichen Zorn der älteren Anhänger zuzogen. Nichts provozierte einen lauteren Aufschrei als ihre kurze, aber lebhafte Verbindung mit George Francis Train - Finanzier, Spekulant, Gegner der alten Goldwährung, Demokrat und angeblich ehemaliger Copperhead. Train war gewiß einer der Exzentriker seiner Zeit - ein Mann, der sich wie ein Dandy kleidete, aber niemals trank, rauchte oder Kautabak nahm, im Besitz von scheinbar unbegrenztem Reichtum war, von dem er einen Teil durch die Organisation des Credit Mobilier erworben hatte (wenn er auch ausstieg, bevor der Skandal ausbrach, und nie darin verwickelt war), ein Vertreter der Freiheit für Irland, des Acht-Stunden-Tages und - der Frauenrechte! Er war ein vollendeter Redner und schloß sich Mrs. Stanton und Miss Anthony während ihrer Kampagne in Kansas an: ein Vertrauensbeweis, den sie im Gegensatz zum Schweigen ihrer einstigen Freunde sehr zu schätzen wußten. Scheinbar ganz nebenbei fragte Train Miss Anthony eines Tages, warum sie und ihre Freundinnen keine Zeitung hätten, durch die sie ihre Sache propagandistisch verbreiten konnten. Als sie die selbstverständliche Antwort gab, bemerkte er: »Ich werde Ihnen eine verschaffen«. In Junction City (Kansas) kündigte er im Laufe einer Versammlung am selben Abend einem überraschten Publikum (gar nicht zu sprechen von Miss Anthony selbst) an, daß letztere bei ihrer Rückkehr nach New York gemeinsam mit Mrs. Stanton eine Zeitung namens The Revolution starten würden - Subskriptionspreis 2 Dollar, mit dem Motto: »Männern ihre Rechte und nichts mehr; Frauen ihre Rechte und nichts weniger!«
n Eine Zeitung buchstäblich auf dem Silbertablett serviert zu bekommen, war ein Wunder, das Susan B. Anthony und Elizabeth Cady Stanton ihre Augen vor jeder von Trains Idiosynkrasien verschließen ließ. Außerdem steigerte er seine Wohltaten sofort nach der Niederlage von Kansas noch durch die Finanzierung einer Vortragsreise zurück in den Osten; sie bestand aus einer Reihe von öffentlichen Kundgebungen in den großen Städten, wo die zwei Frauen für ihre Sache stritten, während Train alle routinemäßigen Vorkehrungen traf- und die Rechnungen bezahlte.
Einen Monat nach ihrer Ankunft in New York war die Revolution mit dem Datum vom 8. Januar 1868 an allen Kiosken. Ein weiterer Förderer hatte sich Train angeschlossen - David Melliss, Finanzchef der New York World, und das war gut so. Es war nämlich wiederum typisch für Train, daß er fast unmittelbar, nachdem er die beiden Frauen in nagelneue Karrieren hineinkatapultiert hatte, ins Ausland fuhr, und den größten Teil des folgenden Jahres in einem britischen Gefängnis zubrachte. Er schrieb höchst farbige Artikel über die Fenier-Bewegung und die Währungsfrage, welche The Revolution getreulich druckte; währenddessen blieben Mr. Melliss, dessen Finanzquellen langsam versiegten, und Miss Anthony, die die Pflichten einer Herausgeberin und Verkaufsleiterin hatte, zurück mit einer schuldenbelade-nen Zeitung.
Die sechzehnseitige Wochenzeitung, kleiner als heutige Boulevardblättchen, leistete einen Beitrag zur Sache der Frauen, der durchaus nicht ihrem geringen Umfang, ihrer kurzen Lebensdauer und ihrer bescheidenen Verbreitung entsprach. Vor allem während des ersten Erscheinungsjahres unter Mrs. Stantons ideenreicher Chefredaktion (sie teilte ihre Aufgabe mit dem Reformveteranen Parker Pillsbury) war die Zeitung ein lebendiger Spiegel für den Zustand und die Kämpfe von Frauen an vielen Fronten. Hier standen die Nachrichten, die sonst nirgends zu finden waren - über die Organisation der Schriftsetzerinnen, Schneiderinnen und Wäschearbeiterinnen, über die ersten Frauenclubs, über Pionierinnen in den qualifizierten und gelehrten Berufen, über Frauen im Ausland.
Aber die Revolution tat mehr als nur Nachrichten zu verbreiten oder für Zeitungen von und für Frauen einen neuen Maßstab zu setzen. Sie gab ihrer Bewegung ein Forum, einen Brennpunkt und eine Richtung. Sie setzte Akzente, führte an und kämpfte mit Energie und Schwung. Ihre Leitartikel und Editoriais zogen her über die Diskriminierung bei Anstellungen und Löhnen, über die Ungerechtigkeiten der Scheidungsprozedur, über das von den etablierten Religionen gehegte abfällige Bild der Frau ebenso wie über die Ungerechtigkeit des Vierzehnten und Fünfzehnten Verfassungszusatzes. Sie ermunterte Frauen, sich dafür zu rüsten, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen; sie regte zur Körperhygiene durch frische Luft, bei der Kleidung und mittels Leibesübungen an; und sie zog für das Frauenwahlrecht als Fundament aller Gleichheit ins Feld. Sie nahm selbst Partei für jene unglücklichen Frauen, die in einige der finsteren Kriminalfälle jener Zeit verwickelt waren, und behandelte mit einer Offenheit, der eine Margaret Füller applaudiert hätte, so explosive Themen wie die Doppelmoral und Prostitution.
Der Bruch der Frauenbewegung erfolgte im Mai 1869. Eine im Januar einberufene Konferenz, welche die Frage des Frauenwahlrechts und nur diese diskutieren sollte, hatte Mrs. Stanton zum Anlaß genommen, einen Zusatz zur Verfassung bezüglich des Frauenwahlrechts zu fordern. Der Gleichberechtigungsverein (Equal Rights Association, ERA) brach über diesem Punkt vollständig auseinander, und unmittelbar nach der jährlichen ERA-Versammlung in New York organisierten Mrs. Stanton und Miss Anthony mit einer Schnelligkeit und Heimlichkeit, die einem Staatsstreich angemessen war, den Nationalen Frauenwahlrechts-Verein (National Wo-man Suffrage Association), der nur Frauen offenstand. Sie taten das in der Überzeugung, daß es weitgehend an der Vorherrschaft der Männer im Gleichberechtigungsverein gelegen hatte, daß die Fraueninteressen so verraten worden waren, und daß die Frauen, die sich nach der Führung der Männer richteten - Mrs. Stone, Mrs. Howe und andere - von jenen irregeleitet oder getäuscht worden waren. Sie ließen jede Frau, die für das Frauenwahlrecht war, in den neuen Verein, aber tatsächlich traten nur solche bei, die bereit waren, der kompromißlosen Politik seiner Führerinnen zu folgen.
Im November 1869 wurde in Cleveland eine zweite Organisation ins Leben gerufen, die sich Amerikanischer Frauenwahlrechts-Verein (American Wo-man Suffrage Association) nannte. (Der Kürze halber sollen diese beiden Gruppen im folgenden mit NWSA und AWSA bezeichnet werden.) Da sie danach trachtete, alle unerwünschten Mitglieder draußenzuhalten, war die AWSA nach dem Delegiertenprinzip organisiert. Bei den Jahrestreffen hatten nur Vertreter »anerkannter« Frauenwahlrechts-Organisationen einen Sitz; das war eine neue Entwicklung, denn bis dahin hatten die Frauen-»Kongresse« alle Frauen, die kamen und sprechen wollten, zugelassen und ihnen das Rederecht erteilt.[15]
Zunächst versuchte Susan Anthony, mit dem neuen Verein zu arbeiten, aber es sollten noch weitere Spaltungen folgen. Bald zeichnete sich ab, daß die AWSA ebenfalls ihre eigene Zeitung haben würde. Am 8. Januar 1870 - dem Jahrestag der Gründung der Revolution - erschien das in Boston herausgegebene Womans Journal. Hübsch aufgemacht, angemessen finanziert durch eine Aktienkapital-Gesellschaft und einige riesige Wohltätigkeitsbasare, zog das Journal unter der konservativen Redaktion von Mrs. Stone, Mrs. Blackwell und Mrs. Mary Livermore (die ihre eigene Chicagoer Zeitung The Agitator zugunsten des neuen Abenteuers aufgegeben hatte), als Förderinnen und Leserinnen die rasch wachsende Zahl von Frauen an sich, die in die größere gesellschaftliche Freiheit und die vielfältigen Aktivitäten der siebziger Jahre hineinwachsen sollten - Frauen aus Clubs, aus qualifizierten und gelehrten Berufen und Schriftstellerinnen. Das Woman's Journal war Sprachrohr dieser Gruppe von Frauen, von denen viele noch nicht soweit waren, für die Sache des Frauenwahlrechts entschieden Partei zu ergreifen, während die Revolution ihrerseits für die und zu der ausgebeuteten Arbeiterin oder gesellschaftlichen Außenseiterin sprach.
Es bestand kein Zweifel, welche von den beiden Zeitungen überleben würde. Miss Anthony hatte die ihre nahezu zweieinhalb Jahre lang trotz wachsender Schuldenberge halten können, indem sie um jeden einzelnen Anzeigenkunden, Abonnenten und Förderer gerungen hatte. Aber das Gelände war zu eng für mehr als eine Zeitung dieser Art, und die Revolution ging im Mai 1870 ein.
Mit Ausnahme zweier gescheiterter Versöhnungsversuche operierten die beiden Wahlrechtsvereine zwanzig Jahre unabhängig voneinander. Manche, die es wissen müßten, haben sich, um Gründe für den Bruch zwischen einst so vereinten und für dieselben Grundsätze kämpfenden Frauen zu finden, mit Mystifikationen beholfen; dabei scheinen diese Gründe doch ganz einfach zu sein. Sie lagen in äußerst gegensätzlichen gesellschaftlichen Standpunkten - die nicht in der Frage auseinanderklafften, ob Frauen wählen sollten, sondern in der Frage, wie dieses Ziel erreicht werden könne. Die AWSA glaubte, es nur dadurch erreichen zu können, daß sie Problemen aus dem Weg ging, die für das Wahlrecht irrelevant waren und bei denen damit zu rechnen war, daß sie die Unterstützung einflußreicher Teile der Gesellschaft gefährdeten. Ihre Führerinnen hatten kein Interesse an der Organisation von Arbeiterinnen, an einer Kritik der Kirche oder an der Scheidungsfrage, jedenfalls nicht in öffentlicher Diskussion. Die Grundforderung nach einem Verfassungszusatz für das bundesweite Frauenwahlrecht befürworteten sie zwar verbal, konzentrierten ihre praktische Arbeit aber auf das Wahlrecht in den einzelnen Bundesstaaten.
Mrs. Stanton, Miss Anthony und ihre Anhängerinnen dagegen begriffen das Frauenrecht auch weiterhin als umfassende Sache, für die das Wahlrecht von hervorragender Bedeutung sein mochte, aber für die auch andere Angelegenheiten wichtig waren. Ihre offene Haltung gegenüber Problemen und Bündnissen brachte sie noch mehr als einmal in ähnliche Klemmen wie bei der Train-Episode. Die unglücklichste von allen war ihre kurze Liaison mit der berüchtigten Victoria Woodhull und deren Schwester Tennessee Claflin. Mrs. Woodhull, eine schöne und geistreiche Frau, verfocht in ihrer Zeitung Woodhull & Claflin 's Weekly die Rechte der Frau ebenso wie freie Liebe, Spiritismus und Quacksalberei. Die Schwestern hatten die Konvention des weiteren dadurch gröblich verletzt, daß sie unter den Fittichen von Cornelius Vanderbilt, dem großen Industriekapitän selbst, ein hübsches Vermögen auf dem Börsenmarkt erwarben. Mrs. Woodhull, die sich noch längst nicht damit zufriedengab, daß sie durch die Gründung ihrer eigenen Maklerfirma Woodhull, Claflin & Co. in die Wall Street, bis dato Heiligtum der Männer, eingedrungen war, forderte als nächstes das Wahlrecht in einer gelungenen Rede vor einem Kongreßausschuß am 11. Januar 1871.[16] Sie machte jedoch einen schweren Fehler im folgenden Jahr, als sie versuchte, die NWSA zu übernehmen, um sie in den Dienst ihres eigenen politischen Ehrgeizes zu stellen. Miss Anthony vereitelte den Plan; Mrs. Woodhull und ihre Anhängerinnen zogen sich zurück und gründeten ihre eigene Gleichberechtigungspartei, die sie selbst als Kandidatin für die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten und den unglücklichen Frederick Douglass - ohne dessen Wissen - für die Vize-Präsidentschaft nominierte. Douglass wies die Nominierung zurück, und für Mrs. Woodhulls Kandidatur wurde kein weiterer Schritt mehr unternommen. Dieses Vorhaben war in der Tat bloß ein Zwischenfall in ihrer hektischen Karriere, und man ginge fehl, würde man ihm irgendwelche politische oder historische Bedeutung beimessen.[17]
Sie wurde breiter bekannt durch ihr Eintreten für die völlige sexuelle Freiheit, ihre Angriffe gegen die konventionelle Doppelmoral und ihre Verbindung zum Beecher-Tilton-Skandal. Im November 1871 berichtete ihre Zeitung über eine dauerhafte Liebesaffaire zwischen Henry Ward Beecher, Symbol liberaler Frömmigkeit, und Elizabeth Tilton, der Ehefrau des Herausgebers einer Reform-Zeitung, Theodore Tilton (beide Mitglieder in Bee-chers Gemeinde). Tilton zeigte Beecher später wegen Ehebruch an. Der Sensationsprozeß zog sich wochenlang in peinliche Länge, und die Geschworenen demonstrierten schließlich eine Uneinigkeit, die die Gespaltenheit der öffentlichen Meinung genau widerspiegelte.
Der Fall selbst und Mrs. Woodhulls Verbindung dazu taten der Sache der Frauenrechte keinen Dienst. Die Leute, die immer schon versucht hatten, größere Rechte für Frauen mit freier Liebe und lockeren Sitten in Zusammenhang zu bringen, zogen natürlich den größten Gewinn aus dem Beecher-Tilton-Skandal. Zwei Umstände kamen ihnen dabei zu Hilfe: zum einen war Beecher ehemals Präsident der AWSA gewesen, zum anderen hatten Mrs. Stanton und Miss Anthony beide sofort Partei für Mrs. Tilton ergriffen. Und sie ließen auch keine Gelegenheit aus, um in gedruckter Form oder in öffentlichen Reden aufzuzeigen, daß bei den geltenden gesellschaftlichen Sitten die Frau in einem solchen Fall unvermeidlich und prinzipiell das Opfer war und daß Mrs. Tilton nach dem geltenden Recht des Staates New York bei Gericht nicht einmal für sich aussagen durfte. Trotz ihrer Verbindung zu Beecher erlitt die AWSA weniger Prestigeverlust durch den Beecher-Tilton-Fall als die NWSA; sie stellte sich zwar hinter Mrs. Tilton, schenkte aber dem Fall im Woman 's Journal nur geringe Beachtung. Der Skandal warf auch keinesweg die Wahlrechtsfrage um viele Jahre zurück, wie behauptet wurde; er war zwar nicht unbedingt eine Hilfe, aber es gab viel zu viele andere Kräfte, die diese Sache vorantrieben, als daß dieser Fall anhaltende Wirkung gehabt hätte.
Die Spaltung der Wahlrechts-Front war ein Unglück; aber sie war unvermeidlich während der siebziger und achtziger Jahre, in einer Periode intensiver ökonomischer Entwicklung und Veränderung, während der sich inmitten von zunehmender Unruhe die gesellschaftlichen Kräfte polarisierten. Der Bruch sollte so lange weiterbestehen, bis die eine oder die andere Richtung - Respektabilität oder Radikalismus - die Oberhand erringen würde. In der Zwischenzeit wurden weitere Erfolge errungen, und auch in das letzte Feld, auf dem bisher noch keine Gewinne verbucht werden konnten - in das Gebiet der großen Politik -, sollte eine Bresche geschlagen werden.

