Sahen die Jahre von 1896 bis 1910 bezüglich des Frauenwahlrechts eine ununterbrochene »Flaute«, so war die Zeit von 1910 bis 1915 eine widersprüchliche Mischung von Aufbruch, Verwirrung und andauernder Lähmung. Das Wachstum von aufrührerischen, reformfreudigen Fortschrittsparteien in den Staaten des mittleren und fernen Westens hatte eine entscheidende Rolle gespielt für den positiven Ausgang einer Anzahl von Referenden zum Frauenwahlrecht. Doch trotz der Tatsache, daß die neugegründete nationale Fortschrittspartei (Progressive Party) das Frauenwahlrecht in ihr Programm für die Präsidentschaftswahlen von 1912 zugunsten der Kandidatur von Theodore Roosevelt aufnahm (Jane Addams unterstützte seine Nominierung, und Frauen in vielen Staaten arbeiteten für die Partei), trifft doch die Behauptung einiger Wahlrechtshistoriker kaum zu, derzufolge das Frauen Wahlrecht 1912 ein Thema von nationaler politischer Bedeutung geworden war. Den Politikern wurde bewußt, daß fast eine Million Frauen in sechs Staaten würden wählen können, aber es ist fraglich, ob sein Eintreten für das Frauenwahlrecht Roosevelt viele Stimmen einbrachte oder ob es die großen Parteien viele Stimmen kostete, daß sie sich nicht dafür einsetzten.
Tatsächlich war das Interesse an einem Frauenwahlrechts-Zusatz zur Bundesverfassung an einem Tiefpunkt angelangt. Die alljährlichen Anhörungen zum Entwurf vor den Ausschüssen von Senat und Repräsentantenhaus waren zur Routine geworden, denn man erwartete nichts mehr von ihnen. Das Frauenwahlrecht hatte im Senat seit 1887 nicht mehr zur Debatte gestanden und war nie vor das Repräsentantenhaus gebracht worden; seit 1893 hatten die Ausschüsse in beiden Häusern keinen wohlwollenden Bericht über den Wahlrechtsantrag erstellt, und seit 1896 hatten sie überhaupt keinen Bericht mehr dazu vorgelegt.[1] Die Vorsitzende des NAWSA-Kon-greßkomitees für das Jahr 1912, Mrs. William Kent, erhielt für die Ausgaben im Zusammenhang mit den Anhörungen 10 Dollar und gab am Ende ihrer Amtszeit das Kleingeld zurück!
Daß diese Situation sich innerhalb von ein paar Monaten änderte, ist einer jungen Frau zu verdanken, die im militanten Flügel der englischen Wahlrechtsbewegung eine gründliche Lehre durchgemacht hatte. Alice Paul war Quäkerin und Sozialarbeiterin; 1907 war sie zur Fortsetzung ihres Studiums nach England gegangen. Sie wurde nicht nur für ihre Wahlrechtsaktivitäten ins Gefängnis gesteckt, sondern trat in den Hungerstreik und mußte die Qual der Zwangsernährung über sich ergehen lassen. Sie kam 1910 in die Vereinigten Staaten zurück und berichtete vor amerikanischen Wahlrechtsgruppen von den Erfahrungen der englischen Bewegung. Während sie an der Universität von Pennsylvania promovierte, arbeitete sie mit den dortigen Suffragetten zusammen und organisierte mit ihnen die ersten Kundgebungen unter freiem Himmel in Philadelphia, wie sie in anderen Staaten bereits durchgeführt worden waren.
In England hatte sich Miss Paul mit Lucy Bums angefreundet, einer anderen Amerikanerin, die mit dem militanten Flügel zusammenarbeitete; in den USA nahmen sie ihre Freundschaft wieder auf und erörterten 1912 mit Jane Addams und Anna Howard Shaw, was sie für den Anthony-Zusatz tun könnten. Der NAWSA-Vorstand berief sie in sein Kongreßkomitee, und Miss Paul trat die Nachfolge von Mrs. Kent als dessen Vorsitzende unter der Voraussetzung an, daß der Ausschuß seine Geldmittel selbst beschaffen sollte.
Alice Paul und Lucy Burns kamen im Januar 1913 nach Washington. Sie gewannen ein paar weitere Frauen für ihre Sache - Lawrence Lewis, Crystal Eastman und Mary Beard; in kürzester Zeit wurde ihnen klar, daß ein großes Potential an Interesse und Einsatzbereitschaft für den Wahlrechtszusatz vorhanden war, das nur darauf wartete, geweckt zu werden, und eine aufsehenerregende Kampagne begann sich zu entwickeln. Innerhalb von zwei Monaten hatte die winzige Gruppe einen Umzug von 5000 Frauen organisiert. Mit dem für ihre Wahlrechtsarbeit typischen Sinn für das Spektakuläre legte Miss Paul den Umzug auf den Tag vor der Amtsübernahme von Woodrow Wilson, denn Washington würde von Besuchern aus dem ganzen Land überfüllt sein. Als Mr. Wilson in Washington eintraf und die Straßen leer und ohne jubelnde Massen vorfand, soll er gefragt haben, wo denn die Leute seien; man antwortete ihm, sie seien drüben auf der Pennsylvania Avenue, um den Frauenwahlrechtsumzug zu sehen. Wie sich später herausstellte, hatten die Leute nicht nur zugesehen. Miss Paul hatte eine polizeiliche Genehmigung für die Demonstration, erhielt aber keinerlei praktische Hilfe, als das Geschehen fast in Tumulte ausartete; die Menge zeigte ein Verhalten, das sich sehr von dem unterschied, das die Suffragetten in New York und anderen Städten gewohnt waren: »Fünftausend Frauen, die heute in dem Frauenwahlrechtsspektakel marschierten, mußten sich ihren Weg die Pennsylvania Avenue hinauf praktisch Schritt für Schritt freikämpfen, durch eine wogende Menge hindurch, die sich der Washingtoner Polizei energisch widersetzte, die Marschreihen durchbrach und den Umzug in kleine Gruppen aufsplitterte. Die Frauen, die unter großen Schwierigkeiten unbeirrbar weiterschritten, konnten ihren Umzug erst beenden, als Kavallerie-Einheiten vom Fort Myers eilig nach Washington beordert wurden, um sich um die Pennsylvania Avenue zu kümmern. Keine Amtsübernahme hat je solche Szenen hervorgerufen, die oft in regelrechte Tumulte ausarteten.«[2]
»Die Frauen«, so war in einer anderen Zeitung zu lesen, »mußten sich von Anfang an ihren Weg freikämpfen und brauchten über eine Stunde für die ersten zehn Häuserblocks. Viele Frauen brachen unter den Sticheleien und Beleidigungen der Zuschauer am Straßenrand in Tränen aus. An der Fourth Street war kein Vorwärtskommen mehr möglich. Der Polizeichef Johnson forderte einige Angehörige eines Regiments der Nationalgarde von Massachusetts auf, bei der Räumung zu helfen. Einige lachten, und einer von ihnen erklärte dem Polizeichef, sie hätten keine Order, als Geleitschutz aufzutreten. An der Fifth Street versperrte die Menge erneut den Weg, und ein Vorwärtskommen war unmöglich. Das 13. Regiment der Nationalgarde von Pennsylvania wurde herbeigerufen und erklärte sich bereit, polizeiliche Funktionen zu übernehmen... Sehr wirksame Hilfe leisteten die Studenten des Landwirtschaftscollege von Maryland, indem sie die demonstrierenden Frauen schützten. An der Kreuzung von Sixth Street und Pennsylvania Avenue brach der Polizeischutz gänzlich zusammen, und die Zuschauermassen drängten von beiden Seiten so weit auf die Straße, daß keine drei Frauen mehr nebeneinander gehen konnten. Hier gingen dann die Jungen von Maryland hintereinander in je einer Reihe zu beiden Seiten der >Pilgerinnen< und bildeten so eine schützende Mauer. An der Spitze des Zuges hakte sich ein Schwadron der Collegestudenten unter und bildete eine Vorhut für den Durchbruch durch die Menschenmenge. Einige der >Kriegsberichterstatter< mußten ihre Fäuste einsetzen, um die Menge zurückzudrängen... Der Umzug selber war trotz der Verzögerungen ein großer Erfolg. Der größte Teil der Demonstrantinnen blieb gefaßt, als sie zwischen zwei Mauern aus feindlichen Menschenmassen durchzogen. Sie ließen Beleidigungen über sich ergehen und stellten sich gegenüber Hohn und Spott taub. Nur wenige gaben auf, obwohl einige ältere Frauen von Zeit zu Zeit den Zug verlassen mußten.«[3] Die Öffentlichkeit war über dieses Ereignis so entrüstet, daß eine Untersuchung bei den Bezirks-Kommissaren veranlaßt wurde, und der Washingtoner Polizeichef mußte schließlich zurücktreten. Das brachte den Suffragetten enorme Publizität und dem Kongreßkomitee neuen Aufschwung. Sternfahrten nach Washington wurden im ganzen Land organisiert und Petitionen aus allen Schichten der Bevölkerung gesammelt; ihren Höhepunkt fanden sie in einem Autokorso zum Kapital am 31.Juli, bei dem einer Gruppe von Senatoren Frauenwahlrechtspetitionen mit 200 000 Unterschriften überreicht wurden. Delegationen statteten Besuche bei Präsident Wilson ab, dessen frühere Erklärungen zum Frauenwahlrecht - angefangen mit seiner berühmten Bemerkung, daß diese Angelegenheit niemals an ihn herangetragen worden sei - wenig Hoffnung machten.
Die NAWSA-Führerinnen begrüßten es zwar, daß sich durch die Arbeit des Kongreßkomitees das Interesse am Bundesverfassungszusatz ungeheuer vergrößert hatte, bekamen aber allmählich ein ungutes Gefühl, eine Kraft freigesetzt zu haben, die sie nur schwer würden kontrollieren können. Als Miss Paul und Miss Bums im April 1913 eine nationale Organisation mit dem alleinigen Zweck gründeten, für den Wahlrechtszusatz zur Bundesverfassung zu arbeiten, so geschah das allerdings noch mit der Zustimmung von Dr. Shaw. Die Organisation wurde Kongreßbund (Congressional Union) genannt und gab ab November 1915 eine eigene Wochenschrift, The Suffragist, heraus. Miss Paul wurde zur Vorsitzenden ernannt, während sie gleichzeitig den Vorsitz im Kongreßkomitee der NAWSA beibehielt, und niemand konnte genau sagen, wo die Aktivitäten der einen Organisation begannen und die der anderen aufhörten, vor allem in der Frage der Finanzen.[4] Solche Unklarheit war an sich nicht überraschend: Die Suffragetten haben sich nie durch peinlich genaue organisatorische Vorgehensweise ausgezeichnet. Die wirkliche Schwierigkeit lag in der immer tiefer werdenden Kluft zwischen dem Mutterverband und der neuen Organisation, die schon unvermeidlich gewesen war, als Miss Paul die Führung des Kongreßkomitees übernommen hatte: Sie resultierte aus dem Unterschied zwischen dynamischen und statischen Arbeitsmethoden und Zielsetzungen und führte auf dem Wahlrechtskongreß von 1913 zum offenen Konflikt. Der Kongreßbund verlangte eine durchschlagende Kampagne für die sofortige Annahme des Wahlrechtszusatzes, denn er hielt die Verabschiedung und Ratifizierung durch drei Viertel aller Staaten für ein erreichbares Ziel, vorausgesetzt, alle Kräfte würden dafür zusammengezogen. Die NAWSA-Führung hielt ein solches Programm für viel zu verfrüht. Mrs. Catt, die wieder einmal am Schauplatz war und das Referendum vorbereitete, das New Yorker Suffragetten 1915 zu gewinnen hofften, war die treibende Kraft in einer Bewegung zur stärkeren Zentralisierung der versprengten Aktivitäten der NAWSA, die auch anstrebte, daß das Kongreßkomitee seine Politik vor der NAWSA-Leitung zu verantworten hatte.