Erste Siege im Westen

Es war kein Zufall, daß die erste Runde des politischen Kampfes, in dem Frauen das Wahlrecht gewannen, im Staat Kansas stattfand. Während der fünfziger Jahre, als sich Kansas noch in heftigem Umbruch befand, kamen viele Frauen mit ihren Männern aus Neuengland, um aus ihm »freien Boden« zu machen und brachten die von Margaret Füller und Lucy Stone gesäten Ideen mit sich. In dem Jahrzehnt nach dem Bürgerkrieg lag die Pionierzeit von Kansas erst zwanzig Jahre zurück; noch immer lag es in der Nähe der sich nach Westen verschiebenden Grenze.
Im Gefolge der Trapper und Entdecker, die die Wasserscheide des Kontinents zuerst überschritten, die Salzwüsten durchquerten und die Engpässe von Snake und Truckee durchdrangen, um die Küste zu erreichen, kamen die Siedler: die Goldsucher, die Siedler, die Landhungrigen, die Träumer, die Gesetzesbrecher. Fast von Anfang an waren Frauen dabei, durch die zweitausend Meilen lange Reise so endgültig abgeschnitten von Heimat, Familie und Freunden, als hätten sie zwei Jahrhunderte vorher den Atlantik überquert.[1]
Im günstigsten Fall war die Reise ein Glücksspiel, nicht nur für die Männer, die die Wege bahnten, Wasser suchten, verirrtes Vieh einfingen und Krieg gegen die Indianer führten, die dem Einbruch in ihr Land Widerstand entgegensetzten, sondern auch für die mit ihnen ziehenden Frauen: »Wir mußten ein paar schreckliche Orte durchqueren«, heißt es in einem Tagebuch aus dem Jahr 1838. »Wir ritten entlang an bröckligen Berghängen, wo bei jedem Schritt die lose Erde unter den Hufen unserer Pferde wegrutschte . . . Mein Pferd stürzte und warf mich über seinen Kopf. Hat mich nicht verletzt... Habe das Lager um halb fünf morgens nach einer schlaflosen Nacht mit Zahnschmerzen verlassen.«[2]
An solchen Erfahrungen war nichts Ungewöhnliches, ebenso wenig wie an den Erfahrungen der Frauen, die die großen Planwagen führten, trotz Hunger und Erschöpfung Kinder gebaren, einander pflegten und häufig auch den vielfältigen Gefahren der Wegstrecken nach Oregon und Kalifornien zum Opfer fielen. Viele Frauen waren dabei, als bei der berüchtigsten aller Treck-Katastrophen der Donner-Zug, der nach Kalifornien unterwegs war, im Winter 1846/7 in den Schneewehen der hohen Sierra steckenblieb; einige überlebten die Schrecken der Kälte, des Hungers und sogar des Kannibalismus.[3] Zu den ersten Missionaren, die ausgeschickt wurden, um die sich widersetzenden Indianerstämme am Nordwest-Pazifik zu bekehren, gehörten viele Frauen, die in den offenen Ebenen des Mittelwestens oder in Neuengland, dessen Farmen nach zweihundert Jahren Besiedlung zu einer freundlichen Landschaft geworden waren, aufgewachsen waren; ihr neues Heim sollten primitive Hütten inmitten einer Umgebung sein, die vielleicht erhaben, aber auch erschreckend war.
Wie die frühen Siedler im Osten so sahen auch diejenigen, die eine Zukunft im Westen aufbauen wollten, daß es notwendig war, Männer zur Heirat und zur Errichtung einer Farm zu ermutigen und Frauen zur Reise aus dem Osten zu überreden. Ein Mittel dafür war das Landvergabegesetz von Oregon aus dem Jahr 1850, das Eheleuten eine Quadratmeile Land überließ (wobei die Ehefrau ihren Anteil als eigenen, getrennten Besitz behandeln konnte); einer alleinstehenden Frau stand eine halbe Quadratmeile zu. Die Siedler brachten ein Vermächtnis von Wertvorstellungen mit, die sich noch in einem Zustand des Umbruchs und der Veränderung befanden. Vorherrschende Anschauung war, daß Frauen aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Beschränkungen für eine untergeordnete Existenz hauptsächlich im Haus bestimmt waren. Diese Ansicht wurde durch die Agitation und Bildung, die im Osten bereits im Schwange gewesen waren, und durch die Realitäten des Grenzerlebens ins Wanken gebracht, denn die an beide Geschlechter gestellten Anforderungen des Überlebenskampfes waren dem Gedanken, daß Frauen geschützt und beherrscht werden müßten, durchaus nicht förderlich. Außerdem gewannen die Frauen an Prestige aufgrund ihrer geringen Zahl: 1865 kamen in Kalifornien auf eine Frau drei und im Territorium von Washington (ohne die späteren Staaten Oregon und Idaho) vier Männer, in Nevada acht, und in Colorado war die Relation sogar zwanzig zu eins.[4] Spätere Schriftsteller haben zum großen Teil den komischen Aspekt dieser Situation beschrieben, aber sie hatte auch sehr reale soziologische und politische Auswirkungen.
Die Geschichtsschreibung des Westens behandelte meist seine heroischen Aspekte: die Romantik der Entdeckung und Erforschung, die bei aller Mühsal doch den Männern, die durchhielten und überlebten, auch Belohnungen ganz eigener Art brachte. Eine Würdigung der Rolle der Frauen in diesem historischen Prozeß müßte ganz andere Mühen und, falls dies das richtige Wort dafür ist, Befriedigungen hervorheben.[5] Die Ehefrau des Missionars Elkanah Walker sammelte Felsproben, trocknete Pflanzen und stopfte Tiere aus, um ihren ruhelosen und eifrigen Geist zu beschäftigen; unter anderen Bedingungen wäre aus ihr eine hervorragende Naturwissenschaftlerin geworden. Statt dessen flössen ihre Energien weitgehend in andere Kanäle, wie ihr Tagebuch berichtet:
»Butter gestampft und einen Käse gemacht, dabei Lab aus dem Magen von Rehen benutzt . . . Finde, daß Bettwanzen sich bei uns einnisten; habe begonnen mit einem Ausrottungskrieg . . . Mrs. E.s. Haustür gestrichen. Möbel vor dem Anstreichen gewaschen und gesäubert. Sessel, Sofas und Stühle gestrichen. Sie sehen besser aus, als ich erwartet hatte.
24 Dutzend Kerzen gegossen. Gemolken. Käse gemacht. Gewaschen. Kochen, Schelten usw., wie üblich . . . Fensterrahmen gestrichen. War vier Tage beschäftigt, die Fenster fertigzukriegen. Unser Haus ist jetzt vollständig mit Glas ausgerüstet, obwohl ich erst noch 47 Glasscheiben, die mehr oder weniger beschädigt waren, neu einsetzen mußte.
Habe ein Paar Hosen für Cyrus aus den alten von seinem Vater gemacht, und froh bin ich, daß sie fertig sind, denn es macht mich krank, wenn ich an Schneidern denke . . .
Kinder und Fußböden geschrubbt, Haare geschnitten und genäht.«[6]
Mit einem der Wagentrecks kam 1852 ein siebzehnjähriges Mädchen nach Oregon, Abigail Scott Duniway, die den Kampf für das Frauenwahlrecht im Nordwesten anführen sollte und als über Siebzigjährige die Frauenwahl-rechts-Proklamation des Staates Oregon verfaßte, genau sechzig Jahre nach ihrer Ankunft im Gebiet von Oregon. Ihre Mutter war durch das Kindbett einige Monate, bevor die Familie ihr Heim in Illinois verließ, sehr geschwächt, und starb in den Black Hills von Dakota an Cholera, ein Umstand, den ihre Tochter nie vergaß. Als sie erwachsen und verheiratet war, lebte Mrs. Duniway nicht isoliert wie Mrs. Walker, sondern innerhalb einer Pioniergemeinde, was seine eigenen Probleme mit sich brachte: »Es war eine gastfreundliche Nachbarschaft vorwiegend aus Junggesellen, die sich der Bequemlichkeit halber zu den Essenszeiten in die Häuser der wenigen verheirateten Männer des Fleckens verfügten . . . Wenn ich nicht gerade am Waschen, Butterstampfen, Scheuern oder mit dem Baby beschäftigt war, hatte ich mit der Zubereitung des Essens für sie in unserer ans Haus angebauten Küche zu tun. Zwei Kinder in zweieinhalb Jahren seit meinem Hochzeitstag zur Welt zu bringen, Tausend Pfund Butter jährlich für den Markt zu stampfen, nicht eingeschlossen die, die wir selber in unserem Gratis-Hotel daheim verbrauchten, nähen und kochen und waschen und bügeln, backen und saubermachen und schmoren und braten, kurz gesagt, ein Pionier-Aschenbrödel zu sein, ohne jemals einen eigenen Pfennig zu besitzen, war kein angenehmer Job für eine einstmalige Lehrerin wie mich.«[7]
Mrs. Duniway lernte auch jene harte Wirklichkeit kennen, daß verheiratete Frauen zwar keine gesetzlichen Rechte für sich selbst hatten, gleichwohl aber für jede von ihrem Ehemann übernommene Verpflichtung mitverantwortlich waren; die Farm, in die sie ebensoviel Arbeit hineingesteckt hatte wie ihr Mann, ging verloren, weil er drei Wechsel für einen Freund gezeichnet hatte und sie dann einlösen mußte. Während der Jahre, in denen sie eine sechsköpfige Familie aufzog und auch versorgte (denn Mr. Duniway war durch einen Unfall behindert), mußte sie eine Vielzahl solcher bitterer Lektionen lernen; im Alter von sechsunddreißig Jahren war sie so weit, daß sie das Frauenwahlrecht zu ihrer Lebensaufgabe machte.
Nach dem Vorbild von Emily Pitts Stevens, die in San Francisco ihre eigene Zeitung, The Pioneer, herausgab, und den Reformerinnen im Osten mit ihren eigenen Zeitungen, brachte Mrs. Duniway 1871 in der Stadt Portland, die wie ein Pilz aus dem Boden geschossen war, eine eigene Zeitung, The New Northwest, auf den Markt. Sie war so allein wie es die Frauen daheim im Osten nach dem Kongreß von Seneca Falls nie gewesen waren; sie hatte keine Mitarbeiterinnen wie Miss Anthony oder Mrs. Stanton, die sie stärken konnten (obwohl ihre fünf Söhne und ihre Tochter nach der Schule immer als Hilfskräfte für ihre Zeitung zur Stelle waren und den Satz und andere Sachen erledigten). Die Geographie machte Probleme wie die Veranstaltung von Kongressen oder den Aufbau einer festen Organisation nahezu unüberwindlich, und die Leserinnen ihrer Zeitung waren über die vereinzelten Gemeinden eines riesigen Gebietes verstreut. Und doch gab sie sie bis 1887 heraus; ihre Artikel, die sie während ihrer Reisen durch den Nordwesten schrieb, sind eine lebendige Quelle für die Sozialgeschichte der Region und sind zugleich historische Dokumente aus dem Alltag der keimenden sozialen Bewegung für die Rechte der Frau.[8] Sie reiste zu jeder Jahreszeit buchstäblich Tausende von Meilen mit der Kutsche, mit dem Schiff die Flüsse entlang, und mit dem Schlitten, um überall dort zu sprechen, wo sich ein paar Frauen zusammenfanden, die sie hören wollten.
Trotz späterer kleiner Sünden - sie arbeitete mit den nationalen Führerinnen der Wahlrechtsbewegung niemals harmonisch zusammen (ausgenommen Miss Anthony), hatte vollständig andere Ansichten als jene über die Vorteile, die die Zusammenarbeit mit antialkoholischen Mäßigkeitsgruppen bringen könnte, und drohte sogar einmal, Anna Howard Shaw ins Gefängnis zu bringen, wenn sie ihren Fuß in den Staat Oregon setzen sollte! - blieb Abigail Scott Duniway die kühnste und unermüdlichste Suffragette, die die Staaten des Westens hervorgebracht haben.
Der erste Sieg für das Frauenwahlrecht auf dem amerikanischen Kontinent kam im Gegensatz zu späteren Gewinnen ganz leise, so leise, daß, solange die Schlacht dauerte, im Osten sehr wenig bekannt wurde über die Ereignisse, die ihn herbeiführten. Sein Ort war weder Kalifornien, das damals in den Wehen ungestümer Expansion lag, noch der Nordwesten, sondern das Territorium von Wyoming - ein kärglich besiedeltes Gebiet, wo die Hauptbeschäftigung in der Viehzucht bestand, mit einer Bevölkerung, die ein Bret Harte oder ein Mark Twain am besten hätte beschreiben können: Sie arbeitete hart, trank kräftig und schoß scharf. Die größte Siedlung war South Pass City, heute eine »Geisterstadt«, damals ein Schürferlager mit ständig fluktuierender Bevölkerung, wo 1867 reiche Goldvorkommen gefunden worden waren. Nahebei verlief die Hauptstrecke der nach Kalifornien und Oregon fahrenden Trecks.
Das Gebiet war eben dabei, eine Verwaltung aufzubauen, und war also noch unverstellt durch gesetzliche Hindernisse. Ob es nun Männer oder Frauen waren, und welche im einzelnen, die in dieser Situation die Gelegenheit nutzten, um Frauen das volle Bürgerrecht zu geben, wissen wir schlicht nicht mehr; neuere Forschungen brachten ernsthafte Zweifel daran, daß Mrs. Esther Morris die ihr lange Zeit zugeschriebene Rolle der »Mutter des Frauenwahlrechts von Wyoming« wirklich gespielt hat.[10] Der einzige direkte Beweis dafür, daß Mrs. Morris sich darum überhaupt kümmerte, ist ein Brief eines ihrer Söhne an die Revolution.[11] Edward M. Lee, ein Siedler aus Connecticut, beanspruchte für sich, das Gesetz entworfen und die Strategie geplant zu haben, mit der es das winzige Parlament (sechs zu zwei bei einer Enthaltung im Senat und sechs zu vier bei einer Enthaltung im Unterhaus) passierte.[12] Andere wesentliche Förderer des Frauenwahlrechts waren William H. Bright, ein Junggeselle, der dem Senat als Präsident vorstand, und der Gouverneur des Territoriums, John A. Campbell, den man ursprünglich der Opposition und eines möglichen Vetos gegen die Maßnahme verdächtigt hatte.
Aber Gouverneur Campbell hatte etwa zwanzig Jahre vorher während einer früheren Frauenrechtskonferenz in seinem Geburtsort Salem (Ohio), zu der kein Mann als Redner zugelassen worden war, auf den Hinterbänken gesessen und das erstaunliche Schauspiel beobachtet, wie Frauen ganz allein und für sich selbst eine solche Versammlung durchführten. Offensichtlich war diese Erinnerung tief in ihn eingedrungen. Nachdem er vier Tage, während denen das Gesetz auf seinem Schreibtisch lag, unschlüssig gewesen war, unterzeichnete er es schließlich.
Die Wahlen von 1870 und 1871 in Wyoming widerlegten alle Weissagungen einer Katastrophe. Frauen fielen nicht, wie prophezeit, in Horden über die Wahllokale her und brachten nicht die etablierte Ordnung durcheinander. Unsicherheit und Furcht hielten viele zurück, andere hatten schlicht kein Interesse daran, ihr neuerworbenes Recht auszuüben. Diejenigen, die es hatten, gingen unversehrt aus der Prüfung hervor. Ein neu im Staat angekommener Geistlicher aus Neuengland berichtete:
»Ich sah, wie die rüden Bergbewohner höchst respektvoll Anstand bewiesen, wenn sich Frauen den Wahllokalen näherten, und hörte, wie von Zeit zu Zeit einer der Wahlleiter einen entstehenden Streit mit erhobenem Zeigefinger warnend beschwichtigte, indem er sagte >Pst! Ruhig! Da kommt eine Frauk. Und ich war genötigt einzuräumen, daß ich in diesem neuen Land, das damals angeblich von Horden von Halsabschneidern, Herumtreibern und verwegenen Charakteren heimgesucht war, Zeuge einer stilleren Wahl wurde, als ich das Glück gehabt hatte, in den ruhigen Städten von Vermont zu sehen. Ich sah Damen in Begleitung von Ehemännern, Brüdern oder Geliebten zum Wahlort reiten, inmitten einer schweigenden Menge absitzen und durch eine offene Reihe zu den Wahlurnen gehen, wo sie ihre Stimmen abgaben und dabei auch nicht mehr Beleidigung oder Ehrabschneidung erfuhren, als sie bei einem Gang zum Kaufmann oder auf den Fleischmarkt zu erwarten hatten. Tatsächlich waren sie hier viel sicherer, jeder Mann ihrer Partei war eifrig bemüht, sie abzuschirmen, während jedes Mitglied der anderen Partei den Einfluß jedes Zeichens von Respektlosigkeit fürchtete.«[13]
Nicht nur, daß der Staat den Frauen die Kontrolle über ihren eigenen Besitz einräumte und sie als Lehrerinnen gegen Diskriminierung schützte - Wyoming erlebte noch eine weitere neue Entwicklung: Nachdem die Frauen einmal als Wahlberechtigte geführt wurden, erschienen ihre Namen auch auf den Listen der zu berufenden Geschworenen. Das war eine der fundamentalsten Forderungen, für die Frauen ihre Stimme erhoben hatten. Wie, so fragten sich Mrs. Stanton und andere, sollten Frauen jemals vor Gericht von ebenbürtigen Geschworenen beurteilt werden, solange die Geschworenen nur Männer waren?
Die Geschworenenfrage erregte einen sehr viel größeren Sturm, sowohl innerhalb wie außerhalb des Territoriums, als das Erscheinen von Frauen an den Wahlurnen; auf Ehemänner wurde ein solcher Druck ausgeübt, diesen neuen Vorstoß zu verbieten, daß »einige wutentbrannt erklärten, sie würden nie wieder mit ihren Ehefrauen leben, wenn diese an einem Schwurgericht teilnähmen«.[14] Als die Angelegenheit im Frühjahr 1870 vor dem Obersten Richter J. H. Howe im Stadtgericht von Laramie kam, erklärte dieser, es handele sich um eine Sache, die jede Frau für sich entscheiden müsse: sollten Frauen wünschen, im Hinblick auf Unannehmlichkeiten von ihrer Pflicht entbunden zu werden, würde er dies tun. Nur eine Frau zog zurück; alle anderen kamen ihrer Pflicht in vollem Umfang nach, und wenn wir einem zeitgenössischen Zeugnis glauben dürfen, so wurde jenes Schwurgericht »zu einem derartigen Schrecken aller Übeltäter, daß sich unter ihnen Panik breitmachte und viele den Staat für immer verließen«.[15] Esther Morris wurde in South Pass City zur Friedensrichterin gewählt: die erste weibliche Richterin, von der man weiß. Trotz der unvermeidlichen Versuche von Rowdies, sie von der Ausführung ihrer Pflichten abzuhalten, und des üblichen Geschreis der Zeitungen im Land wurde jedoch kein einziger der gut vierzig Fälle, die sie während ihrer achteinhalb Amtsmonate bearbeitete, von einer höheren Instanz angefochten.
Das benachbarte Territorium von Utah erließ das Frauenwahlrecht im Februar 1870, und einige Frauen nahmen an städtischen und Gemeidewah-len sogar schon teil, bevor ihre Schwestern in Wyoming ihr Vorrecht ausüben konnten. Warum ausgerechnet eine Gesellschaft von Mormonen ihren Frauen das Wahlrecht gab, ohne daß es irgendeine erkennbare Forderung danach von seiten der Frauen selbst gegeben hätte, ist eine Frage, die einiges Kopfzerbrechen macht. Mormonische Schriftsteller haben diese Tat interpretiert als logische Erweiterung der für den mormonischen Glauben grundlegenden egalitären Haltung gegenüber Frauen, die ihnen bereits seit der Entstehung des Mormonismus im Jahr 1830 Stimmrecht in Kirchenangelegenheiten gegeben hatte.[16] Sie sahen auch in der Vielheirat (Mormonen gebrauchen nie den Ausdruck »Polygamie«) nichts für die Würde von Frauen Abträgliches, sondern hielten sie gegenüber der von der Gemeinde der Christen stillschweigend akzeptierten »Doppelmoral« für weit überlegen. Zwar wurden auch im Dogma des mormonischen Glaubens Frauen aus der allmächtigen kirchlichen Hierarchie herausgehalten, die alle Aspekte des Mormonenlebens kontrollierte, aber sie waren zum überwiegenden Teil nicht die erbitterten und rebellischen Opfer der Polygamie, für die die Kritiker des Mormonismus sie hielten; die Wahrheit lag irgendwo in der Mitte. Außerdem war die Vielehe keine Standardpraxis; sie beschränkte sich notwendigerweise auf eine kleine Oberschicht von Männern - zwischen zwei und drei Prozent - die sich ökonomisch den Unterhalt mehrerer Ehefrauen leisten konnten.[17]
Für nicht-mormonische Schriftsteller mochten die Gründe dafür, daß die Frauen in Utah so früh das Wahlrecht bekamen, weniger in der mormonischen Ethik liegen als vielmehr im Wechselspiel anderer Kräfte. Brigham Youngs Vision eines blühenden Paradieses inmitten der Wildnis wurde von Washington her bedroht; diese Bedrohung drückte sich vorwiegend in der Opposition gegen die Polygamie aus, die zum Alibi dafür wurde, Utah den ersehnten Status als Bundesstaat und die Selbstverwaltung (Unabhängigkeit vom Eingreifen eines von der Bundesregierung ernannten Gebiets-Gouverneurs) zu verweigern.[18] Als im Winter 1869/70 dem Kongreß in Washington der Cullom-Gesetzesentwurf vorgelegt wurde, der Polygamie strafbar machte, sahen die Mormonen das Stimmrecht für Frauen in territorialen Angelegenheiten als Chance, ihre Hilfe gegen solche Eingriffe zu erlangen. Die Prostestversammlungen gegen den Cullom-Entwurf, die in jenem Winter von mormonischen Frauen abgehalten wurden, sind ein lebendiger Beweis dafür, wie aktiv und organisiert zumindest einige von ihnen bereits waren.[19] Das hatte sich zu einem Teil aus den Bedingungen des Grenzerlebens ergeben, verdankte sich aber in einigem Umfang auch der Tatsache, daß mormonische Ehefrauen bereits seit 1842, als das Zentrum der Mormonengemeinde noch in Nauvoo (Illinois) lag, in »Unterstützungsgesellschaften« organisiert waren. Diese Gesellschaften wurden in Utah wieder eingerichtet, und zwar ab 1867; sie übernahmen nicht nur die Pflege der Kranken und Bedürftigen in den verstreuten mormonischen Siedlungen, sondern später auch Planungsaufgaben des Mormonenstaats, wie Getreideschutz und Ansiedlung neuer Industrien.[20] Schließlich vereinigten sie sich in der Nationalen Unterstützungsgesellschaft der Frauen. Seit 1872 war ihr Organ der Woman's Exponent; er wurde jahrelang von Emmeline B. Wells, die mit den nationalen Frauenführerinnen bekannt war, herausgegeben.[21] Der Cullom-Entwurf kam zwar im Repräsentantenhaus, aber nicht im Senat durch. 1887 allerdings erließ der Kongreß das Edmunds-Tucker-Gesetz, das Vielehen für gesetzeswidrig erklärte; eine Klausel des Gesetzes widerrief außerdem das Frauenwahlrecht im Territorium von Utah. Die Frauen von Utah und Suffragetten aus anderen Gegenden argumentierten, daß die Maßnahme ungerecht sei, da sie auf der einen Seite den Frauen, aber nicht den Männern das Wahlrecht aufgrund des vorgeblichen Verbrechens der Vielehe aberkenne, und auf der anderen Seite alle Frauen gleichmäßig treffe, egal, ob sie mit Männern verheiratet sind, die die Vielehe praktizieren oder nicht. Das Gesetz war deshalb in seinen Auswirkungen ebenso ein Schlag gegen die Frauenwahlrechtsbewegung wie gegen die Mormonen. Trotzdem erhielten die Frauen von Utah das Wahlrecht erst 1896, nachdem die mormonische Kirche die Vielehe widerrufen hatte, zurück, als Utah den Status eines Bundesstaats unter einer Verfassung erhielt, die das Wahlrecht für Frauen vorsah.