Das von Miss Paul und ihren Mitarbeiterinnen vorangetriebene Programm erhielt nicht die Unterstützung der Jahresversammlung, die statt dessen dem NAWSA-Vorstand die notwendige Machtbefugnis erteilte, die Einflußbereiche des Kongreßkomitees und des Kongreßbundes voneinander abzugrenzen. Es gab lange Verhandlungen, in denen die NAWSA-Funktionärinnen aufrichtig darum bemüht waren, sich die unschätzbare Tatkraft von Miss Paul und Miss Burns zu erhalten, sie aber gleichzeitig in ihrer Freiheit, der traditionellen Politik der NAWSA zuwiderzuhandeln, beschnitten. Doch die vorgeschlagenen Kompromißangebote hätten sich auch dann als unrealisierbar erwiesen, wenn Miss Paul sie akzeptiert hätte, die nie auch nur einen Moment lang von ihrer Ausgangsposition abwich. Die politischen Einschätzungen waren zu unterschiedlich und gingen immer weiter auseinander[5]:
- 1. Der ursprüngliche und grundlegendste Streitpunkt bestand darin, daß der Kongreßbund alle Wahlrechtsarbeit einzig darauf beschränkt sehen wollte, auf den Kongreß und auf den Präsidenten Druck zugunsten eines Zusatzes zur Bundesverfassung auszuüben.
- 2. Der Kongreßbund wies Einschränkungen durch die bestehende Politik der NAWSA zurück. Das betraf den genannten Punkt sowie die wichtige Frage, ob der Bund Organisatorinnen in Staaten schicken dürfe, in denen es bereits funktionierende Frauenwahlrechtsvereine gab. Der Bund war der Auffassung, daß in vielen Fällen Arbeit für den Verfassungszusatz nur geleistet werden konnte, wenn man solche auf einzelstaatlicher Ebene organisierte Vereine umging, die sich ausschließlich für Referendumskampagnen in ihrem Bundesstaat einsetzen wollten. Die NAWSA hielt dagegen an dem fest, was sie schon immer als eines ihrer Hauptprinzipien bezeichnet hatte, daß nämlich »Außenstehende« nur dann in einen Staat kommen und Wahlrechtsarbeit leisten konnten, wenn sie von dem lokalen Verein dazu aufgefordert worden waren.
Da der Konflikt unlösbar war, wurde Miss Paul der Vorsitz im Kongreßkomitee entzogen. Miss Burns und andere Mitglieder traten zurück. Die einflußreiche Mrs. Medill McCormick wurde zur neuen Vorsitzenden ernannt. Der Kongreßbund beantragte, daß sein Status als der NAWSA angeschlossener Verband umgewandelt würde in den einer Hilfsorganisation, und zwar weil damit die Beiträge niedriger würden. Im Februar 1914 stimmte der NAWSA-Vorstand mit 54 zu 24 Stimmen gegen eine solche Abmachung, und daraufhin gingen die beiden Organisationen getrennte Wege. Zwar wurden in der Folgezeit von Seiten der NAWSA immer wieder Versuche unternommen, den Bruch zu heilen, angesichts neuer Differenzen waren sie aber immer zweckloser. Ein Streitpunkt bestand darin, daß der Kongreßbund beharrlich die jeweilige Regierungspartei für den Mißerfolg des Frauenwahlrechtsantrages verantwortlich machte und ihr ungenügenden Einsatz im Kongreß vorwarf. Dieses Prinzip war von den militanten Engländerinnen übernommen worden und hatte seinen Ursprung im parlamentarischen System Großbritanniens, in dem eine Partei wegen Mißerfolgs oder mangelnden Engagements für eine bestimmte Gesetzgebung verantwortlich gemacht und abgesetzt werden konnte. Die orthodoxen amerikanischen Suffragetten erklärten, daß im amerikanischen Regierungssystem keine Partei in ähnlicher Weise verantwortlich gemacht werden könne, und führten als zusätzliches Argument an, daß hier das Thema Frauenwahlrecht quer durch die Parteien ging; sowohl bei der demokratischen Mehrheit als auch bei der republikanischen Minderheit im Kongreß befanden sich Anhänger wie Gegner.
Der Kongreßbund war der Auffassung, daß angesichts der Tatsache, daß die Demokraten eine Mehrheit erwarteten und der Präsident die nominelle Führung seiner Partei innehatte, die Demokraten verantwortlich gemacht werden sollten; um dieses Konzept zu realisieren, versuchte der Kongreßbund, den Demokraten mit den Frauenstimmen in den Staaten mit Frauenwahlrecht zu drohen. Ab 1914 machte der Bund und später seine Nachfolgeorganisation, die Frauenpartei, Kampagnen gegen die Kongreß-Kandidaten der Demokraten, ungeachtet ihrer jeweiligen Einstellung zum Frauenwahlrecht; 1916 arbeitete er gegen die Wiederwahl Wilsons. Die NAWSA dagegen vertrat die Ansicht, eine solche Politik müsse zum Verlust von notwendigen Stimmen aus beiden Parteien führen und werde Wilson nur noch mehr von den Suffragetten entfernen, anstatt seine Unterstützung zu sichern.
Zwei Monate nach dem endgültigen Bruch machte ein neuer Streitpunkt die Kluft noch größer und verschärfte die Handlungsunfähigkeit, an der die NAWSA krankte. Am 2. März wurde ein weiterer Frauenwahlrechtsantrag vor den Kongreß gebracht, der Shafroth-Palmer-Zusatz, der hauptsächlich
von Mrs. McCormick und einigen sie beratenden Senatoren entworfen worden war. Er forderte die Durchführung eines Referendums in all den Staaten, in denen acht Prozent der Wähler der vorausgegangenen Wahl eine Petition für ein Frauenwahlrechtsreferendum unterzeichnet hatten. Die Befürworter erklärten, diese Maßnahme werde die Durchführung von Volksabstimmungen auf einzelstaatlicher Ebene erleichtern (sie verwiesen dabei auf die lange Liste von Staaten, in denen endlose Kampagnen bislang noch nicht zu Abstimmungen geführt hatten). Als weiteres Argument führten sie an, der Shafroth-Palmer-Zusatz werde die Unterstützung all der Senatoren gewinnen, die das Frauenwahlrecht zwar prinzipiell befürworteten, den Anthony-Zusatz jedoch ablehnten mit der Begründung, er sei ein Übergriff auf die Rechte der einzelnen Bundesstaaten. Und hinter dem Schlagwort »bundesstaatliche Rechte« verbarg sich das umstrittene Problem, daß in den Südstaaten den weißen Frauen das Wahlrecht gegeben und gleichzeitig sichergestellt werden sollte, daß es den schwarzen Frauen vorenthalten bliebe.[6] Die Gegner des Shafroth-Palmer-Zusatzes hielten ihn für verwirrend und schwerfällig, denn selbst wenn er angenommen und ratifiziert und somit mehr einzelstaatliche Referenden ermöglichen würde, so müßte doch erst noch jedes einzelne Referendum durchgekämpft und gewonnen werden. Zu den Gegnern gehörten auch viele Mitglieder der NAWSA, die trotz zunehmender Verärgerung über ihre Wirkungslosigkeit der älteren Organisation treu blieben. Durch den Shafroth-Palmer-Zusatz wurde die NAWSA erneut auf eine einzelstaatlich ausgerichtete Wahlrechtsarbeit festgelegt, und das zu einem Zeitpunkt, als die Aussichten hierfür immer hoffnungsloser zu werden schienen.
Die Ereignisse des Jahres 1914 waren durchaus angetan, diese Einschätzung zu erhärten. In sieben Staaten wurde über das Frauenwahlrecht abgestimmt; nur zwei, die dünn besiedelten und politisch unbedeutenden Staaten Montana und Nevada, waren dafür.[7] (Jeanette Rankin, die die Kampagne in Montana zum Sieg geführt hatte, wurde zwei Jahre später als erste weibliche Abgeordnete in den amerikanischen Kongreß gewählt.) Dagegen wurden in Nord- und Süd-Dakota, Nebraska, Missouri und erneut in Ohio zermürbende und kostspielige Kampagnen geführt und verloren. Mrs. Catt bezeichnete die Lage als »ermüdend eintönig«. Immer mehr Suffragetten fragten sich, was denn um alles in der Welt ein weiterer erfolgloser Wahlkampf in Süd-Dakota nützen solle? Wo waren Anhaltspunkte für irgendeine Planung, für Abwägen und Vergleichen der Erfolgsaussichten möglicher Kampagnen kurz, für eine kompetente Führung? Ende 1914 wurde fast der gesamte NAWSA-Vorstand, sechs von neun Mitgliedern, ausgewechselt. Das ganze Jahr 1915 hindurch erschien die NAWSA praktisch bankrott. Ihre Versuche, in Konkurrenz zum Kongreßbund im Washingtoner Kongreß eine Lobby-Politik zu verfolgen, scheiterten kläglich; in einem Fall betrug das zahlenmäßige Verhältnis 41:3. Nur in den vier Staaten des Ostens, wo im Herbst Referenden bevorstanden, zeigte sich reges Leben: die NAWSA knüpfte alle Hoffnungen an einen Durchbruch in New York, Pennsylvania, Massachusetts und New Jersey. In scharfem Gegensatz dazu lief die Arbeit des Kongreßbunds im ganzen Land immer mehr auf Hochtouren. Zur Kampagne für die Präsidentenwahl 1914 schickte er Organisatorinnen in die neun Staaten des Westens, in denen die Frauen das volle Wahlrecht erobert hatten, um dort die Frauenstimmen gegen die demokratischen Kandidaten zu wenden, ungeachtet der Tatsache, daß viele von ihnen für das Frauenwahlrecht eintraten. Miss Paul erklärte ihren Anhängern:
»Wenn die Parteiführer merken, daß einige Stimmen abgewandert sind, werden sie begreifen, daß wir immerhin erkannt haben, welche Macht wir besitzen, und sie werden begreifen, daß wir diese Macht bis 1916 organisiert haben werden. Die bloße Nachricht, daß die Suffragetten des Ostens mit diesem Appell in den Westen gezogen sind, wird genügen, damit jeder Mann im Kongreß sich aufrichtet und aufmerksam wird.«[8]