Agitation für das Frauenwahlrecht

Während der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts zeigte die Frauenbewegung, obwohl klein und zerspalten, in der Frage des Wahlrechts eine bemerkenswerte Vitalität. Die Aktivitäten lassen sich in drei Kategorien fassen: Propagandaarbeit, juristische und politische Aktivität. Ein Jahrzehnt später waren die beiden ersten zugunsten der dritten aufgegeben worden, und diese umfaßte schließlich eine Vielfalt von Techniken: Organisation von Wahlrechtsvereinen in den einzelnen Bundesstaaten, Bildung der öffentlichen Meinung, Kampagnen in einzelnen Staaten für Volksbefragungen zum Frauenwahlrecht und weiterer Druck auf den Kongreß mit dem Ziel eines Zusatzes zur Bundesverfassung.
Die wahrscheinlich erste Demonstration für das Frauenwahlrecht fand in New Jersey statt, einem Staat, in dem eine solche Aktion ungewöhnliche historische Vorläufer hatte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Staaten verbot die bereits 1776 verabschiedete Verfassung von New Jersey den Frauen nicht explizit zu wählen, und so wählten sie gelegentlich, bis 1807 die Gesetzgeber das Wahlrecht einschränkten auf freie, weiße, männliche Bürger.'[1]Am 19. November 1868, einem Tag, an dem der Präsident der Vereinigten Staaten gewählt werden sollte, wurde die kleine Weinbauern-Gemeinde von Vineland im südlichen New Jersey Zeuge eines ungewöhnlichen Anblicks. Zu beiden Seiten des Podiums am einen Ende der Union Hall standen Tische, an denen Wahlrichter saßen - an einem Tisch Männer, am anderen Frauen. Den Tag über warfen sehr viele Frauen ihre »Stimmzettel« in die für sie aufgestellten Urnen (zuerst hatten sie sie in einen Topf zusammen mit denen der Männer werfen wollen, das war ihnen aber »höflich abgelehnt« worden). Auf der Frauenseite saßen alte Kämpferinnen wie Margaret Pryor, die in den vierziger Jahren Angriffe des Mobs gegen die Abolitionisten miterlebt hatte, als Abby Kelley Foster zum ersten Mal einen Vortrag gehalten hatte. Mit ihren vierundachtzig Jahren, heiter und mit dem Quäkerhut auf, wurde sie beschrieben als eine Frau mit »dem Geist, der Flexibilität und der Kraft einer Fünfunddreißigjährigen«. Eine Reporterin beschrieb die Szene in der Revolution:
»An Freunden und Förderern war kein Mangel. Männer ebenso wie Frauen schenkten uns das Licht ihrer Gunst und das Wohlwollen ihrer Seele. Das Podium war voll von eifrigen, feinen, gebildeten Frauen, die fühlten, daß es gut war, daß sie dort oben saßen. Ein schönes Mädchen sagte so, daß ich es hören konnte: >Ich fühle mich so viel stärker jetzt, wo ich gewählt habe.< ... Es war erfreulich, Ehemänner und Ehefrauen gemeinsam die Halle betreten zu sehen, nur, daß sie sich trennen mußten, um nach links bzw. nach rechts zu gehen, obwohl eine solche Trennung besser nicht stattgefunden hätte. Ein paar Frauen waren den ganzen Tag unterwegs, um ihre Freundinnen in die Halle zu holen. Junge Damen gingen nach der Stimmabgabe in die Häuser ihrer Bekannten und paßten auf die Babies auf, während jene zur Wahl gingen. Ob diese Tatsache die Sorge einiger Männer um die Sicherheit der Babies von wahlberechtigten Frauen am Wahltag wohl verringern wird?«[2]
Obwohl in glühenden Farben prophezeit worden war, daß keine fünf Frauen erscheinen und ihrem Wunsch nach dem Wahlrecht Ausdruck verleihen würden, waren nicht nur Kritiker, sondern auch Förderer verwirrt durch den Ausgang: 172 Frauen warfen ihre »Stimmzettel« ein, darunter vier schwarze. Die Revolution trug die Geschichte weit und breit unters Volk, und in den nächsten Jahren fanden noch mehr solcher Demonstrationen statt. Im schlimmsten Sturm des Winters 1870 gingen vierzig Frauen, angeführt von Angelina Grimke Weld und Sarah Grimke (letztere war fast achtzig), zu Fuß durch das Schneetreiben, um ihre Stimmzettel in einer separaten Urne zu hinterlegen.[3]
1871 und 1872 versuchten in zehn Staaten und im District of Columbia ungefähr 150 Frauen zu wählen. Im District of Columbia allein waren es fast siebzig; als sie damit keinen Erfolg hatten, versuchten sie, ihr Wahlrecht per Gerichtsbeschluß durchzusetzen, ebenfalls erfolglos. Hier und da gelang es einzelnen Frauen durchzusetzen, daß ihre Stimmen tatsächlich gezählt wurden: Marilla M. Ricker in Dover (New Hampshire), Mary Wilson in Battle Creek (Michigan), Nanette Gardner in Detroit.[4] Der berühmteste Gerichtsprozeß, in dem es um den Versuch, sich in die Wahlliste einzutragen und abzustimmen, ging, war der gegen Susan Anthony, die in Rochester (New York) eine Gruppe von sechzehn Frauen zur Eintragung und Abstimmung für die Präsidentenwahl von 1872 geführt hatte.[5]
Der Schritt dieser Frauen war durchaus nicht aus Leichtsinn erfolgt. Miss Anthony wußte aus dem Hinweis einer Zeitung in Rochester, daß »illegalen Wählern« ein Bußgeld bis zu 500 Dollar und eine mögliche Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren drohte. Eine ihrer Biographinnen, Katharine Anthony, wies darauf hin, daß die Gruppe schwerlich der bloßen Sensationsmacherei bezichtigt werden konnte: Einige waren brave Quäkerinnen, und alle waren nüchterne Hausfrauen; eine von ihnen, Rhoda DeGarmo, war während des unmittelbar nach Seneca Falls 1848 in Rochester abgehaltenen Frauenrechtskongresses Protokollführerin gewesen.[6]
Es war überaus typisch für Miss Anthony, daß sie, wo sie um die Möglichkeiten wußte, nichts dem Zufall überließ. Bevor die Gruppe zu den Wahlurnen ging, versicherte sie sich eines erstklassigen Rechtsbeistandes und versprach den Wahlinspektoren (die sie mit der Kraft ihrer Argumente davon überzeugt hatte, die Gruppe ins Wahlregister aufzunehmen), daß sie für alle Kosten aufkommen würde, wenn gegen sie rechtliche Schritte unternommen werden sollten!
Die republikanische Administration des Präsidenten Grant, mit der überall publik gemachten Tatsache konfrontiert, daß sechzehn Frauen aus Rochester die Bundesbehörden durch illegale Stimmabgabe beleidigt hatten, setzte alle Hebel in Bewegung, um ihre Verurteilung zu erwirken und hernach zu vermeiden, daß der Fall an das Oberste Bundesgericht weitergeleitet wurde. Aus Miss Anthony wurde natürlich der Testfall gemacht, sie sollte in einem Strafprozeß der »wissentlichen, fälschlichen und gesetzeswidrigen Abgabe ihrer Stimme für einen Repräsentanten des Kongresses der Vereinigten Staaten« angeklagt werden. In den Wochen vor dem Prozeß brachte sie ihren Fall direkt vor die Bürger (und zukünftigen Geschworenen!) des Monroe County, indem sie in jedem der neunundzwanzig Postbezirke des Kreises Reden hielt. Die Tournee zog so viel Aufmerksamkeit auf sich, daß der Staatsanwalt alarmiert wurde und den Umzug des Gerichts nach Canandaigua im benachbarten Ontario County erwirkte, wo der Prozeß für den 17. Juni 1873 festgesetzt wurde. Keineswegs entmutigt, brach Miss Anthony erneut auf und sprach während der kaum mehr als drei noch zur Verfügung stehenden Wochen in weiteren einundzwanzig Postbezirken des Ontario County, während ihre Freundin und Mitarbeiterin Mathilda Joslyn Gage in den anderen sechzehn redete.[7] Die Hauptlinie ihrer Verteidigung lag darin, daß sie, wenn sie in gutem Glauben wählte, da sie sich ja als gesetzlich dazu berechtigt erachtete, nicht einer kriminellen Tat oder Absicht für schuldig befunden werden konnte.
Vielleicht hatten ihre erstaunlichen Bemühungen Einfluß auf die unorthodoxen Verfahrensweisen, die der Vorsitzende Richter Ward Hunt während des Prozesses anwandte; er stand dem republikanischen Senator und Parteiboss Roscoe Conkling politisch nahe, hatte hier seinen ersten Fall und war eifrig bestrebt, ihm zu dem von der Administration gewünschten Ergebnis zu bringen. Auf jeden Fall war seine anmaßende Willkür verblüffend. Als der ehemalige Richter des Appellationsgerichts, Henry R. Seiden, der als Miss Anthonys Rechtsanwalt auftrat, beantragte, sie in eigener Sache in den Zeugenstand zu rufen, hielt die Staatsanwaltschaft dagegen, sie sei als Zeugin inkompetent, und der Richter gab dem statt. Auf der anderen Seite ließ das Gericht aber (gegen Seldens Einsprüche) eine Aussage zu, die Miss Anthony bei einer Anhörung durch den Wahlkommissar vor der Erstellung der Anklageschrift gemacht hatte, wie sich ein Gerichtsdiener erinnerte. Dazu kam, daß, obwohl bei Strafprozessen das Urteil der Geschworenen verbindlich ist, der Angeklagten auch dieses Recht faktisch verweigert wurde: Als Staatsanwaltschaft und Verteidigung die Beweisaufnahme abgeschlossen hatten, informierte Richter Hunt die Geschworenen darüber, daß es seiner Meinung nach »keine Zweifel für die Geschworenen geben könne und daß die Geschworenen angewiesen werden sollten, einen Schuldspruch zu fällen«. Dann, die Einsprüche des Rechtsanwalts verwerfend, verlas er eine (vor dem Prozeß verfaßte) Erklärung, die lautete:
»Die Frage ... ist insgesamt eine Frage des Gesetzes und ich habe in diesem Sinne erstens beschlossen, daß Miss Anthony durch den Vierzehnten Verfassungszusatz, den sie zu ihrem Schutz in Anspruch nimmt, nicht in ihrem Recht zu wählen geschützt wurde. Und ich habe ebenfalls beschlossen, daß ihre Überzeugung und der von ihr angenommene Rechtsbeistand sie bei der von ihr begangenen Tat nicht schützen. Wenn ich damit recht habe, muß das Ergebnis, zu dem Sie kommen, in einem Schuldspruch liegen, und ich weise Sie deshalb an, einen Schuldspruch zu fällen.«[8]
Das Gericht wies nicht nur Seldens Antrag auf die Einzelbefragung der Geschworenen, sondern auch sein Ersuchen um einen neuen Prozeß ab. An dieser Stelle scheint Richter Hunt gestolpert zu sein und einen taktischen Fehler begangen zu haben: Er fragte die Angeklagte, ob sie etwas dazu sagen wolle, warum die Verteidigung dem Urteil nicht Folge zu leisten gedachte. Natürlich wollte sie; Susan Anthony hielt Richter Hunt, den Geschworenen und dem brechend vollen Zuhörerraum trotz wiederholter Verweise des Richters, der bald merkte, was er da entfesselt hatte, eine flammende Anklagerede nicht nur gegen den Prozeß selbst, sondern gegen die Tatsache insgesamt, daß Frauen das Wahlrecht verweigert wurde. Als Richter Hunt sie schließlich zum Schweigen brachte und zu einem Bußgeld von 100 Dollar und den Gerichtskosten verurteilte (ein mildes Urteil), erklärte Miss Anthony prompt, daß sie niemals auch nur einen Dollar davon bezahlen würde. Wieder mißachtete Hunt die anerkannte Verfahrensordnung; er ordnete bewußt nicht an, daß sie so lange inhaftiert wurde, bis das Bußgeld bezahlt war. Damit nämlich hätte er ihr die Möglichkeit gegeben, ihren Fall im Rahmen des Habeas Corpus direkt dem Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten vorzulegen, das aufgrund der während des Prozesses erfolgten krassen Ungesetzlichkeiten den ganzen Prozeß hätte annullieren und einen echten Schwurgerichtsprozeß anordnen können. Auf diese Weise beraubte er Miss Anthony der einzigen ihr verbleibenden gesetzlichen Waffe. Sie bezahlte das Bußgeld nie, aber es wurde auch nichts mehr gegen sie unternommen, und die Wahlinspektoren von Rochester, die den Frauen die Eintragung ins Wahlregister und die Stimmabgabe gestattet hatten, wurden stillschweigend von Präsident Grant amnestiert.
Die Erklärung dafür, daß es der Administration nicht gelang, Miss Anthony weiter zu belangen, liegt in der Tatsache, daß in der zur Debatte stehenden Angelegenheit gleichzeitig (auf zuverlässigerer Gesetzesgrundlage als in dem von Richter Hunt geführten Fall Anthony) eine endgültige Entscheidung anstand, und zwar im Fall Minor, der in das Oberste Bundesgericht vordringen konnte. Dieses Verfahren basierte auf einer neuen Theorie darüber, daß das Wahlrecht für Frauen doch existiere; sie war von einem Anwalt aus St. Louis, Francis Minor, entwickelt worden, dessen Frau Vorsitzende des Frauenwahlrechtsvereins von Missouri war.
Ende 1869 hatte die Revolution mehrere von Mrs. Minor entworfene und auf einer Versammlung ihres Vereins angenommene Resolutionen veröffentlicht, die behaupteten, die Verfassung und ihre Zusätze gäben den Frauen bereits das Recht zu wählen, und es sei nicht mehr nötig, daß die einzelnen Staaten in Form von Zulassungsgesetzen den Frauen die Erlaubnis dazu erteilen müßten. Mit der Erklärung, »alle in den Vereinigten Staaten geborenen oder naturalisierten und ihrer Rechtsprechung unterworfenen Personen sind Bürger der Vereinigten Staaten und des Bundesstaates, in dem ihr Wohnsitz liegt«, wiesen die Resolutionen auf den Unterschied zwischen den »Rechten und Freiheiten«, die durch die Bundesverfassung verliehen werden, und dem Recht der einzelnen Staaten, ihnen zuwiderzuhandeln, hin:
»Wir beschließen mit unserer Resolution,