Ob sich diese Prophezeiung bewahrheitet hat, sei dahingestellt; auf jeden Fall beanspruchte der Kongreßbund zumindest einen Teil des Verdienstes an der Niederlage von 23 der insgesamt 43 demokratischen Kandidaten im Westen. Er überhäufte weiterhin Präsident Wilson mit Besuchen verschiedenster Delegationen von Akademikerinnen, Arbeiterinnen, Frauen aus qualifizierten Berufen und von Wählerinnen aus dem Westen. Im Frühjahr 1915 begann der Kongreßbund, in jedem der 48 Staaten organisatorisch tätig zu werden. Als Teil dieses Plans wurde eine sorgfältig vorbereitete nationale Demonstration in Form eines Autokorsos durchgeführt, die auf der Panama-Pazifik-Ausstellung in San Francisco begann und von Kundgebung zu Kundgebung durch das ganze Land bis nach Washington führte. Unterdessen wurden in erstaunlicher Geschwindigkeit eine halbe Million Unterschriften für eine weitere Frauenwahlrechtspetition gesammelt. Nach einer Versammlung in einem Theater in Washington und einem Marsch auf das Kapitol am 9. Mai konnte wieder eine Delegation mit der Petition zu Präsident Wilson geschickt werden.[9]
Jeder einzelne Schritt dieses Programms war auf das eine Ziel ausgerichtet: den Frauenwahlrechtszusatz vor den Kongreß zu bringen, ob mit oder ohne Unterstützung des Präsidenten und ungeachtet seiner Erfolgschancen. Dies gelang: am 19. März 1914 stimmte der Senat ab, 34 Stimmen waren für und 35 gegen den Antrag, und am 12. Januar 1915 kam er vor das Repräsentantenhaus, wo er mit 204 zu 174 Stimmen scheiterte.[10]
Ein umstrittenes Gesetz legt gewöhnlich einen kurvenreichen Weg durch den Kongreß zurück, mit endlosen parlamentarischen Manövern von Anhängern wie Gegnern des Antrags in beiden Häusern; für die Bürger und ihre Lobby ist das mit erschöpfendem Einsatz, Debattieren und Protokollieren über Wochen und Monate hinweg verbunden, und manchmal dauert es Jahre, bis der Gesetzesvorschlag schließlich durchkommt - oder scheitert, womit der ganze beschwerliche Prozeß wieder von vorn beginnt. Im Falle des Frauenwahlrechts wurden nach jeder Niederlage die Personen ausgetauscht, und neue Mitglieder erschienen im Repräsentantenhaus oder im Senat, die zwangsläufig weitere Besuche, weitere Argumente und eine neue »Anhängerzählung« erforderlich machten, die das Endergebnis oft entscheidend veränderte. Manchmal ging eine ganze Sitzungsperiode des Kongresses vorüber, und nur ein oder zwei Stimmen gaben jeweils den Ausschlag zugunsten oder zuungunsten der Sache, für die die Suffragetten und ihre Anhänger kämpften. Die Taktik wechselte zwischen dem Versuch, eine Abstimmung zu erzwingen, und dem, sie mit allen Mitteln zu verhindern. Es kam auch vor, daß der Gesetzesvorschlag monatelang in Ausschüssen begraben lag und daß seine Anhänger die Stimmen zum Beispiel im Geschäftsordnungsausschuß oder im Rechtsausschuß nicht zusammenbringen konnten, um ihn dann in der gesetzgebenden Instanz zur Debatte vorzulegen und schließlich darüber abstimmen zu lassen.[11]
Die Gesetzesvorlage zum Frauenwahlrecht wurde erst durch die Aktivität des Kongreßbundes zu einem aktuellen Thema im Kongreß; daran besteht kein Zweifel. Bei der Beurteilung seiner Rolle (und der seiner Nachfolgeorganisation, der Frauenpartei) und bei der Bewertung seines Beitrags zur Eroberung des Frauenwahlrechts hat man das Augenmerk allzu oft nur auf jene Phase seiner Aktivität gelenkt, die erst 1917 begann und in der Alice Pauls Organisation nach dem Vorbild der englischen Suffragetten auf »militante« Taktiken umschwenkte, z.B. Posten vor dem Weißen Haus, Freudenfeuer und Hungerstreiks aus Protest gegen Verhaftungen usw. Doch damit übersieht man die ausgedehnte Arbeit des Kongreßbundes seit 1913, als er bisweilen die einzige wirkungsvolle Gruppe war, die sich für einen Frauenwahlrechtszusatz zur Bundesverfassung einsetzte. Die Frauen des Bundes griffen dieses Thema auf, als es vergessen schien, und brachten die Diskussion darüber wieder in Schwung, was ihnen Mrs. Catt als hohen Verdienst anrechnete.[12]
Die vier 1915 durchgeführten Referendumskampagnen im Osten wurden zu einer Kraftprobe, wie sie nie vorher dagewesen war. New York, Massachusetts und Pennsylvania waren die Heimat der großen Pionierinnen der Frauenrechtsbewegung gewesen; als erste in den Vereinigten Staaten hatten die Frauen von New Jersey für eine kurze Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewählt. Alle vier waren Industriestaaten mit einer hohen Bevölkerungszahl und entscheidendem politischen Einfluß. Wenn das Frauenwahlrecht in diesen Staaten, in einigen von ihnen oder auch nur in einem erobert werden könnte, würde sich dies drastisch auf die Situation im ganzen Land auswirken. Das wurde von beiden Seiten klar erkannt. Die Suffragetten unternahmen heroische Anstrengungen; die Opposition schreckte vor nichts zurück, um sie zu besiegen. Nie zuvor hatte es Kampagnen mit ähnlich konzentriertem Einsatz, organisatorischer Detailarbeit, mit so phantasievoller Propaganda-und Aufkärungsarbeit und mit jener hartnäckigen und mühseligen Kleinarbeit von Tausenden von engagierten Anhängern, Männern wie Frauen, gegeben, die in den Städten von Tür zu Tür gingen, in jeder Kleinstadt Versammlungen im Freien abhielten und an jeder Straßenkreuzung Reden hielten. Sie zerschlissen ihre Nerven in einem beispiellosen Einsatz - und unterlagen, in allen vier Staaten.
Sie verloren mit bemerkenswerter, um nicht zu sagen eindrucksvoller Knappheit. Jede Niederlage wies einige Elemente auf, die bei den andern nicht vorhanden waren. Der erste Auftritt fand in New Jersey statt, wo 42% aller Stimmen zugunsten des Frauenwahlrechts abgegeben wurden. Ein gewichtiger Grund für diese Niederlage war die Tatsache, daß die Wahl am 19. Oktober, dem Registration Day, durchgeführt wurde; viele reguläre Wähler gingen nicht zu den Urnen, und so wurde es möglich, daß eine große Anzahl von nicht registrierten Wählern, die über den Hudson aus New York gekommen waren, den Antrag mit niederstimmen konnten. Die Niederlage von New Jersey wirkte sich auf die drei anderen Referenden, die alle am 2. November stattfanden, nicht gerade günstig aus. Im benachbarten Pennsylvania waren die Frauen optimistisch, dank der glänzenden Führung durch Hannah Patterson und Mrs. Frank M. Roessing, die sich beide mit ihrer Arbeit im ganzen Land Ansehen verschafften.[13] Zum erstenmal setzte sich das Frauenwahlrecht in großen Industriegebieten, in Alle-ghany County und sieben weiteren Bezirken, durch. Doch Philadelphia, Hochburg der »Kneipen«-Stimmen, sprach sich mit einer Mehrheit von über 45 000 Stimmen dagegen aus, die 80% der gegnerischen Stimmen ausmachten. Trotzdem wurden 46% der Stimmen für den Frauenwahlrechtszusatz abgegeben, was zu Hoffnungen für die Zukunft hätte berechtigen können. Doch leider sahen die Verfassungen von Pennsylvania und New Jersey vor, daß ein abgelehnter Verfassungszusatz während der folgenden fünf Jahre den Wählern nicht wieder vorgelegt werden konnte. Das warf die Staaten mit den besten zahlenmäßigen Aussichten auf einen frühen Sieg aus dem Rennen.
Massachusetts, wo nur 35,5% aller Stimmen Ja-Stimmen waren, erlitt die größte Niederlage; sie war nach Ansicht der Suffragetten darauf zurückzuführen, daß dieser Staat Ursprung und 30 Jahre lang Heimat der Antiwahlrechtsbewegung gewesen war. Außerdem war ein großer Teil der Wähler katholisch, und obwohl die Kirche offiziell nicht Stellung bezog, wurden doch wortgewaltige Erklärungen gegen den Gesetzesvorschlag vom Anti-wahlrechtskomitee von Massachusetts und vom Nationalverein gegen das Frauenwahlrecht abgegeben.[14] Die Suffragetten sahen den Beweis für »Schiebung« in dem Umstand, daß die Wahlbeteiligung höher war als jemals zuvor in der Geschichte dieses Staates bei der Abstimmung über einen Verfassungszusatz und daß das Ergebnis in jedem Verwaltungsbezirk des Staates, außer in zwei Städten, einheitlich negativ ausfiel. Nach diesem Ausgang verspürten die Suffragetten von Massachusetts kaum noch Neigung, einen weiteren Versuch auf einzelstaatlicher Ebene zu unternehmen. In New York, wo eine hervorragende Kampagne zu unerschütterlicher Zuversicht geführt hatte, war die Reaktion gänzlich anders, obwohl hier die Gegner eine Mehrheit von 194 984 Stimmen und damit die größte aller vier Referenden hatten.[15] Die Wahlhelferinnen, die sich in der Wahlnacht im New Yorker Hauptquartier drängten, waren durchaus bitter enttäuscht, als sie das Wahlergebnis hörten. Einige brachen in Tränen aus, aber typischer für die allgemein herrschende Stimmung waren die Frauen, die sich ans Steuer setzten und losfuhren, um den aus den Theatern strömenden Menschen zu verkünden, daß die nächste Kampagne bereits angelaufen sei. Eine überfüllte Versammlung in der Cooper Union beschloß nur zwei Abende später, 115 000 Dollar für einen neuen Großangriff aufzubringen, und kündigte tatsächlich die Eröffnung der Kampagne für ein weiteres Referendum an, das notgedrungen erst 1917, also zwei Jahre später, durchgeführt werden sollte.
Ein Grund für den Elan der New Yorker Suffragetten war ihr großes Vertrauen in ihre Führerin. Sie waren jedoch nicht die einzigen, die Mrs. Catt für die beste Organisatorin innerhalb der Suffragettenbewegung hielten. Das Versagen der Führung, das immer größere Durcheinander in den Geschäften der NAWSA sowie ihre unheilvolle Konkurrenz zum dynamischen Kongreßbund hatten allgemein zu der Erkenntnis geführt, daß eine Veränderung in Politik und Führung notwendig und niemand außer Mrs. Catt den gegenwärtigen Aufgaben gewachsen war. Als Anna Howard Shaw am 20. November, einen Monat vor dem alljährlichen Wahlrechtskongreß, ankündigte, sie werde nicht wieder für den Vorsitz kandidieren, erhielt die Bewegung für die Kandidatur von Mrs. Catt Auftrieb.