  • 1: Daß die Rechte und Freiheiten der amerikanischen Staatsbürgerschaft, wie immer sie im einzelnen definiert sein mögen, national in ihrem Charakter und jeder bundesstaatlichen Autorität übergeordnet sind.
  • 2: Daß die Verfassung der Vereinigten Staaten zwar den Bundesstaaten die Bestimmung über die Wahlmänner überläßt, ihnen aber an keiner Stelle das Recht gibt, irgendeinen Bürger des Wahlrechts zu berauben, welches jeder andere Bürger besitzt die Bundesstaaten regulieren also das Wahlrecht, was aber nicht ein Recht, es zu verbieten, einschließt.
  • 3: Daß, da die Verfassung der Vereinigten Staaten ausdrücklich erklärt, daß kein Bundesstaat irgendein Gesetz erlassen oder zur Anwenduung bringen darf, welches die Rechte und Freiheiten der Bürger der Vereinigten Staaten einschränkt, und daß solche Vorkehrungen der verschiedenen bundesstaatlichen Verfassungen, welche Frauen aufgrund ihres Geschlechts vom Wahlrecht ausschließen, den Geist wie den Buchstaben der Bundesverfassung verletzen.
  • 4: Daß, da die Zuständigkeit für die Naturalisierung den Bundesstaaten ausdrücklich entzogen ist und da die Bundesstaaten eindeutig nicht das Recht haben, naturalisierte Staatsbürger, bei denen Frauen ausdrücklich eingeschlossen sind, des Wahlrechts zu berauben, sie noch eindeutiger nicht das Recht haben, im Lande geborene Frauen dieses Rechts zu berauben.«[9]

Diese neue Einstellung zum Recht der Frauen auf Stimmabgabe wurde von der NWSA voll übernommen und zuerst im Januar 1870 von Mrs. Stanton während einer Anhörung vor einem Kongreßausschuß erläutert, der sich mit einem Gesetzesvorschlag zugunsten der Ausdehnung des Wahlrechts auf Frauen im District of Columbia zu befassen hatte. Wäre dieser Schachzug gelungen, hätte er mehr als ein halbes Jahrhundert Arbeit und Opfer erspart. Aber er wurde blockiert durch eine Entscheidung des Obersten Bundesgerichts gegen Francis und Virginia Minor, die 1870 Klage gegen einen Standesbeamten von St. Louis erhoben hatten, einen gewissen Reese Happersett, der die Eintragung von Mrs. Minor ins Wahlregister verweigert hatte; Happersett hatte auf der Grundlage einer Klausel der Verfassung des Staates Missouri gehandelt, die explizit Frauen von der Wahl ausschloß. Der Fall Minor lief mehr oder weniger parallel zum Fall von Miss Anthony. Als die Minors den Prozeß in den unteren Instanzen verloren, legten sie beim Obersten Bundesgericht Berufung ein, und dieses erließ im Oktober 1874 einen einstimmigen, vom Obersten Richter Morrison R. Waite verfaßten Beschluß, der die vorausgegangenen Urteile bestätigte.[10] Die Entscheidung lautete im Kern, daß die Verfassung denjenigen, die zur Zeit ihrer Verabschiedung Staatsbürger waren, nicht das Wahlrecht erteilte und daß das Wahlrecht nicht in gleichem Umfang gegeben war wie die Staatsbürgerschaft; daß die Bundesstaaten, nachdem sie auch gewissen Klassen von Männern (nach Maßgabe des Vermögens, der Hautfarbe, der geistigen Unfähigkeit oder begangener Verbrechen) das Wahlrecht vorenthalten hätten, es ebenso rechtmäßig allen Frauen vorenthalten könnten. Das Gericht ging gar nicht erst ein auf solche Fragen wie die Ungerechtigkeit gegenüber den Frauen oder die Vorteile des Frauenwahlrechts, die die Minors bei der Berufung aufgeworfen hatten; wie im Fall Bradwell umging es die grundsätzlichen Fragen, die auf dem Spiel standen.[11]
Die Entscheidungen, die das Oberste Bundesgericht im folgenden in solchen Fällen traf, die Auswirkungen auf das Recht der Erteilung des Wahlrechts haben konnten, wiesen etliche Widersprüche auf, die, wenn schon nicht dem Juristen, so doch dem Laien ins Auge stachen. Die Entscheidung im Fall Minor stand in offensichtlichem Gegensatz zu jener, die 1873 in den sogenannten Schlachthof-Fällen getroffen worden war und die kurz und bündig besagte, »der Neger hat, indem er durch den Vierzehnten Verfassungszusatz zum Staatsbürger der Vereinigten Staaten erklärt worden ist, das Wahlrecht in allen Staaten der Union«. In der Entscheidung im Fall Yarborough urteilte das Oberste Bundesgericht im Jahr 1884 dann wiederum: »Es ist deshalb nicht zutreffend, daß die Wähler bei der Wahl des Kongresses ihr Wahlrecht dem Gesetz eines einzelnen Bundesstaates verdanken in dem Sinne, daß die Ausübung dieses Rechts ausschließlich dem Gesetz des Staates unterstellt wäre.« Das Gericht stellte ferner fest, daß die Garantien des Fünfzehnten Verfassungszusatzes beschränkt seien auf männliche Bürger afrikanischer Herkunft, fügte aber hinzu: »Der Grundsatz.. ., nach welchem der Schutz der Ausübung dieses Rechts in die Befugnisse des Kongresses fällt, ist ebenso notwendig für das Wahlrecht anderer Bürger wie das der farbigen Bürger und für das Wahlrecht im allgemeinen wie für das Recht, gegen Diskriminierung geschützt zu werden.«[13] Kein Wunder, daß die Verfasser des vierten Bandes der History of Woman Suffrage kommentierten: »Diese juristische Haarspalterei übersteigt das Verständnis eines durchschnittlichen Laien.«[14]
Wie frühere Versuche, Vorkehrungen für das Frauenwahlrecht in den Vierzehnten und Fünfzehnten Verfassungszusatz eingehen zu lassen, zeigten auch die Fälle Anthony und Minor, daß die Zeit noch nicht reif war für das Frauenwahlrecht. Es mittels eines juristischen Machtspruchs durchsetzen zu wollen, war den gesellschaftlichen Realitäten einen großen Schritt voraus; es mittels Einflußnahme auf den Kongreß zu erlangen, war eine politische Unmöglichkeit. Denn die Frauen spielten zwar als Lohn- und Gehaltsempfängerinnen eine immer bedeutendere Rolle im Leben des Landes, waren aber noch nicht in der Lage, ihren Einfluß spürbar werden zu lassen, weil sie nicht organisiert waren. Wenn sie sich nicht in ausreichend großer Zahl angemessen organisierten, konnten sie nicht darauf hoffen, die tief verwurzelten Vorurteile und die verkrustete Tradition in den Zitadellen der politischen und ökonomischen Macht wirklich herauszufordern. Nicht nur ein weiterer gesellschaftlicher Fortschritt war erforderlich, sondern auch die bewußte und zielstrebige Arbeit einer weitaus größeren Menge von Frauen wie von Männern, um das Wahlrecht für Frauen zu gewinnen.
Während des Sommers 1876 feierte die Nation ihren hundertsten Geburtstag unter großer öffentlicher Anteilnahme mit einer riesigen Ausstellung in Philadelphia, der ersten ihrer Art in Amerika. Die NWSA hoffte, diese Gelegenheit benutzen zu können, um die Aufmerksamkeit auf die noch immer ungleiche Stellung der Frauen zu lenken und Frauen aus allen Teilen des Landes zusammenzubringen, damit sie ihre Erfahrungen und Kenntnisse austauschen könnten. Nach großen Schwierigkeiten, einen Standplatz zu finden, eröffnete sie ein Hauptquartier in Philadelphia. Einmal, als ein Mietvertrag gerade unterzeichnet war, stellte sich heraus, daß das Grundstück einer Frau gehörte, die nach dem Recht von Pennsylvania ohne die Einwilligung ihres Ehemannes nicht darüber verfügen durfte, und der verweigerte sie. Als schließlich die Räume gefunden werden konnten, wurden die Verträge von Susan Anthony unterschrieben, die alleinstehend und deshalb gesetzlich befugt war, einen geschäftlichen Vertrag abzuschließen. Eine riesige Feier am Vierten Juli in der Unabhängigkeitshalle sollte das Hauptereignis der ganzen Feierlichkeiten bilden; der Kaiser von Brasilien war Ehrengast (eine Persönlichkeit, die einige Frauen als kaum geeignet empfanden, der demokratischen Tradition, an die die Hundertjahr-Feier erinnern sollte, Ausdruck zu verleihen); keine Frau stand auf der Rednerliste der Versammlung. Als die NWSA den Vorsitzenden des Hundertjahrfeier-Ausschusses, General Hawley, bat, eine Deklaration der Frauenrechte verlesen zu dürfen, die der auf dem Kongreß von Seneca Falls entworfenen ähnlich war, wurde die Bitte abgelehnt, weil man befürchtete, dies könne zu viel Aufmerksamkeit erregen; die Bitte um eine große Zahl von Eintrittskarten wurde ebenfalls abgelehnt. General Hawley ließ sich jedoch nachträglich erweichen und schickte den Damen fünf Karten, was sich als Fehler herausstellen sollte. An jenem großen Tag und genau in dem Augenblick, in dem sich das Publikum erhob, um den brasilianischen Monarchen zu begrüßen, erklommen fünf Frauen unter der Führung der unzähmbaren Miss Anthony die Tribüne und gingen auf den Vorsitzenden los, den zeitweiligen Präsidenten des Senates der Vereinigten Staaten, Thomas W. Ferry aus Michigan. Der bestürzte Ferry, ein Förderer des Frauenwahlrechts, ergriff das Pergament, das Miss Anthony ihm zuschob, und verbeugte sich; die Frauen, die erwarteten, jeden Moment in Haft genommen zu werden, drehten sich um und schritten hinunter von der Plattform und aus der Halle, wobei sie riesige Mengen bedruckter Zettel mit ihrer Deklaration aus ihren geräumigen Handtaschen zogen und sie nach rechts und links ausstreuten. Es gab ein großes Durcheinander, weil die Männer auf ihre Sitze kletterten und nach den Handzetteln griffen und sich hunderte von Armen ausstreckten, während General Hawley nach Wiederherstellung der Ordnung rief. Als sie aus dem Gebäude traten, bemerkten die fünf Frauen noch eine einmalige Chance und ergriffen sie sofort. Obwohl der Tag selbst für den ohnehin heißen Sommer ungewöhnlich brütend war, wälzte sich eine riesige Menschenmenge über den Unabhängigkeitsplatz; dort mitten in der sengenden Hitze stand ein Musikpavillon, der schon für die Abendveranstaltung aufgebaut, aber jetzt noch leer war. Die Damen stürzten hinauf und Miss Anthony, der eine der Frauen einen Schirm über den Kopf hielt, verlas mit klarer Stimme, die weit über die zuhörende Menge hinausdrang, die Deklaration. Nachdem sie noch weitere Exemplare verteilt hatten, zogen die höchst zufriedenen Suffragetten zur überfüllten Ersten Unitarischen Kirche, in der eine fünfstündige Versammlung stattfand. Neben einer langen Liste von Rednern bekam das volle Auditorium die berühmte Sängerfamilie Hutchinson zu hören, die von sehr vielen Abolitionisten- und Frauenrechts-Veranstaltungen her bekannt war; eine ihrer populärsten Nummern war Frances Dana Gages: »In Hundert Jahren«, dessen eine Strophe lautete:

»Einst wird die Frau dem Mann Partner, dem Mann gleich sein,
Und Schönheit und Harmonie werden das Land regieren;
An sich selber zu denken, wird keine Beleidigung mehr sein,
So wird die Welt denken, in hundert Jahren.«[15]

Daß es um die Frauendeklaration von 1876 nicht einen solchen Tumult gab wie um die Deklaration von Seneca Falls, war bezeichnend für den Fortschritt, der schon stattgefunden hatte. Weitere Gründe lieferte das Dokument selbst.[16] Nicht nur fehlten offensichtlich einige der früheren Forderungen, wie gleiche Bildung, öffentliches Rederecht, das Recht zu predigen, zu unterrichten, zu schreiben und den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen; auch die schrillen Klagen gegen den Mann - alle Männer - waren Anklagen gewichen, die sich gegen den Staat richteten - eine ausschließlich männliche Regierung. Die neue Deklaration forderte Prozesse mit ebenbürtigen Geschworenen - das bedeutete die Einbeziehung von Frauen in die Gruppe der Geschworenen , keine Besteuerung ohne parlamentarische Vertretung und die Streichung des einschränkenden Wortes »männlich« aus Verfassungen und Gesetzbüchern der Bundesstaaten. Sie wiederholte außerdem den früheren Protest gegen die Doppelmoral und unterstrich die Benachteiligung der Frau bei den bestehenden Scheidungsstatuten. Während sie einräumte, daß auf dem Gebiet der Gesetzgebung durchaus bemerkenswerte Erfolge erzielt worden waren, zeigte die Deklaration doch auch auf, daß diese Erfolge ungleichmäßig verteilt waren und Modifizierungen oder geradezu Widerrufen zum Opfer fielen und daß noch immer viele Formen flagranter Diskriminierung vorherrschten.
Die AWSA solidarisierte sich nicht mit der Deklaration (und erst recht nicht mit deren unorthodoxer »Präsentation«), und sie war auf der Hundertjahrfeier auch nicht offiziell vertreten. Sie bat allerdings um Platz für eine Ausstellung. Schließlich erhielten die Frauen ein Stück Wand, auf dem sie ein paar Druckwerke aushängen konnten, aber »so weit oben, daß nur wenige sie sehen konnten«.[17] Vermutlich glaubten nicht viele Frauen wie Mrs. Stanton, daß die Entscheidung des Obersten Bundesgerichts im Fall Minor ebenso weitreichende Folgen für ihre Sache hatte wie die Dred-Scott-Entscheidung seinerzeit für die Sache der Sklaven gehabt hatte, aber tatsächlich schnitt sie eine Aktionsform zur Erreichung des Wahlrechts ab und leitete über zu neuen. Die AWSA behielt ihre Methode »Ein-Staat-nach-dem anderen« bei, auf die sie bereits festgelegt war; die NWSA konzentrierte ihre Bemühungen auf einen Zusatz zur Bundesverfassung zugunsten des Frauenwahlrechts, kooperierte aber bei Kampagnen in einzelnen Bundesstaaten. Jeder der beiden Wege stellte eine unsichere Perspektive für politische Realisten dar, die die Frauen vielleicht glücklicherweise nicht waren. Nachdem das Wahlrecht für Frauen gewonnen war, versuchte Carrie Chapman Catt die menschlichen Energien, die darin eingegangen waren, abzuschätzen:
»Um das Wort >männlich< tatsächlich aus der Verfassung herauszukriegen, mußten die Frauen des Landes zweiundfünfzig Jahre pausenloser Kampagnenarbeit aufbringen . . . Während dieser Zeit waren sie gezwungen, fünfundsechzig Kampagnen für Volksabstimmungen mit männlichen Wählern durchzuführen; 480 Kampagnen, um die Gesetzgeber zu bewegen, Wahlrechtsänderungen in die Entscheidung der Wähler zu stellen; 47 Kampagnen, um einzelstaatliche verfassungsgebende Versammlungen zu bewegen, das Frauenwahlrecht in den Verfassungen der einzelnen Staaten zu verankern; 277 Kampagnen, um Parteikonferenzen in den Staaten dazu zu bringen, das Frauenwahlrecht als Grundsatz aufzunehmen; 30 Kampagnen, um Parteikonferenzen für die Präsidentenwahl zu veranlassen, das Frauenwahlrecht als Grundsatz in ihre Plattformen aufzunehmen, und 19 Kampagnen in 19 aufeinanderfolgenden Sitzungsperioden des Kongresses in Washington.»[18]
Der erste Entwurf war im Kongreß 1868 eingebracht worden. Anfang 1878 schlug Senator A. A. Sargent aus Kalifornien, ein enger Freund von Susan Anthony, einen Entwurf zum Frauenwahlrecht vor, der gewöhnlich als »Anthony Amendment« bezeichnet und ohne jede Änderung des Wortlauts so lange benutzt wurde, bis er schließlich mehr als vierzig Jahre später durch den Kongreß verabschiedet wurde: »Das Recht der Bürger der Vereinigten Staaten zu wählen, darf weder durch die Vereinigten Staaten noch durch irgendeinen Bundesstaat aufgrund des Geschlechtes verwehrt oder eingeschränkt werden.«[19]
Dieser Gesetzentwurf wurde dem Senatsausschuß für Rechte und Wahlangelegenheiten vorgelegt, und bei den Anhörungen traten wahre Heerscharen
der besten Rednerinnen, angeführt von Mrs. Stanton auf. Der ablehnende Bericht über den Gesetzentwurf kam nicht überraschend für die, die das Verhalten des Ausschusses miterlebt hatten; Mrs. Stanton schrieb:
»Im ganzen Verlauf unseres Kampfes um gleiche Rechte habe ich mich nicht so geärgert wie bei dieser Gelegenheit, wo ich vor einem Ausschuß von Männern stehen mußte, die alle viel jünger waren als ich und bequem in Sesseln saßen . . . Was dieses Mal ganz besonders erbitterte, war die gut einstudierte Unaufmerksamkeit und Verachtung des Vorsitzenden Senator Wadleigh aus New Hampshire ... Er sah abwechselnd einige vor ihm liegende Manuskripte und Zeitungen durch und sprang auf, um eine Tür oder ein Fenster zu öffnen oder zu schließen. Er streckte sich, gähnte, starrte an die Decke, schnitt sich die Fingernägel, spitzte seinen Bleistift, wechselte dabei alle zwei Minuten seine Beschäftigung und seinen Ort, womit er wirksam verhinderte, daß sich auch nur der feinste magnetische Strom zwischen den Rednerinnen und dem Ausschuß herstellen konnte. Es fiel mir mehr als einmal schwer, den Drang, ihm mein Manuskript an den Kopf zu schlagen, zurückzuhalten.«[20]
Die Förderer dieses Gesetzentwurfs legten ihn bei jeder Sitzung des Kongresses erneut vor, gewöhnlich zu eben der Zeit, wenn die NWSA ihre jährliche Versammlung in Washington veranstaltete. Wenn es auch jedesmal ein paar Männer gab, die sich wie Senator Wadleigh benahmen, boten solche Anhörungen doch auch immer ausgezeichnete Gelegenheiten, um neue Freunde zu gewinnen, und immer wurde in der Presse über die Vorgänge berichtet. Sie dienten auch dazu, die Aufmerksamkeit der Suffragetten auf den Kongreß zu konzentrieren, und ein Strom von Petitionen ergoß sich weiterhin auf Senatoren und Abgeordnete.
Allmählich stellten sich Veränderungen ein. 1882 setzten beide Häuser Sonderausschüsse zum Frauenwahlrecht ein, und beide gaben einen wohlwollenden Bericht über die Maßnahme. Diese Aktion wurde vom Sonderausschuß des Senats in den Jahren 1884 und 1886 wiederholt, und am 8. Dezember 1886 wurde der Gesetzentwurf von Senator Henry W. Blair aus New Hampshire im Sitzungssaal des Senats zur Sprache gebracht, der ein eindrucksvolles Plädoyer dafür hielt.[21] Nachdem er erklärt hatte: »Das Wahlrecht ist das große Grundrecht, in welchem alle Freiheit ihren Ursprung und ihren Höhepunkt hat. Es ist das Recht, aus dem alle anderen entspringen«, ging er ausführlich auf alle ernsthaften Einwände ein, die von den Gegnern des Frauenwahlrechts erhoben wurden: daß das Wahlrecht sich auf den Militärdienst gründen müsse (diese Einschränkung wird allerdings nicht auf Männer angewandt, die keinen Militärdienst leisten); daß die geistigen Fähigkeiten der Frauen minderwertig seien (der Intellekt von Männern wird nicht in Frage gestellt); Zeitmangel aufgrund von mütterlichen und hausfraulichen Pflichten (warum überläßt man dieses Problem nicht der einzelnen Frau wie dem einzelnen Mann?) und so weiter. Die Hauptdebatte wurde auf den 25. Januar 1887 verschoben.[22] Blair erhielt tatkräftige Unterstützung durch Männer wie Dolph aus Oregon und Hoar aus Massachusetts; die Opposition zeigte sich, wie auch in den folgenden Debatten, von ganz anderem Kaliber: Senator Brown aus Georgia fürchtete das Wahlrecht für schwarze Frauen, ebenso Vest aus Missouri, der darüber hinaus auch noch die langerwartete Auflösung des amerikanischen Heims und den Ruin der Weiblichkeit der Frauen vorhersagte:
»Ich für meinen Teil möchte, wenn ich nach Hause komme - wenn ich zurückkomme aus der Arena, in welcher Mann mit Mann um das wetteifert, was wir den Preis dieser erbärmlichen Welt nennen -, ich möchte also heimkehren, nicht in die Arme eines weiblichen Wahlpolitikers, sondern zu den emsigen liebenden Blicken und Berührungen einer echten Frau. Ich möchte heimkehren in die Rechtshoheit der Ehefrau, der Mutter; und statt einer Lektion über Finanzen oder Zölle oder über den Aufbau der Verfassung, wünsche ich mir diese gesegneten liebevollen Einzelheiten aus häuslichem Leben und häuslicher Liebe.«[23]
Er schloß mit einer Beschwörung, die die Gemüter aufpeitschen sollte, indem er ein Bild von der Rolle der Frauen in der französischen Revolution zeichnete:
»Wer führte diese blutrünstigen Mobs an? Wer schrie am gellendsten in diesem Orkan der Leidenschaften? Frauen ... In der Stadt Paris lagen Kontrolle und hauptsächliche Macht in jenem unerbittlichen Mob ... bei denjenigen, von denen Gott die Absicht gehabt hatte, daß sie die sanften und milden Engel der Gnade überall auf der Welt sein sollten.«[24] Die Stimmabgabe - 16 Ja-Stimmen gegen 34 Nein-Stimmen bei 26 Enthaltungen, ergab sieben Senatoren mehr für das Frauenwahlrecht als bei den Abstimmungen des Jahres 1866 im District of Columbia. Die geographische Aufschlüsselung zeigt, daß der Süden eisern in Opposition stand: 22 Nein-Stimmen, 10 Enthaltungen und keine einzige Ja-Stimme. Der Anthony-Zusatz wurde bis 1896 in fast jedem Jahr wieder eingebracht, aber schon im Ausschuß niedergeschlagen. Dann verschwand er aus Gründen, die später zu erörtern sind, bis 1913 praktisch aus der Tagesordnung des Kongresses und aus dem öffentlichen Interesse.
Während Miss Anthony und Mrs. Stanton ihr Trommelfeuer weiterhin auf den Kongreß gerichtet hielten, lenkte die AWSA (obwohl sie der Idee eines Zusatzes zur Bundesverfassung das Wort redete) ihre Energien auf die Modifizierung der Verfassungen der einzelnen Bundesstaaten. Jahrzehntelang brachte ihre Methode, Referenden zum Frauenwahlrecht in den einzelnen Staaten durchzuführen, bei erschöpfender Arbeit nur magere Ergebnisse. Die Kampagne von 1867 in Kansas war die erste einer langen Kette, die zumeist mit einer Niederlage endeten: Von 1870 bis 1910 gab es genau 17 solcher Referenden, die sich auf elf Staaten konzentrierten (mit Ausnahme von dreien lagen sie alle westlich des Mississippi) und von denen nur zwei einen Sieg erzielten. Die ersten nach Kansas waren Michigan 1874, Colorado 1877, Nebraska 1882, Oregon 1884, Rhode Island 1887, Washington 1889 und Süd-Dakota 1890.[25]
Im wesentlichen trugen diese Kampagnen alle dieselben Merkmale. Sie wurden mit sehr wenig Geld durchgeführt, und die Hauptlast lag bei einer winzigen Gruppe von Frauen, zu denen immer auch einige wenige ergebene Männer gehörten. Was immer die günstigen Umstände gewesen sein mochten, die am Anfang zu einer Kampagne geführt hatten, zum Beispiel das Versprechen der Unterstützung von der einen oder anderen großen Partei oder vielversprechende Beiträge von großen Zeitungen: sie waren lange vor dem Wahltag verpufft. Dabei waren gewöhnlich offenkundige massive Schiebereien im Spiel, und die Hersteller alkoholischer Getränke wurden in zunehmendem Maß zur wesentlichen Quelle der Opposition. Gegen solche Widersacher konnten die Frauen nur wenige Mittel ins Feld führen. Die finanziellen Angelegenheiten regelten beide Wahlrechtsvereine unter ständigem Geldmangel und regionale Wahlrechtsvereine in ihrer späteren Form gab es noch so gut wie gar keine. Das Unterschriftensammeln für eine Petition, die ein Referendum forderte, war noch immer eine mühselige Schufterei, insbesondere in ländlichen Gebieten, wo große Entfernungen überbrückt werden mußten. Die Frauen bildeten einen festen Stamm von tüchtigen Rednerinnen, und Unterstützung ließ sich finden bei den immer zahlreicher werdenden Frauenclubs und über das Netz von Gemeindeaktivitäten, in denen Frauen in den Vordergrund traten: beim Kampf gegen den Alkohol, missionarischen und karitativen Aufgaben, Bildung, Gewerkschaften und Kirchen. Das Frauenwahlrecht konnte zwar gewöhnlich, wenn eine K rise einbrach, wie jede »große Sache« ein paar aufopfernde Aktivistinnen finden; eine kontinuierliche, zuverlässige Mitarbeit aber war noch immer die Ausnahme, sei es aufgrund von Schüchternheit, Unerfahrenheit oder aufgrund der häuslichen und wirtschaftlichen Verantwortung, unter deren Druck die meisten Frauen standen. Wenn die Not und der Augenblick Fähigkeiten hervorbrachten, so bröckelten sie auch wieder ab, wenn beide vorüber waren, denn es existierte keine brauchbare Organisation, die sie heranziehen und entfalten konnte.
Auf dem Hintergrund einer ununterbrochenen Serie von Niederlagen für das universelle Frauenwahlrecht konnten jedoch gewisse Siege für ein partielles oder eingeschränktes Stimmrecht erzielt werden, und zwar in Schul- und Steuerangelegenheiten sowie bei staatlichen Anleihen. Schon 1838 hatte Kentucky Witwen mit schulpflichtigen Kindern das »Schulwahlrecht« auf der Bezirksebene gegeben; es ist das erste nachweisbare solchermaßen begrenzte Wahlrecht. Kein anderer Staat zog nach, bis endlich 1861 Kansas seinen Frauen das Stimmrecht in Schulfragen erteilte. Michigan und Minnesota folgten dem Beispiel 1875, und danach wuchs die Zahl stetig auf 19 Staaten an, während drei Staaten das Stimmrecht in Steuer- und anderen Finanzfragen gewährten.[26]
Das schien zunächst ein vielversprechender Schritt nach vorn, brachte aber in der Folge ernste Probleme mit sich, wie sich eindeutig zeigen sollte, als
Kansas 1887 den Frauen das Stimmrecht für die Wahlen zur Stadtverwaltung gab.[27] Sobald Frauen irgendeine Stimme hatten, wenn auch nur auf lokalem Niveau, wurden sie zum Gegenstand des Interesses der politischen Parteien; hatten sie sich erstmal in eine Partei eingeschrieben, waren sie auch der Parteidisziplin unterworfen, in Fragen der Strategie für das Frauenwahlrecht ebenso wie in anderen. Ihre Treue war gespalten, denn das Frauenwahlrecht wurde zum politischen Spielball wie alle anderen Themen. Diese Tatsache erwies sich mit aller Klarheit 1894 bei dem zweiten Referendum in Kansas. Die Republikaner brachen ihr Versprechen, das Frauenwahlrecht in ihr Parteiprogramm aufzunehmen; die Populisten fügten es zwar in ihr Grundsatzprogramm, erklärten aber in einer Zusatzklausel, daß die Unterstützung des Frauenwahlrechts nicht zu einem Maßstab für Parteitreue werden sollte. Suffragettenführerinnen waren in beiden Parteien eingekesselt.
Ein anderer Rückschlag, der auf das begrenzte Wahlrecht zurückging, bestand darin, daß die Zahl von Frauen, die es an die Wahlurnen brachte, nie in überzeugender Weise demonstrierte, daß die Frauen das allgemeine Wahlrecht wollten; es lieferte im Gegenteil der Opposition das Argument, Frauen wären ja gar nicht interessiert an der Wahl. Die Zahl der Frauen, die zur Wahl erschienen, war sehr unterschiedlich und richtete sich danach, in welchem Maß sie in dem einen oder anderen Bereich des Kampfs für größere Chancen engagiert waren und auf welche Hindernisse sie stießen, wenn sie wählen wollten. Diese Hindernisse waren manchmal nicht unbeträchtlich und spiegelten das Desinteresse der großen Parteien am Schutz dieser begrenzt Wahlberechtigten wider, ganz im Gegensatz zu den Ereignissen in Wyoming, als die Frauen dort das volle Wahlrecht erhielten und die Parteien ein politisches Interesse daran hatten, sie gebührlich zu behandeln. 1880 bei den Wahlen für die New Yorker Schulausschüsse zeigte sich die ganze Bandbreite der Abschreckungsmittel: regelrechte (und gesetzwidrige) Wahlbehinderung, Androhung von Repressalien - aus Kirchenkreisen, von anonymer Seite und sogar von den Ehemännern -, überfüllte oder ungeeignete Wahllokale, herumstreunende Leute; sogar die Wahlhelfer benahmen sich unflätig (manche bliesen Frauen Zigarrenrauch ins Gesicht), und es gab tatsächlich Fälle, wo Steine geworfen wurden. Kein Wunder, daß das Ergebnis, das Frauen erzielten, von Wahllokal zu Wahllokal schwankte und wenig zur Stärkung ihrer Sache des vollen Wahlrechts beitrug. 1889 suchte ein neuer Staat um Aufnahme in die Union nach. Wyoming, das erste Territorium, das Frauen die politische Gleichheit eingeräumt hatte, bat um das Recht, dieses nunmehr auch als erster Staat zu tun. Seine soeben angenommene Verfassung sah das volle Wahlrecht für Frauen vor.[28] Seit der Bürgerkrieg die Gegnerschaft zwischen freien Staaten und Sklavenstaaten entschieden hatte, war die Aufnahme von Territorien in die Union nicht länger Anlaß zu Kontroversen und besaß nur noch strategische Bedeutung hinsichtlich des Kalküls, welche der beiden Parteien ihre Stärke im Kongreß ausbauen konnte. Wyoming galt als republikanischer Staat, folglich widersetzten sich seiner Aufnahme die Demokraten, wobei sie sich vor allem auf das Argument stützten, daß die Aufnahme eines Staates mit vollem Wahlrecht für Frauen einer Ausdehnung dieser Praxis Tür und Tor öffnen würde - was in der Tat geschah.
Die Schlacht im Kongreß über die Aufnahme war dementsprechend erbittert. Die von Oates aus Alabama angeführten Demokraten des Hauses versteiften sich auf die völlig inkonsequente Opposition gegen das Recht des einzelnen Staates, über eine Angelegenheit wie das Wahlrecht selbst zu entscheiden.[29] Frauen, unter ihnen Susan Anthony, saßen auf der Galerie und hörten besorgt zu, während diese Männer behaupteten, die Frauenwahlrechtsklauseln von Wyoming wären verfassungswidrig (nach der Lesart des Urteils des Obersten Bundesgerichts im Fall Minor), oder sich darüber ausließen, wie entsetzlich es wäre, eine Frau als rechtens gewählten Volksvertreter in ihrer Mitte auftreten zu sehen und wie (offensichtlich!) unlösbar das Problem wäre, wie man sie anreden sollte.
Die Abstimmung des Hauses ging am 28. März 1890 mit dem knappen Vorsprung von 139 zu 127 zugunsten der Aufnahme von Wyoming aus, ohne Einspruch gegen seine Verfassung mit ihrem Frauenwahlrecht. Es dauerte noch drei Monate, bis am 27. Juni auch der Senat mit 29 zu 19 Stimmen die Aufnahme befürwortete.[30] Das Gesetz wurde ordnungsgemäß von Präsident Benjamin Harrison unterzeichnet. Als Wyoming am 23. Juli 1890 in Cheyenne seinen neugewonnenen Status feierte, wurde die Fahne zu Ehren dieses Anlasses dem Gouverneur von Esther Morris überreicht, der »Mutter des Frauenwahlrechts von Wyoming«[31]

Frauenorganisationen wachsen heran

Viele Faktoren trugen zum Anwachsen der Organisationen, vor allem unter den Frauen der Mittelschicht, bei. Seit 1865 fand eine wahre häusliche Revolution statt, die jene befreite, die aus ihr den Nutzen ziehen konnten, anderen Beschäftigungen als der Hausarbeit nachzugehen. Die Entwicklung der Gasbeleuchtung, der städtischen Wasserversorgung, der Rohrleitungen im Hause, der Konservenfabrikation, der gewerblichen Herstellung von Eis, der Verbesserung von Heizkesseln, Öfen und Waschwannen, sowie die Popularisierung der Nähmaschine haifeiner wachsenden Zahl von Frauen, der häuslichen Tretmühle zu entkommen.'[1]Mit der steigenden Zahl von Immigranten kam eine große Zahl ungelernter Frauen als Köchinnen und Kindermädchen auf den Arbeitsmarkt. Das verschaffte Frauen mit Geld, Bildung und Phantasie mehr Zeit zur eigenen Verfügung, als sie je der jungen Mrs. Stanton vergönnt war, die in den 40er Jahren so widerwillig an Heim und Kinder gefesselt gewesen war.
Auch die Zahl der Frauen mit College- oder Fachausbildung stieg an. Im Jahr 1889/90 hatten wenig mehr als 2500 Frauen ihr Studium mit dem Grad des Bachelor of Arts abgeschlossen (an Colleges von verschiedenem Niveau).[2] Innerhalb von 20 Jahren stieg die Zahl der weiblichen Lehrer aller Fächer von mehr als 90 000 im Jahre 1870 auf fast 250 000 an; aus 544 Frauen, die im Census von 1870 vage beschrieben wurden als »Ärzte, Chirurgen, Osteopathen, Heilkundige und medizinisches Personal«, waren im Jahre 1890 fast 4500 geworden.[3] Schon in den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Bürgerkrieg war eine Julia Ward Howe, die Griechisch, Latein und die philosophischen Werke von Kant las, keine Seltenheit mehr, wie es Margaret Füller kaum 30 Jahre zuvor gewesen war.
Doch in einem sehr realen Sinn waren selbst solche Frauen immer noch wie »bestellt und nicht abgeholt«. 1861 besuchte Charles Dickens die USA, und der New Yorker Presseclub gab ihm zu Ehren ein Essen. Zu dieser Zeit gab es bereits eine Anzahl von anerkannten Journalistinnen, aber keine von ihnen gehörte dem Presseclub an, und als einige von ihnen eine Eintrittskarte für das Essen erbaten, wurde sie ihnen verweigert. Eine der zurückgewiesenen Frauen war Jennie C. Croly, die aus Empörung darüber einen der ersten Frauenvereine, genannt Sorosis, gründete. Im selben Jahr gründeten Julia Ward Howe, Caroline M. Severance und andere Bostoner Frauen den Frauenclub von Neuengland (New England Women's Club). Was diese Vereine und andere, die ihnen folgten, von den früheren Literatur-und Diskussionszirkeln unterschied, war die Vielfalt und Spannbreite der Interessen, die jetzt neben ihr generelles Bemühen um »Selbstvervollkommnung« traten. Der Bostoner Club war vor allem für Intellektuelle eingerichtet und erklärte in seinen Statuten,

  • einen »ruhigen, zentral gelegenen Aufenthaltsort und Treffpunkt in Boston zur Bequemlichkeit und Annehmlichkeit der Mitglieder« einrichten zu wollen, wie auch seine Absicht,
  • ein »organisiertes gesellschaftliches Zentrum für gemeinsames Denken und Handeln« zu werden.

Er erfüllte seine Absichten in einem solchen Maße, daß Edward Everett Haie später bemerkte: »Wenn ich irgend etwas in Boston in Ordnung gebracht haben möchte, wende ich mich an den Frauenclub von Neuengland.« Ähnlich reichte die Themenskala des Sorosis von der hohen Kindersterblichkeitsrate in Heimen bis zur Frage der Zulassung von weiblichen Studenten an der New Yorker Columbia-Universität. Andere Vereine entwickelten Programme, die die Interessen ihrer Mitglieder und die Gründe für ihr Zusammenfinden widerspiegelten, aber alle zeichnete eine Vielfalt der Interessen aus. Bald hatte Chicago seinen Fortnightly und San Francisco seinen Century Club, und zahllose andere entstanden - ein Zeichen dafür, daß diese neue Einrichtung auf ein tiefes Bedürfnis stieß. Während einige Vereine nur kurze Zeit bestanden, überdauerten andere, und um 1890 gab es so viele festgefügte und einflußreiche Frauenclubs, daß der Allgemeine Verband der Frauenclubs (General Federation of Women's Clubs) gebildet werden konnte. 1894 wurden regionale Unterverbände eingerichtet, deren Programme im weitesten Sinne des Wortes Bildungsprogramme waren."[4]Insbesondere in den Südstaaten, wo die meisten Frauen sehr eingeengt gelebt hatten, bis der Bürgerkrieg ihre Welt zum Einsturz brachte, diente die Clubbewegung als eine Art Triebkraft, die sie in die neue Welt größerer Horizonte, neuer Erfahrungen und Kontakte wirbelte. Oft mochte das Clubprogramm begrenzt sein auf literarische Studien - jedoch in dem Maße, in dem eine Frau in leitende Funktionen vorstieß und auf regionale oder sogar nationale Treffen reiste, kam sie in Kontakt mit einem brisanten Gemisch aus neuen Ideen und Aktivitäten. Die Frauen in den Clubs der größeren Städte leisteten Pionierarbeit in der Kinder- und Gesundheitsfürsorge und gegen die Verwahrlosung der überfüllten Mietskasernen. Sie schufen damit nicht nur die Grundlage für die soziale Reformbewegung und die Entwicklung der Stadtteilarbeit um die »settlement«-Häuser, sondern trugen auch zum Entstehen neuer Wertvorstellungen und Ideen bei, die auf Umwegen, in Form von Gesprächen, Zeitungsberichten und Versammlungsprotokollen auch wieder zu den Frauen in kleinen Gemeinden oder ländlichen Gebieten im ganzen Land gelangten.
Außer der Clubbewegung sahen die 70er und 80er Jahre auch die Gründung anderer Organisationen mit spezielleren Zielen, die fast immer sehr bescheiden anfingen. Die Ursprünge des Christlichen Vereins Junger Frauen (Young Women's Christian Association) in den 60er Jahren lagen in der Sorge einiger Frauen um den christlichen Lebenswandel und die moralischen Probleme von jungen Mädchen, die in Fabriken arbeiteten und zum ersten Mal in ihrem Leben von zu Hause fort waren. Die Grange-Vereinigung, oder, mit ihrem offiziellen Namen, die Patrons of Husbandry (Schutzherren der Landwirtschaft), gab seit ihrer Gründung gegen Ende des Bürgerkriegs Frauen den gleichen Status wie Männern, eine Tatsache, die von Sozialhistorikern meistens übersehen worden ist und die von unschätzbarer Wichtigkeit für die ansonsten isolierten Farmerinnen war. Die Ausdehnung des Grange-Programms, das ursprünglich den Farmern helfen sollte, die Kriegsfolgen zu überwinden, auf ein breites Spektrum von Sozial- und Bildungsprogrammen geschah immer unter Beteiligung von Frauen, die auf jeder Ebene außer in der Führungsspitze tätig waren. Bereits 1885, lange vor jeder anderen nationalen Organisation von vergleichbarer Größe und Bedeutung, hielt die Grange-Vereinigung ihre Haltung zur rechtlichen und politischen Gleichstellung der Frauen fest:

  • »Es ist beschlossen, daß eins der grundlegenden Prinzipien der Patrons of Husbandry, wie sie in ihrer offiziellen Grundsatzerklärung dargelegt sind, die Anerkennung der Gleichheit der beiden Geschlechter ist. Wir sind daher bereit, mit Freude jeden Fortschritt im rechtlichen Status der Frau zu begrüßen, der ihr die vollen Rechte an der Wahlurne und gleiche Bedingungen als Bürger gibt.«[5]