Offenbar dachte Mrs. Catt selbst nicht daran. Sie war beunruhigt über den Mangel an Führungskräften in der Bewegung und hatte immer vielversprechende Frauen für Ausbildung und Förderung ausfindig gemacht. Sie suchte ständig nach einer Frau, welche die NAWSA aus dem Dickicht führen würde, und schrieb 1912 an eine Freundin: »Eines Tages wird sie kommen. Vielleicht wächst sie gerade heran, und vielleicht ist sie für ihre Aufgaben schon fast bereit und wird bald hervortreten.«[16] Sogar nach dem New Yorker Referendum sah sie sich selbst noch nicht in dieser Rolle. Sie hielt sich mit ihren 55 Jahren für zu alt, um einer solchen Anstrengung gewachsen zu sein, und fühlte sich überdies auch moralisch verpflichtet, die New Yorker Suffragetten 1917 zum endgültigen Sieg zu führen.
Der Anfang Dezember 1915 abgehaltene Kongreß der NAWSA entschied anders. Er forderte sie so hartnäckig zur Kandidatur auf, daß eine entschlossene Kämpferin wie sie nicht ablehnen konnte. Der Wahlrechtsverein des Staates New York wurde veranlaßt, Mrs. Catt freizustellen. Ihre internationalen Aufgaben, die durch den Krieg in Europa bereits vermindert und nun weitgehend finanzieller Art waren, übernahm ein Komitee, das sich verpflichtete, für die Erhaltung des Londoner Hauptquartiers des Weltbundes für Frauenstimmrecht die notwendige Geldsumme zu beschaffen. Schließlich wurde ihr zugesichert, daß sie selbst die Besetzung des Exekutivausschusses zusammenstellen könne.
Zwei weitere Gesichtspunkte bewogen Mrs. Catt, den NAWSA-Vorsitz zu übernehmen, auch wenn sie es ungern tat. Zum einen hatte der abgelöste NAWSA-Vorstand entschieden, den unbequemen Shafroth-Palmer-Antrag fallenzulassen (obwohl es schließlich noch eine Menge weiterer harter Arbeit kostete, ihn zu begraben). Zum anderen wußte Mrs. Catt, daß in vorhersehbarer Zukunft die NAWSA über Geld verfügen würde, mit dem sich die für einen sicheren Sieg notwendige Kampagne auf die Beine stellen ließ. Im September 1914 hatte Mrs. Catt persönlich eine Erbschaft von fast 2 Millionen Dollar gemacht, die ihr die wohlhabende Verlegerin YonLeslie's Weekly, Mrs. Frank Leslie, hinterlassen hatte. Mrs. Leslie galt als exzentrisch - eine schöne Frau, die viermal verheiratet war und zu einer äußerst erfolgreichen Verlegerin und Geschäftsfrau wurde. Jahrelang hatte sie der Suffragettenbewegung Summen zukommen lassen, die allerdings nie über 100 Dollar hinausgingen; ihr Vermächtnis an Mrs. Catt enthielt den Wunsch, ihr Vermögen solle »zur Förderung der Sache des Frauenwahlrechts« eingesetzt werden. Obwohl fast die Hälfte des Vermögens bei den nachfolgenden Rechtsstreitigkeiten und außergerichtlichen Vergleichen aufgebraucht wurde und die erste Zahlung an Mrs. Catt erst Anfang 1917 erfolgte, war das schließlich verfügbare Geld doch eine unschätzbare Hilfe.[17] Die Übernahme des NAWSA-Vorsitzes durch Mrs. Catt kennzeichnet einen bedeutenden Wendepunkt. In jenem Moment muß sie den Frauen, die sie für diesen Posten ausgewählt hatten, als letzte Hoffnung erschienen sein, und wie sie aus Chaos Ordnung und aus offensichtlicher Stagnation einen Sieg machen würde, kann kaum jemandem klar gewesen sein, auch nicht Mrs. Catt selbst. Sie schrieb verbittert an eine Freundin:
»Ich übernehme eine Sache, die in vielerlei Hinsicht >bankrott< ist, und gebe dafür eine andere auf, die übervoll an Ideen war... Montag gehe ich nun nach Washington. Oh wie ich das hasse... Ich bin von einem gemütlichen in ein ungemütliches Büro umgezogen; von einer Arbeit, bei der ich mich auskenne, zu einer, bei der ich mich nicht auskenne... Ich brauche mehr als nur menschliche Hilfe. Solltest Du irgendeinen Einfluß auf die Götter haben, so flehe sie um Beistand für mich an.«[18]
Niemand hätte, angesichts der tiefgreifenden und fast über Nacht stattfindenden Veränderungen in den Angelegenheiten der NAWSA, solche Gefühle vermutet. Unmittelbar nach Neujahr überschwemmte das New Yorker Hauptquartier die Vorsitzenden der einzelnen staatlichen Wahlrechtsvereine mit einer Flut von Mitteilungen. Die Frauen in den einzelnen Staaten, die, da sie wenig Sympathie für Taktik und Ansichten des Kongreßbundes hatten, in ihren Stellungen geblieben waren, ohne allerdings reale Perspektiven oder Hoffnungen zu haben, schöpften neuen Lebensmut, als ihnen nach und nach genaue und einfallsreiche Direktiven für das politische Vorgehen und das Programm zugingen. Die Wiederbelebung der Aktivitäten für den Bundesverfassungszusatz in Washington, gemeinsame Konferenzen von einzelstaatlichen und nationalen Führerinnen, Schulen zur Ausbildung von Organisatorinnen, Ideen für die Beschaffung von Geldmitteln - und als bestes: eine wirkliche Planung, die auf besonderen, an alle staatlichen Vereine verschickten Fragebögen basierte; all dies versprach eine neue Ära der Wahlrechtsarbeit.
Einer der Gründe dafür, daß Mrs. Catt so viel versprechen und tatsächlich auch halten konnte, war die Tatsache, daß der nach ihrer Wahl zusammengestellte Vorstand arbeitsfähig war. Seine Mitglieder waren Frauen, die ökonomisch unabhängig, fähig und auch willens waren, sich ihrer neuen Arbeit zielstrebig zu widmen. Diese Anforderungen sollten während der nächsten fünf Jahre Grundbedingung für die Führung der Wahlrechtsbewegung sein. Sobald Gesundheit oder familiäre Verpflichtungen einer Frau ihren ganztägigen Einsatz ausschlössen, wurde sie ersetzt, ohne daß Gefühle oder Dankbarkeit für erbrachte Leistung ein Hindernis hätten sein können. Natürlich galt dies auch für Miss Pauls Arbeits- und Organisationsmethoden seit ihren ersten Tagen in Washington, und die überraschenden Erfolge des Kongreßbundes sind zu einem großen Teil darauf zurückzuführen. Dadurch waren zwar in beiden Gruppen die Führerinnen nicht gesellschaftlich repräsentativ; aber es brachte zwei glänzende Führerinnen mit ausgebildeten und erfahrenen Teams hervor, die jeder Anforderung standhielten, die an sie gestellt wurde, und das war einer der Gründe dafür, daß die amerikanischen Frauen das Wahlrecht schließlich eroberten. Ebenso wie in der Arbeiterbewegung hatte auch hier der Amateur-Reformer dem professionellen Organisator Platz gemacht. Susan Anthony hätte diese Veränderung begrüßt.
Für Dr. Shaw war es nicht leicht, beiseite zu treten und zu lernen, mit dieser neuen Gruppe zusammenzuarbeiten. Daß sie dazu fähig war, beweist ihre geistige und moralische Größe und ihre Hingabe an die Sache. Als sie schließlich zu der Einsicht kam, daß sie anderswo Besseres leisten konnte als auf dem Posten, den ihr die geliebte »Tante Susan« bestimmt hatte, hielt sie Mrs. Catt uneingeschränkt die Treue: »Die neue Gruppe setzt sich durch und macht ihre Aufgabe glänzend .. . Ich merke, daß meine Zeit vorbei ist, ich kann nur noch sprechen und anregen, und das ist gut so; ich will sprechen und anregen, so gut ich es vermag. Ich denke, es könnte Schlimmeres für mich geben.«[19] Monate harter Arbeit waren notwendig, um die alte NAWSA wieder auf die
Beine zu bringen. Zunächst schwärmten nationale Aktivistinnen zum doppelten Zweck der Überprüfung und der Reorganisation in die Bundesstaaten; aus den Ergebnissen stellte Mrs. Catt drei Monate nach ihrer Amtsübernahme ihrem Vorstand einen erschreckend realistischen Bericht zusammen: »Die Wahlrechtsbewegung befindet sich in einer schweren Krise. Eine beträchtliche Zahl von Frauen ist zum Bundesverfassungszusatz als dem meist versprechenden Weg übergeschwenkt. Die Aussicht auf den Sieg des Bundesverfassungszusatzes findet vor allem bei den Frauen Anklang, in deren Staat ein erfolgreiches Referendum verfassungsmäßig fast unmöglich ist. Eine beträchtliche Zahl von Frauen aus dem Süden ist heftig gegen den Bundesverfassungszusatz. Die erste Anti-Frauenwahlrechts-Organisation von Bedeutung, die im Süden wirkt, ist in Alabama mit dem Slogan gegründet worden: >Selbstregierung, Bundesstaatliche Rechte, Weiße Vorherrschaft< Eine beträchtliche Zahl von Frauen möchte ausschließlich für das Wahlrecht innerhalb ihres eigenen Staats arbeiten. Der Kongreßbund zieht die Frauen aus der NAWSA ab, die Wahlrechtsarbeit auf Bundesebene für den einzig möglichen Weg halten. Gewisse Aktivistinnen im Süden werden bekämpft, weil die NAWSA sich weiterhin für den Bundesverfassungszusatz einsetzt. Diese Konstellation hat ein großes Durcheinander verursacht, aus dem die NAWSA nur durch vorsichtiges Handeln befreit werden kann.«[20]
Mrs. Catts einzigartiger Beitrag zur Erlangung größerer demokratischer Chancen für die amerikanischen Frauen bestand darin, zu begreifen, daß das Problem ein politisches war und deshalb nur durch politische Aktion gelöst werden konnte, und daß sich wirksame Schlagkraft nur durch das Zusammenschweißen scheinbar völlig unterschiedlicher Elemente erreichen ließ.[21] Mit der Weitsicht eines Staatsmannes konzipierte sie einen Aktionsplan, in dem jede Gruppe eine konstruktive Rolle spielen und zur Beförderung des ersehnten Ziels beitragen konnte. Nachdem sie einen derartigen Plan gefaßt hatte, konnte sie auch seine Durchführung sicherstellen, weil sie eine Truppe aufbaute und schulte, die ihn bis ins kleinste Detail ausführen konnte. Ihre Führung war so hervorragend, daß es nicht übertrieben ist, Carrie Chapman Catt auf die gleiche Stufe wie Miss Anthony und Mrs. Stanton zu stellen. Nur der Kongreßbund und die Frauenpartei, beide von Alice Paul geleitet, paßten nicht in ihr flexibles und umfassendes Programm und gingen ihren eigenen Weg. Es schmälert in keiner Weise den Wert der von Miss Paul und ihren Mitstreiterinnen zwischen 1913 und 1916 geleisteten Arbeit, wenn man sagt, es sei für die Vereinigten Staaten und ihre Frauen nur gut gewesen, daß sie nicht als einzige Gruppe zwischen 1916 und 1920 für das Frauenwahlrecht tätig waren und daß Miss Pauls Weg nicht mehr der einzig wirkungsvolle war, auf dem Frauen für die Eroberung des Wahlrechts arbeiten konnten.