Der Verein der College-Absolventinnen (Association of Collegiate Alum-nae) wurde 1882 ins Leben gerufen, nur wenige Jahre nachdem die ersten Graduierten ihren Abschluß in Vassar, Smith und Wellesley gemacht hatten. Ihre Gründerinnen kamen aus einer kleinen Gruppe von Institutionen im Mittleren Westen und an der Atlantikküste. Die Briefe, die diese Frauen austauschten, als die Organisation Gestalt annahm, und das, was sie von Anfang an publizierten, zeigen, wie sehr sie sich ihres dynamischen Potentials auf der gesellschaftlichen Bühne ihrer Zeit bewußt waren. 1889 schlossen sie sich mit dem unabhängig entstandenen Verein der College-Absolventinnen des Westens zusammen. Ihr südliches Gegenstück, die Southern Association of College Women, wurde 1903 gegründet, aber beide vereinigten sich erst 1921 zum heutigen Amerikanischen Akademikerinnen verband (American Association of University Women).[6] Obgleich die Arbeit solcher Organisationen außerhalb des Bereichs dieser Darstellung liegt, soll sie doch erwähnt werden, denn sie gibt einen Eindruck davon, in welchem Ausmaß sich Frauen damals am Leben ihrer Zeit beteiligten und sich die Führung auf dem Gebiet der sozialen Wohlfahrt aneigneten. In den 90er Jahren erweiterten sich diese Tätigkeitsfelder um die Bewegung der »settlement«-Häuser und um die Organisierung der Frauen als gesellschafts- und verantwortungsbewußte Verbraucherinnen. Sie sollten langfristig eine mächtige Kraft werden, die das politische Wahlrecht für Frauen schließlich unvermeidlich machte.
Seit den 40er Jahren befaßten sich Reformerinnen mit der Alkoholfrage - nicht bloß aus Sympathie mit einem abstrakten Ideal, sondern weil das Gesetz verheiratete Frauen so sehr der Willkür ihrer Ehemänner auslieferte.
Was in einem Fall moralisches Unrecht sein mochte, wenn der Betroffene ein nüchterner Bürger war, wurde zur reinen Tragödie, wo es sich um einen starken Trinker handelte, der nicht nur seinen eigenen Verdienst, sondern auch den seiner Frau vertränk und damit sie und die Kinder ins Elend stürzte. Alkoholismus war weit verbreitet in einer Gesellschaft, der es an sozialer Hygiene, medizinischer Therapie und jeder Art von Wohlfahrtseinrichtungen fehlte und in der es, außer für die Reichen, keine Erholungsmöglichkeiten gab. Eine Kombination von Müßiggang, Langeweile und unglücklichem Zufall konnte einen Mann statt zur Stütze zum Fluch seiner Familie machen, während seine Frau keinerlei rechtliche Ansprüche hatte. Kein Wunder, daß Lucretia Mott, Lucy Stone und andere fast im selben Moment Abolitionistinnen und Verfechterinnen der Mäßigkeitsbewegung wurden, und zwar noch bevor sie für die Sache der Frauenrechte als solche eintraten. Die Vorurteile der Männer zwangen sie, ihre eigenen Temperenz-Gesellschaften zu gründen. Sie konnten diese aber auf die Dauer nicht unterhalten, denn Frauen hatten kein eigenes Geld für solche Zwecke zur Verfügung. Außerdem erkannten sie bald, daß es unmöglich war, eine Reform ohne ein breiteres politisches Programm und ohne politischen Einfluß durchzusetzen. Das besondere Verdienst Frances Willards, einer der fähigsten Frauen des 19. Jahrhunderts, liegt in der Erkenntnis, daß die neu freigesetzten Energien von Frauen in einer umfassenden Organisation fruchtbar gemacht werden könnten, die nicht allein für die Mäßigkeits-Bewegung, sondern für ein breites, alle Frauen ansprechendes Wohlfahrtsprogramm eintrat und das Frauenwahlrecht gleichzeitig als Mittel und als Ziel einschloß. Sie war zwar nicht selber Gründerin des Christlichen Mäßigkeitsverbandes der Frauen (Women's Christian Temperance Union, W.C.T.U.), aber sie machte sie zur größten Frauenorganisation im Lande. 1874 entstand eine Mäßigkeitsbewegung mit starkem missionarischem Einschlag im Mittleren Westen. Sie begann in Hillsboro (Ohio) und breitete sich über das ganze Land aus. Scharen von singenden, betenden Frauen hielten Versammlungen ab, nicht nur in Kirchen, sondern auch an Straßenecken, wobei sie selbst in die Kneipen eindrangen und Tausende von ihnen dichtmachten.
Aber obwohl dieser »Kreuzzug« äußerst dramatisch war, blieb seine Wirkung doch nur von kurzer Dauer: Die meisten Bars wurden bald wieder geöffnet, und weiterblickende Frauen sahen, daß nur eine dauerhafte Organisation bleibende Ergebnisse erzielen konnte. Im November 1879 konstituierte sich der Christliche Mäßigkeitsverband der Frauen in Cleveland. Als Präsidentin wurde Annie Wittenmyer gewählt, die in der Sanitäts-Kommission des Bürgerkriegs aktiv gewesen war. Als Schriftführerin (heute würden wir Organisationsleiterin sagen) wurde Frances Willard gewählt, eine junge Frau, die erst seit kurzem zur Sache der Mäßigkeitsbewegung übergetreten war.[7] Wie viele dieser neuen, kommenden Führerinnen der Frauenbewegung kam Frances Willard aus der Umgebung des nach Westen drängenden Grenzerlebens, sie war eine Tochter des Mittelwestens. Ihre Eltern hatten Neuengland verlassen, um am neugegründeten Oberlin-College zu studieren, und ließen sich in Wisconsin nieder, als Frances 15 Jahre als war. Nachdem sie an einem der Seminare, die sich damals optimistisch als »College« bezeichneten, einen akademischen Grad erworben hatte, bekleidete Miss Willard mehrere Lehrerposten und wurde dann Präsidentin des Damen-College in Evanston (Illinois). Als dieses College dann als Frauen-College in die Nordwest-Universität von Evanston einging, wurde Miss Willard Dekanin. Als solche fand sie sich allerdings konfrontiert mit einem rein männlichen Ausschuß und, wie das Schicksal spielte, einem Präsidenten, der für kurze Zeit ihr Verlobter gewesen war. Die Situation war wenig erfreulich, und nach drei Jahren trat sie zurück; noch immer hatte sie ihre wahre Berufung nicht gefunden. Innerhalb weniger Monate fand sie sie in der plötzlich wiedererstarkten Temperenzbewegung. In wenigen Monaten wurde Frances Willard, zunächst in Illinois, dann auf nationaler Ebene Führerin der Temperenzorganisation.
Daß sie die Mäßigkeitsbewegung wählte, ergab sich nach der Interpretation ihrer Biographin Mary Earhard nicht so sehr aus einem beherrschenden Interesse an der Sache selbst, sondern aus der Überzeugung, daß diese Bewegung ein Mittel dafür sein konnte, eine große Zahl bisher für das Thema Frauenrechte unempfänglicher Frauen in eben dieser Richtung zu engagieren. Wie die früheren Führerinnen der Temperenzbewegung sah sie, daß politischer Einfluß für die Durchsetzung ihres Ziels entscheidend war, und sie beschloß, beides zu verbinden.
Sie begann damit, indem sie selbst die Forderung nach dem Frauenwahlrecht auf einem Kongreß des Christlichen Mäßigkeitsverbands der Frauen 1876 offen vertrat. Sie stieß auf den starken Widerstand von Mrs. Wittenmyer, die den sogenannten »konservativen« Block anführte, konnte diese aber innerhalb von drei Jahren als Vorsitzende des Dachverbandes ablösen und die Politik der Organisation nicht nur auf die Unterstützung des Frauenwahlrechts, sondern auf aktiven Einsatz dafür umlenken.
Sie ging geschickt vor. Erfolg brachten ihr eine Reihe von Schachzügen, im Laufe derer sie die für das Feuerwerk der offensiven Argumentation einer Susan B. Anthony noch nicht gerüsteten Frauen allmählich auf Umwegen zu der Einsicht brachte, daß sie Heim und Familie vor Alkohol und anderen Lastern ohne eine Stimme in öffentlichen Angelegenheiten nicht würden schützen können. Der erste tatsächliche Schritt in Richtung auf eine Stellungnahme zum Frauenwahlrecht geschah mit der Forderung nach Stimmrecht, und zwar zunächst nur auf lokaler Ebene und allein die Herstellung und den Verkauf berauschender Getränke betreffend:

  • »Wir fordern den Stimmzettel in Temperenzfragen, weil der Alkoholhandel sich hinter dem Gesetz verschanzt; das Gesetz erwächst aus dem Willen von Mehrheiten, und die Mehrheit der Frauen ist gegen den Alkoholhandel.. . . Einige unserer Schwestern haben befürchtet, unsere Aufmerksamkeit gegenüber diesem Bereich unserer Arbeit könnte unsere Bibelveranstaltungen, die Verbreitung von Temperenzliteratur und die rechte Erziehung unserer Kinder einschränken. Aber man möge zwischen den Staaten, die im Petitionskampf für das Temperenzstimmrecht aktiv sind, und solchen, die dieses Vorgehen ausgeschlossen haben, vergleichen.«[8]

Die erste Initiative zum »Schutz des Heims« wurde von Miss Willard in Illinois organisiert und konzentrierte sich auf eine Petition an das Parlament für eine lokale Abstimmung in dieser Frage. Die Initiative wurde unter dem Slogan »Für Gott, Heim und Heimatland« geführt. Obwohl um 1878 Petitionen von Frauen keine Neuheit mehr darstellten, war doch der Ausgang dieser Kampagne etwas Neues. Die Popularität des Slogans in Verbindung mit Frances Willards hervorragendem Organisationstalent hatte solchen Frfolg, daß die Petition das Unterhaus des Parlaments von Illinois bereits mit 110 000 Unterschriften erreichte (ungefähr die Hälfte davon kamen von Frauen) und, als sie vor den Senat des Bundesstaates kam, noch 70 000 Unterschriften dazugewonnen hatte. Die Frauen, die in einem solchen Projekt engagiert waren, erlangten ein neues Bewußtsein ihrer potentiellen Stärke, und Presse wie Politiker waren tief beeindruckt. Als überzeugende Rednerin ohne Scheu vor dem, was intellektuelle Feinschmecker als Klischee bezeichnen würden, und mit dem Sinn dafür, die Kongresse des Verbands in dramatische und feierliche Ereignisse zu verwandeln, verließ sich Frances Willard allerdings nicht allein auf diese Talente, um ein großes Spektrum von Frauen in den Verband zu ziehen. Sie prägte als Motto für den Verband: »Tu Alles« und schaffte zu seiner Verwirklichung eine Reihe von »Ressorts« mit jeweils eigenen Arbeitsprogrammen, die auf den unterschiedlichen Bewußtseinsstand von Frauen zugeschnitten waren. Es gab Ressorts für die Arbeit in Kindergärten, Gefängnissen und mit Kranken in geschlossenen Anstalten; andere befaßten sich mit Körperkultur und -hygiene, mit Prostitution und mit Müttern, und es gab auch ein Ressort Arbeit für das Frauenwahlrecht. Zeitweilig bestanden 38 Ressorts. Es überrascht gewiß nicht, daß nicht alle gleich effektiv waren. Das Wahlrechtsressort gehörte, solange Miss Willard die Organisation leitete, zu den aktivsten.
In erstaunlich kurzer Zeit war der Christliche Mäßigkeitsverband der Frauen in jedem Bundesstaat vertreten und nahm für sich in Anspruch, für mehr als zweihunderttausend Frauen zu sprechen. Zwar war die Wirksamkeit der einzelnen lokalen Gruppen verschieden, im ganzen gesehen erreichte aber keine andere Frauenorganisation den Einfluß und die Reichweite des Mäßigkeitsverbands, und zwar über viele Jahre. Seine große Anziehungskraft wird belegt durch die Vielzahl fähiger Frauen, die er irgendwann in ihrem Leben zu Aktivität und zur Übernahme von Führungspositionen bewog: die Arbeiterführerin Leonora Barry, die schwarze Rednerin und Schriftstellerin Frances Harper, Anna Howard Shaw, Mary Livermore, Zerelda Wallace, Mary McDowell und viele andere. Doch lag gerade in der Vielfalt der Aktivitäten innerhalb des Verbandes W.C.T.U. und in seiner großen, tatkräftigen Mitgliederschaft die Grundlage für einen scharfen Konflikt zwischen den beiden Fragen Frauenwahlrecht und Temperenz, von denen Frances Willard geglaubt hatte, sie könnten sich gegenseitig stärken. Denn - aus den bereits erwähnten Gründen - waren Frauenrechtsreformerinnen so oft für die Sache der Mäßigkeit engagiert, daß seit ihrem allerersten Schritt in Richtung auf das politische Wahlrecht das Lager der Alkoholinteressen seinen ganzen Einfluß gegen sie geltend machte, wie etwa bei dem Referendum von 1867 in Kansas. Als der W.C.T.U. stärker wurde und sein Wahlrechtsressort sich entwickelte und immer mehr Aktivistinnen für bundesstaatliche Kampagnen auf die Beine bringen konnte, wurde auch die Opposition aus dem Alkohollager schärfer und giftiger. Unter einigen Suffragetten breitete sich das Gefühl aus, die beiden Themen dürften im Bewußtsein der Öffentlichkeit nicht miteinander identifiziert werden, und das Wahlrechtsengagement von W.C.T.U.-Frauen schaffe Hindernisse, die zu der Hilfe, die diese Frauen leisteten, in keinem Verhältnis standen. Abigail Scott Duniway aus Oregon konnte sich über nichts mehr ereifern als über diese Frage und beharrte stets darauf, es wäre der Einmischung der mit dem W.C.T.U. in Verbindung stehenden nationalen Frauenwahlrechtsführerinnen zu verdanken, daß in Oregon sechs Referenden abgehalten werden mußten, bevor der Staat den Frauen das Wahlrecht gab.
Miss Anthonys Meinung war geteilt. Trotz ihrer persönlichen Freundschaft mit Miss Willard und obwohl sie bereit war, die Hilfe des Verbands in Anspruch zu nehmen, wenn die Situation es erforderte (wie bei der katastrophalen und erfolglosen Referendumskampagne in South Dakota 1890), war sie sich der Gefahren bewußt. 1896 ersuchte sie Miss Willard, einen nationalen W.C.T.U.-Kongreß nicht wie geplant in Kalifornien abzuhalten, weil er ein Referendum zum Frauenwahlrecht in diesem Staat ungünstig beeinflussen könnte. Miss Willard zeigte Einsicht und Kooperationsbereitschaft, und der Kongreß wurde stattdessen in St. Louis abgehalten (auch das konnte allerdings die Niederlage des Wahlrechtsvorschlags in Kalifornien nicht verhindern). Aber der Konflikt wurde nie gelöst, bis schließlich die Alkoholindustrie aufgrund der Bedrohung durch den Prohibitionszusatz in der Verfassung ihre Hauptenergien akuteren Problemen zuwandte. Gleichwohl führte Mrs. Catt die Tatsache, daß ein Referendum noch 1916 in West Virginia verloren wurde, auf den Umstand zurück, daß die Kampagne dafür personell größtenteils von W.C.T.U.-Aktivistinnen getragen war und von ihnen geleitet wurde.[9]
Durch Miss Willards allmählichen Rückzug aus der aktiven Leitung und nach ihrem Tod im Jahr 1898 schrumpfte die Aufmerksamkeit des Verbandes wieder auf sein ursprüngliches Anliegen der Temperenz zurück. Welche Probleme sie auch für die Sache des Frauenwahlrechts aufgeworfen haben mag, Tatsache bleibt, daß keine andere Organisation des neunzehnten Jahrhunderts soviele Frauen erreichte und beeinflußte. Spätere Organisationen - der Allgemeine Verband der Frauenclubs, der Nationalverband der Geschäftsfrauen- und Akademikerinnenclubs (National Federation of Business and Professional Women's Clubs), der Christliche Verein Junger Frauen, die Wahlrechtsvereine und zahllose Kirchen-, Landwirtschafts-, Berufsvereinigungen und sonstige spezialisierte Gruppen - konnten alle in unterschiedlichstem Maß davon profitieren, daß Miss Willard mit dem Aufbau einer so breiten und vielseitigen Organisation, wie es der Christliche Mäßigkeitsverband der Frauen in seinen besten Tagen gewesen war, Erfolg gehabt hatte. In dem über 1100 Seiten starken Bericht über die Frauenclub-Bewegung von Jenny Croly findet sich kaum ein Hinweis, daß sich auch schwarze Frauen organisierten, und die nationale Organisation der schwarzen Frauenclubs, die 1895 in Boston gegründet wurde, wird nicht einmal erwähnt.[10] Der Ausschluß schwarzer Frauen aus den Organisationen der weißen Frauen im Norden wie im Süden spiegelte das bestehende und im Grunde unangetastete System der Rassensegregation des neunzehnten Jahrhunderts wider. Dazu traten andere Gründe, die zur Entstehung schwarzer Frauenclubs beitrugen und aus den immensen Unterschieden im Leben der meisten schwarzen und weißen Frauen herrührten.
Selbst außerhalb des Südens waren Schwarze noch weitgehend Bürger zweiter Klasse, die sich selbst kümmern mußten um soziale Leistungen, die in der weißen Gesellschaft zunehmend eine Angelegenheit öffentlicher Zuständigkeit geworden waren: Pflege der Kranken, Obdachlosen und Alten, Gesund-heits- und Bildungseinrichtungen. Darüber hinaus sahen sich die schwarzen Frauen des Südens sexuellen Mißhandlungen und der Gefahr der Prostitution in einem Maße ausgesetzt, das ihren weißen Schwestern unbekannt war. Die häufige Trennung der Familie, oft hervorgerufen dadurch, daß der Ehemann sich nach Arbeit umsehen oder einfach in Sicherheit bringen mußte, brachte weitere Probleme mit sich, bis hin zu wirklicher Verelendung. Unter solchen Umständen hatten die schwarzen Frauenclubs eine Bedeutung und Inhalte, die von denen weißer Frauengruppen stark abwichen und seltener an die früheren Literatur- und Bildungsgesellschaften anknüpften, sondern eher an solche Anliegen wie Kranken- und Altenpflege, die Unterstützung einer Kirche oder Förderung eines bedürftigen Studenten. In dem Maße, wie die Frauen an Erfahrungen gewannen, ihr Horizont weiter wurde und sie eine Führung herausbildeten, wurden auch die Clubprogramme differenzierter und umfaßten schließlich, wie eine Frau es ausdrückte, »das organisierte Begehren von Frauen, die klug genug geworden waren, um ihre eigenen niederen Verhältnisse zu begreifen, und stark genug, um die Kräfte für die Reform in Gang zu setzen«.[11]
In den 1890er Jahrer verbreitete sich unter farbigen Frauen die Auffassung, daß sie für ihre Gruppe eine nationale Organisation brauchten. Als Pläne für die Kolumbus-Ausstellung in Chicago 1893 entstanden, drängte Hallie Q. Brown von der Wilberforce-Universität die Vorsitzende des Managerinnen-Ausschusses, Mrs. Potter Palmer, eine schwarze Vertreterin in den Ausschuß zu berufen. Als ihr gesagt wurde, daß nur Vertreterinnen einer nationalen Organisation Mitglieder des Ausschusses werden könnten, begann Miss Brown die bestehenden, nur lose zusammengeschlossenen schwarzen Frauenclubs zur Gründung eines Vereins zu drängen. Eine Anzahl solcher Clubs in Washington, D.C., hatten sich bereits zum Bund Farbiger Frauen (Colo-red Women's League) zusammengeschlossen und ein Programm ausgearbeitet, das Unterricht in englischer Literatur, Deutsch, Nähen, Kochen und Gartenpflege, einen Modellkindergarten und eine Tagesstätte für Kinder erwerbstätiger Mütter umfaßte.[12]
Um die Antriebskräfte zu verstehen, die eine nationale Organisation schwarzer Frauen herbeiführten, muß man Umstände berücksichtigen, denen nur die schwarze Frau ausgesetzt war: die Ansicht der Weißen, daß sie zu einer Moral der Monogamie unfähig sei, und die Gewalttätigkeit, von der ihr Leben im Süden bedroht war.
Selbst einige der weißen Frauen in den Nordstaaten, die mit seltener Hingabe als Lehrerinnen und Missionarinnen nach dem Bürgerkrieg unter ehemaligen Sklaven arbeiteten, neigten dazu, der schwarzen Frau selbst die Schuld an der hohen Rate unehelicher schwarzer Kinder zu geben: »Die Negerfrauen des Südens sind Versuchungen ausgesetzt, von denen ihre weißen Schwestern im Norden keine Ahnung haben und die ihnen aus den Tagen der Versklavung ihrer Rasse erwuchsen. Noch immer sind sie Opfer des weißen Mannes unter dem Deckmantel eines Systems, das überlebt und stillschweigend anerkannt wird und das sie der Sympathie und der Hilfe der weißen Frauen des Südens beraubt; und um solchen Versuchungen zu widerstehen, kann die Negerfrau nur den Widerstand bieten, den eine niedere Moral erlaubt, das Erbe eines Systems der Sklaverei, das durch das lebenslängliche Vegetieren in Hütten, die nur einen Raum haben, noch weiter erniedrigt wird.«[13]
Die schwarzen Frauenführerinnen sprachen nicht von »Versuchungen«. Fannie Barrier Williams, eine im Norden geborene und gebildete Schwarze, Gründerin der ersten Schule für schwarze Krankenschwestern im Provident-Krankenhaus in Chicago, sprach eine klare Sprache in ihrer Rede vor einer nationalen und weltweiten Frauenversammlung anläßlich der Kolumbus-Weltausstellung:
»Ich bedaure, daß es nötig ist, über die Frage des moralischen Fortschritts unserer Frauen zu sprechen, aber über die Moral unseres häuslichen Lebens sind so abwertende und gemeine Kommentare erfolgt, daß wir in die unglückliche Lage gekommen sind, unseren Namen verteidigen zu müssen . . . Ich schätze den Abscheu, mit dem alle auf die amerikanische Sklaverei verweisen, hoch, aber es ist darüber hinaus unumgänglich, eben diesem System alle moralischen Unvollkommenheiten anzulasten, die den Charakter der farbigen Amerikaner beeinträchtigen. Die Sklaverei bezog ihre ganze Existenz und Macht aus der aufgezwungenen Degradierung aller Menschlichkeit bei den Sklaven. Der Sklavenkodex kannte nur eine tierähnliche Unterscheidung in Geschlechter und ignorierte rücksichtslos alle Unterschiede und Trennungen, die gewöhnlich zu einem sozialen Staat gehören. Es ist ein großes Wunder, daß zwei Jahrhunderte einer solchen Demoralisierung nicht überhaupt die vollständige Auslöschung aller moralischen Instinkte bewirkt haben.«[14]
Die Bedrohung der eigenen Person war nur ein Aspekt der Gewalt, in deren Schatten die schwarze Frau im Süden oft lebte, arbeitete und ihre Familie aufzog, die Lynchjustiz war ein anderer. Gewalttätige Angriffe, oft mit tödlichem Ausgang, durch den Ku-Klux-Klan und seine Verbündeten wurden gerichtlich nicht verfolgt. Widerstand erzeugte nur weitere Repressalien. Es ist bedeutsam, daß eine der ersten und eindruckvollsten Stimmen, die sich gegen eine Welle von Lynchmorden in den Südstaaten während der 1890er Jahre erhob, Ida B. Wells gehörte, die sich auch für die Versuche farbiger Frauen engagierte, das moralische Stigma, das ihrem Ruf anhaftete, zu überwinden.
Ida Wells wurde in der kleinen Stadt Holly Springs (Mississipi) geboren, genau sechs Monate vor der Proklamation der Emanzipation (1863). Ihre Eltern waren Sklaven.[15] Vater, Mutter und drei Geschwister starben während einer Gelbfieberepidemie, und so fiel ihr im Alter von 14 Jahren die Pflicht zu, vier kleinere Geschwister großzuziehen. Sie bewarb sich um eine Stellung als Lehrerin in einer Schule, wobei sie angab, daß sie achtzehn sei, und unterrichtete sieben Jahre lang. 1884 zog sie nach Memphis (Tennessee) und begann, zusätzlich zu ihren Lehrverpflichtungen Artikel für die kleinen Zeitungen zu schreiben, die damals von Schwarzen gegründet wurden. 1889/90 erwarb sie einen Drittelanteil an der Memphis Free Speech und wurde ihre Herausgeberin.
Da Miss Wells ihre Zeitung dazu benutzte, das niedrige Niveau der Schulen zu kritisieren, die schwarze Kinder besuchen mußten, verlängerte die Schulverwaltung von Memphis ihren Lehrvertrag nicht. Sie bereiste als Korrespondentin den ganzen Süden und beschrieb, was sie sah und über die Lebensbedingungen ihres Volkes hörte. Der Wendepunkt ihres Lebens kam 1892, als drei schwarze Männer, die ein florierendes Lebensmittelgeschäft führten, in der Nähe von Memphis gelyncht wurden. Die Free Speech prangerte das Verbrechen an und wies nach, daß der übliche Vorwand, die Ermordeten seien für die Vergewaltigung einer weißen Frau bestraft worden, nur Deckmantel für die ökonomischen Motive der Mörder war: Die Opfer waren als Geschäftsleute erfolgreich und wurden bedrohlich für die weißen Händler, die den Laden übernehmen wollten. Wegen dieses Verbrechens, die Wahrheit an den Tag gebracht zu haben, wurde die Redaktion der Free Speech vom Mob gestürmt; der Geschäftsführer flüchtete, um sein Leben zu retten, und Miss Wells, die gerade in Philadelphia war, wurde gewarnt, nicht zurückzukehren. Sie initiierte einen wahren Eine-Frau-Kreuzzug gegen die Lynchjustiz über Artikel in anderen Zeitungen, von der Rednertribüne aus und durch ihre Mithilfe bei der Gründung von Schwarzen Frauenclubs in Boston, New York, Chicago und im Mittleren Westen. Ein Protokoll über einzelne Lynchakte, das sie in den Jahren 1892 bis 1894 zusammenstellte und das mit einer Einführung von Frederick Douglass unter dem Titel Das Rote Protokoll veröffentlicht wurde, entfachte erneut die Wut der Öffentlichkeit gegen sie. Ebenso eine Vortragsreise durch Großbritannien, zu der sie eingeladen worden war und während der sie Anti-Lynch-Gesellschaften organisierte.
Im Juni 1895 berichtete The Women's Era, eine Bostoner Zeitung von Schwarzen, daß Florence Balgarnie, eine englische Wahlrechtspionierin, die sich auch sehr für die Emanzipation und Besserstellung der Schwarzen interessierte, von dem Herausgeber eines kleinen Blattes in Missouri, John W. Jack, einen Brief erhalten hatte, in dem er behauptete, die Moral der schwarzen amerikanischen Frauen sei niedrig.[16] Der Brief, der anscheinend nie veröffentlicht wurde, zirkulierte unter einflußreichen schwarzen Frauen und wurde zum zündenden Funken dafür, daß schließlich eine nationale Organisation farbiger Frauen zustande kam. Der Bostoner New Era Club (den Miss Wells mitgegründet hatte) verschickte von Josephine St. Pierre Ruffin unterzeichnete Einladungen an andere Clubs, damit über die Frage beraten würde.
Es gibt nichts Unterschiedlicheres als die Lebenswege von Ida Wells und Mrs. Ruffin, und so hätten sie wenig gemein, gäbe es nicht ihr schwarzes Erbe. Mrs. Ruffin aus Neuengland hatte die für den amerikanischen »Schmelztiegel« typische bunte Ahnenreihe: Indianer, Franzosen, Engländer - und Schwarze. Ihre Jugend illustriert die Probleme der Kinder freier Schwarzer. Als sie in die Schule kam, gab es in Boston noch immer nur segregierte Schulen. Ihre Eltern schickten sie nach Salem, wo kein solches Hindernis existierte. Einen Tag nach der Aufhebung der Segregation in Boston kehrte sie nach Hause zurück, um ihre Ausbildung dort zu beenden. Nach ihrer Heirat mit George L. Ruffin versuchte das junge Paar zunächst durch Emigration nach England der Rassendiskriminierung zu entgehen. Nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges kehrten sie nach Amerika zurück, und George L. Ruffin wurde einer der ersten farbigen Absolventen der Jura-Fakultät von Harvard und einer der ersten Schwarzen, die für den Bostoner Gemeinderat arbeiteten und in Massachusetts für ein Richteramt ernannt wurden.[17]
Mrs. Ruffin beteiligte sich aktiv am öffentlichen Leben - sie war Suffragette, eine der ersten ihrer Rasse, die Mitglied im Frauenclub von Neuengland wurde, und Herausgeberin der Women's Era. Es entsprach ihrem Temperament, beim Organisieren der schwarzen Frauen eine führende Rolle zu
übernehmen. Ihre Rede vor den Vertreterinnen von rund zwanzig Vereinen, die sich vom 29. bis 31. Juli 1895 in Boston trafen, verdient einen Platz in den Annalen der Geschichte der amerikanischen Frauen:
»In ganz Amerika gibt es eine große und ständig wachsende Klasse von eifrigen, intelligenten, fortschrittlichen schwarzen Frauen, die, wenn sie nicht schon ein erfülltes und sinnvolles Leben führen, nur auf die Gelegenheit dazu warten. Viele unter ihnen leiden sehr unter dem Mangel an Gelegenheit, nicht etwa mehr zu tun, sondern mehr zu sein. Aber dennoch, wenn die Beurteilung der farbigen Frauen von Amerika zur Debatte steht, lautet die unvermeidliche und geschwätzige Antwort: »Zum größten Teil dumm und unmoralisch, natürlich gibt es ein paar Ausnahmen, aber die zählen nicht.<
Aber um der Tausende sich aufopfernder junger Frauen willen, die in einsamen Hinterwäldern des Südens lehren und predigen, für das edle Heer von Müttern, die diesen Frauen das Leben schenkten, Mütter, deren Intelligenz nur begrenzt wurde durch die Schwierigkeit, an Bücher heranzukommen, um der gebildeten und kultivierten Frauen willen, die unsere und oft auch ausländische Schulen mit Auszeichnung absolviert haben, um unserer eigenen Würde und der Würde unserer Rasse und um des guten Rufs unserer Kinder willen ist es unsere >Pflicht und Schuldigkeit< an die Öffentlichkeit zu treten und uns selbst und unsere Grundsätze darzustellen und einer unwissenden und mißtrauischen Welt beizubringen, daß unsere Ziele und Interessen identisch sind mit denen aller guten aufstrebenden Frauen. Zu lange haben wir geschwiegen unter den ungerechten und ruchlosen Vorwürfen. . . . Jahr um Jahr haben Südstaatlerinnen gegen die Zulassung von schwarzen Frauen in jegliche nationale Organisation wegen ihrer Unmoral protestiert. Und da diese falsche Anschuldigung immer nur in Einzelfällen untersucht worden ist, wurde sie niemals so zunichte gemacht, wie es anfangs noch möglich und nötig gewesen wäre. . . Um endlich dieses Schweigen zu brechen, nicht indem wir lautstark daraufhinweisen, was wir nicht sind, sondern indem wir auf würdevolle Weise zeigen, was wir sind und zu werden hoffen, sind wir gezwungen, diesen Schritt zu tun und diese Versammlung zum Anschauungsunterricht für die Welt zu machen.«
Mrs. Ruffin forderte die weißen Frauen direkt heraus, die die Schwarzen aus ihren Organisationen ausgeschlossen hatten:
»Unsere Frauenbewegung ist eine Frauenbewegung, insofern sie geleitet und bestimmt wird von Frauen zum Guten der Frauen und Männer, zum Wohle der ganzen Menschheit, die mehr ist als irgendein einzelner Teil von ihr. Wir wollen, wir fordern das aktive Interesse unserer Männer, und wir ziehen auch keine Trennungslinie zwischen Hautfarben; wir sind Frauen, amerikanische Frauen, ebenso eindringlich interessiert an allem, was uns als Frauen angeht, wie alle anderen amerikanischen Frauen; wir wollen uns nicht entfremden oder zurückziehen, wir treten nur an die Front, bereit, uns mit allen anderen für dasselbe Werk zusammenzutun, und bitten und begrüßen alle anderen herzlich, sich mit uns zusammenzutun.«[18] Die Bostoner Versammlung organisierte den Nationalverband Afro-Ameri-kanischer Frauen (National Federation of Afro-American Women) und wählte Mrs. Booker T. Washington, die Frau des Gründers des Tuskegee-Instituts in Alabama, zur Präsidentin. Nach wenigen Monaten berichtete The Woman's Era von Zweigverbänden in sechzehn Staaten (Alabama, Kalifornien, Georgia, Illinois, Kansas, Louisiana, Massachusetts, Missouri, New York, Nebraska, North Carolina, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, Tennessee und Virginia), was deutlich machte, daß es in allen Teilen des Landes gärte.[19] Innerhalb eines Jahres wurde der Zusammenschluß mit dem Washingtoner Bund Farbiger Frauen vollzogen und eine neue Organisation gegründet, der Nationalverein Farbiger Frauen (National Association of Colored Women). Immer mehr Clubs traten der N.A.C.W, bei, und viele Jahre lang war diese Organisation treibende Kraft in der schwarzen Gemeinde.
Ihre erste Präsidentin, Mary Church Terrell, war eine ungewöhnliche Vertreterin der neuen schwarzen Frau mit Hochschulbildung.[20] Wie Mrs. Ruffin war Mrs. Terrell gemischter Herkunft; sie stammte aber aus Tennessee, und ihre Mutter war Sklavin gewesen. Nachdem sie ihre Abschlußprüfung am Oberlin-College gemacht hatte, wurde sie Lehrerin. Sie war die erste schwarze Frau, die in der Schulverwaltung des District of Columbia tätig war. Sie arbeitete aktiv für Frauenrechte und hielt Reden auf mehreren nationalen Wahlrechtsversammlungen. Sie war eine hervorragende Sprach-kennerin und begeisterte den Internationalen Frauenrat, der 1904 in Berlin zusammentrat, damit, daß sie ihre Rede nacheinander in Englisch, Deutsch und Französisch hielt.
Mrs. Ruffins Aufruf zur Zusammenarbeit wurde von den weißen Frauen aus den Clubs nicht erwidert, obwohl einzelne Clubs durchaus den Versuch machten, die Rassenschranke zu durchbrechen. Mrs. Ruffin selbst stand im Mittelpunkt einer stürmischen Auseinandersetzung, die während der Versammlung des Allgemeinen Verbandes von Frauenclubs im Jahre 1900 in Milwaukee stattfand. Sie trat als Abgesandte zweier Vereine auf, des Verbands der Frauenclubs von Neuengland und des New Era Clubs, und zunächst wurden beide akzeptiert. Als man jedoch entdeckte, daß der New Era Club aus farbigen Frauen bestand, blieb der Aufruhr nicht auf einen Wortwechsel beschränkt: Man versuchte, Mrs. Ruffin im Saal ihren Ausweis zu entreißen. Sie leistete hartnäckig Widerstand und der Zusammenstoß machte Schlagzeilen.[21] Die vom Delegationsausschuß praktizierte »Lösung«, sie als Delegierte des Verbands weißer Clubs zuzulassen, ihre Vertretung des schwarzen Clubs aber zurückzuweisen, stand in einer Linie mit der Praxis anderer Gruppen, wie des Christlichen Mäßigkeitsverbandes der Frauen, der schwarze Frauen nur innerhalb segregierter Untergruppen zuließ, und des Christlichen Vereins Junger Frauen. Eine wirkliche Lösung sollte noch jahrzehntelang unmöglich sein, solange das Problem nicht an der Wurzel gepackt wurde; es tauchte jedesmal auf, wenn schwarze Frauen versuchten, ihren Platz neben weißen Frauen einzunehmen, um ihre gemeinsamen Ziele zu erreichen.[22]